Sofie Sarenbrant, Jahrgang 1978, hat als Journalistin gearbeitet und gilt als der neue Star der Krimiszene in Schweden. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Bromma, einem Stadtteil von Stockholm.Mehr Informationen zur Autorin unter www.sofiesarenbrant.se
Hanna Granz hat Skandinavistik, Romanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und ist seit 2012 freie Übersetzerin.
»Sofie Sarenbrant ist die aufregendste neue Krimiautorin in Schweden.« Camilla Läckberg
Als Kriminalkommissarin Emma Sköld im Krankenhaus erwacht, hat sie zunächst keine Ahnung, was geschehen ist. Das Letzte, woran sie sich erinnern kann, ist, dass sie zum Pferdestall aufgebrochen ist und ihre vier Wochen alte Tochter bei ihrem Lebensgefährten Kristoffer zurückgelassen hat. Nun erfährt sie, dass sie nach einem Reitunfall fünf Monate im Koma gelegen hat. Doch war es wirklich ein Unfall? Und warum hat Kristoffer seine Exfreundin Hillevi ins Haus geholt, die sich rührend um die kleine Ines kümmert? Einzig ein Kollege von der Polizei steht ihr bei – er hat ebenfalls Zweifel an der Unfalltheorie.
»Packend und atmosphärisch.« Meins
»Hallt lange nach!« MAXI
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Das Mädchen und die Fremde
Thriller
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
Inhaltsübersicht
Über Sofie Sarenbrant
Informationen zum Buch
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Freitag 24. April
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Samstag 25. April
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Sonntag 26. April
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Montag 27. April
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Dienstag 28. April
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Mittwoch 29. April
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Donnerstag 30. April
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Kapitel 114
Danksagung
Impressum
Für meine Großmutter
(besser spät als nie)
Eine fremde Frau nimmt das Baby hoch und verschwindet. Emma Sköld kann lediglich die Umrisse ihres Rückens erkennen, dann ist sie auch schon verschwunden. Es dauert mehrere Sekunden, bis sie begreift, was das bedeutet. Eiskalt läuft es ihr über den Rücken, als ihr klar wird, was sie gerade verliert. Sie versucht aufzustehen und hinterherzurennen, doch ihr Körper gehorcht ihr nicht. Sie ist sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch einen Körper hat. Weder Arme noch Beine lassen sich bewegen. Jemand muss sie fixiert haben. Irgendetwas drückt ihr die Kehle zu, wenn sie versucht, den Kopf zu drehen. Sie kann kaum atmen. Es scheint, als würde künstliche Luft in ihre Lunge gepumpt.
Grelles Neonlicht blendet sie von oben.
Verzweifelt unternimmt Emma einen letzten Versuch, sich loszureißen, doch der Schmerz, den diese Bewegung auslöst, ist unerträglich. Es sticht wie tausend Nadeln, sobald sie sich auch nur ansatzweise rührt. Plötzlich schwinden ihre Kräfte, und sie wird still. Sie gibt auf. Sie kann ihre Tochter nicht vor den fremden Händen retten. Ist hier denn niemand, der ihr helfen kann, der ihre Verzweiflung sieht?
Ein letzter Ausweg scheint zu sein, um Hilfe zu rufen. Sie holt tief Luft und will schreien, doch sosehr sie sich auch anstrengt, es kommt kein Laut über ihre Lippen.
Was nie hätte geschehen dürfen, ist passiert, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. Emma weigert sich, es hinzunehmen, nicht kampflos. Mit einer Entschlossenheit, die jeden Widerstand außer Kraft setzt, reißt sie sich los. Erst die Arme. Sie kämpft, verheddert sich jedoch in dünnen Schläuchen, die mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt sind. Ihr Oberkörper ist frei, doch die Beine verweigern ihr den Dienst. Sie sind wie gelähmt.
Endlich sind Geräusche zu hören, wenn auch nur aus der Ferne. Schnelle Schritte und Stimmen nähern sich. Sie klingen aufgeregt, verwundert, aber auch fröhlich. Emma weiß nicht, ob sie Rettung bedeuten oder ob sie ihr feindlich gesinnt sind.
Die Ohnmacht breitet sich wie eine Decke über sie, sie ist schweißgebadet. Die Angst und das lautlose Schreien haben ihre Kehle ausgetrocknet.
Ihr hat jemand ihr Kind weggenommen.
Sieben Säuglinge und ein schon etwas größeres Baby liegen auf gepolsterten Matten im Kreis vor ihren Eltern. Zwei von ihnen sind eingeschlafen, ein weiteres windet sich und jammert, ohne dass die Mutter etwas dagegen tut. Vielleicht ist es der schräge Gesang, der dem Baby in den empfindlichen Ohren wehtut. Hillevi versucht, ihn auszublenden und sich auf das Positive zu konzentrieren. Vor ihr liegt ihr größter Schatz auf dem Rücken und betrachtet neugierig die Erwachsenenhände, die sich zu Eine kleine Spinne bewegen. Noch immer klingt das Kinderlied falsch. Da die Älteste im Publikum jedoch gerade einmal sechs Monate alt ist, spielt das keine große Rolle. Die Frau neben Hillevi, die mit dem jammernden Kind, beugt sich zu ihr herüber und flüstert entschuldigend: »Bauchkneifen.«
»Das arme Kind«, sagt Hillevi in dem Versuch, Interesse zu heucheln. »Ich weiß, wie das manchmal ist.«
Dann fällt sie etwas lauter in den Refrain ein, um deutlich zu machen, dass das Gespräch beendet ist. Sie ist hier, um zu singen, nicht zum Quatschen. Diese einzige Unternehmung des Tages will sie voll auskosten, bevor sie wieder in den gewohnten Trott zurückkehrt. Die Musikpädagogin kündigt eine kurze Still- und Windelwechselpause an, bevor das nächste Lied drankommt. Hillevi schaut auf die Uhr. Noch eilt es nicht, wieder nach Hause zurückzukehren. Sie können ruhig bis zum Ende bleiben.
»Ich bin übrigens Tamara«, sagt die Frau neben ihr und streckt eine Hand aus, an der sie einen klobigen Ring trägt.
»Hillevi«, gibt Hillevi scheu zurück und überlegt fieberhaft, wo sie das Desinfektionsmittel verstaut hat. »Was für ein Süßer – es ist doch ein Junge?«
Tamara lacht. »Ja, natürlich, Måns heißt er, er ist drei Monate alt. Und deine Tochter? Sie sieht aus wie … ungefähr fünf Monate?«
»Ein halbes Jahr.«
Nun kommt bestimmt ein Kommentar, dass sie zu alt für die Gruppe ist, denkt Hillevi und bereitet sich auf eine Verteidigung vor. Diskret hantiert sie mit dem Desinfektionsmittel, um mögliche Bakterien zu vertreiben, die das Händeschütteln übertragen haben könnte. Besser, man ist auf der sicheren Seite, sie kann es sich nicht leisten, krank zu werden.
