Samuel Selvon
Die Taugenichtse
Roman
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Samuel Selvon, 1923 in Trinidad geboren, schrieb erste Kurzgeschichten unter Pseudonymen wie Ack-Ack und Big Buffer. 1950 ging er nach London und avancierte zu einer international anerkannten literarischen Stimme. Mit seinem Roman ›Die Taugenichtse‹, in England 1956 erschienen, schuf er einen ganz eigenen, neuen Sound. Er schrieb TV-Drehbücher für die BBC und verließ London 1978 in Richtung Kanada. Er starb 1994 in Trinidad.
Miriam Mandelkow, 1963 in Amsterdam geboren, lebt in Hamburg. Zuletzt erschienen in ihrer Übersetzung Werke von David Vann, Elisa Albert, Richard Price und Ta-Nehisi Coates.
»Es gibt Männer auf dieser Welt, die machen einfach gar nichts, und man denkt, die müssen am Verhungern sterben, aber dann sieht man sie Tag für Tag, und sie sehen kerngesund aus, und sie lachen, und sie palavern wie eine Million Dollar, und Tatsache sehen sie aus, als wenn sie nicht nur länger leben als man selber, sondern auch noch glücklicher sterben.«
Moses Aloetta hat einfach ein zu weiches Herz. Wenn er immer nur Freunden von Freunden hilft, in der neuen Heimat Fuß zu fassen, kommt er selbst nie auf die Beine. Aber er kennt ihre Hoffnungen nur zu gut. Und wer, wenn nicht er, weiß von den Gefahren, die hinter der Hoffnung lauern.
›Die Taugenichtse‹ ist ein bedingungslos aufrichtiger und zutiefst berührender Roman über die ersten Einwanderer Englands, die das Land für immer verändert haben – sein Denken, seine Sprache, sein Selbstverständnis. Ein Klassiker, der nun erstmals auf Deutsch vorliegt und mitten ins Herz unserer Gegenwart trifft. Ein neuer Sound zwischen kreolischem Straßenslang und balladesker Suada, der sofort ins Ohr geht.
»Die Botschaft der ›Taugenichtse‹ ist heute sogar noch wichtiger als im Großbritannien der Fünfzigerjahre: uns daran zu erinnern, dass wir allen ethnischen, ideologischen und religiösen Gräben zum Trotz, die sich in unseren Gesellschaften immer weiter auftun, eines gemeinsam haben – unsere Menschlichkeit.« The Guardian
Die Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel
The Lonely Londoners im Verlag Allan Wingate, London
Die Übersetzung wurde durch Litprom e.V. mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt.
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung der vorliegenden Übersetzung.
Deutsche Erstausgabe
© 1956 Samuel Selvon Estate
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe:
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky/dtv
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43192-7 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28117-1
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423431927
Fabre, Michel, »Samuel Selvon: Interviews and Conversations«, in: Susheila Nasta (Hrsg.), Critical Perspectives on Sam Selvon, Three Continents Press (Washington 1988), S. 64–76. Hier: S. 66. Übers.v. Sigrid Löffler.
Achebe, Chinua, »Colonial Criticism«, in: ders., Hopes and Impediments. Selected Essays, Anchor (New York 1990), S. 68–90. Hier: S. 75. Übers.v. Sigrid Löffler.
Nasta 1988, S. 76. Übers.v. Sigrid Löffler.
Eines strengen Winterabends, als so eine Unwirklichkeit über London liegt, mit einem Nebel, der ruhelos schläft über der Stadt, und mit verschwommenen Lichtern, als wäre hier gar nicht London, sondern ein fremder Ort auf einem fernen Planeten, da nimmt Moses Aloetta den 46er Bus Ecke Chepstow Road und Westbourne Grove Richtung Waterloo, jemand vom Zug abholen, der aus Trinidad kommt.
