Simo Hiltunen, Jahrgang 1977, stammt aus dem Norden Finnlands. Er arbeitet als Journalist in Helsinki. Die Übersetzungsrechte an »Die Stunde des Wolfs«, seinem ersten Roman, wurden in zahlreiche Länder verkauft.
Peter Uhlmann, geb. 1948, studierte in Berlin Finno-Ugristik, arbeitete an der Universität Greifswald als Fennist und ist seit 1982 freiberuflicher Übersetzer aus dem Finnischen. Neben Taavi Soininvaara hat er Werke von Maiju Lassila, Veijo Meri, Paavo Rintala, Esa Sariola und Antti Tuuri übersetzt.
Du willst das Böse sehen – um deinem wahren Ich zu begegnen.
An Heiligabend tötet ein Mann seine Familie, ausgerechnet ein Polizist. Lauri Kivi, ein Reporter, der sich auf Familienverbrechen spezialisiert hat, ist entsetzt. Je mehr er recherchiert, desto genauer erkennt er ein Muster. Jemand scheint hinter diesen Morden zu stecken und sie den Familienvätern in die Schuhe zu schieben. Kivi versucht, den Täter zu provozieren – er beschreibt ihn als impotent und aggressiv, um selbst ins Fadenkreuz zu geraten. Doch der Mörder nimmt jemand anderen ins Visier: seine Exfreundin Paula und Aava, Kivis heimliche Tochter, nun eine berühmte junge Popsängerin.
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Die Stunde des Wolfs
Kriminalroman
Aus dem Finnischen
von Peter Uhlmann
Inhaltsübersicht
Über Simo Hiltunen
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Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Teil V
Teil VI
Anmerkungen
Impressum
Das Böse fasziniert dich,
weil du dich verstehen willst.
Der Wolf wühlte in dem Elch und knurrte. Er riss große dampfende Stücke Fleisch heraus und raste vor Gier. Der Junge stand dreißig Meter entfernt und hatte Angst. Das Natürliche war unwirklich geworden.
Der Junge war dreizehn. Eine halbe Stunde zuvor war er bei minus zwanzig Grad in den Ödwald geflohen, weil seine Mutter wieder vom Vater geschlagen worden war. Seine Ohren brannten, und der Atem dampfte, aber er wollte nicht zurück. Allein war ihm wärmer.
Schwankend stand er bis zu den Knien im Schnee und schaute unverwandt zu dem graubraunen Ungeheuer hin. Er starrte es voller Entsetzen an und wusste nicht, was er tun sollte. Zum Glück kümmerte sich der Wolf nur um seinen Hunger und nicht im Geringsten um ihn. Vorläufig.
Eben noch hatte der Junge die leichengrün flackernden Nordlichter betrachtet und sich nach einem richtigen Zuhause gesehnt. Er hatte die Mondkrater bewundert und sich auf seinem Weg vom Sirius leiten lassen. Er war in die Wildnis gewandert und hatte die vollkommene Stille genossen, doch die zerbrach, als plötzlich der ganze Wald über ihn herfiel. So kam es ihm zumindest vor. Die Bäume schwankten und knarrten, animalische Geräusche ließen ihm die Haare zu Berge stehen, Schnee wurde aufgewirbelt.
Als etwas in panischer Angst vorbeigestürmt war, hatte sich der Junge an den Stamm einer Kiefer geworfen. Das Etwas war ein Elch gewesen, völlig außer sich. Beim Anblick des riesigen Tieres mit dem gewaltigen Geweih fühlte sich der Junge klein und unbedeutend. Aber als dem Elch auch noch ein blutrünstiger Wolf gefolgt war, erstarrte er und sah sein Ende nahen.
Das Raubtier jagte den Elch. Es tanzte von einer Seite auf die andere und lauerte. Der Elch brüllte vor Schmerz und Entsetzen, vielleicht auch vor Trauer. Er wusste, dass er sterben würde, doch er sträubte sich bis zum Letzten.
Der Wolf sprang hinter seiner Beute im hohen Schnee hin und her und wartete auf den geeigneten Augenblick. Er wich dem Geweih aus, das der Elch wie wahnsinnig hin und her schwang. Schließlich täuschte das Raubtier einen Seitenwechsel an. Der Elch schwenkte sein Geweih in die falsche Richtung und entblößte auf der anderen Seite seinen Hals. Die Bestie machte einen Satz. Mit einem Biss zerfetzte sie ihrer Beute die Kehle. Blut spritzte auf den Schnee. Der Elch toste, bereits sterbend, noch ein paar Meter weiter und sackte schließlich zwischen den Vorderläufen zu Boden.
Der magere Wolf war halbtot vor Hunger. Er vergeudete keine Zeit, sondern stürzte sich auf das Blut, das Fleisch, die Sehnen und Knochen.
Der Junge machte sich keine Hoffnungen und deswegen in die Hose. Er stand da, steif vor Frost, starr vor Entsetzen, und schaute zu, wie das frische Fleisch die gelben Augen des Wolfes glühen ließ.
Wölfe hatten den Jungen immer fasziniert, aber so nahe wollte er ihnen nicht kommen. Er wusste, dass sie seit hundert Jahren keinen Finnen getötet hatten. Er wusste, dass ein Wolf, der seinen Hunger gestillt hat, nahezu ungefährlich war. Er wusste, dass er für das Raubtier keinen Konkurrenten, keine Bedrohung, kein natürliches Ziel darstellte. Er war kein Fuchs oder Vielfraß, der im Revier des größeren Raubtiers auf die gleiche Nahrung aus war. Aber das Wissen wird vom Gefühl überwältigt; was bleibt, ist Todesangst. Der Junge wünschte sich weit fort, vermochte aber nicht zu rennen. Zum Glück, denn eine Flucht hätte selbst in einem gesättigten Wolf die Beutegier geweckt.
Schließlich hielt auch der Wolf inne. Vielleicht hatte er den Jungen neben der Kiefer gesehen. Oder bei drehendem Wind gewittert. Vielleicht hatte das Raubtier ein ersticktes Schluchzen gehört. Der Wolf hob den Kopf, fixierte das kleinere Wesen und unterwarf sich mit seinem starren Blick das Menschenkind, das sein Haupt senkte. Verstohlen schaute der Junge zu dem Wolf, der seine Lefzen hochzog und knurrte.
Als sich der Junge nicht rührte, hob der Wolf den Kopf noch höher. Langsam beugte er den Nacken, dann begann er zu heulen. Er zeigte an, dass der Elch und dieses Revier ihm gehörten.
Das Heulen hallte in der Wildnis wider. Der Junge machte sich ganz klein. Er war der Gefangene des Wolfes.
Als er sich in den Schnee duckte, berührte er mit der Hand sein Finnenmesser, der Griff wirkte beruhigend. Der Junge zog das Mora-Messer bedächtig aus der Scheide. Drei Jahre zuvor hatte sein Vater es ihm gegeben, damals strahlte es Macht und Stärke aus. Jetzt kam es ihm vor wie eine Häkelnadel.
