Über Karsten Brensing

Karsten Brensing ist Meeresbiologe und promovierter Verhaltensforscher. Er war wissenschaftlicher Leiter des Deutschlandbüros der internationalen Wal- und Delfinschutzorganisation. Zuletzt erschien sein Buch Persönlichkeitsrechte für Tiere (Herder Verlag, 2013). Die von ihm gegründete Individual Rights Initiative (IRI) wird von zahlreichen namhaften Wissenschaftlern und Prominenten unterstützt.

Informationen zum Buch

Was Tiere denken

Bonobos lieben Dirty Talk. Buckelwale folgen dem Diktat der Mode. Ratten feiern gern Partys, und Raben fahren auf verschneiten Dächern Snowboard. Der Biologe Karsten Brensing führt uns in eine Welt, die wir so noch nie gesehen haben – und die der unseren gar nicht so fremd ist. Er zieht hierfür neueste wissenschaftliche Erkenntnisse genauso heran wie seine Erfahrungen aus der Arbeit mit Tieren. Delfine rufen sich beim Namen und Orcas leben in einer über 700 000 Jahre alten Kultur. Entenküken bestehen komplizierte Tests zum abstrakten Denken und Schnecken drehen freiwillig Fitnessrunden im Hamsterrad. Hunde bestrafen Unehrlichkeit, doch können vergeben, wenn man sich entschuldigt. Spinnen treffen ihre Berufswahl auf Grundlage ihrer Persönlichkeit und individuellen Vorlieben. Brensing entführt uns zu den großen Triebfedern der Entwicklung des Geistes bei Mensch und Tier. Wer schon immer wissen wollte, was im Kopf unserer geliebten Haustiere, in einem Delfin, in einem Schwein in der Massentierhaltung oder in vielen anderen tierischen Köpfen vor sich geht, der findet in diesem Buch die Antworten, und jede neue animalische Begegnung wird zu einem spannenden Erlebnis.

»Nach der Lektüre dieses Buchs werden Sie nie mehr allein sein. Sie werden mit anderen, ihrer selbst bewussten Wesen leben, und vielleicht grüßen Sie von nun an höflich den einen oder anderen Raben in Ihrer Nachbarschaft.« aus: Das Mysterium der Tiere

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Karsten Brensing

Das Mysterium der Tiere

Was sie denken, was sie fühlen

Inhaltsübersicht

Über Karsten Brensing

Informationen zum Buch

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I. Was mich umhaut (oder schlicht: Einleitung)

II. Tierisch guter Sex

1. Aliensex

2. Sexspielzeug

3. Vergewaltigung

4. Gangbangs

5. Hormone, die Bewohner der Chefetage

6. Pheromon-Partys

7. BDSM

III. Unbekannte Kulturen

8. Wie hätte Sherlock Holmes entschieden?

9. Musik und Mode

10. Vom guten Geschmack

11. Patentamt oder Open-Source

»Schimpansen-Steinzeit«

Schwere Nomaden und luftige Nüsseknacker

Schwamm drüber, eine Form des Lifestyle

Tierische Architekten

Werkzeuge ohne Kultur

12. Die Geheimsprache der Tiere

Lautsprache

Dialekte im Tierreich

Dirty Talks

Gebärden und Symbole

Körpersprache und Pointing

13. Was hat Kultur mit Naturschutz zu tun?

IV. Gemeinschaftssinn

14. Die Spaßgesellschaft

Die Chemie der Freude

Was ist Spiel?

Wer die Regeln bricht, verliert!

15. Der Ödipuskomplex

16. Monarchie mit Platz für Demokraten

17. Tierische Biographien

18. Facebook mal anders

19. Die Erfindung der Moral

20. Totenkult und Krieg

21. Die Broker

V. Vom Denken

22. Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst

Gedankenbilder

Logik

Abstraktes Denken

Strategisches Denken und Kreativität

Mathematik

Der Gummibärchen-Test – vom Denken über’s Denken

23. Wer bin ich, und wer bist eigentlich du?

Selbstbewusstsein

Persönlichkeit

Ich weiß, dass du bist

Der kluge Hans

Theory of Mind

Der falsche Glaube

24. Wider die Vernunft

25. Der Denkapparat

26. Die Schamanen

Im Rausch der Droge

Windpockenpartys und andere Formen der Medizin

VI. Gefühlsduselei

27. Die Schnittstelle

28. Dopamin, der Bleifuß auf dem Glückspedal?

29. Kalt wie ein Fisch

30. Ratten feiern gern Partys

VII. Die Krone der Schöpfung

31. Unser Alleinstellungsmerkmal

Gehirnentwicklung

Geisteskrankheiten und Psychopharmaka

32. Forschungsfehler

Fehlinterpretationen

Falsche negative Ergebnisse

Vergleichende Verhaltensforschung

33. Von Menschen und Tieren: Whale Watching contra Walfang und Treibjagd

VIII. Epilog

Anmerkungen

Dank

Bildnachweis

Impressum

Als Kind galt für mich im Umgang mit Tieren eine einfache Regel meiner Eltern:

»Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.«

I. Was mich umhaut
(oder schlicht: Einleitung)

Delfine rufen sich beim Namen, und Orcas leben in einer über 700000 Jahre alten Kultur. Schimpansen führen strategische Kriege, und Bonobos lieben Dirty talks. Buckelwale folgen dem Diktat der Mode, Fische benutzen Werkzeug und spielen mit Thermometern. Ratten feiern gern Partys, und Raben fahren auf verschneiten Dächern Snowboard. Ameisen erkennen sich im Spiegel und putzen sich heraus, bevor sie nach Hause gehen. Entenküken bestehen komplizierte Tests zum abstrakten Denken, und Schnecken drehen freiwillig Fitnessrunden im Hamsterrad. Hunde bestrafen Unehrlichkeit, doch sie können verzeihen, wenn man sich entschuldigt. Spinnen treffen ihre Berufswahl auf Grundlage ihrer Persönlichkeit und individuellen Vorlieben. Menschen stehen verwundert vor einem Rätsel.

Was ist nur los mit den Tieren? Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine Meldung über verblüffende tierische Fähigkeiten durch die Presse geht. Wir staunen und sind verwundert, doch was Tiere denken und was in ihnen vorgeht, bleibt uns ein Rätsel.

Mein bisher bester Freund war ein Hund. Oje, wie armselig, werden Sie denken, und zugegeben, ein bisschen armselig klingt das schon, denn was sagt das über mein Sozialleben? Zum Glück ist Letzteres nicht das Thema dieses Buches, denn es geht um Tiere und zum großen Teil um ihr oft unglaubliches Sozialleben mit Kollegen, Freunden, Verwandten, Feinden und strategisch geplanten Territorialkriegen. Das Mysterium, das uns hier beschäftigen soll, spielt sich ausschließlich in Tieren und genau genommen in deren Nervengewebe ab und ist somit für uns Menschen nicht direkt wahrnehmbar. Natürlich können wir gut beobachten, wie sich Tiere verhalten, und wir können daraus unsere Schlüsse ziehen, doch wir können sie nicht einfach fragen, ob wir damit richtig liegen.