Als Moses sitzt und sein Ticket gelöst hat, holt er ein weißes Taschentuch raus zum Naseputzen. Das Taschentuch wird schwarz, und Moses verflucht den Nebel. Er hat sowieso grad nicht gute Laune, da hilft der Nebel kein Stück. Eben noch im schön warmen Bett und dann aufstehen, anziehen und nach draußen ins fiese Wetter, jemand abholen, den er gar nicht kennt. Genau das ist konkret die Misere – ist ja nicht so, als wäre dieser Jemand sein Bruder oder Cousin oder ein Freund wenigstens; das ist ein wildfremder Mann. Aber dann kam dieser Brief von einem Freund in Trinidad, dass jemand ankommt auf der SS Hildebrand und ob er ihn nicht bitte vom Bahnhof abholen kann und sich kümmern, bis er auf beiden Beinen steht. Ein gewisser Henry Oliver, aber wie der aussieht, braucht er Moses nicht beschreiben, nur am Bahnhof soll Moses sein, wenn der Zug einfährt, dann findet dieser Henry ihn schon. Um der alten Zeiten willen sitzt Moses jetzt also im Waterloo-Bus und ärgert sich über sein weiches Herz, das er immer für andere aufmacht und aber kein anderer mal für ihn.
Moses hat nämlich das Gefühl, ihm sind schon lauter Leute ins Zimmer marschiert, da war er selbst noch nicht richtig angekommen in England. Von der Karibik sind die Leute direkt nach London und zu ihm nach Bayswater, weil Soundso ihnen gesagt hat, fragt Moses, der besorgt euch schon, was ihr braucht, was zum Wohnen und was zum Arbeiten. »Verdammt noch mal«, hat Moses zu seinem Freund Harris gesagt, »ist doch nicht zu glauben. Ich kenne diese Leute gar nicht, aber die rennen meine Tür ein, als wenn ich Vermittlung heiße, dabei krebs ich doch selber im Dreck, woher soll ich denen helfen?«
Und dann passieren so Sachen auch noch jetzt, wo die Engländer mit Rabatz kommen, dass Westinder das Land überfluten: ausgerechnet jetzt, wo zehn zu eins – wetten! – hinter der nächsten Ecke irgend so ein Mokka aufkreuzt. Tatsache sind die Jungs über ganz London verstreut, kein Ort, wo man die nicht findet, und im Parlament großer Heckmeck über die ganze Situation, wobei das gute alte England zu diplomatisch ist, um gegen die Jungs vorzugehen oder drastisch zu werden, die machen ja nicht einfach das Mutterland zu. Das gibt fette Schlagzeilen Tag für Tag, und was Zeitungen und Radio sagen in diesem Land, das ist dem Volk seine Bibel. Wie neulich, als in der Bibel-Zeitung steht, die Westinder glauben, die Straßen von London sind mit Gold gepflastert, und wie dann ein Jamaikaner beim Finanzamt Auskunft holen will. Sagt der Angestellte sofort: »Ihr glaubt wohl, die Straßen von London sind mit Gold gepflastert.« Zeitung und Radio regieren das Land.
Seine Rolle macht Moses ein ganz unwohles Gefühl, weil die meisten, die jetzt reinkommen, ehrlich gesagt sind das echte Gauner, Verzweifelte; nicht lange her, da gab es vierzig, fünfzig Versprengte, und jetzt fallen Hunderte hier ins Land. Und die Älteren, die schon lange da sind, wenn die sehen, wie alles wegläuft aus der Karibik, die wären ja blöd, wenn die zurück wollen. Was bleibt Moses also groß übrig, wenn jemand so mickrig auf seiner Matte steht, nur eine Tasche und nichts zum Schlafen, nichts, wo er sonst hin kann.
Einmal kamen gleich mehrere.
»Wo habt ihr denn Namen und Adresse her?«, hat Moses gefragt.
»Ach, so ein Jackson, der war wohl letztes Jahr hier.«
»Jackson, der Lump«, sagt Moses, »der weiß genau, wie ich selber am Boden krebse.«
»Wir haben Geld«, haben sie gesagt, »wir brauchen nur Hilfe für was zum Wohnen und wo es Arbeit gibt.«
»Das ist schwieriger als Geld«, grunzt Moses. »Keine Ahnung, warum euch der Henker bringt.« Trotzdem ist er dann mitgegangen, weil wie hilflos ist er denn schließlich selbst gewesen am Anfang in London und kannte und wusste nichts und niemand.
