Stephanie Burgis
Aventurine -
Das Mädchen mit dem Drachenherz
Aus dem Englischen
von Sigrid Ruschmeier
FISCHER E-Books
Stephanie Burgis ist in den USA aufgewachsen und hat während ihres Studiums in Österreich in den Caféhäusern von Wien ihre Leidenschaft für Schokolade entdeckt. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einem süßen Border-Collie-Mix in Wales.
Freya Hartas studierte Illustration an der Falmouth University in England und hat sich auf das Illustrieren von Kinderbüchern spezialisiert. Sie lebt und arbeitet in Bristol, England.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel ›The Dragon with a Chocolate Heart‹
bei Bloomsbury Children’s Books
Text © Stephanie Burgis, 2017
Published by Arrangement with Stephanie Burgis Samphire
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung und -illustration: Claudia Carls, Hamburg, unter Mitarbeit von Norbert Blommel, MT Vreden
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-4940-1
Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. Mein Großvater sagte immer: Besser, man redet nicht mit dem, was man isst, denn jeder Drache weiß, dass Menschen das gefährlichste Essen sind, das es gibt.
Als junges Drachenmädchen bekomme ich natürlich immer nur ihre Juwelen und ihre Bücher zu sehen. Die Juwelen sind wunderschön, aber über die Bücher könnte ich mich totärgern. Was für eine Verschwendung von Druckerschwärze! Ich zum Beispiel kann mich noch so sehr anstrengen – aber mehr als die ersten paar Absätze eines dichtbeschriebenen, dämlichen Textes schaffe ich nie. Als ich es das letzte Mal probiert habe, war ich so wütend und genervt, dass ich mit ein paar Atemstößen gleich drei Bücher zu Asche verbrannt habe.
»Hast du denn überhaupt keinen Sinn für Höheres?«, fragte mein Bruder Jaspis, als er die Bescherung sah. Er wollte Philosoph werden und bemühte sich deshalb immer sehr um philosophische Gelassenheit. Aber während er das qualmende Häuflein vor mir bitterböse anschaute, schlug sein Schwanz bedrohlich hin und her, und die Goldmünzen flogen nur so durch unsere Höhle. »Überleg doch mal«, fuhr er fort. »Alle diese Bücher sind von Geschöpfen geschrieben worden, deren Gehirn nur halb so groß wie deine Vordertatze ist. Und trotzdem sind sie geduldiger als du!«
»Ach, wirklich?« Ich freute mich immer diebisch, wenn ich den hochgeistigen Jaspis so lange reizen konnte, bis ihm der Geduldsfaden riss … und da ich jetzt meine winzigen Feinde aus Papier vernichtet hatte, war ich zu einem Kämpfchen aufgelegt. Ich warf mich in Positur, vor lauter heimlichem Entzücken kräuselten sich meine Schuppen, und ich sagte: »Also, ich glaube, alle, die ihre Zeit damit verplempern, Ameisengekritzel zu lesen, haben selbst ein Ameisenhirn.«
»Arrrrrrrg!«
Herrlich! Er brüllte vor Zorn, sprang auf mich zu – und landete genau dort, wo ich gerade noch gesessen hatte. In einem Berg loser Diamanten und Smaragde! Wenn er mich da hineingeschubst hätte, wären meine noch weichen Schuppen böse angedetscht worden. Aber jetzt lag er – platsch! – selbst auf dem Edelsteinhaufen, und ich sprang ihm jubelnd auf den Rücken und stieß ihn mit dem Gesicht in die Klunker.
»Kinder!« Müde hob unsere Mutter den Kopf von den Vordertatzen und schnaubte leidgeprüft. Als ihre Atemluft durch die Höhle wehte, flogen noch mehr Goldmünzen auf. »Manche von uns haben eine lange, anstrengende Jagd hinter sich und versuchen zu schlafen!«
»Ich hätte euch ja geholfen, wenn ihr mich mitgenommen hättet!«, rief ich und sprang von Jaspis herunter.
»Deine Schuppen sind noch so weich, dass sie sogar ein Wolf kaputtbeißen könnte«, erwiderte Mutter, und ihr Kopf sank zurück auf ihre glitzernden blau-goldenen Tatzen. »Und davon, dass sie hart genug sind, um einer Gewehrkugel oder einem Zauberspruch standzuhalten, wollen wir mal ganz schweigen«, fügte sie müde hinzu. »Vielleicht in dreißig Jahren, wenn du fast erwachsen bist und fliegen kannst …«
»Ich will nicht noch dreißig Jahre warten!«, kreischte ich. Und es hallte so laut durch die langen Gänge der Höhle – unser Zuhause –, dass mein Großvater und meine beiden Tanten ebenfalls todmüde zu schimpfen begannen. Das war mir aber egal. »Hier in diesem Berg fällt mir die Decke auf den Kopf, nirgendwo kann ich hingehen, nichts tun –«
»Jaspis nutzt seine ruhigen Jahre, um Philosophie zu studieren.« Jetzt war die Stimme meiner Mutter nicht mehr matt, sondern kalt und hart wie ein Diamant. Ihr langer Hals erhob sich immer höher über mir, und ihre riesigen goldenen Augen verengten sich zu bedrohlichen Schlitzen, die nur auf mich gerichtet waren, ihre freche Tochter. »Andere Drachen entwickeln eine Leidenschaft für Literatur, Geschichte oder Mathematik. Und du, Aventurine, hast du schon eine Leidenschaft für etwas entdeckt?«
Ich knirschte mit den Zähnen und scharrte mit den rechten Vorderkrallen durch das aufgehäufte Gold neben meinen Tatzen. »Unterricht ist langweilig. Ich will auf Entdeckungs–«
»Und wie genau willst du dich mit den Geschöpfen, die du bei deinen Entdeckungsfahrten triffst, verständigen?«, fragte meine Mutter honigsüß. »Bist du etwa schon weiter mit deinem Sprachenlernen, als ich dachte?«
Mit Mühe unterdrückte Jaspis hinter mir ein Kichern. Ich fuhr herum und beschoss ihn mit einer Rauchkugel. Harmlos! Er ließ sie vor seinem Gesicht explodieren, und seine Augen funkelten vor Schadenfreude.
