Laura Cumming
Der verschwundene Velázquez
Ein besessener Sammler, ein verschollenes Gemälde und der größte Maler aller Zeiten
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler
FISCHER E-Books
Laura Cumming, geboren 1961, war seit 1999 Kunstrikikerin beim »Observer«. Zuvor war sie als Journalistin für verschiedene Radiosender, u. a. den BBC World Service, sowie als Kunstredakteurin beim »New Statesman« tätig. Ihr vorheriges Buch über Selbstporträts »A Face to the World« wurde von der Presse hochgelobt.
Tobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte in Hamburg Amerikanistik. Er arbeitet als freier Lektor und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er übersetzte u.a. David Cronenberg, J.J. Abrams, Marisha Pessl, Adam Thirlwell und Ruth Ozeki.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Velazquez gilt als der Shakespeare der Malerei – strahlend gegenwärtig in seiner Kunst, außerhalb dieser aber so gut wie abwesend. Über das Leben von Velazquez wissen wir kaum etwas. Mittels der eigentümlichen Geschichte seines leidenschaftlichsten Verehrers, des viktorianischen Buchhändlers John Snare, befördert Laura Cumming in ihrer fesselnden Doppelbiographie Erstaunliches über den großen Spanischen Meister zutage. Bei einer Auktion kauft John Snare das verstaubte Porträt eines Prinzen und versucht für den Rest seines Lebens zu beweisen, dass es sich bei dem Gemälde um einen echten Velazquez handelt. Wie besessen spürt er dem Geheimnis um die Herkunft des Kunstwerks hinterher. Cumming verwebt diese Geschichte geschickt und eindrücklich mit Betrachtungen der Gemälde des größten Malers aller Zeiten und lässt uns sein Werk mit anderen Augen sehen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»The Vanishing Man. In Pursuit of Velázquez«
im Verlag Chatto & Windus, London
© Laura Cumming 2016
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: c/o QART Büro für Gestaltung Simone Andjelkovic
Coverabbildung: Bridgeman Images
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490439-9
»Aposentador de Palacio«; bei diesen Titeln lassen sich zumeist keine genauen Entsprechungen finden; wörtlich: Hofquartiermeister (Anm. d. Übers.).
Übersetzt von Reinhard Liess, in: ders., Im Spiegel der ›Meninas‹. Velazquez über sich und Rubens, Göttingen 2003. (Anm. d. Übers.)
Für Hilla, Thea, Elizabeth und Dennis, von ganzem Herzen, und in Erinnerung an den Maler James Cumming
Ich war Ende zwanzig, als mein Vater recht unerwartet starb. Er war Maler. Die tödliche Krankheit griff erst sein Gehirn an, dann seine Augen. In meiner wütenden Trauer ertrug ich es nicht, andere Gemälde als seine zu betrachten. Das war, vermute ich, meine Methode, die Erinnerung an ihn so gut festzuhalten, wie ich konnte, und zugleich war es mein blinder Protest gegen die Zerstörung seines Lebens und seiner Kunst.
Einige Monate vergingen. Ich fuhr mitten im bitteren Winter nach Madrid, eine Stadt, die ich ausgewählt hatte, weil weder er noch ich je dort gewesen waren und ich die Sprache nicht sprach. Es würde keine alten Assoziationen und keine neuen Konversationen geben; die Zeit würde stillstehen können, während ich über nichts und niemanden als ihn nachdenken konnte. Jeden Tag verließ ich mein Hotelzimmer und lief durch die Straßen, ließ mich bis in die eiskalten Vororte und auf die schneebedeckten Hügel dahinter treiben. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.
Doch Madrid ist nicht sehr groß; immer wieder kam ich am Prado-Museum vorbei, manchmal zweimal am Tag, und zwang mich, nicht hineinzugehen. Schließlich wurde es zu anstrengend, diesen Ort zu meiden, und da, in dieser überfüllten Stadt in der Stadt, kam es zum glücklichsten Zufall. Auf der Suche nach El Greco, einem der Lieblingsmaler meines Vaters, kam ich gerade am Eingang zu einer großen Galerie vorbei, als ich im Augenwinkel einen merkwürdigen Schauer von Licht wahrnahm. Als ich mich umdrehte, um genauer hinzusehen, traten plötzlich alle Menschen am anderen Ende der Galerie gleichzeitig zur Seite und gaben den Blick auf den Ursprung dieses Lichts frei: Velázquez’ monumentales Las Meninas. Ich hatte nicht daran gedacht, hatte keine Ahnung gehabt, dass es da sein würde, oder wie groß es sein würde – ein Bild, so groß wie das Leben, und mit ebensolcher Tiefe. Die lebendigen Menschen offenbarten die gemalten Menschen dahinter, als wären sie Darsteller derselben Vorstellung, und vor mir leuchtete spiegelklar die Vision einer kleinen Prinzessin, ihrer jungen Hoffräulein und des Künstlers selbst auf, die allesamt in einem Kreis aus Licht unter einem mächtigen Schatten versammelt waren, einer drohenden Dunkelheit, die sofort den Ton der Szene bestimmt. Man sieht sie an und weiß, dass diese schönen Kinder sterben werden, dass sie bereits tot und beerdigt sind, und doch leben sie hier und in diesem Moment, so kurz und strahlend wie Leuchtkäfer in der Grabesfinsternis. Und was sie hier hält, was sie am Leben hält, das jedenfalls impliziert der Maler, ist nicht das Gemälde, sondern sind Sie.
Sie sind hier, Sie sind erschienen: Das ist es, was sich in einem Sekundenbruchteil in den Augen all dieser Menschen offenbart, die Ihnen von ihrer Seite des Raumes aus entgegenblicken. Die Prinzessin in ihrem schimmernden Kleid, die Fräulein mit ihren Bändern und Schleifen, der winzige Knappe und der große, dunkle Maler, die Nonne, deren Murmeln gerade verstummt, und der Hofmarschall, dessen Umrisse im leuchtenden Türdurchgang ganz hinten zu sehen sind: sie alle registrieren Ihre Anwesenheit. Sie haben, wie die Gäste einer Überraschungsparty, auf Ihr Erscheinen gewartet, und jetzt haben Sie den Raum betreten – ihren Raum, nicht den echten um Sie herum –, jedenfalls erscheint es auf mysteriöse Weise so. Die gesamte Szene flirrt vor Erwartung. Das ist der erste Eindruck an der Schwelle zur Galerie des Prado, in dem Las Meninas hängt: Dass Sie in ihre Welt getreten und für diese Menschen plötzlich genauso präsent sind, wie sie es für Sie sind.