Moses schickt die Jungs hierhin und dort. »Zu viele Mokkas inzwischen in Bayswater«, sagt er zu ihnen. »Versucht mal Clapham. Wie man da hinkommt? Unten am U-Bahnhof, da sagen die euch das. Drei von euch gehen vielleicht auch mal King’s Cross Station fragen nach Samson, der macht dort die Koffer, der hilft euch weiter.« Wie ein Sozialarbeiter verteilt Moses die Jungs über ganz London, er will keinen Auflauf in Bayswater – ist schon so schwer genug alles. Und ein oder zwei, die er mag, für die geht er zusammen zu Häusern, wo er weiß, da kann man hin. Inzwischen weiß Moses, wo man Türen ins Gesicht schlägt und wo man Mokkas aufnimmt.
Dieses weiche Herz, deswegen sitzt er jetzt also im Waterloo-Bus, um einen gewissen Henry Oliver abzuholen. Er hat keine Ahnung, wie er immer wieder diese Rolle kriegt, dass er andern hilft. Er seufzt; der verdammte Bus kriecht durch den Nebel, und der Abend ist so melancholisch, da wäre er lieber im Bett geblieben.
Waterloo steigt er aus, geht in den Bahnhof, und sofort in diesem großen Bahnhof kommt Heimweh, obwohl er sonst noch nie Heimweh gehabt hat, in neun oder zehn Jahren in diesem Land. Waterloo ist Ankunft und Abreise, Waterloo ist Leute sehen mit Abschiedstränen und Begrüßungsküssen, und er sitzt noch nicht ganz auf der Bank, da packt ihn Sehnsucht und er ist perplex. Manche, die sind schon so lange in England, und trotzdem können sie nicht anders: Wenn ein Zug kommt mit Passagieren aus der Karibik, dann sind sie hier. Sie wollen die vertrauten Gesichter sehen, sie wollen sehen, wie ihre Landsleute hier aussteigen, und manchmal entdecken sie sogar einen Bekannten: »He, Watson! Welcher Teufel treibt dich nach England, alter Junge? Warum schreibst du nicht, dass du kommst?« Und dann gibt es endlos Palaver mit den Reisenden, was passiert in Trinidad, in Grenada, Barbados, Jamaika und Antigua, neuer Calypso-Hit, jemand gestorben und so weiter. Sogar Fremde kriegen lauter Fragen gestellt, die sie nicht beantworten können, kennst du Tanty Simmons aus Labasse in Port of Spain oder einen Harrison, der arbeitet im Red House.
Aber Moses, der lässt sich nicht so gehen: kommt ihm gar nicht erst in den Sinn, Waterloo extra nachzusehen, wer wieder alles aus der Karibik reinkommt. Trotzdem, der Bahnhof ist so ein Ort, da kommt das Gemüt. Auch Moses ist hier mal gelandet, ganz frisch in London, und wenn die Zeit kommt – falls die Zeit kommt! –, sagt er ganz bestimmt ganz genau hier der großen Stadt Lebewohl. Vielleicht denkt er, jetzt ist es so weit, ab zurück in die Tropen, und vielleicht ist er konkret deswegen gerade einsam und traurig.
Moses sitzt jedenfalls auf der Bank und raucht eine Woods, da kommt sein Freund Tolroy, der ist aus Jamaika.
»Zug schon da?«, fragt Tolroy, obwohl er weiß, dass der Zug noch nicht da ist.
»Nein«, sagt Moses, obwohl er weiß, dass Tolroy das weiß.
»Puh, meine Mutter kommt gleich«, sagt Tolroy nervös, als wenn ihn der Gedanke schreckt.
»Hast du gesagt, sie soll kommen?«, fragt Moses.
»Ja.«
»Ach, ich will auch so sein wie ihr aus Jamaika«, sagt Moses, »ihr lebt von zwei, drei Pfund die Woche und spart euer Geld im Koffer unterm Bett, und dann ist er voll, und dann sagt ihr eurer Familie, sie soll kommen. Mein Lohn, da bleibt kein Cent.«
»Ist doch wohl meine Sache«, sagt Tolroy beleidigt.