»Ich kann schon sechs Sprachen«, grummelte ich und drehte mich wieder zu meiner Mutter um. Aber den Kopf zu heben und sie anzuschauen, traute ich mich nicht.
»Als deine Schwester so alt war wie du«, erwiderte sie, »konnte sie zwanzig sprechen und schreiben.«
»H-ämmpf.« Fauchen konnte ich nicht, denn ich wagte es auch nicht, meine Mutter mit Rauch zu beschießen. Citrine hätte ich angefaucht, wenn sie noch bei uns gewohnt hätte. Doch sie residierte nicht weit weg in ihrem prächtigen, einzigartigen, drachengroßen Palast. Sie schrieb Heldengedichte, die andere Drachen mit Ehrfurcht lasen, und jedes Wesen, das auch nur in ihre Nähe kam, betete sie an.
Mit meiner älteren Schwester konnte sich niemand messen. Schon der bloße Versuch war zwecklos.
Ich spürte, wie mich meine Mutter schärfer in den Blick nahm. Hatte sie meine Gedanken gelesen? »In der Sprache«, hob sie an und zitierte einen von Jaspis’ Lieblingsphilosophen, »liegt die größte Macht eines Drachen, sie reicht weit über die der Zähne, Krallen und dergleichen hinaus.«
»Ich weiß«, murmelte ich.
»Wirklich, Aventurine?« Sie bog den langen Hals, neigte ihren großen Kopf nun nach unten und schaute mir in die Augen. »Du weißt: Mut ist eine Sache, Leichtsinn aber eine ganz andere. Du hältst dich vielleicht für ein grimmiges Untier, aber außerhalb dieses Berges würdest du keinen Tag überleben. Sei lieber dankbar, dass du ältere und klügere Verwandte hast, die auf dich aufpassen.«
Ein, zwei Augenblicke später schlief sie tief und fest, und ihre schweren Atemzüge rauschten so ruhig und regelmäßig durch die Höhle, als hätten wir uns nie gestritten.
»Keinen Tag?«, flüsterte Jaspis, als er sich vergewissert hatte, dass sie schlief. Er schüttelte die letzten Edelsteine von seinem Rücken und bleckte grinsend alle Zähne. »Keine einzige Stunde! Nicht mal eine halbe, so wie ich dich kenne.«
Ich schaute ihn wütend an und spreizte die Flügel ein wenig. »Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Ich bin größer und feuriger als irgendwer sonst in diesen Bergen.«
»Aber bist du auch schlauer?«, schnaubte er verächtlich. »Ich wette alles Gold in dieser Höhle, dass bei philosophischen Debatten sogar Wölfe besser abschneiden als du. Und wenn sie dafür zu blöde sind, fackeln sie bestimmt nicht alles um sich herum ab!«
»Krrrr –!« Ich wirbelte herum und schlug mit dem Schwanz. Aber es nützte nichts. Die Höhlenwände waren zu eng und fühlten sich mit jeder Sekunde enger an. Ja, sie erdrückten mich regelrecht, und ich kriegte kaum noch Luft.
Noch dreißig Jahre lang sollte ich hier in dem Berg gefangen bleiben und mich von meinen Verwandten ausschimpfen lassen, wenn ich meckerte, weil ich es langweilig fand? NIEMALS!
Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Dumm war ich nicht, auch wenn alle anderen das dachten. Deshalb wartete ich, bis Jaspis endlich aufhörte, mich zu ärgern, und es sich mit einem seiner neuen Menschenbücher gemütlich gemacht hatte – natürlich mit einem, das ich nicht verbrannt hatte. Da es eine philosophische Abhandlung war, würde er mich vollkommen vergessen.
»Ich mache einen Spaziergang durch die Gänge«, sagte ich zu ihm, als er mit den Krallen rasch fünf Seiten vorblätterte.
»Ja, ja«, murmelte er vor sich hin, schaute aber nicht hoch. »Hör mal, Aventurine: Der Autor dieses Buches findet es moralisch falsch, Fleisch zu essen. Fisch auch! Er würde keinem Wesen etwas antun, das atmet, und isst deshalb nur Pflanzen. Ist das nicht wahnsinnig interessant?«
»Interessant? Er verhungert!« Entsetzt zuckte ich mit den Ohren. »Aber ich sag’s doch: Menschen haben kein Gehirn, sondern Kieselsteinchen!«
Mein Bruder hörte mir schon nicht mehr zu. Er hielt sich das winzige Buch dicht vor die Augen und kollerte zufrieden vor sich hin, während ihm der Rauch fröhlich aus den Nüstern strömte.
Ich aber trat über seinen Schwanz und begab mich, eine Tatze vor die andere setzend, in die Freiheit.
Aus den Nischen am Rande der Gänge, wo Großvater Granat, Tante Turmaline und Tante Smaragde schliefen, röchelte und schnarchte es. Um diese Stunde, beim höchsten Stand der Sonne, würde zum Glück niemand aufwachen, wenn ich am Ausgang im Berghang ein bisschen scharrte. Ich legte mich auf den Bauch und wand mich durch den Seitentunnel, den ich vor zwei Jahren entdeckt hatte und den die Erwachsenen nicht benutzen konnten, weil er für sie zu eng war. Oben an seinem Ende war ein geheimer Eingang – oder Ausgang –, der von einem Felsbrocken, groß wie mein Kopf, zugestellt und von außen nicht zu sehen war. Es war mein allerliebster Lieblingsplatz.
