Graham Swift

Ein Festtag

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Höbel

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Graham Swift

Graham Swift wurde 1949 in London geboren, wo er auch heute lebt. Nach dem Studium in Cambridge arbeitete er zunächst als Lehrer. Seit seinem Roman ›Wasserland‹, der mit Jeremy Irons verfilmt wurde, zählt er zu den Stars der britischen Gegenwartsliteratur. ›Letzte Runde‹ wurde 1996 mit dem Man Booker-Prize ausgezeichnet. ›Ein Festtag‹, in siebzehn Sprachen übersetzt, wurde auf Anhieb ein internationaler Bestseller.

 

Susanne Höbel, geboren 1953, lebt in Südengland und arbeitet seit über zwanzig Jahren als Übersetzerin englischer und amerikanischer Literatur. Sie wurde vielfach ausgezeichnet und übersetzte u. a. Nadine Gordimer, John Updike und William Faulkner.

Über das Buch

Jane, das junge Dienstmädchen von Beechwood, und Paul, der Spross aus begütertem Haus, haben ein Verhältnis. Heimliche Botschaften, verschwiegene Treffen, doch heute, an diesem sonnigen Märzsonntag 1924, darf Jane – Familie und Dienerschaft sind ausgeflogen – ihr Fahrrad einfach an die Hausmauer des Anwesens lehnen, durchs Hauptportal herein und ins Bett ihres Geliebten kommen. Ein erstes und ein letztes Mal, denn Paul wird bald – standesgemäß – heiraten. Später, gegen Mittag, wird sie leichtfüßig und nackt durch das weitläufige Haus streifen, beseelt von der rauschhaften Innigkeit dieses herausgehobenen Morgens und nicht ahnend, dass ihr Leben am Ende dieses Tages zu zerbrechen droht.

Impressum

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

Mothering Sunday bei Scribner Ltd. in London.

© 2016 Graham Swift

Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung des Bildes ›Liegender Akt‹ (1917-18) von Amadeo Modigliani (bridgemanart.com/Private Collection)

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43157-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14677-7

 

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ISBN (epub) 9783423431576

 

 

 

 

Für Candice

 

 

 

 

Und du sollst doch zum Ball gehen!

Vor langer Zeit, bevor die Jungen starben und als es mehr Pferde als Autos gab, bevor die männlichen Bediensteten verschwanden und die Bewohner von Upleigh und Beechwood sich mit einer Köchin und einem Dienstmädchen begnügen mussten, hatten die Sheringhams nicht nur vier Pferde im eigenen Stall, sondern auch ein »echtes Pferd«, ein Rennpferd, einen Vollblüter. Es hieß Fandango. Es war in einem Stall in der Nähe von Newbury untergebracht. Ein Rennen hatte es nie gewonnen. Aber die Familie leistete sich diesen Luxus, leistete sich die Hoffnung auf Ruhm und Ehre auf den Rennbahnen Südenglands. Es galt als abgemacht, dass Ma und Pa – die in der seltsamen Sprache von damals »Altvordern« genannt wurden – der Kopf und der Rumpf gehörte, während er und Dick und Freddy je ein Bein besaßen.

»Und das vierte Bein?«

»Ja, das vierte Bein. Das war immer die Frage.«

Hauptsächlich war es ein Name, ein nie gesehenes Pferd mit teurem Quartier und teurem Training. 1915 wurde es verkauft – damals war er fünfzehn. »Das war, bevor du hierherkamst, Jay.« Aber einmal, und das war lange her, waren sie alle zusammen an einem Tag im Juni losgefahren, hatten einen seltsamen, verrückten Ausflug gemacht, bloß um Fandango, ihr Pferd, zu sehen, wie es über die Downs galoppierte. Um am Rand zu stehen und zuzusehen, wie es zusammen mit anderen Pferden auf sie zu gedonnert kam und blitzartig vorbei war. Er und Ma und Pa und Dick und Freddy. Und, wer weiß, vielleicht der Geist eines anderen Interessenten, dem das vierte Bein gehörte.