»Total süß! Sie hat deinen Mund«, sagt Tamara, statt irgendwelche dummen Bemerkungen zu machen.
Hillevi holt tief Luft und zupft ihre unbequeme Bluse zurecht. »Danke, du bist die Erste, die das sagt.«
»Måns ist ganz der Papa«, fährt Tamara fort, als würde das auch nur irgendwen interessieren. »Von mir hat er eigentlich gar nichts.«
»Das kommt vielleicht noch«, tröstet Hillevi und sieht das Kind an. Tamara hat recht, nichts deutet darauf hin, dass sie auch nur miteinander verwandt sind. Schade für sie.
Hillevi hofft inständig, dass der Gesang bald weitergeht und sie sich nicht mehr unterhalten muss. Ihr Wunsch wird erhört. Die Pädagogin mit der selbstgestrickten Jacke und dem unregelmäßig gefärbten Haar kommt wieder herein. Erleichtert atmet Hillevi auf.
Für sie kommt es nicht infrage, mit einer Müttergruppe zum Spaziergang zu gehen, und erst recht nicht, mit jemandem Kaffee zu trinken. Nicht, dass jemand sie dazu aufgefordert hätte. Ohnehin ist sie am liebsten den ganzen Tag allein mit der Kleinen, wenn sie schon einmal die Gelegenheit dazu hat. Andererseits vergeht sie manchmal fast vor Langeweile, wenn sie sich nur in der Wohnung aufhalten. Eigentlich dürfte sie nämlich überhaupt nicht nach draußen gehen, das weiß sie genau. Nur zum Laden, keine längeren Strecken. Immer dieselben Wege. Doch ein bisschen frische Luft und eine einzige Aktivität werden ihnen schon nicht schaden, im Gegenteil. Danach weiß sie die Einsamkeit der Wohnung umso mehr zu schätzen.
Gleich ist die Musikstunde vorbei, und sie kann wieder nach Hause gehen, als wäre nichts geschehen. Niemand braucht es je zu erfahren.
Als sie gerade Mäh, Lämmchen, mäh anstimmen, passiert das Unglaubliche: »Mam … mam.«
Hillevi starrt das kleine Mädchen triumphierend an. Hat sie richtig gehört, oder bildet sie sich das nur ein?
Tamara stößt sie mit dem Ellbogen an. »Sie hat Mama gesagt! Mensch, das ist ja unglaublich!«
Wenn Tamara wüsste, wie unglaublich das tatsächlich ist …
»Sie kommt zurück«, sagt eine Stimme, die Emma nicht kennt.
Ihre Lider flattern, bleiben jedoch geschlossen. Sie spürt eine lähmende Müdigkeit, und es dauert eine Weile, bis sie etwas sehen kann. Vielleicht ist sie zwischendurch sogar wieder eingeschlafen, sie weiß es selbst nicht genau. Eben noch saß sie auf einem galoppierenden Pferd, und jetzt befindet sie sich in einem hellen Raum. Sie versucht, sich an das Tageslicht zu gewöhnen, doch der Schmerz in ihrem Kopf ist unerträglich. Um sie herum stehen verschiedene Apparate mit blinkenden Ziffern und Kurven, die sie ganz schwindlig machen, so dass ihr schlecht wird.
Nach einer Weile kann sie blau- und weißgekleidete Menschen erkennen. Wie überdimensionale Schlümpfe sehen sie aus. Sie starren sie mit ernster Miene und hochgezogenen Augenbrauen an. Wer sind sie und was wollen sie von ihr? Keiner spricht mit ihr, alle scheinen darauf zu warten, dass sie die Initiative ergreift.
Ihre Beobachter tragen Mundschutz, und allmählich geht Emma auf, dass sie sich wahrscheinlich in einer Klinik befindet. Es sind viel zu viele Eindrücke auf einmal. Plötzlich verschwimmt wieder alles vor ihren Augen.
Dann wird es dunkel.
Als sie das nächste Mal die Augen aufschlägt, versucht sie erneut herauszufinden, wo sie ist. Jemand scheint mit ihr zu reden, doch Emma versteht nichts. Es rauscht und pfeift lediglich in ihren Ohren. Schlagartig bekommt sie Angst. Die Frau neben ihrem Bett erzählt einfach weiter und gestikuliert lebhaft. Emma versteht einzelne Wörter: Lebensgefährte. Familie. Unterwegs. Das ist alles. Der Rest verschwimmt und wird zu einem einzigen Wirrwarr ohne Inhalt. Emma muss sich konzentrieren, um eine Antwort auf die dringlichste Frage zu bekommen: Was tue ich hier? Auch spürt sie, dass irgendetwas fehlt. Etwas Wichtiges.
Ihre Wange juckt, und Emma versucht, den Arm zu heben. Nichts, auch nicht der Ansatz einer Bewegung. Die Frau redet weiter, während Emma sich bis auf das Äußerste anstrengt, den rechten Arm zu heben. Es muss gehen, aber es will einfach nicht gelingen. Eben noch wollte sie um jeden Preis fliehen, es war dringend, eine Krisensituation. Emma weiß allerdings nicht, warum es sich so angefühlt hat. Endlich gelingt es ihr, die Hand zu heben, doch die Schläuche im Arm sind ihr im Weg. Auf Höhe des Halses stößt sie auf etwas Hartes. Da sieht sie die Frau nicken und hört sie etwas sagen, das wie »Tracheotomie« klingt.
Wieder begreift Emma kein Wort. Die Frau muss eine andere Sprache sprechen. Gern würde sie dieses Ding an ihrem Hals noch einmal berühren, aber die Kräfte reichen nicht aus. Erneut wird ihr schwindlig, das ganze Zimmer dreht sich. Sie wird es später noch einmal versuchen, erst muss sie sich ausruhen.
Eine seltsame Ruhe breitet sich in ihr aus. Sie ist sich nicht einmal mehr sicher, wer sie überhaupt ist, wahrscheinlich ist das auch gar nicht so wichtig. In einem tapferen Versuch zu lächeln zieht sie die Mundwinkel nach oben, doch ihre Lippen bewegen sich nicht. Dann trifft es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und sie weiß, was fehlt.
»Ines!«, brüllt Emma mit letzter Kraft.