»Ich sag doch nichts Schlechtes, ich will ja genau dasselbe, seit ich hier bin in diesem Land. Ich hab nur grad gedacht, wie du reingekommen bist am Anfang und ich dir Arbeit besorgt habe in der Fabrik und wie du jetzt so viel Geld zusammen hast, und ich hab keinen Cent. Lauf der Welt, mein Freund. Wohnst du noch Harrow Road?«
»Ja. Aber die alte Dame, wo die jetzt kommt, brauch ich was Größeres. Weißt du irgendwas?«
»Nicht bei mir die Gegend. Aber Big City hat gestern erzählt, ein Haus beim Grove unten, da gibt es leere Zimmer – frag ihn doch mal.«
»Ja, morgen. Hast du eine Zigarette?«
»Ist grad meine letzte.«
Tolroy setzt sich zu Moses auf die Bank, und die beiden werfen Blicke auf Waterloo Station, das ganze große Treiben, das Kommen und Gehen, die Menschen.
»Wo ist deine Gitarre?«, fragt Moses.
»Nicht dabei!«, sagt Tolroy.
Als Tolroy aus Jamaika weg ist, hat er eine Gitarre nach England gebracht, und er hat sie eigentlich immer dabei und spielt auf ihr, Straße, U-Bahn, Warteschlangen.
»Komm, wir müssen die Bahnsteigkarte kaufen«, sagt Moses, und das gerade noch rechtzeitig, denn der Zug fährt ein, und Menschen steigen aus. Moses bleibt am Rand, Hände in den Taschen und kein Interesse an den Passagieren. Er wartet nur auf diesen Henry, damit er wieder nach Hause kann, raus aus der Kälte, raus aus dem Nebel. Es gibt da einen Jamaikaner, der wohnt in Brixton und kommt immer zum Bahnhof, um Mieter aufzugabeln für seine Häuser in Brixton. Dieser Kerl, am Anfang, als er nach England kam, hat er einen Club geöffnet, dann hat er nach und nach das Geld gespart und ein Haus gekauft. Das Nächste, was man von ihm hört, hat er die ganze Straße gekauft und vermietet seine Häuser in Brixton an die Jungs, irgendwas bei drei, vier Guineas pro Doppelzimmer. Bei Geld hört die Freundschaft auf, keine Gefälligkeiten oder »wir zwei beide sind doch Landsleute« im guten, alten London. Manchmal stellt er Betten und Stühle in zwei, drei große Zimmer und sagt zu den Jungs, sie können gemeinsam drin wohnen, macht aber ein Pfund pro Nase. Kann man sich vorstellen – fünf, sechs Kollegen in einem Zimmer, und der Kerl druckt fleißig Geld. Und hechelt zu jedem Zug in Waterloo, Landsleute aufgabeln, die neu sind in London und nichts haben, wo sie hin können. Er erzählt ihnen, wie nett Brixton ist, schon ganz viele Jamaikaner, da fühlt man sich wie zu Hause in diesem Viertel. Und schließlich ist der Bürgermeister auf der Seite von den Jungs, da gibt es nicht viel Vorurteile.
Moses lächelt gerade, wie der Kerl sich die Mieter zusammenzockt, da kommt ein Zeitungsmensch und fragt: »Verzeihung, Sir, sind Sie eben aus Jamaika eingetroffen?«
Moses weiß selber nicht, warum, aber er sagt Ja.
»Können Sie mir etwas über die Lage dort berichten?« Der Mensch zückt Bleistift, Notizbuch und sieht Moses an.
Eigentlich hat Moses ja keine blasse Ahnung von Jamaika – Moses kommt aus Trinidad, das ist tausend Meilen weit weg von Jamaika. Aber die Engländer sind so, die glauben, wer von den westindischen Inseln kommt, der kommt automatisch aus Jamaika.
»Die Lage ist verzweifelt.« Moses überlegt schnell. »Also, der Hurrikan, wissen Sie, der vor zwei Wochen?«
»Ja?«, sagt der Reporter, es gab nämlich wirklich einen Hurrikan in Jamaika.
»In dem war ich mittendrin«, sagt Moses. »Viele Tote. Ich sitz im Haus, ich seh nach oben, da ist der Himmel. Was ist wohl passiert?«
»Was denn?«
»Der Hurrikan hat das Dach weggeblasen.«
»Aber Sir, warum kommen denn so viele Jamaikaner nach England?«
»Ach«, sagt Moses, »das ist immer die Preisfrage, das will jeder wissen. Weil sie keine Arbeit haben.« Moses kommt in Fahrt. »Und folgendermaßen sehe ich die Lage in diesem Land: Wir kriegen keine Wohnungen zum Wohnen, und zum Arbeiten kriegen wir die schlechteste Arbeit in der ganzen –«
Und da kriegt der Junge Angst, dass Moses ihn festredet, er sagt nur »Danke«, und dann ist er verschwunden.