Vermutlich hat unsere Vorstellung sogar eher selten etwas mit der Realität zu tun, wie das folgende, für mich sehr beschämende Beispiel zeigt: Ich bin mit Flipper groß geworden, und einmal mit Delfinen zu schwimmen war ein Kindheitstraum von mir. Meine Doktorarbeit in der Verhaltensbiologie habe ich darum auch über die Interaktion zwischen Menschen und Delfinen in Schwimmprogrammen und in der sogenannten Delfintherapie geschrieben. In meiner Pilotstudie, die jeder gewiefte Forscher vorher durchführt, um nicht komplett danebenzuliegen, habe ich getreu meinen Beobachtungen geschrieben, dass die Delfine in den Schwimmprogrammen offensichtlich die Nähe zu Menschen im Wasser suchen. Mit dieser Beobachtung machen auch die unzähligen Anbieter von Schwimmprogrammen Werbung. Nach einem Jahr Videobeobachtung und detaillierter Auswertung stellte sich aber genau das Gegenteil heraus: Die Delfine versuchten – und das mit deutlich statistischer Signifikanz – den Schwimmern auszuweichen, keine leichte Sache in einem Becken, so groß wie der Kinderschwimmbereich in einem Hallenbad. Damit platzte nicht nur ein naiver Kindheitstraum, sondern auch meine damalige Berufsplanung. Wie konnte ich mich nur so gewaltig irren?

Vor einigen Jahrzehnten wurde eine Gruppe Orcas für ein Delfinarium in British Columbia gefangen. Die drei Tiere wurden, wie alle anderen, mit Fisch gefüttert, verweigerten aber die Nahrung. Die Betreiber hatten die Wahl: Warten wir ab, was passiert, oder bringen wir die Tiere wieder zurück? Sie warteten – bis ein Tier verhungerte, was die anderen motivierte, Fisch zu fressen. Weigerten sich die Tiere aus Protest gegenüber ihren Entführern, oder mochten sie nur keinen Fisch? Im selben Gebiet brachte der Tankerunfall der »Exxon Valdez« mehrere Orcapopulationen der Ausrottung nahe, aber sie paarten sich nicht mit vorbeischwimmenden Orcagruppen. Ein Verhalten gegen jede Logik der Evolutionstheorie, nach der die Tiere sich überglücklich auf die Besucher hätten stürzen müssen, um ihren Genpool zu vergrößern. Heute wissen wir mehr: Die Tiere leben in einer über 700000 Jahre alten Kultur mit einem Verhaltenskodex, der den einen verbietet, sich mit den säugetierverschlingenden Mörder-Orcas abzugeben, und den anderen, Fisch zu fressen. Die Finanzkrise und das Verhalten der Marktteilnehmer hat die Welt erschüttert, und das Fehlverhalten weniger hat ganze Volkswirtschaften in den Niedergang gerissen. Überraschenderweise liegt die Ursache der Krise aber nicht in der Gier Einzelner, wie uns glauben gemacht wird, sondern in irrationalen, über 30 Millionen Jahre alten Verhaltensmustern, die wir mit anderen Primaten teilen.

Insekten, die Werkzeuge benutzen, oder Fische, die in einer Kultur leben, Delfine, die sich Namen geben, oder Elefanten, die ihre Toten beerdigen, Tiere, die sich fair verhalten oder mit Absicht lügen, Tiere, die sich mit Antibiotika heilen oder uns Menschen für sich arbeiten lassen. Doch was bedeutet es, wenn ein Rabe sich gedanklich in einen anderen Raben hineinversetzen kann, um sein Verhalten vorauszusehen, oder wenn eine Elster sich im Spiegel selbst erkennt, oder, ganz allgemein, wenn Tiere in Tests der Kognitionsforschung genau so gut abschneiden wie wir Menschen? Wie müssen wir diese Fähigkeit einordnen, wo stehen diese Tiere im Vergleich zu uns Menschen, und wann und unter welchen Umständen haben wir all diese Fähigkeiten erworben?

Diese und ähnliche Begleitfragen werde ich anhand unzähliger Beobachtungen versuchen zu beantworten. Am Ende werden Sie sich vermutlich fragen: Was unterscheidet uns denn noch von Tieren? Nicht viel, doch so viel kann ich verraten: Wir Menschen haben eine klitzekleine Eigenart, auf der unser Erfolg als Art beruht, und dies ist nicht unsere Sprache. Am menschlichen Thron wird somit nicht gerüttelt, doch in der Welt, in der Sie nach der Lektüre dieses Büchleins leben, werden Sie und alle anderen Menschen nicht mehr allein sein, sie werden gemeinsam mit anderen ihrer selbst bewussten und fühlenden Wesen leben, und vielleicht grüßen Sie von nun an höflich den einen oder anderen Raben in Ihrer Nachbarschaft.

II. Tierisch guter Sex

Vor einiger Zeit war ich fasziniert von allem, was sich mit Bewusstseinserweiterung beschäftigte, und bin bei meiner Suche nach dem Stein der Weisen über Tantra gestolpert. Sie wissen schon, diese indischen Sexpraktiken mit den ungewöhnlichen Stellungen und dem verhinderten Orgasmus mit Erleuchtung. Also stand ich irgendwann im Kulturkaufhaus Dussmann und griff beherzt in ein gut sortiertes Regal. Obwohl mich wirklich die bewusstseinserweiternden Aspekte des Tantra interessierten, so galt mein erster Blick im Inhaltsverzeichnis doch dem Thema Sex. Überraschenderweise wurde ich erst im 5. Kapitel auf Seite 83 fündig. Nun raten Sie mal, mit welchen Worten mich der Autor begrüßt hat? »Ja, an dieser Stelle hätte ich auch begonnen, das Buch zu lesen.« Erwischt!

Obwohl sich der Autor redlich bemüht hatte, Tantra ins rechte Licht zu rücken und die westliche sexfixierte Betrachtung zu relativieren, hat mich das Thema Sex doch magisch angezogen: Sex sells! Egal, ob auf dem Titelbild der Fernsehzeitung oder auf der Motorhaube eines SUV, nackte Haut verführt zum Hingucken und mehr. Sex ist eine unglaublich starke Quelle innerer Motivation und macht Spaß. Das ist auch gut so, denn sonst hätten unsere Urahnen faul in den Bäumen gesessen und nasebohrend in den Himmel geschaut, und uns hätte es erst gar nicht gegeben.

