Über Carola Dunn

Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.

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Welcome, Miss Daisy!

London zu Beginn der Goldenen Zwanziger: Im Naturkundemuseum wird zwischen den Knochen eines Dinosauriers eine Leiche gefunden – erstochen mit einem Feuerstein. Wie es der Zufall will, recherchiert die Journalistin Daisy Dalrymple dort gerade für einen Artikel und ist sofort bereit, bei den Mordermittlungen zu helfen. Dass sie ihren Verlobten, Inspector Alec Fletcher, damit in Erklärungsnot bringt, kümmert sie nicht, denn allmählich offenbart sich im Museum ein Skandal von unvorstellbarem Ausmaß. Und ehe sie sich versieht, ist Daisy in Lebensgefahr …

»Der Liebhaber des gepflegten Teatime-Krimis kann diesen mit Behagen schlürfen.« Die Welt

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Carola Dunn

Miss Daisy und der Mord im Museum

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Eva Riekert

Inhaltsübersicht

Über Carola Dunn

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Geschichtliche Anmerkung

Impressum

Kapitel 1

JULI 1923

Eilig stieg er die Treppe aus dem Untergeschoss empor und schloss die Tür auf, die die Besucher daran hinderte, sich in die unteren privaten Bereiche des Museums zu verirren. Er schob sie einen Spaltbreit auf und hörte Stimmen aus dem Nordsaal. Mit angespannten Nerven hielt er inne, starr wie ein Kaninchen vor der Schlange.

»Ein regelrechtes Labyrinth da unten, was, Sarge?« Der Constable war wohl gerade über die Treppe auf der anderen Seite des Saals heraufgekommen. »Ziemlich unheimlich, wie die Rohrleitungen an den Decken gluckern und wie sich die Schatten der vielen Säulen bewegen, wenn man mit der Taschenlampe daran vorbeigeht. Und alles voller Knochen und totem Zeug – brr! Wie in so ’ner Kata-Dingsbums.«

»Katakombe. Sie sollen nach Lebenden Ausschau halten, Jones. Irgendjemand unten in den Arbeitszimmern?«

»Ach was, die meisten arbeiten nicht so lange an so lauen Sommerabenden.«

»In einem der Vogel-Zimmer ist so ein Typ, der stopft einen Paradiesvogel aus. Schönes Exemplar.«

»Einer von diesen Präpa-Soundsos«, vermutete der Constable.

»-rator. Präparator. Zwei Jungs außerdem in den Bibliotheken, die Nase tief in ihren staubigen alten Büchern. Da wär ich doch lieber draußen und würde Rosenduft schnuppern.«

»Mir wäre es auch lieber, draußen auf Streife zu sein an so einem schönen Tag.«

»Auf Streife gibt’s allerdings keine Teekessel«, bemerkte der Sergeant. »Wir wollen mal einen aufsetzen. Twitchell wird gleich runterkommen.«

Ihre Stimmen verklangen, begleitet vom Klirren des dicken Schlüsselbundes, den der Sergeant trug, und dem Poltern von Polizistenstiefeln auf dem Mosaikboden, das hohl durch die weiten Räumlichkeiten des Museums hallte.

Der Lauscher zögerte. Der dritte Polizist, Constable Twitchell, würde wahrscheinlich über die Haupttreppe herunterkommen, nachdem er in den oberen Stockwerken die erste Runde der Nacht gedreht hatte. Selbst wenn es das Unglück wollte und er diese Treppe nahm, würde er sich wahrscheinlich nicht wundern über einen weiteren Spätarbeiter wie den Präparator im Vogel-Zimmer und die Lesenden in der Bibliothek. Dennoch wollte er besser nicht unnötig gesehen werden. Er blieb, wo er war, und lauschte, ob er Schritte eines dritten hören konnte. Nur sein eigener Atem rauschte in seinen Ohren. Das riesige viktorianische Gebäude verschluckte sogar den schweren Tritt dreier Polizisten und verriet nichts über ihren Verbleib. Zwei hatten wohl inzwischen den Polizeiposten am Haupteingang erreicht, aber war der dritte schon bei ihnen? Entscheidende Minuten verstrichen, während er horchte. Twitchell war doch sicherlich bereits die Haupttreppe heruntergekommen.

Auf seinen leisen Gummisohlen eilte er über die Steinstufen weiter nach oben. Jetzt wurde es ernst, zumindest insofern, als er keinen legitimen Grund hatte, das Erdgeschoss nach oben zu verlassen.

Etwas außer Atem erreichte er den ersten Stock. Sein Instinkt warnte ihn, lieber noch mal nachzuschauen, doch wenn man ihn erwischte, wie er um eine Ecke spähte, würde er sich verdächtig machen. Beherzt schritt er aus. Keine Menschenseele auf dem langen Säulengang vor ihm.

Als er sich dem oberen Ende der Haupttreppe näherte, zu dem er aber ein gutes Stück Abstand hielt, blickte er nach vorn. Aus dem Augenwinkel sah er die Umrisse einer reglosen Gestalt auf dem breiten Treppenabsatz. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Sir Richard Owen rührte sich zwar nicht, da er aus Bronze war, aber von unten aus der Haupthalle erklangen Schritte.