Das Raubtier kam langsam auf ihn zu, und der Junge spürte ein unbezwingbares Entsetzen und den Drang zu fliehen. Er zuckte, aber der Wolf knurrte sofort: Er war der Herr. Der Junge erschlaffte.
Er schaute voller Angst auf den Wolf und gleichsam auf sein Leben, das als Film vor ihm ablief. Der Streifen war traurig, eintönig und voller Gewalt, aber die Hauptperson war noch nicht bereit zu sterben. Ihm kamen die Tränen.
Der Wolf näherte sich ihm bis auf zwei Meter und blieb stehen. Er blickte gleichgültig nach rechts und gähnte. Hier in der Einöde des Waldes war er der Herr. Er schüttelte den Kopf so heftig, dass seine Backen schlackerten und roter Schneematsch aus seinem Maul spritzte. Der Junge musste wieder Wasser lassen, aber seine Blase war leer, und so spürte er lediglich ein heftiges Brennen.
Der Junge gehorchte dem Tier in ihm. Er drehte sich auf den Rücken, hob die Beine mit angewinkelten Knien und winselte. Der Wolf stieß den Kopf über den von Angst erfüllten Menschen und stank nach Tod. Die blutige Schnauze schob sich an sein Gesicht heran, ein paar Tropfen vom Blut des Elchbullen fielen auf seine Jacke. Die blutigen Perlen prasselten auf den gefrorenen Stoff. Sein Brustkorb kam ihm klein vor. Die Angst war so groß, dass es weh tat.
Der Junge hielt sein Messer krampfhaft fest, schloss die Augen und nahm all seine Kraft zusammen.
Jetzt.
Der Junge stieß zu. Er legte sein ganzes Gewicht in den Stoß, genau so, wie Vater ihn gelehrt hatte, Vesala, dem gottlosen Kommunistensohn, in sein Milchgesicht zu schlagen. Der Junge rammte dem Wolf die Klinge bis zur Faust in die Kehle und drehte das Messer in der Wunde.
Der junge Wolf war so sehr Alphamännchen, dass er den Angriff überhaupt nicht erwartet hatte. Er konnte nichts mehr tun, nur sterben. Sein Körper zuckte, eine Hinterpfote stampfte auf. Bevor er aufgab, wimmerte er leise, die Stimme klang nach Nesthäkchen. Der Junge stand auf und schaute dem Tier zum ersten Mal direkt in die Augen.
»Du gehörst jetzt mir. Du bist mein Abel«, brummte er.
Als das Raubtier mit Sicherheit tot war, beugte der Junge den Kopf langsam nach hinten, sog die kalte Luft so tief ein wie noch nie und begann zu heulen.
Das Gefühl der Befreiung war enorm. Der Junge wusste, dass er sagenhaftes Glück gehabt hatte. Er spürte, dass er etwas Besonderes war. Er fühlte sich wie der Nächste nach Gott. Der Wolf war ein ebenbürtiger Gegner gewesen, die Katzen und Heiskanens Nerze, die der Junge früher getötet hatte, waren nur Trainingsobjekte gewesen. Jetzt wusste er, warum er die Katze Jolle des Nachbarn umgebracht und dabei Genuss empfunden hatte.
Er war ein Wolf, schon von Geburt an. Einer, der tötet, von eigenen Gnaden.
»O verdammt«, fluchte er. Das tat gut. Der Junge durfte nicht fluchen und hielt sich daran, selbst wenn er allein war. Einmal hatte er aus Trotz »Der Teufel soll ihn holen« gemurmelt. Der Vater hatte es gehört und ihn blutig geschlagen. Mit Dämonen und christlicher Marter hatte er ihm gedroht, wenn auch nur ein weiterer Fluch über seine Lippen käme.
Der Junge gehorchte, natürlich. Das war Selbstschutz. Das war sein Leben. Denn, Vater, dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, zum Teufel. Man widersetzte sich nicht. Wenn der Junge nicht gehorchte, pflegte der Vater ihm Holzspäne unter die Zehennägel zu treiben. Es kam vor, dass er das auch ohne Grund tat, aber Auflehnung wurde in jedem Falle mit spitzen Splittern bestraft.
Doch nun machte ihm das alles keine Angst mehr.
Der Junge war mit einem Schlag erwachsen geworden und zugleich über sich hinausgewachsen.
Er wusste, was zu tun war.
Und wie.
Einer Eingebung folgend brach er dem Raubtier einen Zahn aus und steckte ihn ein. Der schwere Fangzahn fühlte sich gut an. Schließlich wischte er das Finnenmesser am Fell seiner Beute ab. Er schaute den Wolf noch eine Weile an, streichelte ihn und stieß das Messer erneut in das Fleisch. Es glitt hinein wie in warme Butter. Er zog es heraus, ließ das Blut die Klinge entlanglaufen, drehte sich um und kehrte in seinen eigenen Fußspuren nach Hause zurück.
Endlich war er bereit.
Zu Hause würde sich herausstellen, wer ein Mann war.
Dann gäbe es nur den Vater, den Sohn und das Leben eines der beiden.
Die Vergangenheit holt dich immer ein …
Die Stunde des Wolfes (ethnogr.): Zeitpunkt in den frühen Morgenstunden, zu dem der Wolf jagt und der Mensch schläft. Liegt etwa zwischen drei und fünf Uhr, eine genaue Zeit kann jedoch nicht angegeben werden. Die Stunde des Wolfes wird auch als die kälteste Phase der Nacht angesehen, in der die Lebensfunktionen des Menschen besonders ruhig verlaufen, der Schlaf am tiefsten ist und wir am schwächsten sind.
Den Begriff kennt man in der finnischen Überlieferung nicht, bekannt geworden ist er durch Ingmar Bergmans Film Vargtimmen aus dem Jahre 1968.
Lauri Kivi hatte Böses in sich – und schlechte Laune.
Er sah nichts, hörte nichts und berührte niemand. Er wusste, dass er zu spät kam. Zur Arbeit und im Leben. Dennoch lag er im Bett seiner Zweizimmerwohnung. Er hatte es nicht eilig. Lauri war ein einsamer Mann, der sich von einem Tag zum anderen schleppte.
Lauri betrachtete die Decke. Sie war voller scharfer Kanten und öde. Wie alles andere auch, denn man hatte Lauri beigebracht, seine Gefühle abzutöten. Der Alte hatte ihn mit harter Hand dazu abgerichtet. Heute ahmte Lauri die Gefühle anderer nach, um nicht aufzufallen.
Er schraubte sich aus dem Bett und setzte sein Hörgerät ein. Mit Daumen und Zeigefinger das Gerät nehmen, eine schnelle Bewegung, und schon saß es hinter dem Ohr. Es hielt problemlos. Das Gerät war ein Teil von Lauri, er brauchte genauso wenig daran zu denken wie andere an ihre Brille.