Doch bevor wir uns mit Dirty talks und tierischen Sexspielzeugen bei Primaten, den unglaublichsten Sexpraktiken in deutschen Vorgärten und geistigen Glanzleistungen zur Erlangung von Befriedigung bei Delfinen beschäftigen, müssen wir einige grundsätzliche Aspekte klären.

Sex ist eine der ältesten und womöglich die wichtigste Erfindung von Mutter Natur überhaupt, sogar älter als die Erfindung der Geschlechter und hat eigentlich nur einen Nachteil: den Tod.

Aber eines nach dem anderen. Einfache einzellige Organismen vermehren sich durch Teilung. Während des Prozesses der sogenannten Mitose wird eine identische Kopie des Erbgutes angefertigt und diese dann an die Tochterzelle, die eher ein Klon ist, abgegeben. Letztlich bedeutet dies: eine vollständige, ununterbrochene Kette bis zurück zum Ursprung des Lebens. Man könnte in diesem Fall zu Recht von so etwas wie Unsterblichkeit sprechen. Vielleicht denken Sie bei Ihrem nächsten Hefeweizen oder Merlot mit ein wenig Respekt an die fleißigen, Jahrmillionen alten Hefezellen, die ihrem Getränk den richtigen Drive gegeben haben.

Mehrzellige Organismen haben schon recht früh erkannt, dass es sinnvoll ist, genetisches Material mit anderen »Individuen« auszutauschen. So haben auch die ersten Mehrzeller zu einer Zeit, in der man noch nicht einmal zwischen Tieren und Pflanzen unterscheiden konnte, ihre Erbinformation verdoppelt und auf die Reise geschickt. Diese einzelligen Gameten hatten den klaren Auftrag, sich mit anderen einzelligen Gameten inniglich zu vereinigen, um ihr Erbgut zu vermischen. Der Sex war erfunden. Mit der Vermischung des Erbgutes wurde aber die Kette der Unsterblichkeit durchschnitten, denn jeder neue Organismus war ein klein wenig anders als die beiden Elternteile. Sex ist somit die einzige echte Todsünde.

Dennoch hatte diese Strategie enorme Vorteile, denn durch die Kombination der unterschiedlichen Erbgüter kam es zu einer Häufung von Mutationen, also zu Veränderungen des ursprünglichen Erbgutes. Der Schlüssel für das Erblühen des irdischen Lebens in all seiner Pracht und Biodiversität war erfunden. Zur Ehrenrettung der Bakterien muss man aber ergänzen, dass auch sie so etwas Ähnliches wie Sex haben, man nennt es Konjugation. Sie tauschen mit sogenannten Sexpili kleine Schnipsel ihres Erbgutes aus. Wenn die kodierte Information irgendwie Sinn macht, dann wird diese Information, die eine bestimmte Fähigkeit beinhaltet, bei der Teilung an die Tochterklone weitergegeben. Wenn nicht, stört es vielleicht nicht, oder aber es ist das Ende der Bakterie. No risk, no fun.

Doch in den Anfangsjahrmillionen war der Sex noch nicht so ganz ausgereift. Es war leicht möglich, dass sich die Samenzellen eines Stammorganismus mit sich selbst kreuzten und damit den ganzen Aufwand zunichtemachten. Im Prinzip dreht sich auch heute noch alles um dieses Problem, und das Spektrum der ergriffenen Maßnahmen reicht von der Erfindung der Geschlechter über das schamhafte Bedecken der Samen bei Pflanzen bis hin zu kniffligen sozialen Regeln, die festlegen, wer mit wem darf und wer nicht. Letzteres ist nicht nur Bestandteil unserer menschlichen Kultur, sondern auch Triebkraft für die Entstehung der komplexesten sozialen Netzwerke, die wir im Tierreich beobachten können. So galt die Bildung von Allianzen dritter Ordnung noch vor kurzem als rein menschliche Domäne, bis man das Verhalten von Delfinen vor Westaustralien besser verstanden hatte, doch dazu später mehr.

1. Aliensex

Beginnen wir mit etwas ganz Naheliegendem: mit dem Sexualleben unserer direkten Nachbarn und Untermieter.

Ich schaue gerade aus dem Fenster meines Arbeitszimmers in meinen Garten, und ich wette, Sie haben keine Ahnung, welche abgefahrenen Sexpraktiken das vielleicht unglaublichste Tier auf unserem Planeten direkt vor Ihren Augen und in Ihrem Garten oder Blumenkasten so treibt. Es geht um das Bärtierchen, ein nur ca. 0,5 Millimeter großes, sehr niedliches Tierchen, das es praktisch überall auf der Erde, im Wasser, aber auch im erdnahen Orbit gibt. Ähnlich wie die Chordatiere, zu denen wir Menschen, aber auch Fische, Vögel und Reptilien gehören, bildet es sogar einen eigenen Tierstamm mit circa 1000 unterschiedlichen Arten.

Mit den Augen eines Mikroskops würden Sie in Ihrem Garten ab und an Folgendes beobachten: Ein Liebhaber pirscht sich verstohlen an ein Weibchen heran, um es zu verführen. Nach einiger Zeit des Umschwärmens kommt es endlich zu einem innigen Kuss. Dieser Kuss ist nicht nur der Prototyp eines Zungenkusses, nein, er geht weit darüber hinaus, denn dieser Kuss ist die Begattung selbst. Die Forscher vermuten, dass bei diesem Akt der männliche Samen übergeben wird. Möglicherweise bewahrt das Weibchen diesen bis zur nächsten Häutung auf und legt ihn dann gemeinsam mit ihren Eiern in ihr ehemaliges, nun die Brut schützendes Exoskelett. Vielleicht wird das Sperma aber auch einfach geschluckt. Es gibt sogar echte zwittrige (hermaphroditische) Arten, die sowohl männlich als auch weiblich sind. Leider weiß niemand, ob und wie die sich selbst küssen. Neben diesen zärtlichen Varianten geht es aber auch auf die brutale Tour. Bei dieser Spielart reißt der Bräutigam der Braut nicht die Kleider vom Leib, sondern den Bauch auf und stopft seinen Samen einfach rein, fertig.1 Wohl auch eine Form der inneren Befruchtung. Sie denken jetzt, so etwas würde in Ihrem Bett gewiss nicht stattfinden. Weit gefehlt, die gemeine Bettwanze, ein klassischer Parasit des Menschen, geht ganz ähnlich vor. Der scharfe, als Hohlnadel geformte Phallus des Männchens sticht in den Bauch und pumpt das Sperma in den Blutkreislauf des Weibchens.2

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Das Bärtierchen

Bei all diesen Spielarten ist es vielleicht nicht überraschend, dass einige Arten der Bärtierchen auch zur Jungfernzeugung, der sogenannten Parthenogenese, fähig sind und dem Sex in jeder Form abgeschworen haben. Dabei befruchten sich die Weibchen einfach selbst, ohne dabei zwittrig zu sein. Damit dies funktioniert, wird dem Körper durch eigene Hormone vorgegaukelt, er hätte ein befruchtetes Ei. Der gleiche Trick funktioniert auch bei einigen Reptilien und Würmern. Evolutionär natürlich problematisch und für Männchen sicher deprimierend, aber wenn ich Weibchen bin und an einen entlegenen Ort ohne Männchen verschlagen werde, ist es von großem Vorteil, wenn ich ganz allein eine neue Bevölkerung/Population aufbauen kann. Wenn diese dann groß genug ist, kommt es oft zur Zeugung von Männchen, und der Spaß kann wieder beginnen.