Schritte von schweren Stiefeln, nicht die eines der wissenschaftlichen Mitarbeiter – damit waren also alle drei Polizisten zusammen. Er war zwar versucht, sich über die Brüstung zu beugen, um sicherzugehen, dass es sich bei den Schritten um die des dritten Polizisten handelte, nicht um die eines vereinzelten Museumsangestellten, zwang sich jedoch, an der Fensterseite des Säulengangs weiterzugehen. Zwischen ihm und der verlockenden Balustrade marschierte eine stumme, starre Parade von Giraffen und Okapis auf. Nach einem Absatz von vier Zwischenstufen führte die Treppe zu seiner Rechten quer über die Haupthalle in den zweiten Stock. Das schwere schwarze schmiedeeiserne Tor zur Mineraliensammlung versperrte den Weg zu seiner Linken, während Pettigrews privates Arbeitszimmer direkt vor ihm lag. Der Leiter der Mineralogie hatte gerade seinen zweiwöchigen Jahresurlaub angetreten.

Es war eine düstere Ecke des Museums. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Umriss auf den Milchglasscheiben der Tür von der Giraffen-Sammlung und der Treppe aus nur allzu deutlich sichtbar war.

Er duckte sich unter die Glasscheiben und kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel.

Seine Entdeckung, dass der Schlüssel zum Büro des Leiters der Geologie auch zu Pettigrews direkt darüber gelegenem Raum passte, war pures Glück gewesen. Zufällig war er letztes Jahr an jenem Tag anwesend gewesen, als Dr. Smith Woodward, der mal wieder seine eigenen Schlüssel verlegt hatte, sich den von Pettigrew auslieh. Dieser glückliche Umstand hatte zu seinem genialen Plan geführt. Da der alte Herr gerne alles, was nicht direkt mit seinen geliebten Fossilien zusammenhing, vergaß, war es einfach gewesen, die Schlüssel zu entwenden und sich die nachmachen zu lassen, die er brauchen würde.

Die Schlüsselkopie machte ein quietschendes Geräusch, als er sie ins Schloss steckte, sein Herz blieb stehen. Er blickte um sich, aber nur Giraffa camelopardalis beobachtete ihn mit ihrem glasigen Blick.

Der Schlüssel drehte sich klickend. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich die unvermutet feuchte Stirn, dann drehte er mit dem Tuch den Knauf. Die Tür öffnete sich. Er trat ein und schloss sie rasch hinter sich …

… und ließ dabei doch tatsächlich den verdammten Schlüssel außen stecken.

Das war die Art von törichtem Fehler, der ihm zum Verhängnis werden konnte. Dennoch, er würde riskieren, ihn die paar Minuten stecken zu lassen. Bestimmt würde er Pettigrews Schlüssel rasch finden, sonst konnte er die Sache gleich sein lassen. Falls der Leiter der Mineralogie jedoch beschlossen hatte, den Schlüsselbund mit nach Hause zu nehmen, war der gesamte Plan geplatzt. Er steckte sein Taschentuch ein, zog seine leichten Sommerhandschuhe heraus und überblickte den weitläufigen Raum. Die beiden großen Fenster ließen trotz der Bäume davor und der späten Stunde genug Licht herein.

An einer Reihe von Haken hinter der Tür baumelte ein Seidenschal mit einem braun-blauen Paisleymuster. Leider hingen weder daneben noch unter dem Schal die Schlüssel, wie er feststellte. Links von ihm, auf einem Arbeitstisch unter dem Ostfenster, lagen diverse Werkzeuge und mindestens ein Dutzend Gesteinsproben in verschiedenen Größen und Farben, die in seinen Augen jedoch unspezifisch und unbedeutend waren. Pettigrew gefiel anscheinend der Blick auf die Bäume und die Busse, auf Hansom-Cabs, Motortaxis und Pferdefuhrwerke in der Cromwell Road, denn der erhöhte Schreibtisch, der zur offiziellen staatlichen Einrichtung gehörte, stand vor dem Südfenster. An der rechten Wand befanden sich ein Aktenschrank und ein Bücherregal.

Schreibtisch, Schrank und Bücherregal, die dem Rang eines Abteilungsleiters zustanden, waren die gleichen wie die von Smith Woodward einen Stock tiefer. Ob auch dieselben Schlüssel dazu passten, würde er gleich feststellen. Er ging auf den Schreibtisch zu, zog die mittlere Schublade auf und entdeckte Briefpapier, Kuverts, ein Heft mit Briefmarken und Löschpapier in der Größe der Briefbögen. Die erste Schublade links enthielt einen alten Füllfederhalter mit gesprungener Kappe, ein Fass mit blauschwarzer Tinte und ein weiteres mit Tusche, einen Brieföffner und anderen Kleinkram. Das Schubfach darunter war verschlossen.

Smith Woodwards Schreibtischschlüssel passte. Typisch für die Standardisierung von Staatseigentum! Das Schubfach glitt auf. Es enthielt Schlüssel in Hülle und Fülle.