Ich hatte ihn vor Urzeiten natürlich Jaspis gezeigt, aber er kam höchstens mal mit, wenn ich ihn hierherschleppte. Er fühlte sich am wohlsten, wenn er sich mit einem Buch in unserer Höhle zusammenkuscheln und lesen oder eine Vorderkralle in Tinte tauchen und lange, wortreiche Aufsätze kritzeln konnte.
Ich dagegen fand es toll, wenn ich den Felsbrocken vor dem Eingang hinausschieben und meine Nase aus dem Loch stecken konnte. Dann atmete ich die frische, prickelnde Luft draußen tief ein und beobachtete, wie über mir die Wolken am Himmel entlangzogen. Weiter hinauszugehen hatte ich noch nie gewagt, aber ich lag manchmal stundenlang dort und träumte von dem Tag, an dem ich endlich meine Flügel ausbreiten und selbst am endlosen Firmament entlangfliegen konnte.
Heute aber wollte ich es zum allerersten Mal nicht beim Träumen belassen.
Ich würde es Jaspis und Mutter schon zeigen, dass ich auf mich selbst aufpassen konnte. Und dann hätten die Erwachsenen keine Ausrede mehr, mich noch länger gefangen zu halten.
Eine Wahnsinnsfreude ergriff mich, ich legte meine Flügel eng an und machte mich auf in die Welt – in die Freiheit.
Mich durch das Loch zu zwängen war schwerer, als ich dachte. Ich blieb schon mit den Schultern stecken und hätte vor Anstrengung beinahe gebrüllt. Um ruhig zu bleiben, durfte ich den Mund nicht aufmachen und musste den Rauch, der in mir aufstieg, herunterschlucken. Fast erstickte ich dabei. Endlich, endlich machte es plopp!, ich platzte aus dem Loch, kullerte, mich mehrmals überschlagend, bergab und jaulte auf vor Schmerz. Meine zusammengeklappten Flügel schrappten so fest über die rauen, scharfen Felskanten, dass meine silber-karmesinroten Schuppen eingerissen wurden.
Was hatte Mutter gesagt? Deine Schuppen sind noch so weich, dass sie sogar ein Wolf kaputtbeißen könnte.
Ich biss die Zähne aufeinander und drückte mich auf alle viere hoch, wedelte kurz mit den Flügeln und behielt sie halb gefaltet am Körper. Schon wenn der leichteste Windhauch sie streifte, zuckte ich vor Schmerz zusammen, knurrte ihn aber weg.
Meinen ersten Flugversuch würde ich heute allerdings nicht wagen. Um Beute zu machen, musste ich ohnehin nicht fliegen.
Zum ersten Mal in meinem Leben wölbte sich der Himmel frei und blau über mir. Auch ich war frei. Hinter mir erhob sich der zerklüftete Berggipfel; vor mir lag ein bewaldetes Tal. Und dazwischen, irgendwo versteckt in den schartigen Ausläufern des Vorgebirges, auf den schmalen, steinigen Wegen, bewegten sich winzige Tiere und Menschen.
Ich lief den Berghang hinunter. Folgte dem Geruch von Essen.
Jagen war gar nicht so einfach, wie ich gedacht hatte.
Die Pfade den Berghang hinab waren rau und holprig, und bei jedem Schritt kullerten Steinchen und Dreckstückchen vor mir hinunter. Einerlei, wie langsam und vorsichtig ich auch die Tatzen aufsetzte, ich konnte nicht verhindern, dass die fiesen kleinen Steine vor mir herflogen wie Spione, die vorrannten und alle vor meinem Kommen warnten. Als ich zwei volle Stunden draußen war, hätte ich am liebsten den ganzen Berghang abgefackelt … Und mein Magen knurrte lauter als ich.
Immer wieder hörte ich Vögel rufen. Als ob sie darum bettelten, dass ich sie verspeiste. Einmal roch ich sogar, wie köstliche warmblütige Tiere kaum zwanzig Meter von mir entfernt über den Weg schlichen. So nahe! Ich rannte los, um sie in einem unbedachten Moment zu fangen, doch die ohnehin schon unter meinen Füßen wegspringenden Steinchen verwandelten sich in eine wahre Lawine, und ich rutschte und glitschte hilflos in eine Gruppe kratziger Kiefern … Als ich endlich an der Stelle ankam, wo ich meine Beute vermutet hatte, war sie natürlich längst fort.
So was von gemein! Ich warf den Kopf in den Nacken und bebte vor Enttäuschung. Und konnte nicht mal richtig brüllen, weil mich meine Familie sonst gehört hätte.
Im Berg waren jetzt garantiert alle wach. Natürlich würden sie nicht sofort nach mir suchen. Ich ging ja oft auf Erkundungstour durch die Tunnel und Gänge. Wenn ich aber nicht bald zurückkam, würden sie anfangen sich zu wundern … Und wenn sie mich fanden, bevor ich auch nur ein einziges Stück Essen gefangen hatte, durfte ich bestimmt nie wieder aus unserer Höhle raus.
Koste es, was es wolle – mit leeren Tatzen konnte ich nicht zurückkommen.
Da hörte ich gedämpft eine männliche Stimme unter mir singen.
Das musste ein Mensch sein.
Ich sperrte die Nasenlöcher auf. Alle meine Sinne wurden geschärft, als ich den Geruch eines warmen, köstlichen Säugetiers roch. Und besser noch, es war mit dem Geruch nach brennendem Kiefernholz vermischt.