Auf dem Nachhauseweg von der musikalischen Früherziehung hält Hillevi an einem Kiosk an. Sie möchte die Entwicklung von Ines irgendwie feiern. Dass sie tatsächlich Mama gesagt hat! Hillevi muss sich kneifen, um sich zu überzeugen, dass sie nicht träumt. Dann beschließt sie, sich das erste Eis der Saison zu gönnen. Zum Glück ist Ines eingeschlafen, sobald sie die Kleine in den Kinderwagen gesetzt hat, so dass sie nicht neidisch werden muss. Ihr jetzt schon Eis zu geben, fände Hillevi viel zu verfrüht. Aber sie hat keine Eile, in die Wohnung zurückzukehren. Lieber bummelt sie noch ein bisschen herum und genießt das Hier und Jetzt. Darin ist sie eine wahre Meisterin geworden: den Augenblick zu nutzen, etwas Schönes und Kostbares aus den Stunden zu machen, die sie gemeinsam haben.
Ehe ihr Leben im November letzten Jahres seinen Sinn zurückbekam, ist jeder Tag für sie ein Kampf gewesen. Sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wie sie sich morgens überhaupt motivieren konnte, auch nur aufzustehen. Jetzt ist sie froh, dass sie sich nicht hat gehenlassen. Sonst hätte sie das alles hier verpasst.
Liebevoll zieht sie die Decke zurecht, die im Wagen verrutscht ist. Mit der richtigen Einstellung und gutem Willen könnte es bestimmt viel mehr Depressiven gelingen, in ein erträgliches Leben zurückzufinden. Doch sie, wenn überhaupt jemand, weiß auch, wie viel Kraft es kostet. Und manchmal gehört gewiss auch eine Portion Glück dazu, um aufzuwachen, so wie es bei ihr der Fall gewesen ist.
Hillevi sieht sich sorgfältig um, bevor sie mit der Daim-Waffel in der einen und dem Wagen in der anderen Hand die Straße überquert. Niemals würde sie es sich verzeihen, wenn etwas passiert, weil sie nicht aufgepasst hat. Der Verkehr in Stockholm kann richtig gefährlich sein, sie weiß nicht, wie oft sie schon den Kinderwagen zur Seite reißen musste, weil irgendein Verrückter an ihr vorbeigerast ist.
Gleich wird sie die St.-Eriks-Brücke überquert haben. Ihr langer Mantel flattert im Wind. Obwohl die Sonne scheint, sind die Frühlingswinde immer noch frisch. Hillevi schaudert. Schon immer ist sie eher fröstelig gewesen, vielleicht weil sie so dünn ist. Da ist es bestimmt angenehmer, in so einem Kinderwagen zu liegen, sorgfältig eingewickelt wie in einem Kokon. Allerdings wird er allmählich zu klein für Ines, sie wird den Wagen bald zum Buggy umrüsten müssen.
Es geht alles so schnell, und das erfüllt Hillevi mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist es spannend, andererseits macht es ihr auch Angst. Schwups wird Ines reif für die Krippe sein – was für eine schreckliche Vorstellung! Zum Glück sind es noch einige Monate bis dahin. Hillevi hofft, dass sie noch viele Gelegenheiten haben werden, die gemeinsame Zeit zu nutzen.
Es sind nur noch ein paar hundert Meter bis zur Wohnung in der Hälsingegatan, ihrer neuen Festung. Hillevi hat längst den Überblick verloren, wie viele Stunden sie dort verbracht hat, mit Windelwechseln, Füttern und vor allem Spielen. Wenn Ines ein bisschen älter ist, ergeben sich noch ganz andere Möglichkeiten. Dann können sie ganze Tage auf dem Spielplatz verbringen, Sandburgen bauen, schaukeln und rutschen. Darauf freut sie sich jetzt schon – vorausgesetzt, sie darf dann mit ihr rausgehen.
Hillevi öffnet die Haustür und ruft den Aufzug. Hoffentlich wacht Ines bald auf, es ist so langweilig, wenn sie schläft. Auch wenn es in der Wohnung genug zu tun gäbe, wird Hillevi schnell unruhig. Sie vermeidet es, in die Küche zu gehen, um die Berge von Abwasch nicht zu sehen. Das geht sie nichts an, darum muss sie sich nicht kümmern, bloß weil sie mit Ines zu Hause ist.
Eigentlich könnte sie die Schlafenszeiten der Kleinen nutzen, um sich auszuruhen, doch es fällt Hillevi schwer, stillzusitzen. Sobald sie mit ihren Gedanken allein ist, machen diese sich selbständig, und sie hat Angst, dass sie wieder düster werden und sie herunterziehen könnten.
Das Händeschütteln ist erledigt. Kristoffer atmet tief durch, als er den Besprechungsraum verlässt. Eine gute Stunde lang konnte er alles andere beiseiteschieben, um den Vertrag abzuschließen – das hat er geradezu als Erholung empfunden. Doch im selben Moment, in dem er den Fokus auf die Besprechung wieder aufgibt, ist die nagende Angst zurück: die Wirklichkeit.
Vor fast einem halben Jahr ist sein Leben aus den Fugen geraten. Er hatte gerade angefangen, so etwas wie Harmonie zu empfinden, als passierte, was nie hätte geschehen dürfen. Die Nachricht, die Josefin ihm damals geschickt hat, lässt ihn nachts immer noch schweißgebadet aufwachen. Emma ist in der Notaufnahme. Bewusstlos. Wie schnell kannst du hier sein?
Eine Nachricht, die alles verändert hat.
Emma war an jenem kühlen Novembermorgen so voller Energie gewesen. Sie sprudelte vor Freude, endlich mal wieder in den Stall zu kommen, auch wenn es ihr schwerfiel, sich von Ines zu trennen. Nachdem sie die Schlaf- und Essenszeiten mehrfach mit ihm durchgesprochen hatte, zog sie ihre Reitstiefel an und ließ ihn und das Baby in ihrer Wohnung in Vasastan zurück. Er erinnert sich, dass er sich zugleich stolz und ein bisschen ängstlich gefühlt hat, mit seiner Tochter allein zu bleiben, immerhin war sie erst einen knappen Monat alt. Zwar war es ihnen gelungen, Ines einigermaßen an die Nuckelflasche zu gewöhnen, es klappte jedoch nicht immer. Dennoch wollte Emma probieren, ein paar Stunden außer Haus zu sein, zum ersten Mal nach der Entbindung. Nach dem Mittagessen legte er sich mit Ines auf das Doppelbett, und sie schliefen weit länger als die Dauer eines regulären Mittagsschlafs, so dass es eine Weile dauerte, bis er wieder richtig zu sich kam. Dann dauerte es noch einmal einen Moment, bis er auf die Idee kam, auf sein Handy zu schauen, das in der Wickeltasche lag und schon seit einer Weile klingelte.