Lauri erledigte den Gang zur Toilette und das Anziehen im Eiltempo. Es blieb keine Zeit, etwas zu essen, aber das war ohnehin seine schwache Seite. Er schaute sich kurz in seiner Wohnung um: die Kugelschreiber genau im rechten Winkel auf dem Schreibtisch, der Fernseher exakt in der Mitte der TV-Bank und alle Flächen sauber. Lauri hatte seine Bude genauso im Griff wie sein Gemüt.
Er stieg die Treppen hinunter und ging zum fast leeren Parkplatz. Der Nachbar Ihanainen kam aus dem halbverfallenen Müllschuppen, und Lauri grüßte ihn hastig. Ihanainen war um die fünfzig, Bibliothekar und eine absolute graue Maus. Er liebte das Schmetterlingssammeln und die Grammatik. Ihanainen behauptete, er lebe aus freien Stücken allein, Lauri vermutete aber, die Frauen wollten nicht. Er war sicher, dass sich Ihanainen an Wochentagen abends in seine Wohnung zurückzog, um wissenschaftliche Illustrierten und zu Studienzwecken auch den Playboy zu lesen, denn er interessierte sich ja für die Geheimnisse des menschlichen Körpers. Freunde besaß Ihanainen nicht, denn er beanstandete schon beim Händeschütteln das Benehmen und die Grammatik selbst von Leuten, die er nicht kannte.
Vor ein paar Jahren hatte Ihanainen einmal eine Frau gehabt, die ihm aber schnell davongelaufen war. Lauri nahm an, dass sein Nachbar ihr Sex vorgeschlagen hatte. Das erwies sich als Fehler, denn vor der Welt gab der Bibliothekar den keuschen und sündenfreien Mann, bei dem Bildung und Verstand über Begierden und Gelüste siegten. So etwas erwärmte eine sexuell unerfahrene und kalte Museumsmaus, die als Mann einen Jungen gewollt hatte, den sie nie bekommen würde. In seinen vier Wänden hatte sich Ihanainen jedoch als Lüstling entpuppt, der nur so weit dachte, wie der Pimmel wuchs.
Lauri wohnte schon zwölf Jahre in einem der hohen Häuser der Vanhanlinnankuja im Helsinkier Wohngebiet Puotila. Ihanainen war kurz nach Lauri in das Haus mit Eigentumswohnungen gezogen. Von Anfang an hatte er Lauris Nähe gesucht und sich nach seinen Angelegenheiten erkundigt. Und er schien auch überraschend viel zu wissen.
Lauri setzte sich rasch in sein Auto, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Er startete den Golf, verließ rückwärts seinen Stellplatz und fuhr auf die Straße und dann in den Kreisverkehr. Lauri fand jeden Kreisverkehr schön. Nicht wegen der Bepflanzung, sondern wegen der Symmetrie. Es war beruhigend, zu wissen, dass man bei einer verpassten Ausfahrt mit einer zusätzlichen Runde zurück an die richtige Stelle gelangte. Im Kreisverkehr war die Vergebung ewig, im Leben leider selten.
Bei Rot an der Ampel vom Itäkeskus schaute Lauri auf den Strom von Autos, der nach Westen flutete. Er wartete darauf, selbst zum Treibholz zu werden. Eine Ameise unter all den anderen Ameisen. Wenn Lauri Kivi irgendwo ein Zusammengehörigkeitsgefühl empfand, dann auf dem Ostring. Dort fühlte er sich wohl, und deswegen fuhr er mit dem Auto zur Arbeit. Mit der Metro käme er auch nicht direkt nach Pasila.
Die Redaktionskonferenz begann um neun Uhr. Bis dahin würde es Lauri nicht schaffen, aber das brauchte er auch nicht. Er wusste, was dort passierte. Olli Ohra, der Chefredakteur von Suomen Sanomat, würde sich über die Zeitungen vom Wochenende auskotzen. Er würde wegen Druckfehlern, problematischer Schlagzeilen und schlechter Interviewpartner herumnörgeln. Anttis Artikel über den Kinderschutz würde Ohra als brauchbar loben, sich aber auch hier noch stärker einen Ansatz wünschen, der den Leser ansprach: »Denkt daran, dass ihr für die Leser schreibt, nicht für Wissenschaftler. Von den Fakten her ist das eine hervorragende Story, aber so trocken wie eine Vorlesungsreihe über die Geschichte des Klosterbaus im Europa der Renaissancezeit.« Wie sollte man einen Artikel auflockern, in dem berichtet wurde, dass siebzehntausend Kinder außerhalb ihres Zuhauses untergebracht waren. Was wollte man da eigentlich reinhaben: vielsagende Metaphern und eine detaillierte Beschreibung, wie die Kinder vernachlässigt wurden? Man hätte sich für den Artikel höchstens ein bei Pflegeeltern untergebrachtes Kind suchen und befragen können.
Für die Berichterstattung auf der Doppelseite am Sonntag über die Pannen im Bergwerk von Talvivaara würde Ohra einen Bericht mit mehr Aussagekraft verlangen. Das Interview mit Außenhandelsminister Käki würde er madig machen, weil Puhakka, der Verfasser des Artikels, es am Freitag gewagt hatte, den Chefredakteur wegen der journalistischen Linie der Zeitung herauszufordern. Das früher allseits geschätzte Blatt, so Puhakka, sei dabei, in Richtung reine Unterhaltung abzurutschen.
An ihren Ausgaben vom Wochenende würde Ohra kein gutes Haar lassen. »Wir sind die zweitgrößte Tageszeitung dieses Landes. Wir können den anderen nicht mit Quantität Konkurrenz machen, wir schlagen sie mit Qualität. Das, was wir tun, machen wir besser als die anderen. Das ist unser Ausgangspunkt, wenn wir es auch dieses Wochenende nicht ganz erreicht haben. Aber he, es ist ein Diamant, der hier geschliffen wird«, würde Ohra seinen verdrossenen Untergebenen sagen. »Außerdem hat ja wenigstens der Leitartikel vom Sonntag den Nagel auf den Kopf getroffen«, würde er hinzufügen und zustimmendes Lachen erwarten. Viele würden auch loswiehern, weil sie Angst hatten, nach den nächsten Verhandlungen zwischen der Leitung und Mitarbeitervertretern über Entlassungen gehen zu müssen, wenn sie dem Chefredakteur nicht schmeichelten. Wirklich amüsant würden den Scherz nur die neuen Urlaubsvertretungen und Volontäre finden, denen man diesen abgenagten Knochen nicht schon einmal vorgeworfen hatte.
Auf der Brücke zwischen Kulosaari und dem Fischhafen reihte sich Lauri in die Autoschlange ein, die sich hier immer bildete. Bei den Straßenbauarbeiten im letzten Jahr war es zu langen Staus gekommen. Jetzt gab es sie kaum noch. Eine Schlange von nur reichlich hundert Metern war eine Erleichterung.