Der Mensch hatte ein Feuer angezündet. Er saß also an einer Stelle.
Und er sang.
Er würde mich nicht hören, wenn ich mich an ihn ranschlich.
Ich machte mich bereit. Spannte alle Muskeln an, hockte mich hin, fertig zum Absprung. Aber nicht sofort. So leichtsinnig war selbst ich nicht.
Ich mochte zwar menschliche Bücher nicht so sehr wie Jaspis, aber die Geschichten von Großvater, die hatte ich alle im Kopf.
Was, wenn der Mensch eine Flinte hatte? Oder ein Schwert?
Menschen waren für Drachen die gefährlichste Beute. Selbst Mutter jagte sie selten allein. Und Großvater hatte uns allen beigebracht, uns von ihnen fernzuhalten, besonders, wenn wir allein waren, und lieber ungefährliches, passenderes Essen zu suchen … Dabei hatte er so harte Schuppen, dass alles, ob Klinge oder Kugel, daran abglitt oder abprallte.
Ich betrachtete die Risse in meinen schmerzenden Flügeln und kollerte leise unglücklich vor mich hin. Der gesunde Drachenverstand fühlte sich in meinem Bauch an wie ein Stein. Aber dann …
Aaah, mir kribbelten alle Schuppen, als ich mir Jaspis’ Blick vorstellte, wenn ich einen Menschen in unsere Höhle schleppen würde. Ich. Ich! Ganz allein!
Sogar Mutter würde zugeben müssen, dass ich draußen auf der Welt längst selbst auf mich aufpassen konnte. Besser konnte ich es ihr gar nicht beweisen. Ich musste es schaffen.
Ich holte tief Luft, ließ mich langsam auf dem Boden nieder und kroch vorwärts. Mein Bauch schabte über Schmutz und Steine. Der Mensch hatte nicht aufgehört zu singen, und als ich näher kam, erkannte ich allmählich die Sprache und verstand die Worte.
»… und die Straße, so lang, oh, so lang/Wo hört sie auf …?«
Haha! Alle Straßen dieser Welt hören irgendwo auf.
Hatte ich nicht zu Jaspis gesagt, die Menschen hätten Kieselsteinchen als Gehirne?
Endlich erblickte ich meine Beute. Er hatte eine geschützte Einbuchtung am Berghang gefunden, die auf drei Seiten von Felsbrocken und verkrüppelten Kiefern umgeben war, und in der Mitte ein Feuer angezündet. Den Rücken mir zugewandt, beugte er sich darüber. Ich spähte durch die Bäume und hielt die Luft an, ja, presste die Lippen so fest zusammen, dass der heiße Rauch – immerhin war ich sehr aufgeregt – nicht aus mir entweichen und ihn warnen konnte.
Zum Glück hatte er weder Schwert noch Flinte. Er gehörte auch nicht zu den seltenen, gefährlichen Menschen, die zaubern konnten. Zaubern ist die schlimmste List der Menschen. Aber Zauberer oder Magier tragen elegante, lange Bedeckungen, in denen sie aussehen, als hätten sie keine Beine. Großvater hatte für Jaspis und mich ein Bild von Magiern gemalt, und wir mussten ihm versprechen, dass wir nie in ihre Nähe gehen würden, bis unsere Schutzschuppen schon mindestens hundert Jahre hart waren. Dieser Mensch trug vollkommen ungefährliche purpur- und pinkfarbene Stoffschichten, und man konnte seine mageren Beine ganz deutlich sehen.
Trotzdem, wenn das hier klappen sollte, musste ich schnell sein. So schnell, dass er weder Schwert noch Pfeil und Bogen aus dem großen Beutel ziehen konnte, der neben ihm lag … oder eine Axt oder …
Ich bin größer und feuriger als er, sagte ich mir entschlossen. Ich bin die furchterregendste Kreatur auf diesem Berg.
Da drehte er sich langsam zu mir um.
JETZT! Ich riss den Mund auf – ein stummer Schrei! – und sprang.
»Arrrrg!«, schrie er, ließ das, was er in der Hand hielt, in den Topf fallen und sprang zur Seite. Doch dabei stolperte er über einen Stein und fiel auf den Rücken. Siegesgewiss stürzte ich mich auf ihn.
Doch dann schrie auch ich, denn meine verletzten Flügel ratschten an den Kiefern, die dort in einem Halbkreis standen, entlang. »Arrrrg!« Ich kam gar nicht bis zu ihm, sondern versuchte nur, mich vor den Schmerzen zu schützen, und landete unsanft direkt neben dem Feuer. Schnell legte ich die Flügel an. »Au! Au! Au!«
Oh! Als der Mensch die Augen aufriss, merkte ich, dass ich es war, die laut »Au!« gerufen hatte.
»Rrraaaar!« Ich erhob mich und bleckte meine fünfzig Zähne. Schon besser. Der Mensch blinzelte heftig, auf dem Gesicht brach ihm der Schweiß aus. Er machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus.
Ich stand hoch erhoben vor ihm und wollte mich gerade auf ihn stürzen – da roch ich es!
Einen köstlichen, süßen, ganz fremden Duft. Kräftig und voll zog mir Dampf direkt an der Nase vorbei.
Blitzschnell schob ich meinen langen, schlangigen Hals zum Feuer. »Was ist denn das?«
»W-W-Was?« Der Mensch wich noch einen halben Meter zurück und starrte mich an.
Das war mir jetzt egal. Ich konnte ihn später immer noch fangen. Das Einzige, was mich interessierte, war der Topf, den er über das Feuer gehängt hatte, der Topf, aus dem der Dampf kam und alle meine Sinne kitzelte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich musste davon kosten!