Dasselbe Klingeln reißt ihn auch jetzt aus seinen Gedanken. Es liegt irgendwo im Büro, und Kristoffer hat es nicht eilig dorthin. So viele Male hat er abgenommen, und seine Hoffnung auf einen positiven Bescheid vom Krankenhaus ist enttäuscht worden. Er wird sich wohl damit abfinden müssen, dass Emma nicht wieder aufwachen wird.
Er schenkt sich Kaffee ein und stößt dabei mit einem Kollegen zusammen. Gerade will er mit seinem Honorar prahlen, da hört er erneut das Handyklingeln. Ein hartnäckiger Typ anscheinend. Bestimmt ein ehrgeiziger Immobilienhai, der sich furchtbar aufregen wird, wenn er erfährt, dass er das Objekt schon vor dem ersten Besichtigungstermin verkauft hat.
»Es hat schon während deines Meetings ständig geklingelt. Ich vergesse immer, dass es deines ist, und erschrecke mich jedes Mal, wenn ich es höre. Leg dir mal einen anderen Klingelton zu – oder wechsle den Job«, sagt der Kollege mit halb ernstem Unterton. Dann geht er hinaus.
Kristoffer nimmt sein Handy vom Schreibtisch. Er hat mehrere entgangene Anrufe vom Krankenhaus. Darüber hinaus hat Josefin ihm eine SMS geschickt, die er lange anstarrt, ohne sie zu begreifen. Drei Worte, die er immer wieder aufs Neue lesen muss: Emma ist aufgewacht.
Tränenüberströmt steigt Josefin Sköld in Aufzug F und drückt, wie gewohnt, die Fünf. Auf das Schild mit den Knöpfen hat jemand mit Filzstift »AIK« geschmiert. Oben angekommen, öffnet die Tür sich automatisch. Josefin läuft über den Flur, die Handtasche schlägt gegen ihre Hüfte. Eine Krankenschwester kommt ihr mit einem Patientenbett entgegen und muss ihr ausweichen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Josefin hat keine Kontrolle über sich selbst, sieht nur das Schild mit der Aufschrift »Intensivstation«.
»Entschuldigung«, stammelt sie im Vorbeirauschen, die Schwester quittiert es mit einem kurzen Nicken. In einem Krankenhaus findet sich offenbar besonders viel Verständnis für verwirrte Besucher.
Josefin ist bereits auf dem Weg nach Danderyd gewesen, als der ersehnte Anruf sie endlich erreichte, die Nachricht, von der sie schon gedacht hat, sie käme nie. Als sie jetzt vor dem Eingang steht, klopft ihr das Herz bis zum Hals. Mit zitternden Fingern wischt sie sich die Tränen ab, sie ist nervös, weil sie nicht weiß, was sie hinter der Glastür erwartet. Sie kann sich nicht erinnern, jemals so aufgeregt gewesen zu sein. Wahrscheinlich ist sie die Erste vor Ort, doch ihre Eltern sind sicher auch schon unterwegs. Sie klingelt und wartet, dass man ihr aufmacht, schluckt bei dem Gedanken, dass sie gleich ein Lebenszeichen von ihrer Schwester erhalten wird. Rasch fährt sie sich durchs Haar. Wie sieht sie überhaupt aus? Wird Emma sie erkennen? Sie zupft den Kragen ihrer Bluse zurecht, der ihr beim Laufen verrutscht ist, und öffnet den obersten Knopf, um besser atmen zu können.
Ihre Gefühle sind ein einziges Durcheinander. Bisher haben die Ärzte nicht gewagt, irgendwelche Versprechungen zu machen, überhaupt nicht. Sie haben sie also nicht darauf vorbereitet, was sie erwarten könnte, falls Emma nach diesem schrecklichen Reitunfall überhaupt je wieder aufwachen würde, einfach deshalb, weil sie es selbst nicht einschätzen konnten. Man kann nicht wissen, wie ein Mensch sich nach einer schweren Hirnblutung erholt, vor allem nicht, wenn er längere Zeit im Koma gelegen hat. Manchmal hatten sie das Gefühl, Emma würde reagieren, an anderen Tagen wiederum hatten sie überhaupt keinen Kontakt zu ihr. Und jetzt behaupten sie, sie sei bei Bewusstsein. Josefin hat sich geschworen, sich nie mehr über irgendetwas zu beklagen, wenn sie nur ihre Schwester behalten darf, egal in welcher Verfassung. Dass sie aufgewacht ist, ist ein erster Schritt, alles andere wird sich finden. Mehr zu verlangen wäre unbescheiden. Aber hoffen kann man ja immer.
Endlich öffnet sich die Tür zur Intensivstation, und ein Arzt, dem Josefin noch nie zuvor begegnet ist, begrüßt sie. Er gibt ihr ein Zeichen, ihm in den Bereich zu folgen, in dem sich acht Patienten in so kritischem Zustand befinden, dass sie rund um die Uhr beatmet werden müssen.
Schwerkranke zwischen Leben und Tod.
Wie Emma.
Vor dem Zimmer bleibt Josefin stehen, um Luft zu holen. Plötzlich scheut sie sich hineinzugehen. Sie, die so viele Male neben Emma gesessen hat, um mit ihr zu reden, ohne je eine Antwort zu erhalten. Nicht einmal ein Blinzeln. Die Zeit stand still, während Emma im Koma lag.
»Bitte, kommen Sie rein«, sagt der Arzt, und sie zuckt zusammen, sie war ganz in ihrer eigenen Welt versunken.
Dann geht sie hinein und lässt den Blick von Emmas Füßen bis zu ihrem Kopf wandern. Zu ihrer Enttäuschung sind Emmas Augen geschlossen. Ihr erster Gedanke ist, man habe sie hereingelegt, ihr nur vorgemacht, Emma sei erwacht. Kein Lebenszeichen, außer der EKG-Kurve, die sich die ganze Zeit über schon bewegt hat.
Hat sich jemand über Emmas Zustand getäuscht?
»Das Aufwachen geschieht schrittweise«, erklärt der Arzt, der ihr die Enttäuschung wohl ansieht. »Aber sie hat mehrmals die Augen geöffnet, und ihre Werte sehen gut aus.«
»Danke«, sagt Josefin und muss sich sehr zurückhalten, um dem Mann im blauen Kittel nicht um den Hals zu fallen.
Schließlich tut sie es doch.
Er erwidert die Umarmung, wenn auch zögernd.
»Was weiß sie eigentlich?«, fragt Josefin und lässt den Arzt wieder los.
»Wir haben ihr von dem Unfall und der Hirnblutung erzählt, ob sie es begriffen hat, wissen wir allerdings nicht«, antwortet er.