Ein Audi in Metallic Grün raste auf der Spur, die ins Zentrum führte, am Stau vorbei. In der Kurve drängelte sich der Fahrer jedoch dreist nach links in die Schlange Richtung Pasila. Anscheinend war die Zeit mancher Menschen wichtiger als die der anderen. Stellt ihr euch ruhig an, damit ich, also ICH, es nicht tun muss. Im Autoradio erklang ein Titel der Rockband Neljä Ruusua. Das unverschämte Verhalten des Scheißyuppiehippies in seinem Audi brachte Lauri in Wut, und das Geläster in dem Song regte ihn nur noch mehr auf. Die Schlange kam schnell voran, und Lauri gab Gas. Zu viel. Kurz danach leuchtete es im Rückspiegel auf. Hinter ihm war ein Polizeiauto, das in Richtung Straßenrand blinkte. Lauri fluchte. Er war mit reichlich überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen.
Er fuhr in die für die Versorgung belassene Lücke zwischen der Baustelle und der Kreuzung Mäkelänkatu, in der auch andere Autos standen.
Im Rückspiegel sah Lauri, wie jemand in Zivil auf ihn zugestiefelt kam. Es war eine Frau. Kräftig und durchtrainiert. Die Polizistin klopfte ans Fenster. Lauri ließ die Scheibe herunter.
Es war Jatta, die Pressesprecherin der Helsinkier Polizei, mit der Lauri fast jede Woche zu tun hatte. Vor zwei Jahren waren sie sich auch im Zivilleben nähergekommen, aber das hatte nicht recht geklappt. Jatta reagierte sich von ihrer Arbeit ab, indem sie offen und extrovertiert war. Sie wollte unterwegs sein und auch die guten Seiten der Welt sehen. Lauri wusste, dass es die nicht gab. Daher fühlte er sich in seiner Zweizimmerwohnung am wohlsten.
Die Trennung war schnell und vermeintlich schmerzlos vollzogen worden. Lauri tat es jedoch immer noch weh; nur wenige hatten es mit ihm ausgehalten. Mittlerweile wohnte Jatta mit einem fünf Jahre jüngeren Fußballprofi zusammen am Meeresufer in der Sonnenbucht in Vuosaari. Der Typ spielte beim Rekordmeister HJK Helsinki, in der Nationalmannschaft und in der letzten Saison sogar bei Tottenham Hotspurs in der Premier League. »Du bist zu schnell gefahren«, stellte Jatta fest.
»Das stimmt«, erwiderte Lauri ehrlich.
»Na dann, gute Weiterfahrt, das war’s«, sagte Jatta und lächelte.
Lauri fragte nicht, warum Jatta hier auf der Straße im Einsatz war. Hauptkommissare fuhren ja selten herum und jagten Raser. Jatta verstieß gegen die Dienstvorschriften, als sie ihn weiterfahren ließ.
Hinterher machte sich Lauri Vorwürfe, weil er nicht kapiert hatte, dass etwas im Gange war. Es hätte ihm aber klar sein müssen. Das kam dabei heraus, wenn man Polizisten am Parfüm erkannte und die Erinnerung an vergangene Freuden in der Leistengegend spürte.
Lauri hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und fuhr bis zur Brücke Pasilansilta, am Bahnhof vorbei und direkt am Esterinportti unter dem gelben Geschäftshaus hindurch auf den kleinen Parkplatz.
Suomen Sanomat besaß eine Auflage von einer Viertelmillion, und in der Redaktion arbeiteten hundertsechzig Angestellte. Obwohl das Personal im Laufe der letzten sechs Jahre um annähernd ein Drittel reduziert worden war, stand der Parkplatz voll. Der größte Teil der Journalisten musste auch weiterhin sein Auto gegen Gebühr im Parkhaus von Pasila abstellen.
Zum Glück war Lauri der Parkplatz des Polizeireporters geblieben, als Akseli Autio sich hatte berenten lassen. Mit dem Erbe seines Vaters konnte er es sich leisten, mit fünfzig nur noch unbeschwerte Urlaubstage zu verbringen. Allerdings machte Lauri Akseli keinen Vorwurf. Der Job des Polizeireporters war aufreibend. Nichts als traurige Nachrichten und immer nur die Kehrseite des Lebens. Die Schlagzeile Ende der Kriminalität in Finnland – überall herrscht Ruhe würde auch Lauri nicht schreiben können. Vielmehr verdiente er sich mit Morden, Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch, Raub und anderen Vergehen sein Brot und auch noch ein paar Scheiben Wurst dazu.
Lauri trottete zu seinem Platz. Die Morgenkonferenz war schon zu Ende, und ein fröhliches Stimmengewirr flutete bis auf den Flur. Die Nachrichtenredakteure wurden von Wochenende zu Wochenende immer jünger.
Lauri drehte sein Hörgerät leiser. Während des Einstellungsgesprächs hatte Chefredakteur Ohra gefragt, ob das Gerät beim Arbeiten störe.
Im Gegenteil, hatte Lauri geantwortet. Er könne entscheiden, wann er etwas hören wollte und wann nicht. Er würde die Vorteile des Großraumbüros maximieren und die Nachteile minimieren.
Die Antwort hatte dem Chefredakteur gefallen. Wie die Wahrheit aussah, hatte Lauri nicht gesagt: Wenn er das Gerät abstellte, konnte er dem endlosen und unerfreulichen Stimmenuniversum der verbitterten Kollegen mittleren Alters entfliehen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf die Verbrechen und die Berichterstattung darüber. Das war ein echter Vorteil. Für die Arbeit und vor allem für Lauri selbst.
Der Chefredakteur hatte auch nach der Ursache der Beeinträchtigung gefragt, worauf Lauri ihm etwas von missgebildeten Gehörgängen vorgelogen hatte. Über seine Kindheit würde er nur mit einem Messer an der Kehle reden.
Und als der Redaktionsleiter, der wie die meisten aus Lappland ein wenig kurz geraten war, etwas über seine Familie wissen wollte, hatte er nur gesagt, dass er allein lebte. Eine Tochter hatte Lauri, aber davon brauchten andere nichts zu wissen. Nicht einmal die Tochter selbst.
»Kivi«, knurrte Pokka, der Chef der Nachrichtenredaktion, als er Lauri erblickte.
»Ja?«
»Du warst also nicht bei der Konferenz.«
»Nein.«
»Du hättest aber da sein müssen«, entgegnete Pokka. »Was soll ich mit dir machen?«
»An die Arbeit schicken.«
Pokka schmunzelte. »Stimmt. Na, dann an die Arbeit.«
»Liegt was an?«
»Du könntest in den Hafen fahren und eine Reportage machen. Die lassen schon die Boote zu Wasser. Man müsste ein paar Kahnschrubber befragen und den Hafenmeister anrufen, wie die Wasserhöhe ist, ob die größeren Boote schon von der Anlegestelle aufs Meer auslaufen können.«
Lauri schüttelte den Kopf. »Wie wäre es, wenn ich stattdessen für dich eine echte Neuigkeit ausgrabe. So was interessiert die Leute vermutlich noch.«
»Eine halbe Stunde«, erwiderte Pokka. »Wenn du bis dahin kein Thema hast, fährst du in den Hafen.«
Lauri hätte ihm sagen können, dass er schon etwas hatte. Im Material aus der unerschöpflichen Truhe des Statistischen Zentralamts war am Freitag zutage gekommen, dass sich die schweren Gewaltverbrechen der knapp unter zwanzigjährigen Männer in den letzten dreißig Jahren verdoppelt hatten, während die Anzahl in den anderen Altersgruppen annähernd unverändert geblieben, teilweise sogar gesunken war.