Nun muss ich natürlich noch das Rätsel lösen, wie ein richtiges mehrzelliges Tier mit einem Nervensystem, Muskeln und einem Verdauungsapparat in den erdnahen Orbit gelangt und dort überlebt. Bärtierchen sind wahre Überlebenskünstler: Man kann sie auf über 250 Grad Celsius erhitzen, dem Druck der Tiefsee aussetzen und eben auch in den Weltraum schießen, ohne sie zu töten. Letzteres hat der Biologe Bob Goldstein von der University of North Carolina bewiesen, indem er die Tierchen für zehn Tage mit einer Sojus-Rakete in den Himmel schickte und sie dem absoluten Vakuum und der kosmischen Strahlung aussetzte. Zurück auf der Erde, konnte er einen Großteil der Astronauten im Raumanzug mit einem simplen Wassertröpfchen wiederbeleben. Der Trick: Wenn die possierlichen Tierchen langsam austrocknen, können sie sich mit einer Art Kapsel umgeben, die sie schützt und in der sie ihre Lebensfunktionen praktisch einstellen. Kein Wunder, dass bereits darüber spekuliert wird, ob die Tierchen wohl mittels Meteoriten zu uns gereist sind.

Aber auch andere Arten haben wahrhaft explosive Überraschungen in ihrem Sexualleben zu bieten. Sie alle kennen das, im Moment der Momente entweicht den Beteiligten ein wohliges Stöhnen. Zum Glück ist es nicht unser letzter Stöhner wie bei den armen Bienenmännchen. Es ist allgemein bekannt, dass die männlichen Bienen, genannt Drohnen, nach dem Akt sterben. Aber wussten Sie wie? Sie explodieren, und ihr Selbstmordattentat hat sogar Signalwirkung. Die Drohnen sind dem Pheromon der Königin, einem Duft mit Lockwirkung, völlig verfallen. Nehmen sie ihn wahr, drehen sie sich gegen den Wind und dann geht es der »Nase« nach bis zur verlockend duftenden und empfängnisbereiten Bienenkönigin. Auf sie wird sich dann noch im Flug gestürzt, und das Begattungsorgan klinkt sich an der Königin fest. In diesem Moment ist es um den Bienenmann geschehen, er versteift sich, und die Königin zieht ihn mittels Kontraktion ihrer Hinterleibsmuskulatur an sich. Dies tut sie mit solcher Inbrunst, dass der arme Drohn mit einem oft hörbaren Knall zerplatzt.3 Was von ihm übrig bleibt, ist sein Begattungsorgan, das am Hinterleib der Königin festsitzt. Manche Arten, wie der Maulwurf und einige Nager, hinterlassen übrigens eine Art Keuschheitsgürtel, indem sie mit einem klebrigen Pfropfen die weibliche Geschlechtsöffnung verschließen. Nicht so unsere Drohnen: Das für uns orangefarbene Gewebe des männlichen Endophallus, das zudem im, für uns unsichtbaren ultravioletten Lichtspektrum leuchtet, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Leuchtfeuer für weitere begattungsfreudige Drohnen. Die Bienenkönigin sammelt bei den folgenden Begattungen genug Sperma für den Rest ihres Lebens.

Doch es gibt eine friedliche Ausnahme: Die Kap-Biene Apis mellifera capensis, die nur in Südafrika lebt, kommt ganz ohne Männchen aus. Die Arbeiterinnen dieser Bienenart legen die Eier, und aus diesen schlüpfen dann wieder Arbeiterinnen. Ein Rätsel, das offenkundig einen Widerspruch zur Logik der sexuellen Vermehrung darstellt und den Biologen großes Kopfzerbrechen bereitet.4 Andererseits ist es doch logisch, dass die Männchen keine Lust haben, bei der Befruchtung zu explodieren, und sich daher auf Nimmerwiedersehen verzogen haben.

Ein anderes, außergewöhnlich befremdliches Verhalten habe ich als Kind in unserem Aquarium beobachtet. Wenn ich mal wieder Fernsehverbot hatte, saß ich stundenlang vor dem Becken mit unserem Buntbarschpärchen der Art Pseudo-crenilabrus nicholsi und beobachtete fasziniert, wie die kleinen Jungfische bei Gefahr im Mund ihrer Eltern verschwanden. Für mich war das immer ein Riesenschreck, denn ich hatte furchtbare Angst, dass die kleinen Fische einfach gefressen werden. Doch Sekunden später schlüpften sie erneut aus dem Maul und schwammen munter weiter. Das sogenannte Maulbrüten, das je nach Art von Weibchen, Männchen, aber auch von beiden Geschlechtern gemeinsam betrieben wird, ist eine echte Herausforderung. Wie ich später lernte, müssen die Tierchen während der Brutzeit fasten, damit meine kindliche Befürchtung nicht grausige Realität wird. Doch wie es im Leben so ist, solch eine Hingabe und Liebe wird leicht ausgenutzt, und so versteckt der Kuckucks-Fiederbartwels seine Eier im Gelege von Maulbrütern.

Doch nicht nur Maulbrütermännchen kümmern sich rührend um ihre Jungen. Ein anderer Fisch, der aber mehr wie ein kleines Pferdchen aussieht, hat den Weibchen den Rang vollständig abgelaufen. Die Männchen der Seepferdchen lassen ihre Samen von den Eiern der Weibchen befruchten. Die befruchteten Zygoten werden dann im Bauchsack ausgebrütet, und das Männchen gebiert später lebende kleine Fischlein.

Nachdem wir uns mit dem breiten Spektrum der Sexpraktiken wie geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung, Parthenogenese und Hermaphroditismus beschäftigt haben, nähern wir uns nun vertrauten Gestaden und beginnen mit Sexspielzeug.