Einen Moment lang starrte er hinein und konnte sein Glück kaum fassen. Da lagen sie, der große Eisenschlüssel für das gusseiserne Tor und die drei kleinen Messingschlüssel für die Vitrinen. Letztere waren sogar mit den Nummern der Vitrinen versehen, zu denen sie passten. Er wurde von einem Gefühl der Unumgänglichkeit überfallen. Alles schien sich verschworen zu haben, ihm zu helfen: die Schlüssel, die ihm in die Hand gefallen waren; Pettigrews Abwesenheit in einer Zeit, als die kurzen Sommernächte eine verräterische Taschenlampe unnötig machten; ein glücklicher Zufall nach dem anderen. Fortuna war auf Seiten der Mutigen, Klugen, Geduldigen, die zugriffen, wenn sich die Gelegenheit bot.

Lange Vorbereitung hatte diesen Abend ermöglicht, doch in den nächsten paar Stunden war Eile geboten. Er nahm die Schlüssel heraus, steckte alle außer dem großen in seine Jackentaschen, damit sie nicht klirrten, und eilte zur Tür.

Jetzt hieß es vorsichtig sein. Er hatte die Grenze überschritten; wenn man ihn erwischte, wie er, die Taschen voller Schlüssel, aus Pettigrews Büro kam, hätte er keine Ausrede und wäre geliefert. Er öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus.

Er bemerkte nichts Verdächtiges. Mit geschlossenen Augen und zur Seite geneigtem Kopf lauschte er. Sein Herz pochte laut, aber nicht das leiseste Flüstern drang von draußen zu ihm.

Die Tür öffnen, hinaustreten, leise hinter sich abschließen und den Schlüssel abziehen. Auf Zehenspitzen schlich er die langen zehn Meter zu dem Eisentor. Ein Gitter füllte den gesamten Durchgang aus. Dahinter befand sich eine zweite Tür mit einem Türblatt aus Holz und Glasscheiben, die den Blick ins Innere zum Glück einschränkten; dazu trug auch eine doppelte Reihe quadratischer Pfeiler im Raum selbst bei.

Der klobige Schlüssel drehte sich lautlos. Die gutgeölten Scharniere gaben kein Quietschen von sich. Und ebenso leicht öffnete sich die Tür. Er stand in der Mineraliensammlung.

Er warf einen langen, sehnsüchtigen Blick auf den Colenso-Diamanten, aber hundertdreißig Karat kristallisierten Kohlenstoffs waren zu auffällig, zu leicht wiederzuerkennen. Die übrigen Diamanten ließ er mit einem abfälligen Lächeln links liegen. Es waren alles Strasskopien berühmter Steine, einschließlich des ungeschliffenen Cullinan-Diamanten, eines Monstrums von über dreitausend Karat. Ohne Juwelierlinse war das schwere Bleiglas, vor Jahrhunderten von einem gewissen Herrn Strass erfunden, von den echten Diamanten praktisch nicht zu unterscheiden. Alles waren leblose Objekte, unveränderlich, langweilig, von künstlichem Wert, ein Stein mehr oder weniger wie der andere, abgesehen von der Größe. Ihr Studium brachte keinen Gewinn. Was machte es daher schon, ob die Besucher echte Edelsteine oder Fälschungen anstarrten?

Er ging weiter und öffnete eine Vitrine nach der anderen. Seine Innentaschen füllten sich mit Amethysten, Saphiren, Granaten, Topasen, Aquamarinen, Rubinen, Smaragden. Wie zuvorkommend von Sir Arthur Church, seine prachtvolle Sammlung dem Museum zu vermachen!

Bei dem Transkarpatischen Rubin zögerte er. Es war ein ungewöhnlich großer Stein, der vor einem halben Jahrhundert Berühmtheit erlangt hatte, aber nur wenige der bunten Edelsteine waren genauso berühmt wie die größten Diamanten. Doch vom Gewicht her war ein großer Rubin wertvoller als ein Diamant. Er steckte ihn ein.

Unter dem Bogendurchgang zum Meteoritensaal stand die Vitrine mit jenen Edelsteinsorten, die in der Bibel erwähnt wurden. Abergläubisch ließ er die Finger davon.

Der Hinterausgang war nicht mehr weit, und eine wenig benutzte Treppe führte direkt ins Untergeschoss. Er hatte den Schlüssel zu der Tür. Doch leider war das harmlos aussehende Holz verstärkt durch eine zweite Tür aus massivem Stahl, und nur die Polizei hatte den Schlüssel dazu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Weg zurückzugehen, den er gekommen war.

Als er durch den nördlichen Durchgang ging, blickte er von Seite zu Seite, um sicherzugehen, dass er alle Vitrinen zugemacht hatte. Hatte er das Eisentor abgeschlossen? In einem plötzlichen Anfall von Panik konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Der Constable überprüfte das Tor wahrscheinlich bei jeder seiner Runden, und er war inzwischen womöglich schon auf dem Weg nach oben, nachdem er seinen Tee getrunken hatte. Das Tor war zweihundert Meter entfernt, am anderen Ende der Galerie.