Den jungen Männern, die in ihrem Zuhause mit den Hufen scharrten oder gerade dort weggezogen waren, ging es schlecht, erbärmlich schlecht. Man musste lediglich an die Amokläufe von Jokela, Kauhajoki und Hyvinkää denken. Zu den Ursachen der Situation müsste noch ein Experte befragt werden, der auch einen Kommentar dazu abgeben könnte. Vielleicht ein Wissenschaftler vom Rechtspolitischen Forschungsinstitut oder beispielsweise der Direktor der Psychiatrischen Klinik für Gefangene. Otso Hirvonen war ein glasklarer und genauer Analytiker. Ein ausgezeichneter Interviewpartner. Und unschlagbar, wenn es darum ging, äußerst trockenen Weißwein zu schlürfen, der auch als Wodka bekannt war.
Die einfachste Erklärung war, dass sich die Einsparungen während der Krise in den neunziger Jahren nun rächten und bezahlt werden mussten. Sollte er Viinanen, den damaligen Finanzminister, befragen? Wohl kaum, die Entscheidungsträger sahen nur das System, nicht den Menschen.
Doch Lauri wollte dem Nachrichtenchef noch nichts von dem Stoff sagen, um ihm nicht die Freude zu verderben. Pokka genoss es, wenn er Gelegenheit bekam, erfahrenen und spezialisierten Redakteuren mit Aufträgen zu banalen aktuellen Themen zu drohen. Lauri würde warten, bis Pokka auf seine Uhr klopfte und zum Bootssport passende Gesten machte. Er würde den Nachrichtenchef auf seinem Stuhl zu sich herüberrudern lassen und erst dann von seinem Thema berichten. Lauri verspürte eine etwas verquere Genugtuung. Die Theaterinszenierung war jedoch überflüssig. Lauri hatte noch nicht lange gesessen, da stand Pokka schon hinter ihm. Der Nachrichtenchef hatte gelernt, die Hand auf Lauris Tisch zu legen und nicht auf seine Schulter, wenn er kam, um mit ihm zu reden. Anfangs hatte er den nahezu tauben Lauri absichtlich erschreckt, das aber gelassen, als der mit erhobener Faust aufgesprungen war und lautstark geflucht hatte. »Na, was ist? Die halbe Stunde ist noch nicht um.«
»Stimmt«, entgegnete Pokka. »Aber es gibt einen Familienmord in Toivola. Mach dich auf den Weg. Du kümmerst dich um die Fakten, für die Interviews mit den Nachbarn schicke ich später jemand hinterher.«
Lauri hatte es plötzlich eilig.
Das Taxi kurvte auf den Innenhof von Suomen Sanomat, und Lauri stieg hinten ein. Der Fotograf würde direkt von einem anderen Job kommen. Mit ihm könnte er dann zurückfahren. Zum Glück war es Karhu, der beste Fotograf im Hause, wenn nicht im ganzen Land. Er versuchte immer bis zuletzt alles und war zu kreativen Lösungen fähig. Das erleichterte dem Redakteur die Arbeit, da er seine Zeit und seine Nerven nicht für Streitereien mit dem Mann am Fotoapparat vergeuden musste. Karhu machte sich wenigstens die Mühe, am Ort der Aufnahmen auszusteigen, im Gegensatz zu Pytty. Der Fast-Rentner hatte, als er Fotos auf einer Mülldeponie machen sollte, die Scheibe seines Wagens heruntergelassen, ein nichtssagendes Panoramabild geknipst und geknurrt, ein Scheißhaufen bleibe ein Scheißhaufen, egal, von wo man ihn fotografiere.
Lauri rief Jatta an. Sie war wegen des Familienmords unterwegs gewesen. Warum hatte sie nichts gesagt? Oder wenigstens eine Andeutung gemacht?
»Was gibt’s, Lauri?«
»Konntest du denn nicht etwas sagen.«
»Sorry. Du weißt, dass es nicht geht. Ich wollte nur wissen, ob eure Firma schon von der Sache Wind bekommen hat. Wenn nicht, dann wussten die anderen auch noch nichts. Außerdem bist du gerast. Ich habe dir und der Menschheit einen Gefallen getan. Du bist nicht dazu gekommen, jemanden zu überfahren, obwohl du dir große Mühe gegeben hast.«
»Na, was ist da passiert?«
»Du weißt, dass die Sache zu hoch angebunden ist und ich nichts mehr damit zu tun habe. Der Chef der Ermittlungsgruppe für Gewaltverbrechen informiert die Medien selbst. Er leitet die Ermittlungen.«
»Vesitaival. Na danke. Aus dem kriegt man nichts raus, höchstens schlechte Laune.«
»Eh, Lauri, das ist sein Job. Und du hast deinen.«
»Wenigstens inoffiziell.«
Schweigen. Es dauerte einen Augenblick. »Aber das hast du nicht von mir.«
Das verstand sich von selbst.
Jatta räusperte sich. »Eine vierköpfige Familie wurde am frühen Morgen in ihrem Zuhause tot aufgefunden. Offensichtlich hat der Vater seine Frau und seine zwei Kinder, beides Mädchen, umgebracht. Was sich ereignet hat, ist noch unklar.«
»Wie habt ihr es geschafft, das so lange geheim zu halten? Meistens erfahren wir es, spätestens eine halbe Stunde nachdem ihr vor Ort seid.«
»Es liegt am Ende der Straße, hinter einer Kurve, und Polizeiwagen sind in dieser Straße ein vertrauter Anblick.«
»Wieso? War das irgendein alter Bekannter der Polizei?«
»Ja.«
»Wie gut bekannt?«
Jatta machte eine Pause. »Ein Kollege«, sagte sie mühsam und seufzte.
»O verdammt. Kanntest du ihn?«
Schweigen. Diesmal dauerte es länger. »Ja. Ich begreife das nicht. Kössi ist ein von allen geschätzter Polizist. Vor zwei Jahren hat man ihn in Helsinki sogar zum ›Schutzmann des Jahres‹ gewählt. Klar war er manchmal etwas barsch, aber das alles gibt keinen Sinn.«
Das war der siebte Familienmord innerhalb eines reichlichen Jahres. Die Toten von Weihnachten im nordkarelischen Kontiolahti gingen Lauri immer noch nicht aus dem Kopf. Von allen Fällen war das der unsinnigste. Ein Vater hatte am Heiligabend seine Frau an einen Stuhl gefesselt, ihr die Pulsadern aufgeschnitten und das Blut fließen lassen. Dann war er ins Kinderzimmer gegangen und hatte zwei kleine Leben erstickt. Seinen Töchtern hatte Petri Huovinen die Hände wie bei einem Engel auf die Brust gelegt. Anschließend war der Mann zu seiner Frau gegangen, hatte ihr mit viel Mühe die Kehle durchgeschnitten und sich mit einer nicht zugelassenen Pistole erschossen.