In dem Topf kochte und brodelte eine Flüssigkeit. Braune Schlieren, die sich von einem dunklen Klumpen lösten, wirbelten darin herum.
»Was hast du in den Topf getan?«, fragte ich.
»Das?« Er wich nicht weiter zurück. »Das ist Schokolade.«
»Schokolade?« Von Schokolade hatte ich noch nie gehört. Auch Jaspis hatte Schokolade noch nie erwähnt, und dabei hatte er jedes philosophische Werk der Menschen gelesen, das er in die Krallen bekam. Wie konnten seine Philosophen begeistert Pflanzen futtern, wenn es etwas derart Köstliches gab?
Ich ging mit der Nase so dicht an den Topf, wie ich mich traute, denn ich wollte ihn ja nicht umkippen. Dann nahm ich einen tiefen, tiefen Atemzug.
HIMM-LISCH!
Ein tiefes schmachtendes Kollern entfuhr mir und hallte in der Lichtung wider. »Das ist Schokolade?«
Bis heute hatte ich immer nur Fleisch essen wollen, ob verbrannt, roh oder kurz angebraten. Ich dachte, dass es gar nichts Besseres geben konnte. Aber jetzt …
Ging es Jaspis so bei seiner Philosophie?
Ich musste wissen, wie Schokolade schmeckte. Ohne dieses Wissen konnte ich keinen Moment weiterleben. Ich bog den Hals, streckte ihn vor und …
»Warte!« Der Mensch sprang hoch.
Ungläubig bäumte ich mich auf. »Hast du gerade ›Warte!‹ zu mir gesagt?« Ich war so empört, dass ich meine verletzten Flügel spreizte und ihn böse anschaute. Dieser mickrige Wicht wollte mich davon abhalten, von meiner Schokolade zu kosten?
»Dann muss ich dich doch zuerst fressen«, sagte ich bedauernd.
»Nein!« Mit einem Satz stand er vor mir, die Hände erhoben. »Ich meinte nur, dass die Schokolade noch nicht fertig ist. Es soll heiße Schokolade werden. Ich habe noch nicht alles zusammengemischt. Die Gewürze fehlen auch noch alle.«
Ich schaute ihn scharf an. »Du meinst, dann schmeckt es sogar noch besser?«
»Du hast noch nie heiße Schokolade getrunken, stimmt’s?«, sagte er.
»Also …« Mir fielen Großvaters mahnende Worte ein, wie die Menschen einen austricksen und dergleichen. »Vielleicht ja doch«, sagte ich schlau. »Wer weiß.«
Einen Moment lang zögerte er. Dann bückte er sich und hob einen Holzlöffel vom Boden auf. Seine Hand zitterte. »Verlass dich auf mich«, sagte er. »Ich verschaffe dir ein Erlebnis, das du nicht vergisst.«
Bevor ich darauf etwas sagen konnte, drehte er sich um und begann in dem Topf zu rühren.
Ich setzte mich auf die Hinterbeine und schaute ihm genau zu. Wartete.
Vor lauter Konzentration verzog er das Gesicht und fing an zu flüstern. Sang die Worte beinahe. Würde er jetzt wieder das dämliche Lied singen? Der Rhythmus war ein bisschen anders … Aber wen interessierte schon dieser Menschenquatsch? Mich nicht. Ich versuchte gar nicht erst, ihn zu verstehen.
Als der Mensch jedoch in seine Tasche langte, packte ich ihn mit einer Tatze bei der Schulter. »Keine Schwerter!«
»Ich – Ich …« Schwer atmend hielt er inne. »Es ist kein Schwert«, brachte er schließlich heraus. »Schau!« Er zog ein Tütchen aus der Tasche. »Es ist bloß Zimt.«
»Zimt?« Ich beugte mich argwöhnisch vor und betrachtete die Tüte. Wollte er mich etwa vergiften?
»Schau, ich esse selbst etwas davon«, sagte er, holte mit einem zitternden Finger ein paar hellbraune Krümel aus der Tüte und steckte ihn in den Mund. »Siehst du?«
Ich roch, und das war noch besser als sehen. Aus dem offenen Tütchen kam ein herrlicher Duft. »Rein damit«, befahl ich ihm. Diese Zimt-Schokolade-Mischung wollte ich riechen. Ich wusste schon, dass sie wunderbar sein würde.
Immer noch nervös atmend, gab er ein paar Prisen Zimt dazu.
Ahhh, ich hatte recht. Der neue Duft war sogar noch besser.
Allmählich wünschte ich schon, ich müsste ihn danach nicht als Essen für meine Familie mit nach Hause nehmen. Es wäre viel schöner, ihn als Haustier zu behalten, damit er mir immer, wenn ich wollte, heiße Schokolade machen konnte.
Fleißig arbeiten würde er, das sah ich. Als er die heiße Schokolade umrührte, flüsterte er die ganze Zeit was in diesem komischen rhythmischen Singsang, von Kopf bis Fuß angespannt und konzentriert. Ach, ich hätte besser zuhören und versuchen sollen, die Worte zu verstehen. Aber mal ehrlich, wann hatte ich mich schon darum geschert, was Menschen sagten? Außerdem genoss ich die Wohlgerüche, die aus dem Topf stiegen, viel zu sehr. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich mich in diese dampfenden Duftschwaden eingehüllt und mich stundenlang darin herumgewälzt. Heiße Schokolade. Na, wenn das kein Schatz war, der für einen Drachen gerade recht war.
Wenn ich die erste Portion getrunken hatte, musste ich gucken, ob er noch mehr im Gepäck hatte. Ich wusste jetzt schon, dass ich noch mal heiße Schokolade trinken wollte. Und zwar jede Menge.