Seine Hand lag auf ihrem Bein.

Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, war ein versonnener Ausdruck in seine Augen getreten. Und sie hatte die deutliche Vorstellung (auch mit neunzig hatte sie die noch), dass sie ihn begleitet haben könnte – dass sie es immer noch auf wundersame Weise könnte, ihn begleiten und am Rand stehen und Fandango sehen könnte, wie er im Vorbeigaloppieren Schlamm und taufeuchtes Gras in die Luft schleuderte. Sie hatte dergleichen nie gesehen, aber sie konnte es sich vorstellen, klar und deutlich. Die Sonne noch im Aufgehen begriffen, eine rote Scheibe über den grauen Hügeln, die Luft noch frisch und kalt, und er gab ihr vielleicht seine Hüftflasche mit Silberverschluss und berührte, nicht gerade verstohlen, ihren Po.

 

Aber jetzt sah sie ihm zu, wie er nackt, von einem silbernen Siegelring abgesehen, durch das sonnenhelle Zimmer ging. Zu keinem Zeitpunkt im Verlauf ihres Lebens, falls überhaupt jemals, verwendete sie leichtfertig für einen Mann das Wort »Hengst«. Aber das war er. Er war dreiundzwanzig, sie zweiundzwanzig. Man konnte ihn auch als einen Vollblüter bezeichnen, obwohl das Wort damals, genauso wenig wie das Wort Hengst, zu ihrem Wortschatz gehörte. Damals kannte sie nicht so viele Wörter. Vollblüter: schließlich zählten Dinge wie »Zucht« und »Herkunft« bei Leuten wie ihm. Zu welchem Zweck, sei dahingestellt.

Es war März 1924. Es war nicht Juni, aber es war ein Tag wie im Juni. Es musste kurz nach zwölf Uhr mittags sein. Ein Fenster stand offen, und er ging unbekleidet durch das sonnendurchströmte Zimmer, sorglos, nackt; er wirkte wie ein Tier. Es war ja sein Zimmer. Da konnte er tun und lassen, was er wollte. Das konnte er. Und sie war noch nie hier gewesen, würde auch nie wieder herkommen.

Auch sie war nackt.

30. März 1924. Vor langer Zeit. Die Schatten der Fenstersprossen streiften über ihn hinweg wie Laub. Er nahm das Zigarettenetui, das Feuerzeug und einen kleinen silbernen Aschenbecher vom Toilettentisch und drehte sich um, und da, unter dem Busch dunkler Haare, von der Sonne voll beschienen, waren sein Schwanz und seine Eier, schlaffe, noch klebrige Anhängsel. Sie konnte das alles betrachten, wenn sie mochte, er hatte nichts dagegen.

Und er konnte sie betrachten. Sie lag ausgestreckt auf dem Bett, nackt, von einem Paar sehr billiger Ohrringe, ihrem einzigen Paar, abgesehen. Sie hatte nicht das Laken über sich gezogen. Sie hatte sogar die Hände hinter dem Kopf verschränkt, um ihn besser ansehen zu können. Und er konnte sie ansehen. Seine Augen an ihr weiden. Der Ausdruck fiel ihr unvermittelt ein. Neuerdings fielen ihr solche Ausdrücke ein. Seine Augen an etwas weiden.

Draußen lag, ebenfalls ausgestreckt, die Grafschaft Berkshire, gegürtet mit hellem Grün, von Vogelgesang erschallend, im März mit einem Junitag gesegnet.