Es hatten sich keinerlei Gründe für das Geschehen gefunden. Zeichen einer bevorstehenden Scheidung gab es nicht, und beruflich war alles gut gelaufen. Mit Petri Huovinens Karriere ging es nach Ansicht seines Chefs aufwärts. Der Mann hatte immer mehr Verantwortung übertragen bekommen und eine glänzende Zukunft vor sich. Auch deswegen glaubten seine Eltern nicht, dass ihr Sohn schuldig war.
Die Nachbarn hatten ihn für einen liebevollen Ehemann und Vater gehalten, der sich intensiv um seine Kinder gekümmert hatte. Die Geschwister der ermordeten Frau hatten berichtet, sie habe ihren Mann und ihr Leben in den höchsten Tönen gelobt. Der Bruder der Frau hatte Lauri fast erotische E-Mails gezeigt, die seine Schwester von ihrem Mann an ganz normalen Arbeitstagen bekommen hatte. Für Neujahr war eine Flugreise nach China gebucht gewesen. Die Kinder hatten schon die ganze Zeit viel Wirbel gemacht und auch Unbekannten gegenüber von der Reise geschwärmt. Nach Ansicht der Angehörigen und Nachbarn waren die Mädchen die reizendsten und lebhaftesten Kleinen, die man sich vorstellen konnte. Alles hatte gestimmt.
Bis alles rundum schwarz wurde. Für immer.
Lauri beendete das Gespräch, als Jatta nichts mehr zu entlocken war. Die Kinder des Polizisten waren angeblich vier und neun Jahre alte temperamentvolle Mädchen. Die Ehefrau arbeitete im Studentensekretariat der Universität Helsinki. Sie war zurückhaltend, aber freundlich gewesen, als Jatta sie einmal getroffen hatte.
Der Täter war der neunundvierzigjährige Hauptwachtmeister Kyösti Virtanen, ein Mann, der aus Österbotten stammte. Ein geschätzter Polizist, der wortkarg war, aber leicht in Situationen geriet, in denen man auch mal handgreiflich werden musste, um die Tagediebe, wie er die Kriminellen genannt hatte, zu beruhigen. Und so wie stets in diesen Fällen würde jeder, der mit Kyösti zu tun gehabt hatte, sagen, er hätte nie und nimmer geglaubt, dass so etwas passieren könnte. Viele hatten es sicher wirklich nicht geglaubt, aber falls irgendjemand etwas geahnt hatte, würde er es nun nicht laut sagen, denn wenn er jetzt schwieg, befreite er auch sich selbst von der Verantwortung. »Ich konnte nichts tun, weil ich ja nichts bemerkt habe.« Lauri glaubte nicht, dass es immer unbedingt einen Rami oder eine Seija gab, die etwas verdächtig gefunden hatten, aber der Selbstschutz führte zu nichtssagenden Aussagen. Auf jeden Fall würden alle angesichts dessen, was geschehen war, fassungslos sein.
Das war eine schwerwiegende Nachricht. Ein aktiver Polizeibeamter hatte seine Familie abgeschlachtet.
Lauri verfügte nun über die grundlegenden Informationen. Jetzt musste sie nur jemand bestätigen.
Karhu stand am Absperrband der Polizei und fotografierte den Ort des Geschehens, als Lauri eintraf. Andere Medienvertreter waren noch nicht zu sehen. Sie würden jedoch innerhalb der nächsten halben Stunde auftauchen. Lauri nickte dem Wachtmeister neben der Absperrung zu. Er hatte keine Lust, den Polizisten zu befragen. Hier gibt es nichts zu sehen, würde der nur sagen und weiter keinen Kommentar abgeben.
»Die haben alles ziemlich weiträumig abgesperrt«, ärgerte sich Karhu über das gelbe Band.
Lauri nannte ihm den Beruf des Verdächtigen.
»Okay, dann ist das kein Wunder. Jetzt erfährt man von denen allerdings gar nichts. Andererseits kann man das ja verstehen. Dieser Kleiderschrank hat mich auch nur aufgefordert zu verschwinden«, sagte Karhu und zeigte auf den Wachtmeister.
Lauri nickte. Er hatte gelernt, dass nichts dabei herauskam, wenn man die Leute löcherte und übermäßigen Eifer zeigte. Man musste die Polizei in Ruhe arbeiten lassen. Es war für niemanden von Vorteil, wenn Außenstehende die Ermittlungen durcheinanderbrachten.
»Von hier aus kriegt man ja nicht mal das ganze Haus richtig drauf«, murmelte Karhu und hantierte an seiner Kamera herum. Er hatte meist ein langes Objektiv – und sehr viel Geduld.
Karhu beschwerte sich selten über schlechte Bedingungen. Er meisterte sie. Auch ihm waren jedoch solche Aufträge zuwider. Man kam sich schmutzig vor, wenn man in der Nähe des Tatortes lauerte, an dem Morde begangen worden waren. Wenn man Kommentare und Bilder einfing. Und in der Trauer und der Erschütterung von Menschen herumstocherte.
»Klettere dort auf die Kiefer, dann kriegst du es drauf«, sagte Lauri. Das war als Scherz gedacht, aber Karhu bedankte sich und lief auf der Straße wieder zurück.
Lauri versuchte, den Chef der Mordkommission Markku Vesitaival anzurufen. Ihn zu erreichen würde schwierig sein. Der Mann war im Stress. Lauri wusste, dass Vesitaival, als er von der Mordnachricht geweckt worden war, als Erstes die Leute der Ermittlungsgruppe für Gewaltverbrechen angerufen und zum Dienst beordert hatte. Vesitaival hatte auch die Verantwortung für die Ermittlungen übernommen. Später würde er für die Morduntersuchung offiziell eine Gruppe von weniger als zehn Polizisten bilden. Er würde auf eigene Verantwortung eine Hausdurchsuchung anordnen. Richter brauchte man zur Überraschung der Freunde amerikanischer Krimiserien dafür nicht. Auch mit den Telefongesprächen der Familie, den E-Mails und den Nachrichten in den sozialen Medien würden sie sich nun befassen.
Vesitaival hatte auch die Absperrung der Wohnung angeordnet, und zwar gleich in der Nacht, als die Streife der Zentrale gemeldet hatte, was geschehen war.
Die Spurensicherung begann, sobald die aus dem Bett geholten Kriminaltechniker vor Ort eintrafen. Sie machten Fotos, nahmen Proben. Ein Teil von ihnen hatte schon zu viel gesehen, so viel, dass sie nur eine Dusche brauchten, um sich von dem Anblick zu erholen. Aber die anderen konnten zwei Nächte nicht schlafen, sie überlegten immer wieder, warum, warum, warum zum Teufel. Wenn einer lebensmüde war, warum musste er dann die Frau und die Kinder mit in den Tod reißen. Das konnte ein normaler Mensch nicht begreifen.
