Mårten Sandén
Schornsteinweihnachten
Aus dem Schwedischen
von Birgitta Kicherer
Mit farbigen Illustrationen
von Lina Bodén
FISCHER E-Books
Mårten Sandén wurde 1962 in Südschweden geboren. Er studierte Psychologie und Sozialwissenschaften und arbeitet heute als Songwriter und Buchautor. Er hat mehr als dreißig Kinder- und Jugendbücher verfasst, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Mårten Sandén lebt mit seiner Familie in Stockholm, Schweden.
Lina Bodén wurde 1980 geboren und studierte in Stockholm Design. Seit ihrem Abschluss ist sie im Bereich Produktdesign tätig und hat mehrere Bücher für Kinder und Erwachsene illustriert. Lina Bodén lebt mit Sohn und Partner in der Nähe von Stockholm, Schweden.
Wer ist der alte Niklasson, der obdachlos am Bahnhof sitzt? Er hat einen weißen Bart und weiß nicht mehr, wer er ist. Die Waisenkinder Stella, Mago und Issa haben auch kein richtiges Zuhause mehr und unterhalten sich mit dem freundlichen Alten. Als sie ihm dabei helfen, seinen Erinnerungen auf die Spur zu kommen, erleben sie nicht nur ein magisches Weihnachtsabenteuer mit Rentierschlittenfahrt in der Luft. Sie lernen auch die Schornsteinkinder kennen, die auf den Dächern der Stadt leben. Durch sie erfahren die Kinder, was Freundschaft und Zusammenhalt bedeutet.
Poetisch und stimmungsvoll – eine zauberhafte Weihnachtsgeschichte in der Tradition von Astrid Lindgren oder Charles Dickens
Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom Kulturrådet, Swedish Arts Council
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die schwedische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel ›Skorstensjul‹ bei Rabén & Sjögren, Sweden.
Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden
Text copyright © 2015 Mårten Sandén
Illustrations copyright © Lina Bodén
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Regina Solf, Mannheim, unter Verwendung einer Illustration von Lina Bodén
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-4979-1
Kurz vor Mitternacht stiegen wir in Stockholm aus dem Zug. Mago lief sofort los, um einen Briefkasten zu suchen, weil sie ihrem Vater in Afrika einen weiteren Brief schicken wollte. Während wir auf sie warteten, wanderten Issa und ich in der großen Ankunftshalle des Stockholmer Hauptbahnhofs umher.
Vor dem geschlossenen Zeitungskiosk blieb ich stehen und überflog die Schlagzeilen, aber nirgends wurden wir erwähnt. Da stand nichts über zwei Mädchen namens Stella und Mago und einen kleinen Jungen, der Issa hieß. Auch nichts über das Waisenhaus, aus dem wir weggelaufen waren, oder darüber, dass uns irgendjemand suchte. Vielleicht schrieb man keine Schlagzeilen über solche Sachen. Oder es war tatsächlich so, dass niemand uns suchte.
Ich war bisher noch nie in Stockholm gewesen und hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Bahnhof so riesig sein konnte.
»Sieh mal, die schönen Lichter, Issa!«, sagte ich und hockte mich neben ihn. »In vierundzwanzig Tagen ist Weihnachten, aber bis dahin sind wir schon mit Mago und ihrem Papa abgereist.«
Issa wandte sein Gesicht nach oben. Die unzähligen Lämpchen an der Decke der Ankunftshalle spiegelten sich in seinen schwarzen Augen.
»Melchior Jasper«, flüsterte er. »Poste Restante.«
Und das stimmte natürlich genau. Das waren der Name und der Anfang der Adresse, die Mago auf alle Briefe an ihren Vater schrieb. Obwohl Issa noch klein ist, versteht er schon so viel.
Die Läden und Cafés im Bahnhof hatten geschlossen, und das war vielleicht ganz gut. Wenn man kein Geld hat, ist es besser, nicht in Versuchung geführt zu werden. Aber vor dem Schlafen würden wir noch etwas zu essen bekommen, das hatte Mago versprochen.
Wo immer wir auch schlafen würden.
Genau darüber zerbrach ich mir den Kopf, als ich merkte, dass Issa stehengeblieben war und meine Hand losgelassen hatte. Da blieb ich auch stehen.
»Habt ihr ein paar Kronen übrig, Kinder?«
Ein dicker alter Mann mit einem schmutzigen grauen Bart saß an die Wand gelehnt auf dem Boden. Vor ihm stand ein Geigenkasten und daneben ein Schild: BITTE UM EINE SPENDE. ICH HABE HUNGER.
Ich sagte, wir hätten kein Geld, aber es war, als würde der Mann mich nicht hören. Er sah nur Issa an, und Issa sah nur auf den Geigenkasten.