Sein erster Impuls war zu rennen. Wieder brach ihm der Schweiß aus, und er versuchte, sich zu zwingen, Ruhe zu bewahren, nachzudenken. Doch der Drang, die Sache schnell hinter sich zu bringen, obsiegte.

Mit dumpf aufschlagenden Schritten eilte er auf den Eingang zu. Die Schlüssel klirrten in seinen ausgebeulten Taschen. Verdächtig ausgebeult – es gab so viele Details, die er nicht bedacht hatte! Aber es würde zu lange dauern, Pettigrews Schlüssel in seinen Schreibtisch zurückzulegen.

Als er sich dem Eingang näherte, wurde er langsamer und blieb keuchend an einer Seite des Türbogens stehen. Er verdrehte den Hals und konnte durch die Scheibe sehen, dass das Eisentor noch geschlossen war. Kein Polizistengesicht, das ihn anstarrte. Er bückte sich unter die Glasscheiben, kroch näher und packte den Griff der inneren Tür.

Er hatte sie abgeschlossen, unnötigerweise. Verdammt, fluchte er stumm vor sich hin, was für eine Zeitverschwendung! Er kramte den Schlüssel hervor, öffnete einen Spalt, um zu horchen, griff dann hinaus und überprüfte das Eisentor.

Es war ebenfalls abgeschlossen. Die ganze Panik war umsonst gewesen. Der große Schlüssel ließ sich leicht drehen. Einen Moment später war er draußen und schloss fieberhaft die Tür und das Eisentor hinter sich ab, während er auf Stiefeltritte lauschte.

Die nächstgelegene Treppe befand sich in einer Ecke gleich neben Pettigrews Büro. Die hatte er vorhin nicht genommen, weil sie unten im Erdgeschoss direkt bei Smith Woodwards Büro endete, direkt neben dem Polizeiposten. Doch da ihm jetzt die Zeit davonlief, schloss er die obere Tür auf und schlich die enge, düstere Stiege hinunter. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er umschloss seine Taschen, damit die Schlüssel nicht klapperten. Im Erdgeschoss trennten ihn nur eine Wand und ein bis zwei Meter von der Polizeistube.

Als er schließlich im Untergeschoss ankam, im Dämmerlicht unter den gurgelnden Rohrleitungen, lehnte er sich erschöpft an die Ziegelmauer und wischte sich über die Stirn. Diese nervtötende Treppe würde er nie wieder benutzen.

Nur noch ein kleines Stück bis zur Mitarbeitergarderobe, und er war in Sicherheit. Er hatte seinen Hut und sein Aktenköfferchen dort zurückgelassen. Von jetzt an war er nichts als ein Angestellter, der Überstunden gemacht hatte und nun auf dem Heimweg war.

Wie an jedem anderen Tag verließ er das Museum durch eine Tür am Ende des Untergeschosses. Da diese Tür der übliche Personaleingang war, hatte sie ein gewöhnliches Sicherheitsschloss. Jeder Angestellte besaß einen Schlüssel dazu. Durch die Arkaden ging er in Richtung Queen’s Gate, dann wandte er sich nach Süden zur South Kensington U-Bahn-Station. An der Durchgangssperre zeigte er seine Dauerkarte, verschwand nach unten und fing zu laufen an, als ein unterirdisches Rumpeln das Einfahren eines Zuges ankündigte.

Als er die Schlucht mit den Bahnsteigen erreichte, die sich nach oben zum sich verdunkelnden Himmel öffnete, wandte er sich automatisch der Linie nach Westen zu.

Da fiel ihm ein, dass er ja nicht nach Hause fahren durfte. Dort hatte er gesagt, er sei zu einem Vortrag in Cambridge eingeladen, und es wäre einfacher, dort zu übernachten. Er machte kehrt und ging auf den Bahnsteig zu, an dem die Bahnen in östliche Richtung fuhren. Der erste einfahrende Zug war zwar die Inner Circle Line, aber er bestieg ihn trotzdem. Je eher er aus dem Umkreis des Museums entkam, desto erleichterter würde er sein. An der Mark Lane konnte er in die District Line nach Whitechapel umsteigen.

Rosige Morgenröte färbte den rußigen Londoner Himmel, als er nach Kensington zurückkehrte. Er war müde und hungrig – in den belebten Straßen von Whitechapel hatte er das Gefühl gehabt, unter den jüdischen Bewohnern schon genug aufzufallen, und sich nicht in eines ihrer Cafés gewagt, um etwas zu essen. Außerdem musste er sich beeilen. Schon sehr bald würde eine Armee an Reinigungsmännern eintreffen, um zu fegen, zu schrubben, Staub zu wischen und zu polieren. Davor musste er wieder fort sein.

Eile und Schlafmangel durften allerdings nicht zu Fahrlässigkeit führen, ermahnte er sich, auch wenn er sich durch zu vorsichtige Zurückhaltung nicht aufhalten lassen konnte. Wenn er gesehen wurde, gab es keine vorstellbare Ausrede, die seine Anwesenheit zu dieser morgendlichen Stunde erklären würde.