Das Gemälde hält Sie dort, in Überraschung erstarrt, so bewegungslos wie der Moment, den es darstellt, in dem all diese Menschen ebenfalls innehalten, bis auf den kleinen Knappen, der den stoischen Hund anstößt. Alles ist still, bis auf die umgebende Luft und das Licht, das das weißblonde Haar der Prinzessin umspielt, die Sie mit der unverstellten Neugier eines Kindes ansieht, das im Zentrum eines Gemäldes steht, das seinerseits so vollkommen aufmerksam ist. Die Zwergin betrachtet Sie offen, mit der Hand auf dem Herzen, die Fräulein knien oder knicksen, die Diener beobachten Sie, auch der Mann in Schwarz, der an der Schwelle zu diesem Raum verweilt und darauf wartet, Sie in den nächsten zu führen. Und hinter der großen Leinwand, an der er arbeitet, die so groß ist wie diese, tritt der Maler selbst hervor, schweigsam, wachsam, der Magier, für einen Augenblick enthüllt.
Aber gehen Sie ein paar Schritte auf dieses Gemälde zu, in all seiner erstaunlichen Wahrhaftigkeit, und die Vision löst sich auf. Das glänzende Haar der Prinzessin sieht plötzlich wie eine Illusion aus, wie das Flimmern der Luft über einer heißen Straße im Sommer, das verschwindet, wenn man sich nähert. Das Gesicht der Zwergendame löst sich in unentzifferbare Pinselstriche auf. Die Gestalten im Hintergrund wirken aus der Nähe unfertig, man erkennt nicht mehr, wo eine Hand aufhört und das Tablett, das sie hält, beginnt. Je mehr man sich dem Gemälde nähert, desto mehr schwindet der Anschein von Realität, bis es irgendwann unmöglich wird, zu begreifen, wie das Bild überhaupt entstehen konnte. Alles ist kurz davor, sich aufzulösen, und ist doch so lebendig und präsent, dass das Sonnenlicht aus dem Gemälde heraus in die Galerie zu strahlen scheint. Es ist die faszinierendste Vision, die es in der Kunst gibt.
Las Meninas – Die Hoffräulein – wurde höchstwahrscheinlich 1656 gemalt, vier Jahre vor Velázquez’ eigenem plötzlichen Tod (Abbildung A). Es zeigt einen Wohnraum des königlichen Alcázar-Palastes in Madrid, der ebenfalls längst verschwunden ist, innerhalb zweier Tage vom Feuer zerstört. Dies war der Raum, in dem das Gemälde zum ersten Mal gezeigt wurde: Stellen Sie sich nur vor, wie perfekt die Illusion sich in die Realität eingepasst haben muss, als es dort hing, die beiden Seiten des Gemachs, real und gemalt, scheinbar übergangslos miteinander verbunden. Einzutreten und diese Menschen dort stehen zu sehen, muss eine ganz erstaunliche Erfahrung gewesen sein – wie einen Traum zu betreten, oder die flimmernde Projektion des Lebens, die vor Erfindung des Kinos unvorstellbar war –, denn auch heute noch ist der Effekt verblüffend. Velázquez hält uns diese verschwundene Gesellschaft wie die Reflexion dieses Augenblicks in einem Spiegel vor Augen, und auch sein Gemälde hat die Eigenschaften eines Spiegels: Sehen Sie hinein, und Sie werden gesehen. Viele Gemälde haben die Kraft, uns in eine andere Zeit und an einen anderen Ort zu versetzen, doch dieses geht darüber hinaus, indem es die Illusion erzeugt, den Menschen, die Sie da sehen, sei Ihre Anwesenheit genauso bewusst, und die Szene werde erst durch Sie vollständig. Velázquez erfindet eine neue Art von Kunst: das Gemälde als lebendes Theater, eine Aufführung, die sich bis in unsere Welt erstreckt und jedem Einzelnen von uns eine Rolle zuteilt, jeden einzelnen Betrachter mit einbezieht. Denn jeder, der jetzt vor Las Meninas steht, gebannt von den Blicken dieser verschwundenen Kinder und Bediensteten, steht genau dort, wo die Menschen der Vergangenheit einmal gestanden haben. Das gehört zum Inhalt dieses Bildes. Es erwählt Sie in die Gemeinschaft derer, die es gesehen haben, von der kleinen Prinzessin und ihren Dienerinnen, die herbeigeeilt und geguckt haben müssen, sobald Velázquez fertig war, bis zum König und der Königin, die im Miniaturformat in dem schimmernden Spiegel im Hintergrund zu sehen sind. Wir stehen da, wo sie gestanden haben, das legt der Spiegel nahe (und die Augen der Bediensteten), blicken auf diese Szene, diesen Moment, der über die Jahrhunderte hinweg intakt geblieben ist. Das Bild stellt die Welt auf den Kopf, so dass Bürger den Platz von Königen einnehmen und Könige im Vergleich zu Kindern winzig sein können. Wir stehen in der Geschichte zusammen, und Las Meninas nimmt uns alle in seine grenzenlose Demokratie auf.
Das Gemälde, das ich an diesem Tag sah, scheint den Tod aufzuhalten, obwohl es auch unser gemeinsames menschliches Schicksal anerkennt. Es zeigt die Vergangenheit in all ihrer sterblichen Schönheit, doch es blickt zugleich in eine fließende Zukunft. Durch Velázquez werden diese längst verstorbenen Menschen immer im Herzen des Prado bleiben, immer darauf warten, dass wir auftauchen; sie werden nie verschwinden, solange wir da sind, um sie im Blick zu behalten. Las Meninas ist wie eine Kammer des Geistes, ein Ort, an dem die Toten niemals sterben. Die Dankbarkeit, die ich Velázquez gegenüber für dieses großartigste aller Gemälde empfinde, ist unermesslich; er spendete mir Trost, so dass ich zu meinem eigenen Leben zurückkehren konnte.
Wir betrachten Gemälde in Zeit und Ort verhaftet (kein Bild macht das so deutlich wie dieses, indem es uns an einen bestimmten Punkt und in den Moment versetzt) und immer im Kontext unseres eigenen Lebens. Wir können sie auf keine andere Art sehen, egal, wie objektiv wir zu sein hoffen. Schriftsteller haben diese Wahrheit schon vor langer Zeit verstanden; die Literatur ist voller Figuren, die sich in Menschen in Gemälden verlieben, die von rätselhaften Figuren oder Formen besessen sind, die eingeschüchtert sind – oder zutiefst enttäuscht, im Falle von Madame Bovary –, wenn sie einen schmutzigen Alten Meister zum ersten Mal sehen. Fiktive Personen haben das Recht, Kunst mit Gefühlen zu begegnen, die gänzlich losgelöst sind von der Analyse ihrer formalen Attribute, geschweige denn von kunstgeschichtlichem Wissen. Doch uns anderen wird von Experten und Historikern, für die Gefühle fragwürdig, unbeständig oder irrelevant sein mögen, nahegelegt, die Kunst keineswegs so zu betrachten. Sollte man unfreiwillig eine persönliche Reaktion erleben, riet mir ein angesehener Kunsthistoriker einmal, als würde er von einer peinlichen sexuellen Erregung sprechen, dann sollte man diese entschieden für sich behalten.