Auch jetzt interessierte er sich noch für Pferde. Oder vielmehr verwettete er nach wie vor sein Geld für sie. Das war seine Art der Sparmaßnahmen – er warf das Geld raus. Seit fast acht Jahren hatte er das Geld von dreien, wenigstens theoretisch. Er nannte es »Kriegsbeute«. Aber er würde beweisen, dass er darauf verzichten konnte. Und was sie beide seit fast sieben Jahren taten, kostete, wie er ihr manchmal ins Gedächtnis rief, rein gar nichts. Nichts außer Verschwiegenheit, einem gewissen Risiko, einer Gewitztheit und dem ihnen beiden eigenen Talent, alldem gewachsen zu sein.

Aber das hier hatten sie noch nie getan. Sie war noch nie in seinem Bett gewesen – ein Einzelbett, aber breit. Auch nicht in seinem Zimmer, nicht in diesem Haus. Wenn es nichts kostete, dann war dies hier das größte Geschenk.

Aber wenn es nichts kostete, was war dann mit den Malen, so könnte sie ihn jederzeit erinnern, als er ihr Sixpence gegeben hatte? Oder war es sogar Threepence gewesen? Ganz am Anfang, bevor es – traf das Wort zu? – ernst wurde. Aber sie würde es nicht wagen, ihn daran zu erinnern. Jedenfalls nicht jetzt. Sie würde ihm auch nicht das Wort »ernst« an den Kopf werfen.

Er setzte sich neben sie aufs Bett. Er fuhr ihr mit der Hand über den Bauch, als wollte er unsichtbaren Staub wegwischen. Dann legte er das Feuerzeug darauf, stellte den Aschenbecher daneben, das Zigarettenetui behielt er in der Hand. Er nahm zwei Zigaretten aus dem Etui und steckte eine zwischen ihre gespitzten Lippen. Ihre Hände waren immer noch hinter dem Kopf verschränkt. Er zündete erst ihre, dann seine Zigarette an. Er nahm Etui und Feuerzeug und legte beides auf den Nachttisch, dann streckte er sich neben ihr aus, während der Aschenbecher zwischen ihrem Bauchnabel und ihrer Möse, wie er inzwischen ohne weitere Umstände gern sagte, stehen blieb.

Schwanz, Eier, Möse. Ein paar schlichte, grundlegende Ausdrücke gab es.

Es war der 30. März. Ein Sonntag. Es war Muttertag, der damals Mothering Sunday genannt wurde.

 

»Na, Jane, wenn das kein herrlicher Tag dafür ist«, hatte Mr Niven gesagt, als sie ihm frischen Kaffee und Toast brachte.

»Ja, Sir«, hatte sie gesagt und sich gefragt, was er in ihrem Fall mit »dafür« meinte.

»Ein wahrhaft herrlicher Tag.« Als wäre es sein großzügiger Beitrag. Dann zu Mrs Niven gewandt: »Wenn uns jemand gesagt hätte, dass es so werden würde, hätten wir ebenso gut alle einen Picknickkorb packen können. Ein Picknick – am Fluss.«

Er hatte es sehnsüchtig gesagt, auch begierig, sodass sie schon dachte, als sie den Toastständer auf den Tisch stellte, der Plan würde umgestoßen und sie und Milly müssten einen Picknickkorb packen. Und wer weiß, wo der Korb überhaupt war und was sie bei so kurzfristiger Ankündigung hineinpacken würden. Schließlich war das ihr Tag.

Und Mrs Niven hatte gesagt: »Es ist März, Godfrey«, und einen misstrauischen Blick aus dem Fenster geworfen.

Aber sie hatte nicht recht behalten. Der Tag war immer noch besser geworden.

Und das Vorhaben der Nivens war eines, das vom Wetter nur begünstigt werden konnte. Sie würden nach Henley fahren und sich dort mit den Hobdays und den Sheringhams treffen. Da sich alle in derselben Situation befanden – die nur einmal im Jahr eintrat und dann auch nur für einen Teil des Tages –, wollten sie in Henley zum Lunch zusammenkommen und so der Unbequemlichkeit, dass sie ein paar Stunden lang kein Dienstpersonal hatten, begegnen.