»Hat sie irgendetwas gesagt?«
»Noch nicht, aber das kann auch dauern. Ich lasse Sie jetzt einen Moment mit Ihrer Schwester allein. Rufen Sie einfach, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Josefin setzt sich auf den abgenutzten Besucherstuhl und wartet – darin hat sie inzwischen Übung. Doch auf etwas zu warten, ohne zu wissen, ob es nicht doch vergebens ist, ist etwas ganz anderes. Der Begriff der Ungewissheit hat für sie eine ganz neue Dimension bekommen. Immer wieder ist sie zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her geworfen worden, hat geheult und schlaflose Nächte gehabt, in denen sie überlegt hat, wie sie eigentlich als große Schwester gewesen ist. Die gemeinsame Kindheit und die kleinen und großen Konflikte der letzten Monate sind immer wieder vor ihrem inneren Auge vorbeigezogen.
Als der erste Schock über den Unfall sich gelegt hatte, kam die Wut darüber, dass dies ausgerechnet Emma passieren musste.
Warum ihrer Schwester?
Wo sie doch gerade erst Mutter geworden war, endlich ihr langersehntes Kind bekommen hatte. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt musste sie so schwer verunglücken, dass niemand sagen konnte, ob sie je wiederhergestellt würde. Dass Pferde gefährliche Tiere sind, hat sie selbst schon immer gewusst. Sie kann gar nicht verstehen, wieso die Leute reiten, wenn sie sich dabei solcher Gefahr aussetzen. Es müsste verboten werden! Und obwohl sie weiß, dass es ein Unfall war, hätte sie diesen Gaul am liebsten bei der Polizei angezeigt, weil er sich einfach nicht hatte auf den Beinen halten können. Wie schwer konnte das denn sein, wenn man vier davon hatte? Zum Glück hat Emma einen Helm getragen, sonst wäre es wohl ihr Ende gewesen.
Emma bewegt sich kaum merklich, und Josefin wird aus ihren Gedanken gerissen. Es sind nur ein paar Millimeter, aber immerhin. Aus dem Mund ihrer Schwester dringt ein leises Wimmern, das erste Lebenszeichen, das Josefin nach fünf Monaten an ihr wahrnimmt. Dass ein so leises Geräusch solche Gefühle auslösen kann, hätte sie nie gedacht. Ihre Wangen werden nass, und sie versucht sich zusammenzureißen.
»Emma?«, flüstert sie. »Ich bin es, Josefin.«
Wie durch ein Wunder öffnet Emma langsam die Augen. Es ist wie ein Stummfilm in Slow Motion. Erst scheint Emma erschrocken und verwirrt. Sie kann nicht richtig fixieren. Dann scheint sie sich zu entspannen.
»Hast du geträumt?«, fragt Josefin und legt ihre Hand vorsichtig auf Emmas, die so blass ist, dass sie beinahe durchscheinend wirkt. Sie hofft auf ein Zeichen, dass Emma sie erkennt, wagt aber nicht, damit zu rechnen.
Als Emma tatsächlich versucht, zu antworten, ohne jedoch die Worte zu finden, droht alles in ihr zusammenzubrechen. Josefin kann sich ihre Schwester unmöglich für den Rest ihres Lebens als Pflegefall vorstellen. Emma, die immer so stark gewesen ist, ihre kleine Schwester, die stets alles besser wusste und immer ein klein wenig mutiger war als alle anderen. Manchmal an der Grenze zur Dummdreistigkeit. Doch das war damals. Das zerbrechliche Wesen, das jetzt vor ihr liegt, hat kaum noch etwas mit der toughen Kriminalkommissarin gemein, die vor nichts und niemandem Angst hatte, selbst wenn es um Leben und Tod ging. Jetzt ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst.
»Ines?«, bringt Emma mit heiserer, unangenehm dunkler Stimme heraus.
Jäh wird Josefin aus ihrer Verzweiflung gerissen. Emma kann nicht nur sprechen, sie erinnert sich auch an den Namen ihrer Tochter! Es ist ein Augenblick fast wie der, in dem ein Kind zum ersten Mal »Mama« sagt.
Sie verliert sich so leicht in ihrem betörenden Blick. Hillevi fällt es schwer, sich von dem kleinen Wunder abzuwenden, das in der Babywippe liegt und aufgeregt mit den Beinchen strampelt. Während Ines geschlafen hat, ist es Hillevi gelungen, ihr ein winziges Zöpfchen aus den Haarsträhnen zu flechten, die ihr immer in die Stirn fallen. Die Kreation wird von einer roten Schleife zusammengehalten, die erstaunlicherweise immer noch festsitzt. Wahrscheinlich jedoch nur deshalb, weil Ines sie noch nicht entdeckt hat.
Schlüssel klirren in der Wohnungstür. Hillevi zuckt zusammen. Jetzt schon? Enttäuscht sieht sie auf die Uhr, und tatsächlich, eigentlich ist es noch eine ganze Stunde bis zur vereinbarten Zeit. Bisher ist es noch nie vorgekommen, dass Kristoffer früher zu Hause war – später dagegen sehr häufig. Ines und sie sind ja gerade erst zur Tür hereingekommen.
Seine Ankunft ist alles andere als diskret, er knallt die Tür lauter zu als sonst, und als sie ihm im Flur entgegengeht, stößt er an den Kleiderbügel mit dem geblümten Mäntelchen, so dass es zu Boden fällt. Das Mäntelchen, das sie Ines kurzerhand zum halbjährigen Geburtstag geschenkt hat.
»Hallo, du bist ja früh dran«, sagt sie und hört selbst, wie enttäuscht es klingt.
»Ich habe mich beeilt, weil ich meine Tochter vermisst habe«, sagt er mit erwartungsvoller Miene und streicht sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht. »Sie schläft doch nicht etwa?«
Allmählich wird er ihr unheimlich, es muss etwas Außergewöhnliches passiert sein, doch aus irgendeinem Grund lügt Kristoffer ihr ins Gesicht. Er sieht gehetzt aus, auch wenn er versucht, freundlich zu sein. Beruhigend nickt sie Richtung Wohnzimmer. »Keine Angst, sie ist wach. Fröhlich und vergnügt wie noch nie.«
Dass die übliche Umarmung ausfallen wird, hat sie sich bereits gedacht, und tatsächlich, er vergisst es.
»Das ist gut«, sagt er und geht hinein, ohne sich erst die Schuhe auszuziehen. Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich!
Etwas zu abrupt hebt er Ines aus der Wippe, so dass sie jammert und sich hilfesuchend umsieht. Ein Fuß hat sich im Sicherheitsgurt verheddert, und Hillevi geht schnell hin, um ihn zu befreien.