Er schlüpfte durch die Tür im Untergeschoss und machte sich zum Westflügel auf, wo Treppen bis in den zweiten Stock führten. Von dort war es am sichersten, jetzt zur Morgenstunde in den Haupttrakt zu gelangen. Der Constable, der oben Wache hielt, würde bald damit beschäftigt sein, die Reinigungsmänner im Auge zu behalten. Zu dieser ausgestorbenen Zeit würde man ihn wahrscheinlich bei seinen Kollegen am Polizeiposten im Erdgeschoss antreffen, wo sie sich mit Unmengen von Tee wach hielten. Falls er ab und zu eine Runde drehte, würde er sich vielleicht nicht mal die Mühe machen, über den ersten Stock hinaus zu gehen.

Die Säugetier-Galerie im zweiten Stock war in dem trüben Morgenlicht ein unheimlicher Ort. Die Gorillas, die in einem künstlichen Dschungel lauerten, wirkten wie sprungbereit. Ein oder zweimal hätte er schwören können, dass ein Schimpanse oder ein anderer Affe den Kopf nach ihm umdrehte, während er müde vorbeistapfte.

Die menschlichen Skelette auf der anderen Seite jagten ihm Schauer von Urängsten über den Rücken. Wenn sogar ihm so davor graute, sagte er sich, dann würde ein ungebildeter Kerl wie ein Polizist die Sammlung wohl kaum unnötigerweise betreten, bis das helle Tageslicht die Gespenster verscheuchte.

Die ausladende Marmorstatue von Sir Joseph Banks, die am Kopf der Haupttreppe Wache hielt, war dagegen eine vergleichsweise freundliche Gestalt. Im Schatten von Sir Joseph blieb er stehen und horchte.

Die riesige Massivität des Gebäudes, die den Schall verschluckte, lastete inzwischen drückend auf seinen Nerven. Er hatte das Gefühl, ein Polizist könnte plötzlich leise hinter ihm auftauchen und ihm auf die Schulter klopfen, ehe er überhaupt dessen Anwesenheit bemerkte.

Totaler Quatsch! Polizistenstiefel konnte man über hundert Meter weit hören, ermahnte er sich. Er ging zum Treppenabsatz hinüber und starrte in die schattige Tiefe. Nichts rührte sich.

Selbst wie ein Schatten, schlich er hinunter und wandte sich auf halber Treppe nach rechts. Weitere Affen beobachteten ihn, ein Terrakotta-Rudel, das auf dem Steinbogen über der Treppe herumturnte und ihn stumm ankeifte.

Zwanzig Minuten später nahm er dieselbe Route zurück und verließ das Gebäude über die Tür im Untergeschoss.

Den Reinigungsmännern, die die Vitrinen in der Mineraliensammlung polierten, während jede ihrer Bewegungen von dem diensthabenden Constable scharf beobachtet wurde, fiel nichts Unstatthaftes auf. Genauso wenig wie den Besuchern, die später umherwanderten und unter Oohs! und Aahs! die Diamanten und Saphire bewunderten, ehe sie sich zu den Meteoriten aufmachten.

Kein Wunder, es fehlte ja nichts. Noch nicht.

Das alles war Montagnacht und Dienstagmorgen geschehen. Am folgenden Freitag begab er sich nach der Arbeit wieder nach Whitechapel, um zu überprüfen, ob alles nach Plan lief.

Zufrieden kehrte er erst wieder am übernächsten Freitag dorthin zurück, an einem glücklicherweise sonnigen, wenn auch kühlen und windigen Tag. Er machte sich um die Mittagszeit mit seinem Aktenköfferchen vom Museum auf, als wolle er seine Mittagsbrote in der Grünanlage Kensington Gardens verspeisen. Nur dass sein Koffer an diesem Tag keine Brote enthielt. Er war mit Banknoten vollgestopft, mit jedem letzten Penny seiner Geldreserven.

Er saß in der U-Bahn, die ratternd unter dem West End und der City dahinzuckelte, und fragte sich, ob er verrückt war. Er konnte noch umkehren, ein neues Sparkonto bei der Post eröffnen und seine paar Hunderter wieder einzahlen. Keiner würde jemals erfahren, was er bisher gemacht hatte und was er an diesem Abend tun würde.

Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, die Hoffnung aufzugeben. Nicht, nachdem er schon über die Hälfte des Preises bezahlt hatte und nachdem inzwischen keine Chance mehr bestand, das Geld zurückzubekommen.

Abgesehen davon war das, was er am Abend erledigen musste, nicht riskanter als das, was er bereits vollbracht hatte – wenn nicht sogar weniger gefährlich. Er war schlauer als die Polizisten, schlauer als die Museumsoberen, schlauer als Pettigrew. Er besaß den dreisten Wagemut, seinen Plan durchzuziehen, hatte die Geduld, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, um seine Spuren zu verwischen.

Pettigrew kam jedes Mal mit Unmengen von Gesteinsproben aus seinem Urlaub zurück. Bis er sie gründlich untersucht hatte, interessierte ihn das, was bereits klassifiziert, katalogisiert, beschriftet und weggeschlossen war, überhaupt nicht. Wochen, wenn nicht Monate würden vergehen, ehe er entdeckte, dass die Edelsteine in seinen Vitrinen alle genauso unecht waren wie der Cullinan-»Diamant«.