»Mach den Kasten ruhig auf«, sagte der Mann. »Ich kann sowieso nicht mehr spielen.«
Er wollte wissen, warum wir so spät noch alleine unterwegs waren, und ich erklärte, dass wir eben erst in Stockholm angekommen waren. Das Waisenhaus erwähnte ich nicht.
»Unsere Freundin Mago wollte nur schnell einen Brief einwerfen«, sagte ich. »Ihr Papa kommt bald und holt sie ab, Issa und mich auch, wenn wir wollen.«
Der Mann nickte, sah aber immer noch etwas besorgt aus.
»Stockholm ist eine große Stadt«, sagte er. »Vor allem, wenn man klein ist.«
»Mago kennt sich bestens in Stockholm aus«, versicherte ich. »Und sie ist schon zwölf.«
Vermutlich fand der Mann, dass zwölf nicht besonders alt sei, darum zählte ich schnell auf, was Mago alles kann.
»Sie spricht vier Sprachen«, fing ich an. »Und ihr Papa hat eine Goldmine, und …«
»Ist erledigt, Stella!«
Plötzlich stand Mago neben mir, leicht außer Atem, aber vergnügt.
»Ich hab einen Briefkasten gefunden«, sagte sie. »Der wird zwar erst morgen früh geleert, aber das …«
Plötzlich verstummte sie und horchte. Ich hatte der wehmütigen Melodie schon eine Weile gelauscht, und der alte Mann offensichtlich auch.
»Wer spielt denn da?«, fragte er und schloss die Augen. »Das klingt ja, als wäre es ein Engel!«
Es war Issa, der da spielte, so schön wie im Radio! Ich war nicht allzu erstaunt, denn ich weiß, dass Issa viele Dinge kann, die man nicht für möglich halten würde.
Jetzt stand er mit geschlossenen Augen mitten in der Halle, die Geige des alten Mannes unterm Kinn, und spielte. Die Töne stiegen in die Luft, als wären sie Seifenblasen, verharrten kurz und verschwanden.
Wie ein unsichtbarer Magnet zog die Musik alle an, die noch in der Bahnhofshalle waren. Ein Mann mit Aktentasche warf im Vorbeigehen einen Geldschein neben Issas Füße.
»Stella, deine Mütze!«, flüsterte Mago. »Leg sie auf den Boden!«
Ich nahm meine rote Zipfelmütze ab und legte sie Issa vor die Füße.
Alle gaben Geld. Eine Gruppe Piloten und Flugbegleiterinnen, die vom Flughafen Arlanda nach Hause unterwegs waren, gaben Hundertkronenscheine, andere kramten ihr Kleingeld aus den Taschen, und einer, der gerade die Halle ausfegte, legte eine glänzende Zehnkronenmünze in die Mütze. Nur ein einsames Mädchen stand lauschend daneben, ohne etwas zu geben. Ihr Gesicht war kaum zu sehen, weil sie eine große Schirmmütze tief in die Stirn gezogen hatte.
Erst als der letzte Ton verklungen war, öffnete Issa die Augen. Als er das viele Geld erblickte, reichte er mir die Geige. Sie fühlte sich warm an, als ich sie in den Geigenkasten zurücklegte.
Der Alte mit dem schmutzigen Bart sah die Mütze an, die Issa ihm hinhielt.
»Ist das Geld für mich?«, fragte er. »Darf ich es behalten?«
Als Issa nickte, nahm er zögernd die Mütze an.
Genau da kamen zwei Polizisten durch die Halle, ein Mann und eine Frau. Sofort versteckte sich das Mädchen mit der Schirmmütze hinter einer Säule, und der Alte setzte meine Zipfelmütze so hastig auf, dass die Münzen klirrten. Er sah lustig aus mit der Zipfelmütze auf dem Kopf, aber ich konnte nicht darüber lachen. Was wenn die Polizisten uns jetzt, noch bevor Magos Vater uns hier abholen konnte, ins Waisenhaus zurückbrachten?
»Haben Sie das soeben gespielt, Niklasson?«, fragten die Polizisten. »Das klang ja gar nicht so schlecht!«
»Einen schönen guten Abend, die Herrschaften!« Der Alte stand ächzend auf. »Ich wollte gerade gehen.«
»Wie steht’s mit dem Husten, Niklasson?«, fragte die Polizistin. »Besser?«
Die beiden schienen Niklasson zu kennen. Sie unterhielten sich ein Weilchen mit ihm, behielten uns dabei aber immer im Auge.
»Wo habt ihr denn eure Eltern gelassen?«, fragte der andere Polizist. »Kommen die bald?«
»Die Kinder sind mit dem Zug um Mitternacht angekommen«, erklärte Niklasson. »Das hier ist Mago, sie wartet auf ihren Papa. Der wird alle drei abholen.«
Das war ja tatsächlich so. Die Polizisten nickten uns zu und entfernten sich.