»Immer mit der Ruhe«, mahnt sie. »Du erschreckst sie doch.«
Ein gestresster Blick ist die einzige Antwort.
»Musst du gleich wieder mit ihr weg?«, fragt Hillevi daher mit Tränen in der Stimme und verachtet sich selbst, weil es so kläglich klingt.
»Ja, tut mir leid«, erwidert er und lächelt schief.
Kristoffers Hektik ärgert sie. Das sah noch vor drei Monaten ganz anders aus, als sie halb nackt auf dem Sofa saßen, ein Glas Rotwein in der Hand, und er nicht widerstehen konnte, sie zu küssen.
»Du wolltest doch viel später kommen. Darf ich fragen, was passiert ist?«
»Tut mir leid, das kann ich dir auf die Schnelle nicht erklären.«
Er schaut zur Tür, als würde es brennen und als suche er einen Notausgang. All das Liebevolle und Warme der letzten Wochen ist wie weggeblasen.
»Ich muss nur noch schnell zur Toilette«, sagt sie. Sie will testen, wie groß die Not wirklich ist und wie weit seine Geduld reicht.
Rasch geht sie hinein, schließt ab und setzt sich auf den Toilettendeckel. Sie erwartet, dass Kristoffer sich furchtbar aufregen wird, doch das tut er nicht. Schließlich steht sie wieder auf, spült und geht hinaus. Sein Blick beunruhigt sie, vor allem um Ines’ willen. Kann sie ihm in diesem Zustand wirklich ein so kleines Kind überlassen? Ines bekräftigt ihre Vorbehalte, indem sie anfängt zu weinen. Kristoffer tut alles, um sie zu trösten, doch sie weint immer lauter. Jetzt droht die Stimmung endgültig zu kippen.
»Bist du fertig? Können wir gehen?«, fragt er ungeduldig.
Sie zieht Jacke und Schuhe an und geht ihm voraus ins Treppenhaus. Ines hat aufgehört zu weinen, sobald er ihr den geblümten Mantel angezogen hat und sie in Bewegung sind. Unten auf der Straße hält Kristoffer inne, um sich zu verabschieden, doch Hillevi kommt ihm zuvor.
»Kannst du mich ein Stück mitnehmen? Wo musst du überhaupt hin?«, fragt sie, obwohl sie schon ahnt, dass er es ihr nicht sagen wird.
Kristoffer verzieht das Gesicht, die Situation ist ihm sichtlich unangenehm.
»Das geht heute nicht. Ich fahre dich nächstes Mal.«
Dann schnallt er Ines im Kindersitz fest, umarmt Hillevi hastig und steigt auf der Fahrerseite ein. »Ich melde mich.«
Anschließend knallt er die Tür hinter sich zu.
Also wird es zumindest ein nächstes Mal geben, denkt Hillevi. Sie bleibt mitten auf der Straße stehen und sieht dem Auto hinterher. Erst gekränkt, dann zunehmend wütend. Schließlich entscheidet sie sich zu handeln. Zielstrebig geht sie zur U-Bahn-Station. Mit ein bisschen Glück ist sie vor ihm da und kann sich selbst überzeugen, dass es so ist, wie sie denkt. Dass das Schlimmste, was passieren konnte, eingetroffen ist.
Er kommt mit seinen Gefühlen nicht mehr mit. So viele Fragen gehen ihm durch den Kopf: Wie wach ist Emma? Wie geht es ihr? Weiß sie, wer sie ist? Kann sie sprechen? Wie wird es weitergehen? Kristoffer tritt aufs Gas und rast Richtung Danderyd. Es stresst ihn unglaublich, dass er ständig zu spät kommt. Er hofft, dass Emma nie erfahren muss, dass es am Tag ihres Unfalls ganze zwei Stunden dauerte, bis man ihn erreichen konnte, und eine weitere Viertelstunde, bis er in der Notaufnahme ankam, wo die gesamte Familie ihn mit geröteten Augen empfing. Das Erste, was er tat, war, nach Entschuldigungen zu suchen. Und jetzt, fünf Monate später, weiß er wieder nicht, wie er sich erklären soll. Offiziell geht er ja nicht einmal arbeiten, weil er auf unbestimmte Zeit Erziehungsurlaub genommen hat.
Fatal ist auch die Situation mit Hillevi. Wie soll er ihr das Ganze erklären? Ihre verletzte Miene geht ihm nicht aus dem Sinn, auch nicht, als er die viel zu enge Kurve zum Krankenhaus in Danderyd nimmt und ihm klar wird, wer ihn in dem grauen Betonklotz erwartet. Er wird ihren verständnislosen Blick einfach nicht los, das von langem braunem Haar umrahmte Gesicht. Dazu ihre geduckte Haltung, ihre nach vorne fallenden Schultern, die eine viel zu schwere Last tragen mussten.
Hillevi ist so enttäuscht gewesen, dass er zu früh gekommen ist und direkt wieder fahren musste. Wahrscheinlich ahnt sie bereits, dass etwas Bedeutsames passiert ist.
In wenigen Minuten wird er Emma zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit bei Bewusstsein sehen. Doch Hillevis Gesicht lässt ihn einfach nicht los. Er klammert die Hände fester um das Lenkrad und muss sich zusammenreißen, um nicht laut zu schreien. Gern würde er mit dem Kopf irgendwo gegen schlagen, doch das geht nicht. Ines sitzt ganz still neben ihm im Maxi-Cosi und starrt die Lehne des Beifahrersitzes an – wahrscheinlich spürt sie, dass es jetzt ratsam ist, keinen Laut von sich zu geben.
Kristoffer parkt einigermaßen korrekt ein, lehnt sich zurück und versucht, bis in den Bauch hinunter zu atmen. Doch er kommt nicht viel weiter als bis zur Kehle. Die Furcht davor, was ihn im Krankenhaus erwartet, ist so groß, dass sie sich durch nichts beruhigen lässt. Ganz zu schweigen davon, was er angerichtet hat, indem er Hillevi erlaubt hat, so unmittelbar an ihrem Leben teilzuhaben. Passenderweise hat sie kurz nach dem Unfall bei ihm an die Tür geklopft und sich erboten, ihm für den Anfang zu helfen, mit allem zurechtzukommen.
Damals, als es am allerschlimmsten war.
Als er nicht mehr klar denken konnte.