Im Laufe der Zeit haben viele Wissenschaftler über die Rätsel von Las Meninas geschrieben: wen oder was Velázquez auf dieser riesigen Leinwand malen könnte – den König oder die Königin oder eben dieses Gemälde –, wen der Maler ansieht, was in dem Spiegel zu sehen ist, was in dem Bild passiert, wie es konstruiert ist. Architekten haben Modelle des Raums gebaut, um diese Rätsel durch Perspektive zu ›lösen‹, obwohl sich das Gemälde selbst nicht an solche Regeln hält. Physiker haben mit Spiegeln und Licht experimentiert, um die Paradoxa zu verstehen. Kunsthistoriker haben versucht, Strich für Strich herzuleiten, wie um Himmels willen die Illusion erreicht wurde. Der Philosoph Michel Foucault kam in einem Essay in Les mots et le choses zu der berühmten Schlussfolgerung, dass Las Meninas nicht weniger (und vielleicht auch nicht mehr, für ihn) als die ›Repräsentation der klassischen Repräsentation‹ sei, worauf sich in der Folge ganze Schulen theoretischer Interpretation beriefen.
Doch all das ignoriert die unwiderstehliche Menschlichkeit von Velázquez’ Vision. Manche Historiker glauben tatsächlich, er habe sich nur an sich selbst gewandt oder an seinen Auftraggeber, Philipp IV., den kleinen König im Spiegel, so dass all die schönen unaufgelösten Komplexitäten, die die Betrachter im Laufe der Jahrhunderte gefesselt haben, entweder unserer irregeleiteten Phantasie entsprungen oder das Privatgespräch zweier spanischer Männer sind. Und doch ist Las Meninas der lebendige Beweis des Gegenteils, dass nämlich Maler ihre Bilder nicht in karger Isolation oder ohne jede Hoffnung auf ein Publikum jenseits des Ateliers erschaffen. Denn dieses Gemälde erlaubt so viele Interpretationen, wie es Betrachter gibt, und ein Teil seiner Schönheit liegt darin, dass es all diese unterschiedlichen Reaktionen zugleich ermöglicht, egal wie widersprüchlich, indem es eine so präzise Vision der Realität und ein so offenes Rätsel ist. Velázquez ist in der Lage, Ihnen, und allen vor und nach Ihnen, das Gefühl zu geben, für diese Menschen so lebendig zu sein, wie sie es für Sie sind; jeder Einzelne sieht, jeder Einzelne wird gesehen. Das Wissen, dass all das durch Pinselstriche erreicht wird, dass dies nur gemalte Erfindungen sind, schwächt die Illusion nicht, sondern verstärkt die Verzauberung noch. Die gesamte Oberfläche von Las Meninas scheint sich unserer Anwesenheit bewusst zu sein.
Das ist mindestens so zentral für die technische Leistung, die das Gemälde darstellt, wie für unsere persönliche Reaktion darauf, und doch bleibt es unerwähnt. Wir scheinen kollektiv vor dem Gedanken zurückzuschrecken, dass Kunst uns tatsächlich überwältigen, uns bekümmern oder verzaubern, uns zum Staunen bringen, Wut, Mitgefühl oder Tränen auslösen kann, dass sie uns erheben kann, wie eine von Shakespeares Tragödien das Publikum erhebt. Selbst ganz fundamentale Emotionen schließt die Sprache der Wissenschaft aus, ganz zu schweigen von den Museen, die das Herz fast nie mit der Kunst in Verbindung bringen. Und doch haben so viele Menschen Las Meninas geliebt.
Ich glaube, diese Reaktion wird zu häufig übersehen, obwohl es eindeutig ist, dass Maler ihre Bilder nicht ohne die Hoffnung anfertigen, damit mehr als nur unsere Augen anzusprechen. Weil die Kunstgeschichte sich nicht mit der Macht von Bildern beschäftigt, uns zu bewegen oder emotional zu beeinflussen, machte ich mich auf die Suche nach den Reaktionen auf Kunst, die andere Menschen im Laufe der Zeit in der Literatur unserer alltäglichen Existenz aufgezeichnet haben. Und dort, inmitten der Memoirs, Tagebücher und Briefe, die von unseren Begegnungen mit Kunst berichten, stieß ich auf den merkwürdigen Fall dieses glücklichen – oder unglücklichen – Provinzkaufmanns, so beschreibt er sich selbst, und seiner Liebe für einen vor langer Zeit verschollenen Velázquez.
Genauer gesagt stieß ich in der verschlafenen Düsternis einer Bibliothek im Winter auf ein eigenartiges viktorianisches Pamphlet, das in einem in Leder gebundenen Sammelband zwischen einer hübschen Geschichte der Hawaiianischen Inseln und einer Sammlung von Kurzgeschichten versteckt war, die den unheilvollen Titel Fact and Fiction trug. Hätte der Besitzer dieses Bandes, ein Londoner Anwalt mit einem aufwendigen Exlibris, nicht die Worte ›Eine kurze Beschreibung des Porträts von Prince Charles, später Charles der Erste, 1623 in Madrid von Velasquez gemalt‹ im Inhaltsverzeichnis dick unterstrichen, hätte ich es vielleicht übersehen. Durch solche Zufälle werden die Spuren von Menschen, und Bildern, bewahrt. Der Verfasser des Pamphlets wurde nicht genannt, doch irgendjemand, vermutlich der Anwalt, hatte einen Namen danebengesetzt: J Snare? John Snare? Die Vermutung stellte sich als richtig heraus.
John Snare war ein Buchhändler in der Marktstadt Reading in Berkshire. Seine Buchhandlung befand sich unter der Adresse 16 Minster Street, genau dort, wo auch das Pamphlet gedruckt wurde, das er offensichtlich selbst geschrieben und veröffentlicht hatte. Snare beschreibt das Porträt recht klar: Es zeigt den jungen Prinzen mit seinen großen, wässrigen Augen und der blassen Haut, ohne jede Härte oder feste Umrisse als luftiges Dreiviertelprofil gemalt. Obwohl die Sprache gelegentlich blumig ist – er spricht von Männlichkeit und seidenen Locken –, hatte ich für einen Moment, im Mief dieser Bibliothek in der Abenddämmerung, das Gefühl, eine gewisse Vorstellung von diesem Gemälde zu haben, das von Historikern in der Regel als das einzig Gute angeführt wird, das Charles’ Aufenthalt im Jahre 1623 in Madrid brachte, wo er um die spanische Prinzessin werben wollte. Im Kopf sah ich vor mir, wie Velázquez dem jungen Charles, dem es auf ganzer Linie misslungen war, die verachtungsvolle Infantin für sich zu gewinnen, ein besseres Gesicht verpasste und so seine Würde wiederherstellte.