Schade, findet Moses, weil zum ersten Mal hatte er richtig Chance, seine Meinung zu sagen, und er hat viel zu sagen. Wobei, einmal wollte jemand sein Foto. Damals im Betriebswerk, wo alle meinten, sie streiken, falls der Chef Moses feuert. Große Geschichte in allen Bibel-Zeitungen, unter einer großen Schlagzeile, wie die Rassenschranken wieder Staub wirbeln, und da kam einer mit Kamera und wollte von Moses sein Foto, aber Moses hat Nein gesagt. Tage später holt der Chef Moses zu sich und sagt, tut ihm leid, aber sie müssen sich verkleinern, und er ist neu hier und deshalb muss er jetzt gehen.
Inzwischen ist Tolroy ganz am Ende vom Zug, er stolpert über Koffer und Taschen und versucht gleichzeitig, alles zu sehen, was aussteigt aus dem Zug. Eine alte Frau, die aussieht, als wenn sie jede Sekunde stirbt, kommt aus dem Wagen, mit Pappkarton und Papiertüte. Als sie ausgestiegen ist, wirkt sie ganz wirr auf dem Bahnsteig. Hinter ihr kommt ein junges Mädchen raus mit einem Mehlsack voll Zeug, dahinter ein junger Mann mit Hut, breite Krempe und Jacke bis über die Knie. Danach ein kleiner Junge, ein kleines Mädchen und noch eine alte Frau, die so schlimm zittert, dass eine Zugaufsicht ihr aus dem Zug raushelfen muss.
»Ach, du lieber Gott«, sagt Tolroy, »was ist denn das alles?«
»Tolroy«, sagt die erste Frau, »erkennst du deine eigene Mutter nicht?«
Tolroy umarmt seine Mutter wie beduselt, dann sagt er: »Aber was macht denn Tanty Bessy hier, Ma? Und Agnes und Lewis und die beiden Kinder?«
»Wir sind alle da, Tolroy«, sagt Ma. »Das kommt so: Du hast nach Hause geschrieben, dass du fünf Pfund die Woche verdienst, da sagt Lewis sofort: ›Gott, morgen fahr ich nach England.‹ Und da sagt Agnes, sie bleibt nicht allein zu Hause mit zwei Kindern, also sind wir jetzt alle da.«
»Und wieso Tanty?«
»Tolroy, du weißt doch, wie deine Tanty langsam alt wird, da kann man sie doch nicht alleine lassen in Kingston mit dem Sterben und keiner kümmert sich.«
»O Gott, Ma, wieso schleppst du diese ganzen Leute an?« Tolroy kriegt das Zittern vor Angst.
»Und, was hab ich euch gesagt?«, sagt Tanty zu Ma. »Wie undankbar er ist! Ich geh zurück nach Jamaika.« Und sie dreht sich um, als wenn sie wieder in den Zug steigt.
»Tolroy«, sagt Ma, »weißt du noch, wie du ein kleiner Junge warst, wie du bei Tanty gewohnt hast und sie für dich gesorgt hat und dich zur Schule geschickt hat und dir Tee gekocht hat und abends gebacken? Weißt du das noch damals? Wie Tanty dir Schuhe für die Füße und Hosen für den Hintern besorgt hat? Erwartest du von mir, dass ich Tanty zurücklasse, wo die Familie nach England fährt?«
»Aber Ma, du weißt nicht, was du dir da einlässt.« Tolroy debattiert mitten auf dem Bahnsteig, und die Leute schauen zu. Ein Träger mit Kofferkuli sagt: »Kommt schon, weg da«, und fährt beinahe in Tanty rein, die den ganzen Bahnhof rauf und runter große Augen macht. »Aber mal nicht so frech, Mister!«, sagt Tanty. »Schön aufpassen mit Ihrem Ding da. Wenn Sie mich anrollen, ruf ich Ihnen die Polizei.«
Tolroy zieht seine ganze Familie aus dem Weg, sie stehen da und streiten, denn Tolroy hat sich noch gar nicht wieder aufgefangen. Er will nicht fassen, dass er so viele Leute am Bein hat, in London, im strengen Winter und nirgendwo, wo sie bleiben können.