Vor dem Unfall war er noch nie mit Ines allein gewesen, und jetzt fühlte er sich ohne Emma vollkommen hilflos. Panisch, um ehrlich zu sein, wie auch immer es möglich war, dass man vor dem eigenen Kind Angst hatte. Doch er wusste einfach nicht, wo er anfangen sollte, und fühlte sich vollkommen ratlos, wenn sie weinte. Ziemlich bald begriff er, dass ein Baby ein Vollzeitjob ist, der eine Reihe von Routinen verlangt oder zumindest einen ungefähren Plan. Man kann nicht einfach den Pizza-Service rufen, wenn ein Neugeborenes Hunger hat. Alles muss rechtzeitig eingekauft werden, bevor man es braucht – das war er einfach nicht gewohnt. Ganz abgesehen von seiner Sorge um Emma, war es ein Rieseneinschnitt, plötzlich mit einem vier Wochen alten Säugling allein zu sein. Einem Kind, das nach der Mutterbrust schrie und den Kopf wegdrehte, sobald er mit der Ersatzmilch kam. Josefin versuchte ihn so gut wie möglich zu unterstützen, war aber selbst mitten in der Scheidung von Andreas begriffen. Und er konnte sie ja auch schlecht jedes Mal um Hilfe bitten, wenn Ines schrie. Es war vollkommen aussichtslos, eine Strategie zu finden, die einigermaßen funktionierte. Ines heulte, er heulte, sie beide brachen zusammen.
Und so ging es, bis Hillevi als rettender Engel auftauchte.
Seine Exfreundin, die zwei Jahre zuvor ihre kleine Tochter bei einem tragischen Unfall verloren hatte und sich erst jetzt langsam damit abfand, dass Felicia für immer verloren war. Sollte sie nicht wenigstens ein bisschen Lebensfreude haben? Sich gebraucht fühlen?
Ines’ Brabbeln weckt ihn aus seinen Gedanken, und ihm fällt wieder ein, wo er ist und warum. Er muss sich zusammenreißen, um auszusteigen, obwohl sein Gewissen ihm so zusetzt. Dass Hillevi ihm in den letzten Monaten so wichtig geworden ist und die Gefühle dabei ab und zu mit ihm durchgegangen sind, peinigt ihn jetzt, da die Situation sich geändert hat, unglaublich. Er löst die Sicherheitsgurte und hebt Ines auf seinen Schoß.
»Wie gut, dass du noch nicht alles verstehst, Süße.«
Sie drückt mit der Hand gegen seine Nase und packt sie dann fest mit ihren kleinen Fingern, deren Nägel so spitz und scharf sind, dass ihm das Wasser in die Augen schießt.
»Hey, vorsichtig!«, sagt er und öffnet die Autotür.
Draußen scheint die Sonne. Frühling liegt in der Luft. So hoffnungsfroh.
Je näher er dem Eingang kommt, desto nervöser wird er. Eigentlich müsste er sich beeilen, um so schnell wie möglich bei Emma zu sein, doch irgendetwas hält ihn zurück. Erst musste er sich an den Gedanken gewöhnen, dass sie vielleicht nie wieder aufwachen würde, und dann kommt plötzlich der Bescheid, dass sie die Augen aufgeschlagen hat. In der Zwischenzeit hat sich das Leben jedoch bereits grundlegend verändert.
Noch immer kann sie nur unscharf sehen, und Josefins Stimme scheint von weit weg zu kommen, dabei sitzt sie direkt neben ihrem Bett. Emma erkennt ihre Schwester nicht richtig, obwohl sie hört, dass sie es ist. Es strengt sie viel zu sehr an, die Augen längere Zeit offen zu halten, doch mit jedem Versuch sieht sie etwas klarer. Inzwischen hat sie begriffen, dass sie im Krankenhaus ist, aber warum, weiß sie immer noch nicht. An den Unfall, von dem über ihren Kopf hinweg immer wieder gesprochen wird, kann sie sich nicht erinnern. Die Müdigkeit macht sie ganz benommen, und die Sehnsucht nach Ines, die Angst, weil sie nicht weiß, wo sie ist, beschäftigen ihre Gedanken vollauf. Sobald sie wegdämmert, übermannt sie das Gefühl, ihr Baby sei verschwunden. Vor sich sieht sie eine Gestalt, die das Kind hochhebt. Zwei starke Frauenhände, die es eisern festhalten. Vielleicht ist es die Geburtsszene, die sie verfolgt, als die Ärzte es plötzlich eilig hatten, Ines irgendwo hinzubringen, während sie selbst auf dem Operationstisch lag, einen Schnitt im Bauch, mit schmerzendem Unterleib und wahnsinniger Angst, keinen Einfluss mehr auf irgendetwas zu haben. Noch dazu völlig bewegungsunfähig. Es war schrecklich für sie, das ersehnte Kind nicht in den Armen halten zu dürfen.
»Was hast du gesagt?«, fragt Josefin und streicht sich das Haar aus der Stirn.
Sie muss also doch etwas gemurmelt haben, ohne es selbst zu merken. Dies und anderes würde sie gerne erklären, doch ihre Lippen fühlen sich so schwach an, und das Einzige, was sie herausbringt, ist eine Art Krächzen. Aus dem Mundwinkel läuft ihr der Speichel.
»Nichts«, sagt sie schließlich mit einer tiefen Stimme, die wie von einem anderen Planeten klingt.
Josefin lächelt nachsichtig und streichelt ihre Wange, die kleine Fläche, die nicht von Apparaten und sterilen Kompressen in Anspruch genommen wird. Eine Geste, die Emma den Magen umdreht, denn allmählich begreift sie, dass sie als etwas aufgewacht ist, das man streichelt und bemitleidet. Am liebsten würde sie laut schreien, dazu fehlt ihr jedoch schlicht die Kraft. Und so fällt sie plötzlich wieder in Schlaf, als hätte jemand sie ausgeknipst.
Als sie das nächste Mal aufwacht, spürt sie eine kleine weiche Hand auf ihrem Arm. Eine Hand, die nur einem Kleinkind gehören kann. Sofort wird sie von Wohlbehagen durchströmt.
»Ines«, bringt sie mit annähernd normaler Stimme heraus, und irgendwo in der Peripherie kann sie Kristoffers glänzende Augen erkennen. Sie versucht, ihn anzulächeln.
Dann sieht sie das Kind vor sich und stutzt.
Es ist gar nicht ihre Tochter, die da gekommen ist. Es ist ein mehrere Monate altes Mädchen. Emma erstarrt und blickt sich fragend um, sucht eine Erklärung in Josefins und Kristoffers Augen, doch die scheinen keine Notiz von ihr zu nehmen. Stattdessen konzentrieren sie sich ganz auf die Reaktion des Kindes. Emma versucht, die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. Was um alles in der Welt ist passiert? Wo ist ihre kleine Ines, ihr Baby?
Wieder betrachtet sie das kleine Mädchen und begreift, dass es doch ihre Tochter sein muss, wie auch immer das möglich ist. Wie lange liegt sie denn dann aber schon hier?