In der Nacht jedoch kamen mir solche Zweifel an der Beschreibung, dass ich am nächsten Tag noch einmal dorthin ging, um nachzusehen, ob ich das Pamphlet missverstanden und Dichtung zur Wahrheit geträumt hatte. Doch John Snare und seine Geschichte stellten sich als wahr heraus.
Das Pamphlet war eigentlich ein kleiner Katalog für eine Einzelbildausstellung, die im Frühling 1847 unter großem Beifall in London stattfand. Doch wie wurde Snare zum Kurator dieser Ausstellung, und wie hatte er das verlorene Gemälde überhaupt entdeckt? Anfangs war es nicht schwer, Antworten auf diese offensichtlichen Fragen zu finden; doch dann entpuppte sich der Fall als ein tiefer- gehendes Rätsel.
Was Snare für Velázquez empfand, berührte mich. Er sah das Gemälde nicht als etwas Losgelöstes, das mit seiner eigenen Existenz nichts zu tun hatte; es beschäftigte ihn, als handelte es sich um ein lebendiges Wesen. Er schrieb ein weiteres Pamphlet, dann noch eines, in der Hoffnung, dass andere genauso fühlen würden wie er. Seine Besessenheit, eine Vergangenheit für das Porträt zu finden, machte ihn zu einem Detektiv und brachte auch mich dazu, mich auf die Suche zu machen.
Erst folgte ich der Spur des Bildes, genau wie Snare, doch schon bald ging ich auch dem Schicksal des Buchhändlers nach. Die Fährte führte mich nach Edinburgh und zu einem schockierenden Rechtsstreit um das Gemälde im Jahre 1851. Der Prozess war ein Kreuzfeuer von Wut, Verfolgung und Standesdünkel, in das aufgebrachte Aristokraten und ehrfürchtige Graveure involviert waren, Experten aus Soho und Kunsthändler aus Frankreich, Bedienstete, die das Gemälde im Londoner Wohnsitz eines Earls abgestaubt hatten, und Rahmenmacher, die behaupteten, es an ganz anderen Orten gesehen zu haben. Jede Gesellschaftsschicht war vertreten, vom schottischen Adel bis zu den Schriftsetzern, die in Reading für Snare gearbeitet hatten und sich an seine alles aufs Spiel setzende Leidenschaft für das Porträt erinnerten. Mir war noch nie ein Fall begegnet, in dem die Stimmen der Vergangenheit so offen über Kunst sprachen, in einer Zeit, in der dies noch nicht durch Museen, Ausstellungen und Reproduktionen verbreitet wurde. Kaum ein Zeuge hatte mehr als einen Velázquez gesehen, und viele berichteten, wie sehr sie dieses Bild in Erstaunen versetzte, als das Gesicht des längst verstorbenen Prinzen in eine zeitlose Gegenwart hineinblitzte.
Denn die Kunst Velázquez’ war selten, unvertraut, undurchsichtig. Er hinterließ so wenige Gemälde – nicht mehr als 120 im Laufe einer vierzigjährigen Malerlaufbahn –, dass es zu Recht heißt, er habe sein Genie fingerhutweise dosiert. Beinahe all seine Werke wurden für den spanischen König und seinen Hof gemalt und blieben bis lang nach seinem Tod dort, wo sie entstanden waren, eingeschlossen in den königlichen Palästen. Selbst als der Prado 1819 zum ersten Mal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und plötzlich mehr als vierzig Gemälde von Velázquez zu sehen waren, hätte sich nur ein sehr wohlhabender Reisender einen Eindruck von seinem Werk machen können. Die Fotografie gab es noch nicht, Drucke waren rar und konnten seinen mysteriösen und transparenten Stil kaum wiedergeben. Daher war die einzige Art, einen Velázquez im Kopf zu behalten, das phantastisch launenhafte eigene Gedächtnis.
Es gab keine zwei Viktorianer, die das Porträt, um das es in diesem Prozess ging, auf dieselbe Weise in Erinnerung hatten.
Dies war eine Zeit, in der es noch nicht üblich war, Gemälde mit Titeln zu versehen, die ihren Gegenstand beschrieben, so dass es oft zu krassen Missverständnissen kam; in der es schwer war, unter der Schmutzschicht auf den alten Leinwänden das eine namenlose Modell vom anderen zu unterscheiden; in der es leicht passieren konnte, dass Gemälde falsch benannt, Unterschriften falsch gelesen oder von gerissenen Händlern ergänzt wurden, und echte Meisterwerke unbeachtet vor sich hin dämmern konnten, während erbärmliche Kopien zu exorbitanten Preisen gehandelt wurden.
Es war eine Zeit, in der Schlösser voller vom Schmutz schwarzer Gemälde hingen und Auktionatoren gespannt auf ihre Chance warteten; in der Besucher Eintritt dafür bezahlten, ein spektakuläres Bild in der Egyptian Hall in London zu sehen oder im Pantheon in New York; in der Mittelsmänner sich durch die Villen und Höfe Europas arbeiteten und ungesehen Meisterwerke nach Hause schickten, während Restauratoren alte Leinwände herausputzten – oder einfach kopierten –, in der ein Bild als Velázquez ›identifiziert‹ werden konnte, nur weil darauf ein dunkeläugiger Mann mit einem spanischen Knebelbart oder eine besonders ausdrucksstarke Promenadenmischung zu sehen war.
Manche Menschen kannten Velázquez vor allem als Maler von Hunden.
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts tauchten einige der Gemälde in Europa auf, die in Spanien unter Verschluss gewesen waren infolge des Spanischen Unabhängigkeitskrieges von 1808–14, in dem britische Truppen halfen, Spanien und Portugal von Napoleons Besatzung zu befreien. Werke von Velázquez landeten auf Schlachtfeldern, im Gepäck von Soldaten und in den Händen von Vermittlern, die sich in einer suspekten Form der Diplomatie betätigten, wie ein leuchtender Schatz, der beim Pflügen ans Licht gebracht wurde. Sie gelangten nicht, wie es heute geschehen würde, auf schnellstem Wege in die Hände von Spezialisten, die sie auf den kleinsten Hinweis hin untersuchten, sondern tauchten bei Auktionen und Bilderverkäufen nach Todesfällen auf, in Privathäusern und Nachlässen, oft recht zufällig und ohne großes Aufsehen, und manchmal verschwanden sie gleich wieder im Dunkeln. Jede neue Entdeckung fachte die wachsende Begeisterung für Velázquez weiter an.