In Whitechapel verließ er die Bahn und stieg hinauf in die laute, anonyme Straße. Die Strass-Kopien waren fertig. In seinen Augen sahen sie genauso gut aus wie die echten Edelsteine. Nachdem er – an jenem Abend vor zwei Wochen – die Originale abfotografiert, genauestens vermessen und die Farben mit Dutzenden von Mustern abgeglichen hatte, schwor der alte Mann, dass er perfekte Kopien hergestellt hatte.

»Bekommen Sie nirgends bessere Qualität«, behauptete er. »Wenn diese Steine werden in schöne Fassungen gesetzt, nur ein Experte kann Unterschied entdecken. Ihre Frau wird mit Stolz tragen. Wenn Sie wollen, Sie bekommen Adresse von meinem Cousin, kann machen Ringe, Halsketten, Armbänder, was Sie wünschen?«

»Nein, danke!« Er legte sein Köfferchen auf die Arbeitsfläche und klappte es auf. »Meine Frau hat schon ihren Lieblingsjuwelier. So, bitte sehr.«

Durch seine dicke Brille beobachtete der alte Mann, wie er jeden einzelnen Schein auf den Tisch zählte. Dann verpackte er jede seiner Kreationen zärtlich in separaten kleinen Lederbeuteln. Der Tausch war vollbracht. Eine weitere Hürde genommen.

Er wartete lange, bis er sicher war, dass selbst der eifrigste seiner Kollegen gegangen war. Es ließ sich nicht ändern, dass er somit noch größere Probleme hätte, zu erklären, warum er immer noch im Museum war. Er durfte keinesfalls gesehen werden! Diesmal musste er die Schlüssel in Pettigrews Schreibtisch zurücklegen. Gewiss waren die Götter auf seiner Seite.

Als er die Mineraliensammlung verließ, rührte sich nichts bei den Giraffen und Okapis. Nichts bewegte sich auf den Treppen. Keine Schritte hallten durch die Gemäuer. Er wandte sich nach links und eilte auf das Büro des Leiters der Mineralogie zu.

Den Schlüssel, der gequietscht hatte, hatte er zu einem Schlosser gebracht, um ihn nachfeilen zu lassen. Jetzt drehte er sich im Schloss so lautlos wie ein Löffel in einem weichgekochten Ei. Für die gesamte Aktion im Büro benötigte er nur neunzig Sekunden.

Er hatte vor, an den Giraffen vorbei über die Hintertreppe im Nordflügel zu verschwinden, doch als er auf der Höhe der Haupttreppe zum zweiten Stock war, entschied er sich um. Wenn er entdeckt werden sollte, dann so weit entfernt von der Mineralien-Galerie wie möglich. Sicherer würde es sein, auf die andere Seite der Haupthalle zu gehen. Die Treppen, die die Halle unter ihm überspannten, lockten ihn zwar, aber er widerstand – viel zu freiliegend. Er kehrte um, vorbei an dem Eisentor und Pettigrews Büro, am Eingang zu den Niederen Säugetieren: alle ausgestopft, vom Ameisenbär bis zum Zebra.

Die Treppe tauchte jetzt zu seiner Rechten auf und vor ihm führten vier Stufen hinunter in die Abteilung Britischer Nistvögel.

Ein Schatten bewegte sich. Sein Herz blieb stehen.

»Ich hab nich’ geschlafen, Sir«, beteuerte eine belegte Stimme. Auf den Stufen rappelte sich ein beleibter Polizist aus dem Sitzen hoch. Der etwas betagte Mann blinzelte erschrocken, während er näher kam, und zog seine Uniformjacke zurecht. »Nur mal kurz die Beine ausgeruht. Die Knie tun’s nicht mehr so recht.«

»Von mir erfährt keiner was, Officer.« Er musste sich anstrengen, die Worte hervorzubringen, so zugeschnürt war seine Kehle. Sein einziger Gedanke war, sich davonzumachen, ohne etwas zu tun, das ihn dem Mann im Gedächtnis bleiben ließ. Mit abgewandtem Gesicht und ohne zu hasten ging er zwischen den Vitrinen weiter, von wo ihn glasige Kiebitz- und Taubenaugen beobachteten. Der Polizist würde doch bestimmt annehmen, dass er aus der Galerie der Niederen Säugetiere gekommen war oder vielleicht auch die Treppe herunter aus dem zweiten Stockwerk. Wie auch immer, der Kerl würde wohl nicht erwähnen, dass er ihn gesehen hatte, aus Angst, dass sein unerlaubtes Nickerchen sonst ans Tageslicht kam.