Endlich schaute er hoch und lächelte mich nervös an. »Fertig«, sagte er bebend. »Soll ich sie in eine Tasse gießen, oder …«
»Meinst du etwa, ich könnte aus deinen winzigen Menschentassen trinken?«, schnaubte ich und schickte eine Rauchkugel an seinem Gesicht vorbei.
»Stimmt, wahrscheinlich nicht«, erwiderte er. »Dann trink lieber aus dem Topf.« Um sich nicht zu verbrennen, umwickelte er eine von seinen beiden weichen Menschenhänden mit einem Stück von seiner äußeren Bedeckung, ergriff den langen Stiel und hob den Topf hoch. »Pass auf, es ist heiß.«
Ich schaute ihn verächtlich an und streckte eine Vordertatze aus. »Ich bin ein Drache, schon vergessen?«
Mit den Krallen umfasste ich den kleinen Topf und hielt ihn, als sei er der kostbarste Edelstein. Vorsichtig hob ich ihn an die Lippen. Schloss die Augen und kippte mir die üppige heiße Flüssigkeit in den Rachen.
»Aahhhhh!«
Das pure Entzücken erfüllte meinen Körper. Ich taumelte vor Lust.
Schokolade Schokolade Schokolade –
»Aaahhhhhhhhhhhhh!«
Etwas explodierte in mir, und die Welt wurde schwarz.
Als ich die Augen wieder aufschlug, merkte ich als Erstes, dass ich irgendwie falsch lag. Eben noch hatte ich auf den Hinterbeinen gesessen und auf den buntgekleideten Menschen mit den wahnsinnigen Kochkünsten hinuntergeschaut. Jetzt sah ich nur noch den blauen Himmel oben.
Oh, ich lag wohl auf dem Rücken.
Also, das war seltsam. Ich hatte noch nie auf dem Rücken gelegen. Da hätte ich mir die Flügel zerquetscht.
Die Flügel! Wo waren meine Flügel? Ich spürte sie nicht unter mir. Ich wollte mich auf meine vier Tatzen aufrappeln – und kippte prompt vornüber.
Was stimmte nicht mit meinen Beinen?
Ich machte den Mund auf, damit der Rauch aus meiner Kehle entweichen konnte. Aber es war gar keiner da! Warum bildete sich kein Rauch in meinem Hals? Ich hustete immer Rauch, wenn ich in Panik geriet. Und jetzt war ich in Panik!
»Vorsicht!«, sagte eine Stimme in meiner Nähe. Sie klang vertraut, aber nicht ganz. Als ich sie das letzte Mal gehört hatte, war sie viel leiser gewesen.
Ich drehte den Kopf. Das ging gar nicht so geschmeidig wie sonst. Aber ich hatte keine Zeit, mir darüber Sorgen zu machen.
Denn das Wesen, das vor mir stand, war zwar ein Mensch – mein Mensch –, aber wie war er so groß geworden? Vor einem Moment noch war er winzig gewesen. Jetzt erhob er sich riesig über mir.
»Du solltest dich langsam bewegen«, sagte er. »Es dauert wahrscheinlich eine Weile, bis du dich daran gewöhnt hast.«
»Woran gewöhnt?«, kreischte ich los.
Und erstarrte. Weiterer Protest blieb mir im Halse stecken. Es war auch gar nicht meine Stimme gewesen. Meine Stimme hätte in der Lichtung donnernd widerhallen müssen. Diese Stimme hier klang dünn und quietschig. Sie klang … Sie klang fast wie …
Mein ganzer Körper erbebte und ging zu Boden.
»Hier.« Seufzend zog der Mensch die oberste Stoffschicht von Armen und Rücken. »Du frierst. Offenbar von dem Schock.« Er legte mir das lange purpurfarbene Ding über, und es fiel zu beiden Seiten an mir herunter.
Wie konnte es zu groß für mich sein? Ob ich …
»Das kann nicht sein«, flüsterte ich mit dieser schrecklich falschen, dünnen Stimme. »Nein!«
»O doch«, sagte er. »Es tut mir leid, aber es ging nicht anders. Schließlich hättest du mich sonst gefressen … Und als du noch so groß warst, hätte ich dich auch nicht daran hindern können.« Er zuckte mit den Schultern. »Was blieb mir anderes übrig, als mich zu wehren?«
Die Welt drehte sich um mich. Ich kriegte keine Luft. Ich suchte Halt und wollte mich mit den Krallen im Boden verhaken. Zwecklos. Sie verhakten sich gar nicht.
Ich schaute nicht nach, warum das so war. Ich behielt den Lügner und Betrüger vor mir fest im Blick.
»Du kannst nicht zaubern«, sagte ich. »Mich führst du nicht hinters Licht. Du trägst keine schwarze Bedeckung.«
»Schwarz? Ah, ich weiß, was du meinst. Du denkst an die Kampfmagier des Königs in den langen schwarzen Gewändern.« Er prustete verächtlich. »Nein, so einer bin ich nicht. Sie veranstalten den großen, phantastischen Zauber auf den Schlachtfeldern und kriegen all das Gold und die Ehre, dazu die Uniformen. Ich bin nur …« Er verzog die Lippen und lächelte überheblich. »Ich bin viel interessanter: Ich bin ein Essensmagier. Wir sind nicht sehr zahlreich, aber auf eins kannst du dich verlassen: Macht haben wir auch. Die heiße Schokolade, mit der ich dich verzaubert habe, hat dir ja geschmeckt, stimmt’s? Das beweist doch einiges.«
Was? Die heiße Schokolade war das Köstlichste, das ich in meinem ganzen Leben gekostet hatte. Schon bei der bloßen Erinnerung spürte ich wieder ein Ziehen und Schmachten im Magen.