Es war die Idee – oder die Einladung – der Hobdays. In zwei Wochen sollten Paul Sheringham und Emma Hobday heiraten. Also hatten die Hobdays den Sheringhams diesen Ausflug vorgeschlagen: einerseits als Gelegenheit, auf das bevorstehende Ereignis anzustoßen und den Ablauf zu besprechen, andererseits als Lösung für die praktischen Schwierigkeiten des Sonntags. Und weil die Nivens gute Freunde und Nachbarn der Sheringhams waren und bei der Hochzeit Ehrengäste sein würden (und weil sie außerdem an diesem Sonntag dieselbe Schwierigkeit hatten), waren sie – wie Mr Niven sagte, als er ihr von dem Plan erzählte – zu dem Ausflug »beredet« worden.

Das erklärte eine Sache, die ihr aber schon bekannt war: Was immer sonst Paul Sheringham heiratete, er heiratete Geld. Vielleicht musste er das, so wie er sein eigenes Geld verschleuderte. In zwei Wochen würden die Hobdays für eine grandiose Hochzeit bezahlen, war es da wirklich nötig, die bevorstehende Feier zu feiern? Eigentlich nicht, es sei denn, man brauchte nicht zu sparen. Nichts Geringeres als Champagner wäre angemessen. Als Mr Niven den Picknickkorb erwähnte, hatte er vielleicht überlegt, wie sehr man auf die Großzügigkeit der Hobdays vertrauen konnte oder wie sehr sein eigener Geldbeutel an dem Tag strapaziert werden würde.

Aber dass die Hobdays nicht zu sparen brauchten, gefiel ihr. Es hatte nichts mit ihr zu tun, aber es gefiel ihr. Dass Emma Hobday aus Fünfpfundnoten gemacht war, dass die Eheschließung eine geschickte Methode war, um an »Kriegsbeute« zu gelangen, gefiel ihr, oder vielmehr, es tröstete sie. Alles andere, was damit zu tun hatte – auch als Mr Niven erklärte, sie seien »beredet« worden –, nagte an ihr.

Und wären Mister Paul und Miss Hobday bei der Party persönlich zugegen? Das konnte sie nicht erfragen, obwohl sie es unbedingt wissen musste. Und Mr Niven hatte von sich aus keine Auskunft darüber gegeben.

»Würdest du bitte Milly von diesen Plänen unterrichten? Natürlich sollen deine eigenen Pläne davon unberührt bleiben.«

Es geschah nicht oft, dass er Grund hatte, so etwas zu sagen.

»Selbstverständlich, Sir.«

»Ein Jamboree in Henley, Jane. Ein Stammestreffen. Hoffen wir, dass wir das Wetter dafür haben.«

Sie war sich nicht ganz sicher, was »Jamboree« bedeutete, glaubte aber, dass sie es schon einmal irgendwo gelesen hatte. Und »Jam« deutete auf etwas Fröhliches hin.

»Das hoffe ich auch, Sir.«

 

Und jetzt hatten sie eindeutig das Wetter dafür, und Mr Niven wurde ungeachtet seiner früheren Bedenken ganz fröhlich. Er würde selbst fahren. Er hatte schon angekündigt, dass sie möglichst bald aufbrechen wollten, damit sie ein bisschen durch die Landschaft »kutschieren« und den herrlichen Morgen auskosten konnten. Offenbar hatte er nicht vor, Alf von der Werkstatt anzurufen, der – für einen angemessenen Preis – einen überzeugenden Chauffeur abgeben konnte. In den letzten Jahren hatte sie beobachtet, dass Mr Niven gern Auto fuhr, sogar, dass er größeren Gefallen daran fand, selbst zu fahren, als würdevoll gefahren zu werden. Es erfüllte ihn mit jungenhafter Energie. Außerdem veränderten sich, wie er in unterschiedlichsten Intonationen, von prahlerisch bis klagend, nicht müde wurde zu sagen, die Zeiten.