Sie will nach Hause und versucht sich loszumachen, doch Josefin und Kristoffer hindern sie daran. Kristoffer geht hinaus und kommt kurz darauf in Begleitung eines Arztes zurück. Emma hört nur »Beruhigungsmittel«, und schon wird ihr Körper ganz schlaff. Das fühlt sich besser an. Kristoffer rückt Ines näher zu ihr heran, und Emma erkennt einen kleinen geflochtenen Zopf in ihrem Haar. Langsam versinkt sie wieder in ihren Träumen, und das Letzte, was sie vor sich sieht, ist die kleine rote Schleife im Haar ihrer Tochter.
Hillevi cremt sich sorgfältig die roten, aufgesprungenen Hände ein. Sogar an den Fingern ist die Haut eingerissen – damit hat sie früher nie Probleme gehabt. Bestimmt liegt es an ihrem Job. Kein Wunder, dass ihre Haut auf das viele Wasser und die aggressiven Putzmittel reagiert, mit denen sie täglich in Kontakt kommt. Die Gummihandschuhe sind so steif, dass sie oft darauf verzichtet, sie anzuziehen, obwohl sie wahnsinnige Angst vor Bakterien hat. Sie senkt den Blick, als sie weiter hinten im Gang eine ihrer Kolleginnen bei der Arbeit entdeckt. Wahrscheinlich hat ohnehin niemand den Überblick, wann sie putzt und wann nicht, dennoch ist es nicht unbedingt nötig, dass man sie an ihrem freien Tag hier sieht. Doch sie muss wissen, was los ist, und so lungert sie in einigem Abstand auf der Etage herum, auf der auch die Intensivstation liegt.
Was tut Kristoffer nur so lange?
Vielleicht kann sie es ihm ansehen, wenn er herauskommt, ob er erleichtert oder völlig vernichtet ist. Sie selbst fühlt sich immer noch vor allem vor den Kopf gestoßen, weil er sie so gar nicht mit einbezieht. Nach den vielen Monaten, in denen sie immer bereitgestanden hat, müsste er ihr doch wenigstens ein bisschen zurückgeben können. Wenn auch keine unverbrüchliche Liebe fürs Leben, so doch wenigstens Respekt und ein klein wenig Vertrauen. Sie kann nicht verstehen, warum er mit ihr nicht über Emma reden will, dass er sein Herz so gar nicht erleichtern möchte. Sie würde zuhören und trösten. Ihn unterstützen. In sein Leben einbezogen und dennoch nicht eingelassen zu werden fühlt sich merkwürdig an. Oder verhält er sich aus Rücksicht so? Vielleicht will er sie nicht mit noch mehr Tragödien belasten, nachdem sie sich gerade erst von einer erholt hat.
Mittlerweile kann Hillevi an Felicia denken, ohne Herzrasen und Atemnot zu bekommen. Sie hat sich damit abgefunden, dass ihre Tochter nicht mehr da ist, auch wenn dieses Wissen immer noch schrecklich wehtut.
Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Von wegen! So etwas zu behaupten, ist der reine Hohn. Natürlich kann man lernen, mit dem Schmerz zu leben, aber die Wunde, die der Tod ihrer Tochter gerissen hat, wird immer bleiben.
Ines ist nicht Felicia, dennoch vermag sie die Lücke, die sie hinterlassen hat, ein wenig zu füllen. Durch sie schmerzt der Verlust nicht mehr gar so sehr. Wenn es Ines nicht gäbe, hätte Hillevi morgens nichts, worauf sie sich freuen könnte. Sie würde nicht trällernd durch ihre Wohnung gehen, nicht die Rollos hochziehen, um nach dem Wetter zu schauen. Wahrscheinlich würde sie gar keinen Grund finden, ihre Wohnung zu verlassen.
Noch heute dankt sie dem Himmel, dass sie kurz nach Emmas Unfall den Mut gefunden hat, Kristoffer bei sich zu Hause aufzusuchen. Er ist nicht ins Detail gegangen, was genau passiert ist, doch das Wenige, das er preisgab, genügte, um seine Angst vor der Zukunft zu erkennen. Kummer und Sorgen standen ihm ins Gesicht geschrieben, ebenso eine unendliche Müdigkeit und Ohnmacht. Und dann sah sie das kleine Wesen im Kinderwagen und schmolz sofort dahin.
Was für ein bezauberndes kleines Mädchen, und wie ähnlich es seinem Vater sah!
Es war Liebe auf den ersten Blick, zumindest was Hillevi anging. Doch es war nicht leicht gewesen, Kristoffer zu überreden, dass er sich von ihr helfen ließ. Da sie jedoch seine Schwächen kannte, beispielsweise, dass er seinen Job über alles liebte, gelang es ihr schließlich, in sein Leben zurückzukehren. Und zugleich ist es ein Weg zurück in ein Leben als Mutter gewesen.
Ein älteres Paar bleibt vor dem Eingang zur Intensivstation stehen und klingelt. Sorgfältig gekleidet und mit beherrschter Miene. Zugleich meint Hillevi einen Funken Hoffnung in ihren Augen zu erkennen.
Wenn sie ebenfalls Emma besuchen wollen, kann das im Grunde nur eines bedeuten.
Da liegt sie, die Augen geöffnet, seine jüngste Tochter. Es ist so großartig und zugleich so unglaublich, dass Evert zunächst keine Worte findet. Seine liebe, wunderbare, dickköpfige Emma! Er wagt kaum, sie anzufassen, aus Angst, sie könnte zerbrechen, so schmal und durchscheinend ist sie während ihres Komas geworden. Noch dünner darf sie auf keinen Fall werden.
»Emma«, sagt er und merkt, wie sich ihm das Herz zusammenzieht.
»Papa«, erwidert sie.
Das gibt ihm den Rest. Sein Leben lang ist er ein Experte darin gewesen, seine Gefühle zu verbergen, die Fassade aufrechtzuerhalten und nicht das kleinste Zeichen von Schwäche erkennen zu lassen. Ganz wie man es ihm beigebracht hat. Will man im Leben etwas erreichen, gilt es Selbstdisziplin zu haben. Kein Widerstand darf zu groß sein. Immer die Zähne zusammenbeißen und wieder aufstehen, weitermachen. Niemals innehalten und nachspüren, ob der Boden unter den Füßen auch wirklich trägt. Doch jetzt fällt all das von ihm ab, und eine Träne läuft über seine Wange. Er versucht nicht einmal, sie aufzuhalten.
»Weine nicht«, sagt Emma, und Marianne reicht ihm ein kariertes Taschentuch.
»Das sind Freudentränen«, flüstert er. Dann verstummt er wieder.