2. Sexspielzeug

Kürzlich fragte mich ein Journalist, ob ich schon einmal etwas davon gehört hätte, dass Tiere Dildos benutzen. Tatsächlich gibt es im übertragenen Sinne so etwas wie Sexspielzeug bei Schimpansen, aber von einem Dildo hatte ich noch nichts gehört. Allerdings wollte ich auch nicht gleich nein sagen, denn ganz ausgeschlossen ist so etwas natürlich nicht. Ich habe also den Journalisten vertröstet und eine kleine Bildrecherche zu »animal + Dildo« gemacht. Zu meiner großen Überraschung musste ich feststellen, dass es wohl unzählige Tierliebhaber gibt. Das Internet ist voll mit Gummitierpenissen. Da ich davon ausgehe, dass weder ein Schwertwal noch ein Pferd im Internet bestellen, muss wohl das menschliche Interesse an anderen Arten für die Nachfrage verantwortlich sein. Dildos, die von Tieren zur Selbstbefriedigung gebastelt wurden, fand ich aber nicht. Über das Niveau von Anekdoten und ein paar skurrilen Bildern hinaus war nichts zu finden. Es scheint nur einen wissenschaftlichen Artikel zu geben, in dem eine solche Beobachtung erwähnt wurde, und der ist von 1978. In ihm heißt es, dass Orang-Utans auf Sumatra sich an Lianen und Ästen reiben und diese möglicherweise auch vaginal einführen.5 Das ist doch schon sehr nah dran, aber als Sexspielzeug oder Dildos geht dies nicht durch. Zumindest nicht im Sinne unserer menschlichen Interpretation, denn ein Dildo entspricht im weitesten Sinne einem Werkzeug, und da gibt es kleine, aber wichtige Unterschiede, wie wir noch sehen werden.

Allerdings ist das Schubbern an einer Liane eine Masturbation, und die ist im Tierreich weit verbreitet. Unzählige Tiere tun es und das aus gutem Grund. Viele Tiere reproduzieren sich nur saisonal. Möglicherweise wären diese Tierarten schon ausgestorben, wenn sie sich nicht selbst befriedigen würden. Die männlichen Samen können im Gegensatz zu den Eiern der Frau ständig nachproduziert werden. Dies hat aber auch den Nachteil, dass sie schnell alt und langsam werden. Die Selbstbefriedigung hat den großen Vorteil, dass immer junger frischer Samen bereitsteht, um bei den seltenen echten Gelegenheiten auch erfolgreich zu sein. Darüber hinaus entspannt die Selbstbefriedigung und macht weniger aggressiv.6 Dies führt zu sehr skurrilen Beobachtungen. So wurde ein Kapuzineräffchen gefilmt, das eine Ente vergewaltigt,7 oder ein Schimpanse, der Oralsex mit einem Frosch hat.8 Auch musste schon so mancher überraschte Schwimmer in einem gebuchten Schwimmprogramm mit Delfinen als Sexdoll herhalten. Eine befreundete Delfintrainerin lief nach einer solchen Liebesattacke einige Wochen mit einem blauen Oberschenkel umher. Meine Empfehlung an alle in einer solchen Situation: Bitte missverstehen Sie die ersten Berührungen nicht als Sympathiebekundung. Das Tier kennt Sie ja gar nicht, und so können Sie ihm auch nicht sympathisch sein. Wenn sich ein Tier, ob in Gefangenschaft oder im Freiland, auf diese Weise nähert, dann, weil es das kann und Sie ihm im Wasser ausgeliefert sind. Ein solches Verhalten sollte sofort durch klare Gesten und einen geordneten Rückzug unterbunden werden. Meine lieben männlichen Leser, davon sind nicht nur Frauen betroffen, männliche Delfine sind da nicht wählerisch.

Nachdem Sie nun über die wahren Hintergründe der Masturbation informiert sind, haben Sie vielleicht etwas mehr Verständnis für die etwas dümmlich aussehenden Hunde, die sich mit einem Kissen selbst befriedigen. Im Übrigen gibt es Abhilfe: Im Gegensatz zu den menschlichen Sexdolls im Wasser gibt es auch echte Sexdolls für gelangweilte Haustiere, etwa die der Firma Hotdoll.9

An dieser Stelle muss ich aber mit einer weitverbreiteten Voreingenommenheit, die wir den Verhaltensbiologen des vergangenen Jahrhunderts verdanken, aufräumen. Sex wurde als ein Trieb angesehen, der ausschließlich dem Fortbestand der Art dienen sollte. Das ist zwar richtig, aber daraus zu schlussfolgern, dass es Tiere nur zur Fortpflanzung tun und daran keinen Spaß haben, ist zu kurz gedacht. Tatsächlich ist der Spaß oder die damit verbundenen angenehmen Gefühle das zentrale Element und die Selbstbefriedigung ein wichtiger Zwischenschritt zur erfolgreichen Reproduktion. Wir werden uns in den Kapiteln »Die Spaßgesellschaft« und »Gefühlsduselei« noch mit den zugrunde liegenden Mechanismen beschäftigen, aber eines sei vorweggenommen: Die schönen Gefühle, die uns den Sex attraktiv machen, erzeugen eine hohe innere Motivation, ihn zu wiederholen. Diese Motivation haben wir mit großer Wahrscheinlichkeit mit fast allen Wirbeltieren gemeinsam, die eine innere Befruchtung betreiben. Letztlich muss Mann/Frau den Partner sehr nah an sich heranlassen, ja, es muss sogar das Risiko einer Übertragung von Krankheiten durch Körperflüssigkeiten in Kauf genommen werden. Außerdem ist Frau/Mann für die Zeit des Aktes gegenüber Feinden praktisch wehrlos. Solche Risiken geht man nur ein, wenn die Motivation hoch genug ist. Doch was motiviert uns? Letztlich ist es ein Cocktail aus freigesetzten Hormonen und Neurotransmittern, die uns alle Risiken vergessen lassen. Auf diesem Niveau der Verhaltenssteuerung funktionieren alle Säugetiere und vermutlich auch Vögel gleich. Wir dürfen also getrost davon ausgehen, dass sich beim Akt ein Nilpferd, Wal oder Schwein ganz ähnlich fühlt wie wir.

Doch das Fühlen ist nur ein Aspekt. Je komplexer ein Gehirn ist und je mehr unterschiedliche Reize und Informationen verarbeitet werden können, desto aktiver und dominanter kann es in hormongesteuerte Prozesse eingreifen. Unsere armen Bienendrohnen haben diese Wahl nicht. Auch wenn das Aussehen der Bienenkönigin keinen Einfluss auf sie hat, ihrem Duft sind sie machtlos ausgeliefert. Für uns Menschen ist der Geruch ebenfalls wichtig, aber wir können uns dank unserer komplexen Gehirne darüber hinwegsetzen. Beispielsweise interessiert uns die Schönheit eines Partners. Diese ist aber ein Produkt unserer Kultur. Rubens’ Schönheiten hätten auf dem heutigen Modelmarkt wohl nicht den Hauch einer Chance. Bisher kennen wir nur wenige Arten, bei denen die Kultur Einfluss auf das Sexualleben hat. Im Kapitel »Unbekannte Kulturen« werden wir beispielsweise erfahren, dass Orcas eine mehrere 100000 Jahre alte Kultur haben, die Sex mit einer bestimmten anderen Gruppe von Orcas verbietet, und dass Buckelwale genauso wie wir dem Diktat der Mode unterliegen. Auch wenn wir mit dem Dildo nicht weitergekommen sind: Gibt es vielleicht andere Beispiele für Sexspielzeug im Tierreich? Die Antwort ist: ja. Der Cambridge-Professor William McGrew hat in einem Übersichtsartikel zur Nutzung von Technologie bei Primaten eine ganz besondere Form von Werkzeugen für den Sex erwähnt.10 Er zog in einem Interview mit der »New York Times«11 eine Entdeckung aus dem Jahre 1980 als Beispiel heran.12 Darin wird folgende Situation beschrieben: Die männlichen Schimpansen sitzen breitbeinig und mit erigiertem Penis da und knistern mit Blättern herum …