Lauri konnte sich vorstellen, in was für einer mentalen Landschaft sich der Täter vor den Morden bewegt hatte. Er war selbst in Sackgassen gerannt und tat es immer noch. Das hieß jedoch nicht, dass er die Taten akzeptierte oder völlig verstand, aber er hatte eine Ahnung.
Er vermutete, dass der Täter in vielen Fällen in einen psychischen Zustand geraten war, in dem er keine anderen Alternativen mehr sah. Auslöser konnte beispielsweise ein unüberwindliches finanzielles Problem sein. Der Mörder glaubte nicht daran, dass die Familie damit fertig werden würde. Er hielt es für gerechter, auch die Kinder umzubringen, damit sie nicht leiden mussten. In Finnland erschien das unbegreiflich. Hier verhungerte niemand. Andererseits litt der Täter in diesen Fällen tatsächlich oft unter psychischen Problemen. Bei einer Psychose bestimmte der Verstand kaum noch, was wo, wann oder weshalb zu tun war.
In einem anderen typischen Fall brachte der Mörder seine Familie aus Eifersucht um. Der Täter tötete zuerst im Affekt seine Ehefrau und ermordete danach seine Kinder aus Scham oder damit sie nicht weiter leiden und die Bürde des Mordes tragen mussten. Die eine Tat führte zu einer zweiten und schließlich zur letzten.
Der dritte Fall trug in sich schon das pure Böse. Der Mörder benutzte die Kinder als Mittel, er tötete sie, weil er seiner Ehefrau oder seinem Umfeld Leid zufügen wollte. Wenn ich meine Kinder nicht bekomme, dann kriegst du sie auch nicht.
Der Mord an einem Kind machte es zu einem wertlosen Gegenstand. Ein Elternteil mordete, weil er sich einbildete, daraus einen Nutzen zu ziehen und dazu berechtigt zu sein. Ich habe mein Kind in diese Welt gesetzt, ich bin berechtigt, auch über seinen Abgang zu entscheiden. Für dieses Ungeheuer war das Kind nie ein Mensch gewesen.
Auf Lauri wirkten diese Fälle lähmend. Zuweilen, glücklicherweise nur äußerst selten, war ein Elternteil seinem Kind gegenüber ein großer, böser Wolf.
Alle diese Fälle hatten jedoch eines gemeinsam – die Angst. Die Angst, nicht durchzuhalten, die Angst vor der Einsamkeit, die Angst zu verlieren. Das Böse wuchs aus Ängsten.
Vesitaival hatte sich in seinen Panzer zurückgezogen und meldete sich nicht am Telefon. Lauri verstand den Mann, schließlich war der Mörder ein Kollege. Der Chef der Mordkommission wollte jedoch nicht verstehen, dass die Medien falsche Auffassungen und die Verbreitung von Gerüchten eindämmten. Es war klar, dass auch die anderen Reporter noch vor dem Abend Virtanens Beruf in Erfahrung bringen würden, obwohl die Informationen der Polizei nicht im Telefonbuch standen. Es reichte, sich bei einem Nachbarn zu erkundigen.
Lauri steckte sein Telefon ein. Hinter ihm stieg Antti aus einem Taxi. Er sollte Nachbarn befragen. Einen Fotografen hatte er nicht mit dabei. Er wollte ihm Karhu wegnehmen. Lauri war das egal, er brauchte Karhu nicht. Außerdem war der Fotograf offenbar noch beschäftigt.
Karhu erschien nämlich mit einer Leiter, die er sich vermutlich in einem Nachbarhaus ausgeliehen hatte. Der Fotograf wollte tatsächlich auf diese Kiefer klettern.
Lauri war jedoch so weit, dass er wieder gehen konnte. Er war fast umsonst hierhergekommen. Das hatte er geahnt, aber man wusste ja nie, was sich vor Ort ergeben könnte. Erst recht, wenn bis zum Redaktionsschluss noch zwölf Stunden Zeit blieben. So viel Spielraum hatte man selten. Da lohnte es sich, jeden Stein umzudrehen.
Er überlegte, was aus dem Fall bis zum Redaktionsschluss herauszuholen wäre. Die Polizei ließ so wenige Informationen durchsickern, dass die Hauptnachricht kurz und prägnant sein würde. Er musste nur abwägen, wie viele der von Jatta weitergegebenen Informationsbröckchen er verwenden könnte, falls oder da Vesitaival sie nicht alle bestätigen würde.
In das Paket über die Morde kämen natürlich die Kommentare der Nachbarn, die Antti interviewte. Irgendein Experte und der für Polizeiangelegenheiten zuständige Innenminister müssten befragt werden. Auch zu diesem Fall könnte man den Exfinanzminister Viinanen interviewen und herausfordern, den Preis für die Kürzungen der neunziger Jahre zu schätzen. Die Interviews würde Lauri selbst führen, weil er sich in dieses Thema vertieft hatte. Im Laufe der letzten anderthalb Jahre hatte er über sechs Familienmorde geschrieben. Er war in Tyrnävä, Varkaus, Oulu, Kontiolahti, Kaavi und Pomarkku vor Ort gewesen. Er könnte die richtigen Fragen stellen.
Obwohl der Täter diesmal ein Polizist und das somit ein Sonderfall war, ging es doch bei alldem um ein größeres Ganzes. Das müsste man den Lesern verständlich machen. Darüber dürften dann die Vertreter der Behörden reden, aber auch ein Reporter, der sich mit dem Thema auskannte. Lauri würde über dieses unfassbare Phänomen eine genaue Analyse schreiben, zumindest einen Kommentar.
Er stieg in das von Antti Seppänen verlassene Taxi.
Im Foyer der Redaktion zwängte sich der ständig jammernde Kollege von der Wirtschaft mit in den Aufzug. Der Mann benahm sich jeden Tag so, als würde er eine Story schreiben, die den Journalisten-Preis des Bonnier-Konzerns gewann. »Ein harter Tag, was?«
Lauri stimmte ihm zu.
Als das Gerede über irgendeine wichtige italienisch-französische Tischlerwerkstatt anfing, nahm Lauri das Hörgerät vom Ohr. »Hier ist was kaputt. Man hört nur ein unangenehmes Pfeifen«, sagte er.
Der Mann begriff und drehte ihm beleidigt den Rücken zu. Der Aufzug hielt an, und der Journalist in seiner Cordhose schoss hinaus und in die Redaktion.
Lauri schlurfte ihm hinterher. Er grüßte Pokka, der ihm zuwinkte. Der Nachrichtenchef telefonierte sichtlich verärgert. Bestimmt irgendein Opa, der sich beschwerte, dass die Zeitung nicht gekommen war. Am Ende würde sich herausstellen, dass der Bucklige, wie Pokka diese Kunden nannte, Mittagsschlaf gehalten und nach dem Aufwachen noch etwas verdreht geglaubt hatte, es sei schon früh am Morgen.