Bei all dieser Bewegung und Verwirrung wussten die Menschen nicht immer, was sie da gerade betrachteten, von dem, was sie kauften oder verkauften ganz zu schweigen. In England besaß Earl Spencer of Althorp ein Gemälde eines Dudelsackspielers, von dem er glaubte, es stamme von Velázquez. In Schottland besaß der Earl of Elgin einen weißen Pudel, der an einem Knochen schnupperte. Im ländlichen Dorset glaubte ein englischer Politiker, dass er nichts Geringeres als das Original von Las Meninas besaß. Es war um einiges kleiner und, zugegeben, es fehlten einige entscheidende Details, aber trotzdem war es der ganze Stolz seiner Sammlung, wenn nicht sogar ganz Englands. Noch heute glauben manche Kunsthistoriker, dass er recht gehabt haben könnte.
Mehr als zwei Jahrhunderte lang ging man fest davon aus, dass sich die kleine Anzahl von Velázquez’ Werken nie vergrößern würde, dass keine Gemälde von ihm mehr gefunden werden würden, dass alle verlorenen Gemälde für immer verloren waren. Doch das hat noch nie gestimmt. Seine Bilder sind tatsächlich wiederaufgetaucht, wurden Stück für Stück von den Gezeiten der Geschichte angespült und an den unwahrscheinlichsten Orten entdeckt: in Lateinamerika, in einer englischen Küstenstadt; für jeden sichtbar und doch versteckt an den Wänden des Metropolitan Museum in New York im zwanzigsten Jahrhundert.
Denn Velázquez’ Porträts, die auf so wundersame Weise emphatisch und präzise sind, so unverwechselbar und unnachahmlich, wie es scheint, werden immer wieder verwechselt und übersehen. Vielleicht hat etwas an seiner außergewöhnlich rätselhaften Art zu malen diese Werken mit einem Schleier versehen; vielleicht hat etwas an ihrer Rätselhaftigkeit und Bescheidenheit – von der zurückhaltenden Pinselführung bis zum Fehlen einer Unterschrift – sie unsichtbar gemacht. Sie sind in ungewöhnlich großem Maße auf die Hilfe Fremder angewiesen; sie brauchen Menschen, die sie finden und retten.
Las Meninas enthält das berühmteste Stück Leinwand in der Geschichte der Kunst: die leere Rückseite des riesigen Bildes, an dem der Künstler gerade arbeitet; es ist, im Wortsinne, die Kehrseite eines Gemäldes, jedoch eine wunderbare Darstellung dieser großen, auf den Keilrahmen gespannten Bahn Stoff. Was Velázquez zeigt, ist die merkwürdige Doppelnatur von Gemälden: dass sie zugleich Objekte und Bilder sind; Objekte, die aufgestellt und umhergeschleppt und an Wände gehängt werden, die Unfällen und Missgeschicken ausgesetzt sind, Schiffbrüchen und Bränden, die willkürlichen Katastrophen zum Opfer fallen oder durch Fügung gerettet werden können, die gekauft und verkauft, verpackt und abtransportiert, verloren und wiedergefunden und manchmal erneut verloren werden.
Wir sagen, dass Kunstwerke unser Leben verändern können, eine optimistische Ehrfurcht, die sich in der Regel auf das moralisch oder spirituell Erhebende eines Gemäldes bezieht, und darauf, wie es seine Betrachter verbessern kann. Doch Kunst hat auch auf andere Weise die Macht, unsere Existenz zu verändern. In dem Augenblick, in dem Snare das Porträt von Prince Charles erstand, schlug sein Leben eine neue Richtung ein. Es war ein verlorenes Werk, unbeachtet, auf dem Weg ins Vergessen, vor dem er es 1845 rettete. Es war ein Objekt, das er vor Gefahren und Diebstahl zu beschützen gezwungen sein würde, das ihn aus seinem Kleinstadtleben in der Provinz in die elegantesten Straßen Londons und New Yorks führte und vom Unbekannten zur Berühmtheit machte; ein Gemälde, das er mit sich nahm, wo immer er war, das ihm schließlich mehr bedeutete als alles andere auf der Welt, mehr als seine Familie, sein Haus und er selbst, das ihn ins Exil führte, zu einem einsamen Tod in einem Zimmer ohne warmes Wasser und einem anonymen Grab in New York: das Gemälde, das sein Leben zerstören würde.
Was immer man nach der Lektüre dieses Buches von John Snare halten mag – manchmal zweifelte ich selbst an seinen Motiven –, an seiner Aufrichtigkeit besteht kein Zweifel. Er liebte die Kunst von Velázquez, zumindest das Wenige, das er im Laufe seines Lebens davon zu sehen bekam. Er und ich haben dieselben paar Orte in England besucht und in unterschiedlichen Jahrhunderten dieselben paar Gemälde bestaunt. Hätte er in einer anderen Zeit gelebt, hätte vielleicht auch er Las Meninas sehen können.
Dieses Buch ist ein Lobgesang auf Velázquez, den Größten aller Maler, einen Mann, dessen Leben beinahe so schwer zu fassen ist wie seine Kunst; und es ist das Porträt eines obskuren Viktorianers, der diese Kunst liebte – sofern es mir möglich war, Snare aus der Dunkelheit herauszuholen. Denn er ist für mich wie eine der Figuren aus Las Meninas – der Diener ganz am Rande, beim Fenster, die einzige Person in diesem Meisterwerk, über die nichts bekannt ist, deren Geschichte nie erzählt wird und die nichts weiter ist als ein gemalter Fleck Farbe, der in den Schatten verschwindet.
Alles begann im Herbst 1845 mit fünf Zentimetern dichtgedrucktem schwarzen Text im Reading Mercury. Die schicksalhafte Anzeige kündigte eine bevorstehende Auktion in Radley Hall bei Oxford an, dem Sitz von Benjamin Kents Academy for Boys. Das Internat wurde geschlossen, die Schüler waren bereits fort, und alles stand zum Verkauf. Der Mercury erwähnte Kissen und Bettgestelle, Wörterbücher und lateinische Grammatiken, doch da war noch etwas. Mr Kent verkaufte seine Kunst.
Die Anzeige war zwischen Werbung für Zylinderhüte und Wundermittel für überlastete Mütter versteckt, doch John Snare entging sie nicht. Der Buchhändler verspürte eine plötzliche Erregung, als er sie sah. Er war einmal mit einem Freund, der den Schulleiter kannte, in Radley Hall gewesen und hatte die Gemälde gesehen, die jetzt im Mercury erwähnt wurden – niederländische Landschaften, Porträts mittelalterlicher Bischöfe, ein sehr altes Gemälde einer Äbtissin und eines Papstes. Doch das, was ihn am meisten fasziniert hatte, zu schlecht beleuchtet und zu weit oben an der Wand angebracht, um es richtig betrachten zu können, war das, was in der Anzeige als etwas Besonderes genannt wurde: ›Ein Brustbild von Charles dem Ersten (vermutlich Van-dyke)‹.