Denn früher einmal wären die Nivens wie die Sheringhams am Sonntagmorgen zum Gottesdienst gegangen.

»Stämme« hatte nach Hitze geklungen, nach etwas unter freiem Himmel. Das Treffen sollte, wie sie wusste, im George Hotel in Henley stattfinden. Ein Picknick war nicht geplant. Denn es hätte gut ein Tag – schließlich war es noch März – mit schlimmem Sturm und sogar Schnee sein können. Aber es war ein Morgen wie ein Morgen im Sommer. Und Mrs Niven stand vom Tisch auf, um sich fertig zu machen.

Obwohl Mr Niven jetzt allein war, konnte sie nicht fragen: »Werden Miss Hobday und …?« Auch wenn es sich wie die beiläufig neugierige Frage eines Dienstmädchens anhören würde. Schließlich war die bevorstehende Hochzeit im Moment das beherrschende Thema. Schon gar nicht konnte sie fragen: »Und wenn nicht, welche anderen Pläne haben die beiden wohl?«

Wäre sie eine Hälfte eines verlobten Paares – besser gesagt, wäre sie die Hälfte von Paul Sheringham –, würde sie, so glaubte sie, zwei Wochen vor der Hochzeit nicht zu einem Jamboree in Henley gehen wollen, wo die ältere Generation bloß ein Gewese um sie machen würde (»drei Paare von Altvordern auf einem Haufen«, hätte er vielleicht gesagt, und sie sah ihn vor sich, mit Zigarette im Mund, während er die Augen zusammenkniff und sich schüttelte).

Aber davon abgesehen, auch wenn sie weiter nichts erführe, blieb das Problem, das an diesem Tag ihr ganz persönliches war, wie Mr Niven wusste, nämlich wie sie ihn verbringen sollte. Ein schmerzlich persönliches Problem. Das herrliche Wetter war da nicht unbedingt hilfreich. Im Gegenteil, es schien – zwei Wochen vor dem Ereignis – nur umso tiefere Schatten zu werfen.

Sobald der richtige Moment gekommen war, wollte sie zu Mr Niven sagen, dass sie, wenn er – er und Mrs Niven – nichts dagegen hätten, keinen »Ausgang« nehmen wolle. Dass sie einfach hier, in Beechwood, bleiben und ein Buch lesen wolle, wenn sie damit einverstanden wären. Vielleicht würde sie »ihr Buch« sagen, obwohl es Mr Niven gehörte. Sie könnte sich einfach im Garten in die Sonne setzen.

Sie wusste, dass Mr Niven einem so harmlosen Ansinnen nur zustimmen konnte. Vielleicht erschiene ihm die Vorstellung sogar reizvoll. Und natürlich würde es bedeuten, dass sie ihre Pflichten sofort wieder aufnehmen konnte, sobald die Herrschaften zurückkehrten. Sicherlich könnte sie in der Küche etwas zu essen finden. Vielleicht würde Milly ihr sogar, bevor sie selber ging, ein Sandwich machen. Dann hätte sie ihr eigenes »Picknick«.

Und so hätte der Tag sich gestalten können. Die Bank in der Ecke bei der Sonnenuhr. Hummeln, vom Wetter verführt. Der Magnolienbaum, mit Blüten beladen. Das Buch auf ihrem Schoß. Sie wusste schon, welches Buch das sein würde.

Kurzum – sie würde Mr Niven die Idee unterbreiten.

Doch dann hatte das Telefon geklingelt, und da ans Telefon zu gehen zu ihren zahlreichen Aufgaben gehörte, war sie hingeeilt, um abzunehmen. Und ihr Herz hatte einen Freudensatz gemacht. Das war ein Ausdruck, den man in Büchern las, aber manchmal traf es genau das, was passierte. Und jetzt war es das, was ihr passierte. Ihr Herz hatte einen Freudensatz gemacht, wie das einer gestrandeten Heldin in einer Geschichte. Es hatte einen Luftsprung gemacht, wie die Lerchen, die sie bald schon hören würde, hoch im blauen Himmel trällernd und trilierend, während sie mit dem Fahrrad nach Upleigh fuhr.