Ja und, werden Sie denken, wann kommen der Sex und das Spielzeug ins Spiel? Alles eine Sache der Betrachtung. Als erstes müssen wir klären, was eigentlich ein Werkzeug ist. Als Werkzeug gilt ein Objekt, das nicht zum Körper gehört und das der Erreichung eines Zieles dient.13 Betrachten wir zunächst das Blatt selbst genauer. Leaf-clipping,14 also das Knacken und geräuschvolle Zerbröseln von trockenen Blättern, ist eine Geste, mit der Schimpansen versuchen, Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist so, als würden wir im Wald durch das Rascheln von Laub darauf aufmerksam werden, dass dort im Gebüsch ein Vogel sitzt. Wir spitzen die Ohren und schauen zum Gebüsch. Nicht anders reagiert das angesprochene Weibchen. Was es nun sieht, lässt sie reagieren. Das dargebotene und einsatzbereite Instrument der Freude zwischen den Beinen des Männchens spricht eine eindeutige Sprache. Aber bitte seien Sie nicht neidisch, das funktioniert selten sofort, und oft muss das arme Männchen mit seinem geschwollenen Penis eine ganze Zeit weiter mit Blättern knistern, bis sich das Weibchen endlich lüstern nähert und ihm ihren Popo präsentiert. In diesem Moment haben wir alles, was wir brauchen, um von einem Werkzeug zu sprechen. Ein Objekt, das nicht zum Körper gehört und das benutzt wird, um ein Ziel zu erreichen.

Die männlichen Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste teilen ihr Bedürfnis übrigens durch Fingerknöchelknacken (knuckle-knock) mit.15 Doch Vorsicht, es könnte nicht jugendfrei werden, wenn wir verschiedene Schimpansengruppen zusammenbringen würden. Bei den Schimpansen in Bossou knacken auch die Jungtiere. Aber sie wollen nur spielen.

Nun geht Knöchelknacken nicht als Sexspielzeug (Werkzeug) durch, denn der Knöchel gehört ja zum Körper. Doch die Taï-Schimpansen knacken auch mit Blättern. Sie tun es, wenn sie auf sich aufmerksam machen wollen. Meist folgt dem Knacken dann eine wichtige Mitteilung.

Bei der in Afrika weitverbreiteten Klicksprache klingen die Klicks übrigens ebenfalls so wie knackende Blätter, und es wird darüber spekuliert, ob dieses Geräusch ein Element der ersten Sprache war.16 Ein faszinierender Gedanke, dass das Knacken und Zerbröseln von Blättern vielleicht das erste wirklich symbolische Element in unserer Sprachentwicklung war. Bedenkt man dies, gewinnt das Knuspern von leckeren Chips eine ganz neue Bedeutung. Versuchen Sie doch einfach mal Ihr Glück auf der nächsten Party, und greifen Sie beherzt zur nächsten Rolle Pringles. Mal sehen, was passiert, wenn Sie laut knuspernd die Person Ihrer Begierde anstarren. Vielleicht zünden ja uralte, tief verwurzelte animalische Triebe, womit wir schon beim nächsten Thema sind.

3. Vergewaltigung

Randy Thornhill und Craig Palmer, zwei Evolutionsbiologen, haben sich intensiv mit dem Thema Vergewaltigung im Tierreich beschäftigt. In ihrem Buch »Eine Naturgeschichte der Vergewaltigung«17 haben sie anhand unzähliger Beispiele die Logik, die hinter dieser Strategie steckt, erläutert. Das Buch wurde in der deutschen, aber auch in der internationalen Presse nicht mit Wohlwollen kommentiert. Problematisch war die Tatsache, dass die Autoren aus den Beobachtungen im Tierreich Rückschlüsse auf das menschliche Verhalten gezogen haben. Zu sehr klang der mit großer Schlüssigkeit dargelegte biologische Sachverhalt nach Ausrede und Rechtfertigung für sexuelle Gewalt unter Menschen.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle das Pro und Contra des durchaus provokativ daherkommenden Buches nicht zumuten. Aber vielleicht gefällt Ihnen das folgende Beispiel, in dem gezeigt wird, dass die Evolution durchaus auch Mittel und Wege parat hält, um allzu extremen männlichen Bedürfnissen Einhalt zu gebieten. Es handelt sich um ein Tier, dass wir meist mit blutverschmiertem Kopf und ekliges Aas fressend in Erinnerung haben. Leider haben Tierdokumentationen mit solchen Bildern aus den Tüpfelhyänen keinen Sympathieträger gemacht. Ganz zu Unrecht, denn sie pflegen ein ausgesprochen beeindruckendes Sozialleben (mehr dazu in »Gemeinschaftssinn«) und haben den vielleicht merkwürdigsten Sexualakt der Säugetiere erfunden. Männliche Hyänen spielen in der Hierarchie der Hyänengemeinschaft eine geringe Rolle, sie sind oft kleiner als die Weibchen, und selbst das rangniedrigste Weibchen kann ihnen sagen, wo es langgeht.

Stärke schützt aber nicht vor Vergewaltigung, denn Männchen könnten sich zusammentun (siehe »Gangbangs«) und gemeinschaftlich vergewaltigen, eine bewährte Strategie. Bei Hyänenweibchen ist dies allerdings zwecklos, denn sie tragen einen Keuschheitsgürtel. Das gute Stück sieht tatsächlich so aus wie das gute Stück und baumelt mit Penis und Hodensack zwischen ihren Beinen. Hyänenweibchen haben aus ihrer Klitoris einen erigierbaren Pseudopenis und aus ihren Schamlippen einen mit Fettkörpern ausgefüllten Beutel gebildet.18

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Bei Hyänen haben Männchen (rechts) und Weibchen einen Penis. Bei Letzteren erfüllt er den Zweck eines Keuschheitsgürtels.