Für einen Provinzgeschäftsmann waren Auktionen ein Segen. In Reading gab es keine Kunsthandlungen, und dies war noch zu Beginn des Museumszeitalters, einer Zeit also, in der die meisten Menschen Gemälde, wenn überhaupt, nur in Wanderausstellungen oder sonntags in der Kirche zu sehen bekamen. Die Privatsammlungen in Landhäusern waren in der Regel allen verschlossen, die nicht über hervorragende soziale Kontakte verfügten, doch Auktionen standen jedem offen, egal, wie wertvoll die Gemälde waren. Selbst eiligst angesetzte Konkursverkäufe sahen mehrere Besichtigungstermine vor, auf denen Besucher sich als potentielle Käufer ausgeben und in aller Ruhe die Gemälde betrachten konnten, eine uralte Tradition. Auf diese Weise sah und skizzierte Rembrandt Raffaels berühmtes Porträt von Baldessare Castiglione, als es 1639 bei einer Auktion in Amsterdam gezeigt wurde, und gab ihm eine etwas knollenförmige Nase, die seiner eigenen ähnlicher war; dies blieb für die meisten Menschen noch jahrhundertelang die einzige Möglichkeit, Rembrandts eigene Werke sehen zu können.
Der Reading Mercury wurde in Snares Geschäft in der Minster Street verkauft, einem hübschen Ladenlokal mit zwei großen Erkerfenstern, kunstvollen Friesen und genügend Regalen, um eine gewaltige und ständig wachsende Sammlung von Veröffentlichungen aufzunehmen, von The Lancet und Punch bis zu den neuesten Romanen von Dickens und Thackeray, Ratgebern zu Bienenhaltung und Tierpräparation und Reiseführern für die entlegensten Inseln des Südpazifiks. Werbeanzeigen im Mercury selbst offenbaren die stolze Vielfalt des Bestands. Bei Snare konnten Kunden alles kaufen, von Das Verlorene Paradies bis zur Bibel, Shakespeare genauso wie Bilderbücher, Ölfarben und Radiergummis, Löschpapier und farbige Tinte. Snare verkaufte sogar Drucke von berühmten Gemälden; in jenem Herbst 1845 hatte er Jacques-Louis Davids verstörendes Porträt des in seiner Badewanne erstochenen Marat im Angebot. Denn Kunst war seine Leidenschaft; Snare war ein ›Amateur der Bilder‹, wie man sie nannte: einer, der Gemälde liebte.
Wie alt er damals war, ist unklar, denn über sein Leben bis dahin ist nichts überliefert. Er könnte 1808 geboren sein, vielleicht auch 1810, doch seine Geburtsurkunde ist verschwunden, und später äußerte sich Snare nicht eindeutig über sein Alter. Sein Vater war Eisenwarenhändler in der 21 Minster Street, verkaufte Hämmer, Schrauben und Eimer aus Metall; sein Onkel war der Gründer des Geschäfts in der Hausnummer 16, das sich ursprünglich auf Gesangbücher und fromme Lyrik für Sonntagnachmittage spezialisierte. Falls Snare über seinen zehnten Geburtstag hinaus – das damalige Schulaustrittsalter in Reading – irgendeine Ausbildung genossen hatte, dann ist das nicht dokumentiert, doch Dokumente sind so oder so weniger aufschlussreich als die Lokalzeitungen der Stadt – drei gab es, für eine Bevölkerung von kaum 20000 Menschen –, in denen man den Buchhändler in seinem Geschäft und in der Stadt wiederfinden und die wichtigen Ereignisse seines Lebens wie durch ein Vergrößerungsglas verfolgen kann.
›Snare and Nephew‹ steht auf dem neuen Schild über der Tür, als er die Lehre bei seinem Onkel antritt, der sein Geschäft inzwischen um eine kleine Druckerei erweitert hat. Der junge John lernt, die kniffligen Reihen von Buchstaben in ihre Holzrahmen zu setzen, Tinte auf Platten aufzutragen und Ledereinbände mit Gold zu prägen. Er wird einmal für die ästhetische Schönheit seiner Drucke bekannt sein, und für seine Experimente mit frühen Fotogravurtechniken; doch zunächst einmal produzieren die beiden Snares im Hinterzimmer Visitenkarten, Wahlplakate und Theaterhandzettel, während sich das Buchgeschäft vorne im Laden weiterentwickelt. Nachts, wenn die Druckpressen stillstehen, liest sich Snare unermüdlich durch den Buchbestand, um einen eigenen Schreibstil zu entwickeln. Dieser findet sich erstmals in den lyrischen Passagen wieder, die er zu einem illustrierten Reiseführer für Berkshire beisteuert, der in der Minster Street gedruckt wird. 1838 erbt er das Geschäft und geht im selben Jahr, inzwischen ein recht reifer Junggeselle, die Ehe mit Isabella Williams ein, deren Familie an der örtlichen Bank beteiligt ist. Als Mann mit Ambitionen eröffnet er eine kleine Leihbibliothek und fängt an, ein Adressverzeichnis für Reading zusammenzutragen, für das er die Namen seiner Nachbarn in eleganter Schrift setzt. Sein eigener Name erscheint in der Ausgabe von 1845, als er mit Isabella und den drei kleinen Kindern über dem Geschäft in der Nummer 16 lebt. Hier las er auch die Anzeige im Mercury, mit dem Versprechen eines mutmaßlichen Van Dyck. Vor der Auktion sollte es drei Besichtigungen geben. Er würde gerade rechtzeitig zur letzten kommen.
Viktorianische Auktionen waren wie Ausstellungen organisiert, mit Kartenvorverkauf und gedruckten Katalogen, auch wenn diese in der Regel krude und wenig hilfreich waren. Aus ihnen ging meist nur hervor, dass das Gemälde eines unbekannten Gentleman zum Verkauf stand, oder eines Fisches, oder zweier Kühe, die an einem Fluss tranken. Möglicherweise niederländisch. So war es auch in Radley Hall, einem georgianischen Herrenhaus inmitten eines von Capability Brown gestalteten Anwesens, auf dem man genauso sehr mit Königen rechnen konnte wie mit Kühen, dem knappen Katalog nach, den die Auktionatoren veröffentlichten, Belcher and Harris. ›Die gesamte Sammlung umfasst 180 Posten, die im Einzelnen nur schwer zu beschreiben wären‹, geben sie achselzuckend an und versuchen gar nicht erst, die Kunst anzupreisen, abgesehen von einigen wenigen versuchten Zuordnungen zu Malern oder Herkunftsland; nicht, dass diese oft absurd falschen Mutmaßungen ein allzu großes Risiko geborgen hätten, denn schon damals galt caveat emptor als unausgesprochener Grundsatz jeder Auktion: Das Risiko trägt der Käufer.