Aber sie hatte sorgfältig darauf geachtet, recht laut und mit ihrer besten Telefonstimme, die sowohl diensteifrig als auch königlich wirkte, zu sagen: »Jawohl, Madam.«

 

Kirchenglocken erklangen durch den Vogelgesang. Warme Luft wehte zum Fenster herein. Er hatte die Vorhänge nicht vorgezogen, auch nicht als Geste der Schicklichkeit ihr gegenüber. Schicklichkeit ihr gegenüber? Das war nicht nötig. Von dem Zimmer hatte man einen Blick auf Bäume, Rasen und Kies. Der Sonnenschein begrüßte ihre Nacktheit, er befreite ihr Tun von der Verschwiegenheit, obwohl es zutiefst geheim war.

Und in all den Jahren ihrer – wie sollte man es nennen? Intimität? Freizügigkeit miteinander? – waren sie nie so nackt wie jetzt gewesen.

Weide deine Augen, dachte sie wagemutig, wie eine eingeschmuggelte Schönheit. War sie eine Schönheit? Sie hatte die roten Fingerknöchel und eingerissenen Nägel eines Menschen ihres Standes. Sicherlich war ihr Haar völlig in Unordnung, Strähnen klebten ihr an der Stirn. Dennoch hatte sich ein Anflug seiner gebieterischen Schamlosigkeit auf sie übertragen – als wäre er der Dienstbote und brächte ihr eine Zigarette.

Und vor kaum mehr als zwei Stunden hatte sie ihn »Madam« genannt! Denn es war seine Stimme am Telefon gewesen, die ihr prompt den Dienstmädchenkopf verdreht hatte, obwohl sie ihre Geistesgegenwart bewahren musste. Die Tür zum Frühstückszimmer stand offen. Mr Niven war noch mit Toast und Orangenmarmelade beschäftigt. Aus dem Telefon waren kurze und bündige Anweisungen gekommen, die keinen Widerspruch duldeten, und sie hatte gesagt: »Ja, Madam … Nein, Madam … Ganz recht, Madam.«

Ihr Herz hatte einen Freudensatz gemacht. Weide deine Augen. Eine Geschichte begann.

Und weniger als eine Stunde später, nachdem sie vom Fahrrad gestiegen war und er ihr die Tür des Hauses aufgemacht hatte – die Tür des Hauses, ganz richtig, als wäre sie eine echte Besucherin und er der Butler –, hatten sie gelacht, weil sie ihn »Madam« genannt hatte. Sie lachten, als er sie hereinführte und sie es wieder sagte. »Danke, Madam.« Und er hatte gesagt: »Du bist klug, Jay, weißt du das? Du bist klug.« So machte er Komplimente – als würde er ihr etwas enthüllen, das ihr selbst niemals in den Sinn gekommen wäre.

Aber es stimmte, sie war klug. Klug genug, um zu wissen, dass sie klüger war als er. Immer schon, besonders am Anfang, war sie ihm an Klugheit überlegen gewesen. Er wollte es so, das wusste sie, sie sollte ihm an Klugheit überlegen sein, sollte sogar in gewisser Weise über ihn befehligen. Obwohl das nie ausgesprochen, nicht einmal angedeutet wurde. Nie konnte sie ganz, auch als sie neunzig war, den inneren Knicks ablegen. Seine hoheitsvolle Stellung war immer gegeben. Er war der Herr im Hause, richtig? Seit jetzt fast acht Jahren war er der Herr im Hause. Er war der Alleinherrscher. Er herrschte allein über sie. Oh ja, er war hoheitsvoll. Sie hatte ihm geholfen, diese Haltung zu entwickeln.