Meine Mutter hatte sich ganz umsonst solche Sorgen gemacht. Ich hatte gefunden, wofür ich eine Leidenschaft entwickeln wollte … Nur der Zeitpunkt war nicht so günstig.
Was meinte der Essensmagier eigentlich mit »verzaubert«?
Er bückte sich und holte etwas Rundes aus seinem Beutel. Es glitzerte im Sonnenlicht. Vor Angst wurde mir ganz flau im Magen. Ich wusste, was es war. Zusammen mit einer ganzen Ladung anderer Menschengerätschaften wie Wasserkesseln und Töpfen hatte Großvater so was schon mal mit nach Hause gebracht, damit wir daraus lernen konnten. Citrine hatte es natürlich sofort erkannt. Es war ein Spiegel!
»Willst du dich sehen?«, fragte der Magier, seltsam fürsorglich.
Nein, dachte ich. Sagte es aber nicht laut. Ich war ein Drache. Ich würde vor niemandem Angst zeigen, schon gar nicht vor jemandem, der eigentlich meine Jagdbeute hätte sein sollen.
Der Spiegel kam näher. Ich lag vollkommen erstarrt da und wartete. Ich würde nicht weglaufen. Die Blöße würde ich mir nicht geben.
Er hielt mir den Spiegel direkt vors Gesicht.
Ein sehr junges weibliches menschliches Wesen schaute mich mit weit aufgerissenen goldenen Augen entsetzt an!
Danach blieb der Essensmagier nicht mehr lange. Während er ein fröhliches Liedchen pfiff, wischte er sorgsam seinen Kochtopf sauber und sammelte seine Siebensachen ein. Mir lief bei dem Geruch schon wieder das Wasser im Mund zusammen. Aber ich biss meine kleinen stumpfen Zähne zusammen und zwang mich, nicht um noch ein bisschen Schokolade zu bitten.
Denn die Genugtuung gönnte ich ihm nicht.
»Verwandel – mich – wieder – zurück!«, befahl ich ihm. »Sonst passiert was!«
Vor einer Viertelstunde hätte er bei meinem knurrigen Ton noch gezittert. Jetzt bedachte er mich mit einem verlogenen Lächeln und schlang sich den Beutel über die Schulter. »Viel Glück, kleiner Drache!«
Seine Bedeckung hatte er mir da schon wieder abgenommen. Ich trug nur, was mir nach der Verwandlung geblieben war, einen silber-karmesinroten Stoffanzug, der ein Muster wie meine Schuppen hatte. Er lag wie eine zweite Haut auf meinem nackten, schuppenlosen Körper, meine nackten, weichen Füße waren überhaupt nicht geschützt. Ich versuchte zwar, die armen kleinen Dinger genauer anzuschauen, doch ich konnte mich nicht dazu überwinden. Auch das silber-karmesinrote Muster, das meine Schuppen nur nachahmte, betrachtete ich nicht. Immer wenn ich es doch probierte, klapperten meine armseligen Zähnchen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Um einigermaßen stillzuhalten, schlang ich meine schwachen oberen Gliedmaßen um die Brust.
Großvater weiß, was zu tun ist. Das musste ich mir immer sagen, wenn ich vergaß, dass Drachen niemals, wirklich niemals, Angst kriegen.
»Kann sein, dass es dir sogar gefällt, ein Mensch zu sein«, sagte der Essensmagier. »Wenn du dich erst mal von der Überraschung erholt hast, solltest du den Berg hinunterwandern. Die nächste Stadt ist Drachenburg, das ist die Hauptstadt. Da kannst du dir vielleicht am besten deinen Lebensunterhalt verdienen und eine Wohnung finden.«
»Lebensunterhalt?«, fragte ich. »Was ist denn das?«
Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Du musst viel lernen. Denk dran: Geh nach dort unten.« Er zeigte bergabwärts. »Wenn ich du wäre, würde ich mir eine Lehrstelle suchen. Ich weiß nicht, wie alt du als Drache warst, aber jetzt siehst du ungefähr wie zwölf aus, bist also im richtigen Alter. Lauf besser bald los. Wenn es dunkel wird und die wilden Tiere rauskommen, willst du ja nicht unbedingt noch hier sein.«
»Das wildeste Tier in den Bergen bin ich!«, fauchte ich.
Ein komisches kleines Geräusch kam ihm aus dem Hals. Dann schoben sich die beiden Felllinien über seinen Augen nach unten. Sein Mund verzog sich … Irgendwas in seinem Gesicht war … nein, verflixt und zugenäht! War das Mitleid?
Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich noch Flammen hätte ausstoßen können. Ich hätte ihn abgefackelt. Samt Schokolade und allem, nur damit dieser Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand.
»Viel Glück!«, sagte er noch einmal und ging.
Kurz darauf hörte ich nicht mal mehr sein Pfeifen. Ich war allein auf der Lichtung. Und auf einem Berg, der mir plötzlich riesengroß vorkam.
Na, gut dann. Die Wut gab mir Kraft. Ich biss die Zähne zusammen, drehte mich um und stellte mich auf die Hintertatzen.
Das werde ich ja wohl schaffen.
Vor dem Essensmagier aufzustehen hatte ich nicht gewagt. Ich hätte es nicht ertragen, wenn jemand – und schon gar nicht er – gesehen hätte, wie ich wie ein Volltrottel hin und her geschwankt wäre. Jetzt, wo er weg war, wollte ich aber keinen Augenblick länger hier bleiben. Immerhin musste ich einen Berg hinaufklettern … bei dem Gedanken stöhnte ich auf und sank wieder auf alle viere … was für eine schreckliche Überraschung ich für meine Familie hatte.