Snare war kein Käufer, zumindest jetzt noch nicht; er wollte ein historisches Gemälde eines berühmten Königs betrachten, solange sich der Allgemeinheit für kurze Zeit die Gelegenheit dazu bot. Doch er scheint einen sechsten Sinn gehabt zu haben, was das Gemälde betraf, denn er nahm einen anderen Kunstfreund mit, einen Mr Keavin, um eine zweite Meinung zu dem Porträt von Charles und der aufreizenden Nennung Van Dycks zu haben, dem größten seiner Hofmaler; wer weiß, vielleicht würde das Bild ja ein Vermögen wert sein.
Die Reise mit einer der neuen Dampflokomotiven, die an jedem kleinen Bahnhof anhielt, verlief so langsam, dass es bereits dunkel wurde, als sie Radley Hall erreichten. Doch diesmal war Snare vorbereitet. Er wartete, bis die anderen Besucher gegangen waren, und schleppte dann eine Leiter aus der Bibliothek in den Salon, wo das große Gemälde weit oben an der Wand hing, vom Alter so dunkel geworden, dass die Details kaum zu erkennen waren. Snare stieg die Leiter hinauf, bis er auf Augenhöhe mit Charles war, befeuchtete einen Finger und rieb wie ein Fensterputzer über die Oberfläche. ›Ich werde nie vergessen‹, schrieb er, ›wie die Farben wie durch Magie lebendig wurden.‹ Vor ihm erschien das Gesicht eines jungen Mannes, bärtig, dunkeläugig, einsam, ein paar Schweißperlen auf der Stirn, blass und ganz nah in der Finsternis, ein Monarch, dazu bestimmt, auf dem Schafott zu sterben.
Je länger er das Gemälde staunend anstarrte, desto mehr hatte John Snare das Gefühl, dass der Katalog sich irren musste. Das Porträt zeigte eindeutig Charles in Rüstung, doch er war zu jung, um König zu sein; dies musste Charles als Prinz sein. Doch wenn es ein Porträt von Prince Charles war, konnte es unmöglich von Van Dyck stammen, denn der flämische Maler kam erst 1632 nach England, acht Jahre, nachdem Charles König geworden war, und damals sah er bereits deutlich älter aus. Es schien, als könnte ›Charles der Erste (vermutlich Van-dyke)‹ nicht ganz stimmen.
Snare, der Autodidakt, der Auktionsgänger, der genaue Betrachter von Stichen und sämtlicher Drucke von Königen, die er hatte sammeln oder in den vielen Büchern in seinem Geschäft finden können, erkannte den jungen Charles sofort. Doch er konnte sich an kein einziges Bild erinnern, das im Entferntesten wie dieses Porträt aussah, so fließend und rätselhaft, nicht einmal unter den unzähligen Arbeiten Van Dycks. Dies stammte eindeutig von einem Künstler ähnlichen Formats, wenn nicht größeren – er dachte an den Spanier Velázquez.
Auf dem Heimweg drängte Mr Keavin seinen Freund, zurückzukehren und ein Gebot abzugeben – er war überzeugt, dass sie einen echten Van Dyck gefunden hatten. Snare hatte längst entschieden, genau das zu tun, doch es gelang ihm, nichts davon zu verraten.
›Den Liebhabern der Kunst ist wohlbekannt, dass in England keine Werke seltener sind als die des Velázquez.‹ Die erste Zeile von Snares ›Kurze Beschreibung des Porträts von Prince Charles‹ räumt sogleich ein, wie offenkundig unwahrscheinlich das alles ist. Egal, wie aufregend es sein mag, einen Van Dyck zu finden, die Porträts, die der flämische Maler von Charles angefertigt hatte, mit mattem Blick und wehendem Haar, waren im Vergleich zur Kunst Velázquez’ fast schon allgegenwärtig. Velázquez war nicht nur einer der unproduktivsten Maler aller Zeiten, seine Werke waren damals außerhalb Madrids auch nur selten zu sehen, schon gar nicht in irgendeinem stillgelegten Internat im ländlichen Oxfordshire. Snare wusste, dass die Wahrscheinlichkeit gegen null ging, und doch machte ihm eines der Bücher aus den Regalen seines Geschäfts in der Minster Street ein wenig Hoffnung: Richard Fords kurz zuvor erschienenes Handbuch für Reisende in Spanien.
Auf einer vierjährigen Tour durch ein Land basierend, das den meisten Lesern daheim noch immer so weit weg erschien wie der Südpazifik, stellt Fords lebendiger Reiseführer eines der frühen Meisterwerke der Reiseliteratur dar. Es umfasst Ehrfurcht vor den grandiosen Sierras genauso wie Abscheu gegenüber den schlimmsten Hotels, ist in Geschichte und Kultur beschlagen und strotzt zugleich vor nützlichen Tipps zu Themen wie Moskitonetzen, Trinkwasser und spanischem Käse, und dazu, wohin sich Telegramme schicken lassen und wie man sich mit einem hitzköpfigen Madrileño über Politik unterhalten sollte.
Ford sieht sich Gemälde an, wo immer er hinkommt, und schreibt großartig darüber. Vor allem staunt er über die Wahrhaftigkeit und die Schönheit von Velázquez’ Kunst im Prado. »Kein Mann«, vermerkt er treffend, »könnte die Gedanken von Menschen oder die Luft, die wir atmen, besser malen als er.« Seine Anpreisungen jedes einzelnen Gemäldes in diesem Museum, in einem Land, das so weit abseits der bequemen Route der Grand Tour lag, war zumindest teilweise für die wachsende Begeisterung für Velázquez verantwortlich, die in Großbritannien zu beobachten war; und in diesem Buch erwähnt Ford wie nebenbei ein Porträt von Prince Charles, das Velázquez 1623 malte. Der Autor beklagt, dass er das Gemälde nicht betrachten kann, das in einer älteren spanischen Biographie erwähnt wurde; nach allem, was er weiß, existiert es nicht mehr.
Wenn schon der weitgereiste Ford dachte, es sei verloren, wie konnte dann Snare es gefunden haben? Durch die Erwähnung machte sich Snare nur noch mehr Hoffnung. Obwohl er es nicht wagte, Mr Keavin von seinem Traum zu berichten – »Ich schämte mich beinahe für meine Gedanken und fürchtete, man könnte mich verspotten« –, konnte Snare nicht anders, als zu denken, dass das Porträt, wenn es je existiert hatte, noch immer irgendwo auf der Welt existieren könnte, und wenn es so war, wieso nicht in Radley Hall?