Der Reportermensch sieht die kleine Traube und denkt, wahrscheinlich eine Familie und vielleicht kriegt er eine gute Geschichte, wieso so viele Jamaikaner nach London kommen, also geht er zu Tanty und sagt: »Verzeihung, meine Dame, ich bin vom Echo. Ist dies Ihre erste Reise nach England?«
»Dem sagst du gar nichts«, knurrt Tolroy.
»Warum so borstig?«, fragt Tanty. »Der Gentleman hat eine gute Frage, warum soll ich nicht antworten?« Und sie dreht sich zum Reporter und sagt: »Ja, Mister, meine erste Reise.«
»Haben Sie Verwandte hier? Werden Sie in London leben?«
»Na, mein Neffe Tolroy hier ist schon lange in diesem Land, also sagt er der ganzen Familie, sie soll kommen, damit sie bei ihm wohnen kann. Stimmt’s, Tolroy?«
Aber Tolroy ist gerade Lewis und Agnes helfen, ihr Gepäck finden.
»Tolroy ist ein guter Junge«, sagt Tanty, »ich pass auf ihn auf, seit er klein –«
»Ja«, sagt der Reporter, »aber können Sie mir sagen, weshalb so viele Menschen Jamaika verlassen und nach England kommen?«
»Ganz meine Frage«, sagt Tanty angeregt, »immer wieder frag ich alle, die herkommen: ›Warum geht ihr weg und nach England? Drüben ist so kalt, dass da nur weiße Menschen wohnen.‹ Aber dann sagen sie, es gibt mehr Arbeit in England und mehr Geld dafür. Und Hand auf das Herz, als ich höre, dass Tolroy fünf Pfund die Woche verdient, da muss ich denen jetzt doch recht geben.«
»Sagen Sie, Madam, was haben Sie denn vor in London?«
»Wer, ich?« Tanty dreht sich um, als wenn der Reporter mit wem anders spricht. »Wieso. Ich bin für die Familie hier. Wenn alle hier sind, muss ich doch auch mit und mich kümmern. Wer soll denn sonst kochen, waschen, putzen im Haus?«
Schlussendlich muss Ma Tanty richtig an der Hand ziehen, damit sie den Mund hält, aber Tanty schüttelt die Hand einfach ab.
»Was ist denn bei dir?«, fragt sie. »Siehst du nicht, dass dieser Gentleman von der Zeitung uns aufwartet? Da müssen wir Benehmen zeigen, bitte.«
»Darf ich Sie fotografieren?«, fragt der Reporter.
»Er will mein Foto.« Tanty stupst Ma. »Wo sind die Kinder? Tolroy, Agnes, Lewis«, ruft sie wie in einem Hinterhof in Jamaika, »alle herkommen fürs Foto, Kinder. Der Mister will einen Schnappschuss.«
»Eine allein ist völlig ausreichend«, sagt der Reporter.
»Was!«, sagt Tanty. »Allein kommt gar nicht in Frage. Nur die ganze Familie.« Und damit treibt sie die andern zusammen.
Eigentlich will Tolroy damit gar nichts zu tun haben, aber Tanty lässt nicht locker, und er will die Szene nicht noch schlimmer machen – dass die Leute rumstehen und gaffen –, und so geht er eben hin, stellt sich neben Ma und schmollt.
»Sekunde«, sagt Tanty zum Reporter, als er so weit ist, und sie macht direkt auf dem Bahnsteig den Pappkarton auf und holt einen Strohhut raus mit breiter Krempe und setzt ihn sich auf den Kopf. »Ich bin jetzt bereit«, sagt sie und wirft sich in die Pose mit Familie.
»Hoffentlich wird es Ihnen hier nicht zu kalt«, sagt der Reporter spitz.
Und am nächsten Tag, als der Echo erscheint, ist da ein Foto drin, und unter dem Foto steht: Jetzt kommen schon ganze Familien aus Jamaika.