Was würden meine Mutter und mein Großvater und meine beiden Tanten den Kopf schütteln, wenn sie sahen, was passiert war. Schon bei der Vorstellung, was meine Verwandten sagen würden, schlugen meine mickrigen Beißerchen aufeinander. Wie würde Jaspis mich damit aufziehen!
Egal. Ich musste es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Wenn das Gemecker und Flügelschlagen erst mal vorbei waren, würden sie sich beruhigen und mir wieder zu meiner richtigen Gestalt verhelfen.
Irgendwie.
Aber Drachen können nicht zaubern, wisperte ein winziges hohes Stimmchen in meinem Hinterkopf.
Trotz meiner kurzen engen Kehle knurrte ich leise und brachte es damit sofort zum Verstummen. Demütig den Hals beugen und aufgeben würde ich nicht. Ich nicht. Ich war ein Drache, kein Wurm, und es wurde Zeit, dass ich in meine Höhle zurückkehrte. Zur Abwechslung würde ich mich mal zufrieden zurücklehnen und zulassen, dass sich meine Familienangehörigen um mich kümmerten und das kleine Problem beseitigten.
Und dann würde ich sehen, wo ich mehr Schokolade herbekam.
Als Erstes musste ich allerdings laufen lernen.
Wenn Menschen das konnten, konnte es so schwer nicht sein. Ächzend vor Anstrengung zwang ich mich aufzustehen.
Kurz darauf lag ich, erneut nach Luft ringend, auf dem Boden. Ich war schon wieder heftig gestürzt. Menschliche Körper waren lächerlich.
Knurrend setzte ich meine Vordertatzen – Hände! – auf den Boden.
Wenn ich nicht auf zwei Beinen laufen konnte, würde ich eben auf Händen und Füßen laufen. Das war sowieso viel praktischer. Menschen würden das auch tun, wenn sie praktischer dächten. Ich musste es nur schlau genug anstellen, meine überlangen Beine im richtigen Winkel beugen und dann …
Autsch! Nach drei Schritten plumpste ich wieder hin, wimmerte und saugte an meiner verletzten rechten Hand, damit sie nicht mehr so weh tat. Ich schmeckte einen Tropfen Blut auf der Zunge.
Pfui! Angeekelt spuckte ich aus. Wieso schmeckte mir Blut auf einmal nicht mehr?
Der Zauberer hatte mich wirklich ganz und gar verwandelt. Wenn es nicht bald rückgängig gemacht wurde, mochte ich am Ende noch Gemüse.
Der Gedanke reichte, damit ich es noch einmal mit dem Gehen versuchte.
Dieses Mal schlängelte ich mich vor, bis ich einen abgefallenen Ast nicht weit von mir entfernt fand. Aha! Ich hatte schon mal von Drachen gehört, die mit nur drei Füßen zurechtgekommen waren. Wenn die das konnten, konnte ich es auch.
Fest entschlossen, halb humpelnd, halb gehend, machte ich mich auf den Weg nach oben.
Nach einer Weile konnte ich den Stock wegwerfen und ohne seine Hilfe laufen. Es war nicht einfach, aber ich schaffte es. Meine wunden Füße schmerzten.
Plötzlich flog ein gigantischer Schatten über mir her. Ich warf den Kopf so fest nach hinten, dass mein Menschenhals laut knirschend protestierte.
»Aaaaah«.
Über mir, wo eigentlich nur blauer, langsam dunkler werdender Himmel sein sollte, sah ich ganz nahe, dicht über den Baumwipfeln etwas Großes, Breites in Rot und Gold vorbeischweben.
Das Muster hätte ich jederzeit und überall erkannt.
»Großvater!«, schrie ich. Ich sprang auf und ab, denn in meinen neuen Menschenbeinen fand ich Muskeln, die ich nie dort vermutet hätte. Während ich hektisch mit den Armen winkte, wurde mir vor Erleichterung ganz schwindelig. »Großvater! Ich bin’s!«
Sein Kopf – wie riesig er wirkte! – neigte sich. Ein großes goldenes Auge richtete sich auf mich, wie ich da auf- und absprang.
»Großvater!«, brüllte ich noch einmal.
Er neigte seine Flügel ein bisschen, flog im Kreis und dann … flog er von mir weg.
Mir blieb der Mund offen stehen. Schier ungläubig starrte ich ihm nach.
»He!«, brüllte ich und hob einen Stein auf, der so groß wie meine Faust war. »Komm zurück!«
So fest ich konnte, warf ich den Stein.
Natürlich traf ich ihn nicht. Der Stein flog gar nicht so weit. Aber Großvater bemerkte ihn, und das hatte ich gehofft.
Er drehte den Hals um – die Farben wirbelten – und riss das enorme Maul auf.
Ich legte meine beiden Hände an meinen winzigen Mund. »Großva–!«
Eine gewaltige Feuerkugel kam aus seinem Rachen geschossen. Direkt auf mich zu!
Mein neuer Körper reagierte, bevor ich wusste, wie mir geschah. Ich fiel hin, überschlug mich ein paarmal, zog den Kopf an die Brust und rollte mich zusammen.
Die Hitze verbrannte mir fast den Rücken, dann ließ sie nach. Wie erstarrt lag ich da und wartete auf die nächste Feuerkugel. Ohne meine Schuppen würde ich in Sekundenschnelle ein Häuflein Asche sein.
Gleich würde er … Augenblick mal.
Wie lang lag ich nun schon hier?
Vorsichtig öffnete ich die Augen. Langsam nahm ich die Arme vom Kopf.
Weit weg, oben am Himmel sah ich meinen Großvater, jetzt nur noch winzig klein, davonflattern. Er machte sich nicht mal die Mühe zurückzuschauen.
Aber ich ließ ihn nicht aus den Augen.