Die ganze Konstruktion braucht den Vergleich mit dem männlichen Pendant nicht zu scheuen. Auf diese Weise wurde die äußere vaginale Öffnung verschlossen. Die einzige Möglichkeit für einen Penis, seine wertvolle Fracht abzuliefern, besteht darin, erigiert in den als Hohlkörper ausgebildeten, ebenfalls erigierten Pseudopenis einzudringen. Dazu muss das Männchen von hinten fast unter das Weibchen kriechen, und beide Partner müssen ihre Penisse gut koordiniert ineinanderstecken. An diesem perfekten Vergewaltigungsschutz gibt es nur einen Nachteil: Auch die Nachkommen müssen diesen Weg nehmen. Eine Hyänengeburt ist somit eine überaus schmerzhafte Angelegenheit, und nicht selten wird der Penis dabei zerrissen und braucht Wochen, um zu heilen.

Der Penis bzw. der Pseudopenis erfüllt aber noch eine andere Funktion. Die gegenseitige Begrüßung ist bis zu einem gewissen Grad ritualisiert. Man stellt sich nebeneinander, Kopf an Po, und das rangniedere Tier hebt sein Bein, damit das dominante Tier bei ihm schnuppern kann. Als weiterer Ausdruck der Unterlegenheit ist in diesem Moment der Penis bzw. der Pseudopenis erigiert.19 Potenzprobleme können da ein echtes Problem werden.

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In einem Schlangenknäuel (mating ball) wird die Partnerwahl zum Problem.

Leichter hat es die Rotseitige Strumpfbandnatter, die in Nordamerika lebt. Ihr Keuschheitsgürtel ist ein extrem starker Muskel vor der Vagina, mit dem sie jedes Eindringen verhindert.20 Da sie auf alte Männer steht, kommt dieser Muskel nur bei jungen Männchen zum Einsatz. Wie sie das hinbekommt, ist mir allerdings ein Rätsel, denn auf ein Weibchen stürzen sich mehrere Männchen, um schließlich in einem sogenannten mating ball, also einem Schlangenknäuel, zu kopulieren. Im Gegensatz zu den meisten Reptilien, die Eier legen, gebären sie schließlich lebende Junge.

Tatsächlich gibt es aber auch konstruierte Keuschheitsgürtel aus Stroh und anderen Materialien. Sie sehen bezaubernd aus und werden überdies attraktiv dekoriert. Doch, wer hätte das gedacht, gebaut werden sie von den Männchen. Mehr dazu im Kapitel »Tierische Architekten«.

4. Gangbangs

Der eine oder andere hat vielleicht schon gesehen, wie eine arme Ente gleich von mehreren Erpeln überfallen und zum Sex gezwungen wird. Auch unter den süßen Adeliepinguinen ist es nicht unüblich, dass auf ein von der Jagd erschöpftes Weibchen an Land eine Gruppe sexlüsterner Männchen wartet. Eine Froschart (Rhinella proboscidea) im Amazonas treibt das Gruppenspiel auf die Spitze. Die armen Weibchen werden so lange bedrängt, bis sie sterben, dann hüpfen die Männchen auf ihrem Bauch herum und pressen ihre Eier heraus, die sie dann extern befruchten. Die Forscher sprechen von »Functional necrophilia«, also einer funktionellen Vergewaltigung bei Leichen.21

Doch Gruppensex muss nicht per se unangenehm sein, wie uns das Liebesleben der Bonobos zeigt. Bonobos sehen auf den ersten Blick genauso aus wie Schimpansen. Genau genommen sind es auch Schimpansen, denn die Gattung hat zwei Arten, den Gemeinen Schimpansen und den Bonobo. Er wird zu Unrecht oft Zwergschimpanse genannt, denn er ist fast genauso groß. Beide Schimpansenarten sind übrigens näher mit uns als mit den Orang-Utans verwandt, die ebenfalls zu den Menschenaffen zählen. Ein sehr einfaches Unterscheidungsmerkmal ist die Stirn. Bei Bonobos ist sie perfekt gescheitelt und im Gegensatz zu den Gemeinen Schimpansen unbehaart. Gegenüber den oft aggressiven Schimpansen gelten sie als die friedfertigen Hippies unter den Menschenaffen. Viele halten sie für Vegetarier, aber es gibt auch Ausnahmen.22 Ihr sexueller Variationsreichtum ist kaum überschaubar. Weibchen machen es mit Weibchen, Männchen mit Männchen, Weibchen mit Männchen und Jung mit Alt. Auch die Techniken sind vielschichtig, neben der Standardvariante (doggystyle) gibt es die Missionarsstellung und einige schwer zu beschreibende Varianten, bei denen man an Bäumen hängt. Es wird mit Zunge geküsst, und Oralsex ist willkommen.23 Das beeindruckendste Unterscheidungsmerkmal ist allerdings ihre Friedfertigkeit, die sie ohne Zweifel ihrem intensiven Sexleben verdanken.

Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Wanderung mit Freunden. Die Wanderung ist anstrengend, und zu allem Überfluss nerven die Freunde Ihrer Freunde mit sinnlosen Befindlichkeiten. Nun knurrt auch noch Ihr Magen, doch Sie haben Glück, die Berghütte ist schon in Sicht. Leider sind Sie, dank der Befindlichkeiten, viel zu spät, und das Buffet ist fast leer. Die Stimmung sinkt auf den Tiefpunkt. Bei den Bonobos wäre das anders. Unsere nächsten Verwandten bekämen erst mal eine Erektion, und auch bei den Weibchen wäre der erste Gedanke Sex. Unabhängig von jedweder Hierarchie würde ein entspanntes Treiben beginnen. Die Person mit den nervenden Befindlichkeiten würde sich, ihrer Belastung für die Gruppe bewusst und entsprechend der von Ihnen gezeigten Abneigung, nähern und durch eindeutige Gesten deutliches Interesse an Ihren äußeren Geschlechtsorganen bekunden. Nach dem nun folgenden Techtelmechtel ist es natürlich schwer, noch sauer zu sein, und alles ist vergeben.

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Eine Kolonie von Adeliepinguinen in der Antarktis. Kommt ein erschöpftes Weibchen zurück an Land, läuft sie Gefahr, gleich von mehreren wollüstigen Jungs überfallen zu werden.

Ganz im Gegensatz zum Gemeinen Schimpansen, bei dem es an einer Nahrungsquelle oft handgreiflich wird, teilen Bonobos nach ihrem gemeinschaftlichen Miteinander die Nahrung friedlich. Diese Verhaltensweise wurde sowohl im Freiland als auch im Zoo beobachtet.24 Außerdem konnte gezeigt werden, dass männliche Bonobos schon lange, bevor es zur Sache geht, freundlichen Kontakt zu ihrer Erwählten pflegen.25 Die Männchen bauen also zuerst eine Beziehung auf, bevor man sich auf das harte Geschäft der Reproduktion einlässt. Darüber hinaus sind bei Bonobos die Geschlechter gleichberechtigt. Es gibt kein Geschlecht, das das andere dominiert, wie es bei uns und den anderen Menschenaffenarten der Fall ist.