Lauri ließ man nicht mehr an das Telefon des Nachrichtenchefs gehen. Er war gerade dabei gewesen, einen Buckligen schon mal vorsorglich zum Bestattungsunternehmen weiterzuleiten, als Redaktionsleiter Kettunen ihm den Hörer aus der Hand gerissen, dem Kunden gegenüber den Vorfall bedauert und dann Lauri eine Predigt über die Bedeutung jedes einzelnen Abokunden gehalten hatte. Vor allem in diesen bedauerlichen Zeiten des Niedergangs der Zivilisation, wo zu unserem Leidwesen auch die Auflage der Qualitätszeitungen immer weiter sank. Kettunen wurde allgemein das »Kleine Leidwesen« genannt. Nicht ohne Grund.
Vor einem halben Jahr war das Kleine Leidwesen in Lauris Kabuff gekommen und hatte gefragt, ob Lauri Obama mochte.
Lauri hatte angefangen, den Einfluss des dunkelhäutigen Präsidenten der Demokraten zu preisen.
Es reichte schon, dass man ihn gewählt hatte. Das waren ein Schritt und ein Zeichen. Die Taten waren sogar zweitrangig, so dachte auch das Nobelkomitee.
»Nein, nein. Ich bin nicht hierhergekommen, um über Politik zu palavern. Ich habe nur festgestellt, dass du deinen Präsidenten1 am liebsten schwarz genießt.«
Lauri brachte keines der Worte heraus, die ihm durch den Kopf schossen. Ku-Klux-Klan wollte er sagen, war aber nicht dazu imstande.
Er starrte nur mit offenem Mund seinen Chef an.
»Also, hat Kivi seinen Negerkaffee schwarz genossen?«
Trotz seiner Verblüffung bejahte Lauri die Frage. »Ja, ja, natürlich. Wieso?«
»Ich bin deinen Spuren von der Kantine bis hierher gefolgt. Du hast nämlich auf der ganzen Strecke im Flur und auf der Treppe gekleckert. Jetzt müssen wir mitten am Tag eine Reinemachefrau bestellen. Das kostet, Kivi, und es sieht auch außerordentlich schmutzig aus. Reiß dich zusammen, sonst muss mit Zwangsmaßnahmen nachgeholfen werden.«
Nach außen äußerte Lauri sein Bedauern, innerlich war er auf 180. Spionierte der Kerl wirklich nach, wie er seinen Kaffee beförderte? Bald würde man nicht mal mehr pinkeln können, ohne dass jemand herumschnüffelte, wohin der letzte Tropfen fiel. Spätestens bei der E-Mail an die ganze Redaktion, in der aus Gründen der allgemeinen Hygiene und des Wohlbefindens der Mitarbeiter verboten wurde, Getränke aus der Kantine zum Arbeitsplatz zu tragen, hatte es Lauri die Sprache verschlagen. In der Nachricht hieß es, man solle sich bei Polizeireporter Kivi bedanken, er habe aus eigener Initiative demonstriert, wie eklig es war, überall zu kleckern. Deswegen musste von dem Tag an die Plörre im Café oder im Pausenraum nahe an der Kaffeemaschine geschlürft werden.
Mit dem Kleinen Leidwesen kam man aus, wenn man mit ihm nichts zu tun hatte. Wenn man nicht wegen ein paar freier Tage herumdiskutierte, wenn man mit den vorgegebenen Urlaubszeiten einverstanden war und kein Büromaterial vergeudete.
Lauri hatte sich nie mit Kettunen angelegt. Dass sich das nicht lohnte, war ihm sofort klar geworden. Dem Kulturredakteur Hakkarainen und Grafiker Jokinen nicht, sie konnten sich jetzt auf dem Arbeitsamt herumstreiten. Das Kleine Leidwesen besaß Macht. Er kannte den Vorstandsvorsitzenden des Konzerns, das hieß, seinen Vater Veikko, und den Geschäftsführer des Zeitungsunternehmens, seinen Bruder Timo. Lauri war überzeugt, dass man mit den Fähigkeiten des Kleinen Leidwesens ohne Nepotismus nicht zum Redaktionsleiter bei der zweitgrößten Zeitung des Landes aufgestiegen wäre.
Er ging zu seinem Platz, schaltete den Computer ein und öffnete die Pressemitteilungen der Polizei, die er direkt auf den Desktop seines PCs bekam. Da war schon etwas über Toivola.
Vier Tote in Toivola
Pressemitteilung der Helsinkier Polizei vom 08. 06. 2013
Die Polizei fand am Montag, dem 8. 6. 2013, 3.34 Uhr in Toivola in Helsinki vier Tote vor. Der Ort des Geschehens ist ein Eigenheim, das sich in der Vislauskuja befindet.
Der 49-jährige Familienvater, die 38-jährige Ehefrau sowie die 4- und 9-jährigen Töchter sind infolge äußerer Gewaltanwendung gestorben. Die Polizei schließt in dieser Phase keine Richtung der Ermittlungen aus. Aus ermittlungstaktischen Gründen werden derzeit keine Angaben zur Ausführung der Taten gemacht. Die nächste Pressemitteilung der Polizei zu dem Fall erscheint morgen am Dienstag spätestens 13 Uhr.
Lauri beschloss, Vesitaival wieder anzurufen. Er müsste ihn fragen, ob es sich bei dem Täter um einen Polizisten handelte, wer als Erster gestorben war, ob der Mörder möglicherweise ein Außenstehender war und wie es kam, dass die Polizei so früh am Morgen in der Wohnung erschien.
Aber das wäre sowieso für die Katz. Vesitaivals einziger Kommentar würde lauten, dass er keine Kommentare gab. Höchstens auf die Frage nach dem Beruf des Familienvaters könnte er gezwungen sein zu antworten. Das würde auf jeden Fall öffentlich bekannt werden.
Lauri wählte Vesitaivals Nummer und wartete. Endlich wurde abgehoben. »Markku Vesitaival, Chef der Ermittlungsgruppe für Gewaltverbrechen der Ständigen Abteilung für kriminalpolizeiliche Ermittlungen bei der Helsinkier Polizei.«
Vesitaival war schon das dritte Jahr im Amt. Sagte er immer noch seinen in die Länge gezogenen Titel vor dem Spiegel auf, mit geschwollener Brust?
»Hallo, hier Lauri Kivi von Suomen Sanomat. Ich habe die Mitteilung der Polizei zu den Mordfällen in Toivola gelesen, ich hätte dazu ein paar ergänzende Fragen. Einverstanden?«
»Ja.«
»Hat die Polizei einen Verdächtigen?«
»Wie in der Mitteilung zu lesen ist, schließt die Polizei derzeit keine Richtung der Ermittlungen aus.«
»Ist es also möglich, dass der Mörder ein Außenstehender ist?«