Die Tür zum Treppenhaus schloss sich hinter ihm. Er rannte die Stufen hinunter, weiter ins Untergeschoss. Noch benommen vom Schlaf und in seinem hohen Alter, würde der Constable sich nicht erinnern, wen er gesehen hatte – wahrscheinlich hatte er ihn nicht mal erkannt. Die Polizisten, die ins Naturkundemuseum abgestellt waren, konnten nicht jeden Angestellten kennen. Kein unerwarteter Ausruf würde den Mann an den Vorfall erinnern, denn dass die Edelsteine durch Imitate ersetzt worden waren, würde eine Ewigkeit nicht entdeckt werden. Sollte zumindest nicht entdeckt werden.

Er zwang sich, langsamer zu gehen. Der düstere Korridor kam ihm endlos vor. Endlich erreichte er die noch dunklere Höhle mit den Pfeilern, die unter dem Ostflügel lag. Er hatte sie halb durchschritten, als er die schweren Schritte von Polizeistiefeln vernahm, die stampfend näher kamen.

Er verschwand hinter einem Pfeiler und harrte stocksteif aus. Ein turnusmäßiger Rundgang? Oder hatte der Constable von oben seine Anwesenheit gemeldet?

Der Officer kam keine zehn Meter von ihm entfernt vorbei. Er schwang eine elektrische Taschenlampe, deren Strahl die dunkelsten Ecken erkundete. Wenn das eine Suchaktion war, dann war sie alles andere als systematisch – aber dennoch besorgniserregend.

Mit hämmerndem Herzen und feuchten Handflächen drückte er sich an die Steine des Pfeilers. Angenommen, der alte Mann hatte doch Verdacht geschöpft und seine Kollegen in der Haupthalle alarmiert; angenommen, sie stellten einen Wachposten an den Ausgang des Untergeschosses? Er wagte es nicht, das Gebäude mit den Edelsteinen zu verlassen.

Er würde sie besser über Nacht in seinem Büro einschließen und morgen Mittag mitnehmen, am Ende des verkürzten Arbeitstags am Samstag, wenn er einer unter vielen davonströmenden Angestellten war.

Nein, zu Hause wollte er sie nicht aufbewahren. Er wusste nicht, wie lange es dauern würde, einen Käufer zu finden, und sobald die gefälschten Steine entdeckt wurden, durchsuchte die Polizei möglicherweise die Wohnungen der Angestellten. Und wenn der Diebstahl dennoch vor morgen Mittag entdeckt wurde, was dann? Es wäre sicherer, die echten Steine irgendwo im Museum zu verstecken, bis sich der Aufruhr legen würde. Wenn sie gefunden werden sollten, gab es nichts, was sie mit ihm in Verbindung brachte.

Der Taschenlampenstrahl entfernte sich hüpfend, die Schritte verklangen. Als er den Atem ausstieß, den er unbewusst angehalten hatte, fiel ihm die Antwort ein.

Perfekt! Er konnte die Juwelen morgen früh verstecken, ehe das Museum für Besucher öffnete, und keiner, der ihn sah, würde fragen, was er da machte. Keinem würde es einfallen dort zu suchen, egal, wie lange er sie dort ließ. Sobald der rechte Moment gekommen war, konnte er sie ohne Mühe abholen.

Er hätte nie an sich zweifeln sollen. Nicht nur sein Plan war genial, nein, er war auch ganz gut in der Lage, genial zu improvisieren, wenn es nötig war. Er würde sie alle an der Nase herumführen.

Kapitel 2

AUGUST 1923

Durch grauen Nieselregen spähte Daisy die Brompton Road entlang in Richtung Knightsbridge. Sie glaubte spüren zu können, wie ihre kurzgeschnittenen Locken in der feuchten Luft noch welliger wurden, obwohl sie zum Schutz einen blauen Glockenhut trug und einen ebenso glockenartigen roten Schirm in der Hand hielt.

Zwischen den Bierkutschen und Pferdefuhrwerken, Taxis und Pferdedroschken, den von Chauffeuren gesteuerten Automobilen und den durchnässten Botenjungen auf Fahrrädern ragten mindestens ein halbes Dutzend Autobusse hervor. Wie Honigbienen stürzten sie sich auf die Trauben von Menschen an den Haltestellen, die anscheinend wie Blumen mit Nektar auf sie wirkten.

Eine Linie 30 kam auf die Ecke, an der sie stand, zugefahren, dicht gefolgt von einer Linie 96. Sie trat zurück, um aussteigenden Fahrgästen Platz zu machen.

Ah, da war ja Linie 74! Daisy eilte darauf zu. Alec hatte ihr versichert, dass seine Tochter Belinda mit ihren neun Jahren absolut in der Lage war, zusammen mit Derek von St. John’s Wood nach Kensington zu fahren, aber Daisy war trotzdem besorgt. Die Kinder mussten nicht umsteigen, das war richtig. Doch da sie selbst auf dem Land aufgewachsen war und bei ihren gelegentlichen Besuchen in London ausschließlich Züge und Taxis benutzt hatte, erinnerte sie sich daran, wie unsicher sie gewesen war, als sie die erste Zeit in der Stadt lebte und sich mit den Verkehrsmitteln zurechtfinden musste.