Uns allen ist klar, wie stark sexuell motiviertes Handeln sein kann. Ohne jeden materiellen oder sozialen Nutzen gehen selbst Menschen, trotz ihres hochentwickelten Bewusstseins und der Fähigkeit, strategisch zu denken und vorausschauend die Folgen des eigenen Handelns zu erfassen, das Risiko ein, einen anderen Menschen zu vergewaltigen. Sie tun es allein oder in Gruppen oder nur in ihrer Phantasie.

Auch die ach so lieben Delfine sind in Sachen Sex bei der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich. Aus unserer menschlichen Perspektive könnten wir ihr Verhalten sogar für extrem verabscheuenswürdig halten, denn in dieser Gattung entführen mehrere Männchen ein Weibchen, um sich, oft tagelang, mit ihm zu vergnügen. Für viele Delfinliebhaber ist es schon schwer zu verkraften, dass Delfine Raubtiere und keine Vegetarier sind, vermutlich würden sie ihre emotionale Bindung kündigen, wenn sie von diesen Gangbangs wüssten. Doch lassen wir Ethik und Voreingenommenheit einen Moment beiseite, denn um ihr Ziel zu erreichen, bilden männliche Delfine die komplexesten bisher in der Natur beobachteten sozialen Netzwerke.

Dazu müssen wir kurz ausholen, und ich muss Ihnen ein bisschen was über das Leben von Delfinen erzählen. Im Gegensatz zu Zoos und Delfinarien, in denen ein männlicher Delfin immer eine Gruppe von Weibchen dominiert, leben die Tiere im Freiland getrennt voneinander und begegnen sich saisonal nur alle paar Jahre zum Sex. Der Sex mit Delfinen des anderen Geschlechts ist bei den meisten Populationen also eher die Ausnahme als die Regel. Im Normalfall kuscheln die Mädels mit den Mädels und die Jungs mit den Jungs. Dennoch wird einmal im Jahr der Drang zur Paarung mit einem andersgeschlechtlichen Artgenossen übergroß, und die Jungs, die normalerweise als stabile schwule Zweier- oder Dreiergruppen ein Leben lang gemeinsam durch die Ozeane pflügen, bilden größere Gruppen. Mittels zahlenmäßiger Überlegenheit gelingt es ihnen, einzelne fruchtbare Weibchen aus ihren Lebensgemeinschaften herauszudrängen und für mehrere Tage zu entführen, um letztlich, einer nach dem anderen, zum Zuge zu kommen. Beleuchten wir aber kurz, wie es überhaupt zu dieser Situation, die man besonders bei der Delfinpopulation vor Westaustralien beobachtet hat, kommt.

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Gangbang unter Delfinen vor Westaustralien. Der Mangel an Weibchen hat zu dem bisher komplexesten sozialen Netzwerk im Tierreich geführt.

Delfinbabys kommen ganz ähnlich wie wir Menschen relativ dumm auf die Welt. Im Prinzip müssen sie fast alles außer Atmen und Schwimmen lernen, und so sind die Kleinen über viele Jahre auf ihre Mütter angewiesen. Nun muss man wissen, dass bei Delfinen etwa gleich viele Männchen und Weibchen geboren werden. Wenn nun aber die Weibchen mehrere Jahre mit ihren Jungtieren beschäftigt sind, fallen sie als Reproduktionspartner aus. Die potentiellen weiblichen Sexualpartner sind also entweder jung oder haben ihre Nachkommen gerade über den Berg gebracht. Auf diese Art und Weise kommen auf ein potentielles Weibchen oft fünf und mehr hochmotivierte Jungs. Mit anderen Worten: Der Konflikt ist vorprogrammiert. Nun ist der freie Ozean, anders als unser Leben an Land, ein dreidimensionaler Raum ohne Ecken und Kanten und Begrenzungen. Es ist somit zwangsläufig relativ schwer, ein einzelnes Individuum aus einer Gruppe herauszulösen, denn es gibt einfach zu viele Richtungen, in die ein Weibchen entfliehen kann. Wenn ich aber mit einer Gruppe von acht oder 15 anderen auf »Jagd« gehe, dann sehen die Chancen schon besser aus. Die lüsternen Jungs müssen also ein Team zusammenstellen, auf das sie sich verlassen können. Schließlich geht es nicht nur darum, das Weibchen erfolgreich zu entführen, nein, man muss sich auch sicher sein, dass die anderen zurückstehen, wenn man selber an der Reihe ist. Letztlich ist der eigentliche Akt weniger brutal, als wir ihn uns vielleicht unter den gegebenen Umständen vorstellen. Festhalten ist nicht, und Wasser ist wirklich sehr nachgiebig. In einem dreidimensionalen Raum ist Sex ein Akt, an dem sich beide aktiv beteiligen müssen und bei dem jede Störung zu einem erfolglosen Versuch führen kann. Ein unkoordiniertes Gedränge geiler »Böcke«, bei denen jeder Angst hat, dass der andere ihn ausbootet, ist also fehl am Platz. Ich kann und will nicht viel zu dem beteiligten Weibchen sagen, außer dass die Natur nicht unseren Vorstellungen von moralischem Verhalten folgt. Aber die Gruppenbildung der Männchen ist ausgesprochen gut und über Jahrzehnte untersucht und die veröffentlichten Ergebnisse sind mehr als eine Sensation, denn es handelt sich um den ersten Beleg einer Allianz dritter Ordnung.26 Was das genau ist, erfahren Sie im Kapitel »Facebook mal anders«.

5. Hormone, die Bewohner der Chefetage

Die Wirkung von Hormonen entzieht sich meist unserer bewussten Wahrnehmung und Kontrolle. Oft ist ihr Einfluss sogar so stark, dass wir selbst beim bewussten Erkennen nicht anders können, als uns so zu verhalten, wie wir es eben müssen. Jeder, der schon mal von PMS gehört hat, weiß, welche katastrophalen Auswirkungen ein schwankender Hormonspiegel auf Stimmung und partnerschaftliche Harmonie haben kann. Es geht aber auch schlimmer. Kalmare sind sehr friedliche Zeitgenossen. Sie schwimmen gern in Gruppen, und Aggressionen untereinander sind selten oder nicht existent. Berühren aber Männchen ein frisch gelegtes Ei, rasten sie von einem Moment zum nächsten aus. Für den abrupten Sinneswandel ist ein kleines Protein mit dem Namen b-MSP-like Pheromone verantwortlich. Es wird von den Weibchen produziert und auf die Außenhaut ihrer Eier geklebt. Kommt ein Männchen in Kontakt zu einem so präparierten Ei, ist es um seine Gelassenheit geschehen.27