Im ganzen großen Durcheinander platzt Moses fast vor Lachen, aber dann zerläuft das Gedränge und immer noch kein Henry Oliver – jedenfalls kommt keiner auf ihn zu –, und er will gerade wieder nach Hause, da sieht er so einen Burschen hinten vom Zug herschlendern, wie eingeschlafen und als wenn er nicht merkt, dass er schon Waterloo ist. Und genau das ist auch konkret passiert mit Henry. Zwar hat er im Abteil vorher Bescheid gesagt, dass man ihn bitte weckt, wenn sie in London sind, aber am Ende denkt im Gewusel dann doch keiner an Henry, und die Zugaufsicht muss ihn wecken.
Moses sieht also diesen Henry den Bahnsteig runterkommen, und sein Gefühl sagt, das kann gar nicht der sein, den er abholen soll. Der hier trägt einen alten grauen Sommeranzug und Washicongs und weder Mantel, Schal oder Handschuhe noch irgendwas anderes gegen die Kälte. Also denkt Moses, der ist bestimmt so einer, der schon lange, lange in London lebt und die Bestie Winter kennt. Trotzdem, es geht ihm durch und durch, wenn er den Burschen so sieht, weil je später der Abend, desto kälter, und Moses stampft mit den Füßen auf den Boden.
Der Bursche, als er Moses sieht, geht geradewegs auf ihn zu und sagt: »Ach, du bist bestimmt Moses!«
Moses sagt nur: »Ja.«
»Ach«, sagt Henry und wirft seine Blicke durch den tristen Bahnhof wie durch eine Ausstellungshalle an einem lauen Sommerabend. »Frank hat gesagt, du holst mich Waterloo ab. Ich bin Henry Oliver.«
»Ist dir nicht kalt, Alter?«, fragt Moses und beäugt verblüfft dieses Exemplar, weil er selbst trägt für unten drunter lange Wolle und drüber einen dicken Feuerwehrmantel aus der Portobello Road.
»Nein«, sagt Henry mit erstaunter Miene. »So in dieser Art ist also das Wetter im Winter? Nicht übel. Bisschen warm vielleicht.«
»Heilige Mütze«, sagt Moses. »Was ist denn bei dir, bist du krank?«
»Wer, ich? Krank? Haha, das ist lustig!«
Moses sieht das Exemplar noch mal misstrauisch an.
»Du hast bestimmt lauter Lagen Wolle unter deinem Anzug«, sagt er. »Einen alten Hasen kannst du nicht foppen.«
»Was soll der ganze Wind?«, fragt Henry und macht sein Hemd auf, darunter trägt er nur seine nackte Haut. »Ist doch feines Klima hier, Mann. Ist dir kalt?«
»Schon gut.« Moses beschließt, dass er am besten abwartet, wie sich alles entwickelt mit dem schrägen Vogel hier. »Hol dein Gepäck, dann gehen wir. Heute Nacht kannst du bei mir bleiben, aber morgen zieh ich vielleicht aus nach weiter oben. Mal sehen, ob ich da was ausmachen kann mit dem Vermieter, dass du mein Zimmer kriegst.«
»Jederzeit bereit«, sagt Henry.
»Und dein Gepäck?«
»Was für Gepäck? Ich hab kein Gepäck. Ich lade mir doch nicht lauter Zeug auf. Wenn es losgeht mit dem Arbeiten, besorge ich mir, was ich brauche.«
Jetzt ist Moses ja eigentlich einer mit Erfahrung, der schon lange in diesem Land lebt und verschiedenste Leute kennengelernt hat und dies gemacht hat und das, aber so was hätte er sich nie ausgemalt, dass einer aus der Tropensonne im eiskalten Winterabend landet mit nichts, leichter Anzug, kein Gepäck.
»Das soll heißen, du kommst mit nichts aus Trinidad?«
»Na ja, die gute Zahnbürste ist immer dabei.« Henry klopft auf seine Jackentasche. »Und den Pyjama am Leib. Keine Sorge, ich hol mir alles, wenn es losgeht mit dem Arbeiten.«
»Aber rauchen tust du, oder?«
»Ja. Hast du eine? Meine letzte Schachtel hab ich im Zug gelassen.«