Der Tag der Auktion kam, und mit ihm Händler aus London und reiche Gutsbesitzer, die leere Wände zu füllen hatten. Vielleicht würde ein Höherbietender sich das Gemälde schnappen, vielleicht würde es in letzter Minute jemand an sich reißen, der seinen wahren Wert besser kannte als Snare, jemand mit mehr Geld, mehr Erfahrung, mit Verbindungen zum Londoner Markt. Vielleicht würde auch das Gegenteil eintreten, und das Bild würde verächtlich abgetan werden – wahrscheinlich nicht einmal ein Van Dyck, ein echter Velázquez auf keinen Fall. Was wäre schlimmer für den hoffnungsvollen Amateur: überboten zu werden oder für etwas zu bieten, das vielleicht keinerlei Wert hatte, und sich so vor den Experten lächerlich zu machen? Zwei Londoner Händler, Mr Blaker aus Covent Garden und Mr Street aus Soho, streiften bei Snares Ankunft bereits durch Radley Hall. Sofort verließ ihn der Mut. Er hatte solche Angst, ihre Aufmerksamkeit auf den Velázquez zu lenken, indem er das Gemälde allzu sehr anstarrte, dass er sich direkt darunter stellte, von wo aus er es nicht sehen konnte.
Als die Auktion begann, scheint Snare solche Angst gehabt zu haben, man könnte ihm in die Karten schauen, oder er selbst könnte irgendeine unglückliche Geste machen, die als Gebot missverstanden werden könnte, dass er tatsächlich Street bat, ihn zu vertreten. Weil ihm der Buchhändler aus der Provinz leidtat, ließ sich der Kunsthändler aus der Großstadt dazu herab. Los 72 wurde gegen Mittag verkündet. Der Startpreis lag bei fünf Pfund; kurz darauf folgte der Hammerschlag, bei acht Pfund.
Im Moment des Sieges überrollten den armen Snare zwei gegensätzliche Gefühle – eine schnell nachlassende Freude, gefolgt von apathischer Leere. Vielleicht hatte er ein Nichts gekauft, die Katze im Sack; schließlich konnte er kaum erkennen, was dieses rußgeschwärzte Rechteck wirklich enthielt. Der Preis war sehr niedrig, nicht viel höher als der eines Pferdes im viktorianischen England, und diese Summe beunruhigte Snare (der sich darauf eingestellt hatte, wenn nötig, bis zu ruinösen 200 Pfund mitzubieten) und sollte in den folgenden Jahren einiges Misstrauen erregen. Doch der Preis eines Gemäldes ist kein Beweis für seine Authentizität oder seinen Wert und war es noch nie. Die Geschichte des Kunsthandels ist voll von irren Falschzuschreibungen und grotesk niedrigen Geboten, bis zu Leonardos Salvator Mundi, das noch 1958 für gerade einmal 45 Pfund den Besitzer wechselte. Zwei Jahre nach Radley Hall erstand Richard Ford selbst eines von Velázquez’ königlichen Porträts für nur dreizehn Pfund. Zehn Jahre später, als das Velázquez-Fieber bereits immer mehr um sich griff, wurde ein weiteres seiner Gemälde für mickrige 15 Pfund verkauft – am Höhepunkt der Londoner Auktionssaison, in einem mit internationalen Kunsthändlern prall gefüllten Raum, und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzielte Velázquez’ ›Christus im Hause von Maria und Martha‹, das Besucher der National Gallery in London noch heute mit seiner seltsamen Doppelwelt heimsucht, weniger als 23 Pfund. Snare würde schon bald das Hundertfache des Preises angeboten bekommen, den er bei dieser obskuren Landsitzauktion bezahlte, doch erst einmal musste er die Rückreise mit leeren Händen antreten, denn er hatte nicht darüber nachgedacht, wie er das Gemälde nach Hause schaffen sollte.
Am nächsten Tag kehrte er in das Dorf Radley zurück und fand einen Tischler, der ihm im Eiltempo eine große Holzkiste zusammenzimmerte, die die beiden Männer nach Radley Hall schleppten. Dort musste Snare erschrocken feststellen, dass sie zu spät kamen. All die anderen Bieter hatten ihre Käufe längst abgeholt, Radley Hall war verriegelt, und wieder setzte bereits die Dämmerung ein.
Es war der Tischler, der vorschlug, in das Gebäude einzubrechen. Sie kletterten gerade durch das Fenster, das er aufgehebelt hatte, als ein Nachbar sie auf frischer Tat ertappte und einen Polizisten rief, der sie festnehmen sollte. Für einen Augenblick war der gute Name des Buchhändlers in Gefahr. Doch nach einer Tasse Tee und einer vernünftigen Unterhaltung, in der Snare sich als besonders redegewandt erwiesen haben muss, zeigte sich der Polizist verständnisvoll und half ihnen sogar, den Schlüssel zur Haustür zu besorgen. Sie betraten das Gebäude, mussten jedoch feststellen, dass auch jede weitere Tür darin fest verschlossen war.
»Langsam wünschte ich mir, ich hätte das Gemälde nie gesehen. Es war mir beinahe peinlich, nach Reading zurückzukehren.« Trotzdem kehrte Snare nach Hause zurück, wieder einmal mit leeren Händen. Das war der erste seiner Konflikte mit dem Gesetz.
Eine Woche später erreichte das Bild schließlich die Minster Street. Was Snare nun besaß, war ein Objekt in einer Kiste; ein Gemälde ohne Vergangenheit, über das er absolut gar nichts wusste. Er hatte es nie in einem Museum gesehen, mit einer beruhigenden Beschriftung oder der Erwähnung in einem Katalog. Es hatte keine Unterschrift, keinen Titel und kein Datum. Der Maler war unbekannt, und der gesamte moderne Apparat von Kunstgeschichte, kritischer Literatur, Markt, Preisen, peinlich genau erforschter Provenienz und so weiter existierte noch nicht. Das Gemälde hatte keinen Kontext, hatte bloß aus dem Dunkeln zu ihm gesprochen. Snare konnte sich auf nichts anderes berufen als seine Augen und seinen Instinkt.
Radley Hall hatte dem Porträt zumindest noch eine gewisse Erhabenheit verliehen. Zu Hause, in den Hinterräumen des Geschäfts, wagte Snare es kaum, das Ding anzusehen, für den Fall, dass es sich in das verschmierte Rechteck zurückverwandelt hatte, das er beim ersten Mal gesehen hatte. Doch er nahm all seinen Mut zusammen, stellte das Bild auf zwei Stühlen vor einer Wand auf und war sofort noch entmutigter als zuvor. »Die Farbe war trocken und gedämpft … und hatte etwas Kreidiges, das mir überhaupt nicht gefiel.« Das Meisterwerk schien in seiner neuen Umgebung der Minster Street dahinzuschwinden, und Snare wusste nicht, ob das Bild selbst oder sein verschmutzter Zustand schuld daran waren. Er nahm einen Schwamm, benetzte ihn mit ein wenig Terpentin, und fing an, die Oberfläche halbherzig damit abzutupfen.