Der 74er hielt. Drei oder vier Leute stiegen aus, wobei der Schaffner einer älteren Dame half, die auf dem Gehweg stehen blieb und damit kämpfte, ihren schwarzen Schirm zu öffnen. Daisy unterdrückte den Impuls, ihr zu helfen, und wandte sich an den Fahrer. »Ich will zwei Kinder abholen, zwei Neunjährige. Ein kleines Mädchen mit roten Zöpfen –«

»Tante Daisy!« Derek polterte die Wendeltreppe herunter. »Tante Daisy, stimmt es, dass ein Herr als Erster die Treppe hinuntergehen soll?«

»Ja.«

»Hab ich dir doch gesagt!« Belinda kam hinter ihm hergetrappelt.

»Und dann dreht er sich um und hilft der Dame auf die Straße«, sagte Daisy.

»Ach so!« Ihr Neffe, der bereits auf dem Gehweg stand, drehte sich um, packte Bels Hand und zerrte sie aus dem Bus.

Belinda landete zwar sicher, hatte aber etwas auszusetzen. »So doch nicht, Dummi!«

»Nicht ganz so«, setzte Daisy lachend hinzu. »Das üben wir später, aber jetzt kommt erst mal mit. Ich habe eine Verabredung mit dem Leiter der Geologiesammlung. Versucht euch mal beide mit mir unter meinen Schirm zu quetschen. Warum habt ihr euch denn nur bei diesem Regen oben in den offenen Teil gesetzt?«

»Man kann besser sehen«, sagte Belinda altklug, und Derek setzte hinzu: »Es macht mehr Spaß. Außerdem regnet es ja nicht stark, es ist Sommer – und ich bin fast gar nicht nass. Aber ich werde gleich durchweicht sein, wenn wir alle versuchen, unter diesem Schirm zu gehen, weil es mir davon in den Nacken tropft. Teilt ihr zwei Damen ihn doch«, sagte er großzügig. »Und das da nehme ich dir mal ab, Tante Daisy. Was ist es?«

»Ein Stativ für den Fotoapparat. Sei vorsichtig, ja? Es gehört Lucy.«

Der Bus fuhr weiter die Fulham Road entlang. Der Verkehrspolizist auf der Kreuzung hielt den Verkehr mit weißen Handschuhen und Trillerpfeife an, und sie überquerten die Straße in Richtung Brompton Oratory. Belinda, in London geboren, machte Derek, der auf dem Land aufgewachsen war, darauf aufmerksam.

»Es ist so ’ne Art Kirche«, erklärte sie sachkundig, »katholisch, glaube ich. Und das große Gebäude daneben ist das Victoria and Albert Museum. Wir waren mit der Schule drin. In dem Museum, nicht in der Kirche. Hast du darüber nicht auch mal was geschrieben, Tante Daisy?«

»Ganz richtig«, versicherte Daisy ihrer zukünftigen Stieftochter. »Ich schreibe doch eine ganze Artikelserie über Londoner Museen, für eine amerikanische Zeitschrift.«

Während sie die Cromwell Road entlanggingen, vorbei an der rußigen Kirche im italienischen Stil und an dem Museum im Baustil der Neorenaissance, hörte sie dem Geplapper der Kinder zu. Dereks Aufenthalt bei den Fletchers schien gut zu verlaufen, auch wenn Belindas Großmutter gewisse Vorbehalte gegenüber seiner Tante hatte.

Darin war sich die alte Mrs. Fletcher mit Daisys Mutter, der verwitweten Lady Dalrymple, überaus einig: Beide missbilligten zutiefst, dass die Tochter eines Viscounts einen Detective Chief Inspector aus der Mittelschicht heiratete. Daisy hatte den Verdacht, dass auch Alec gelegentlich Bedenken hegte und befürchtete, sie könne es irgendwann bereuen, in einen anderen Stand zu heiraten.

Sie selbst hatte keinerlei Zweifel. Sie war eine berufstätige Frau. Nachdem ihr Vater bei der großen Influenza-Epidemie gestorben war – genau wie Belindas Mutter – und ihr Bruder in den Schützengräben von Flandern gefallen war, hatte sie sich entschieden, dem Vetter, der den Titel und das Anwesen in Gloucestershire geerbt hatte, nicht auf der Tasche zu liegen. Und nichts konnte sie dazu bewegen, mit ihrer Mutter im Dower House zu leben. Sie und Lady Dalrymple hatten sich seit Ewigkeiten nicht gesehen. Also kümmerte sich die Honourable Daisy Dalrymple selbst um ihren Lebensunterhalt, und an diesem Morgen hatte sie eine geschäftliche Verabredung.

»Kommt schon, ihr zwei, nicht trödeln.«

Sie überquerten die Exhibition Road. Hinter dem Eisenzaun erhoben sich die lange Fassade und die Türme des Naturkundemuseums. Das rußgeschwärzte Gebäude war reich versehen mit verwitterten Steinfiguren und verziert mit kunstvollen Friesen und Maßwerk um die Fenster – steinerne Nachbildungen der Flora und Fauna aus aller Welt. Auf den Dachtraufen saßen garstige Wasserspeier, und zwischen den Fenstern im obersten Stockwerk standen Tierstatuen.

Beim Erklimmen der Stufen zum Eingang fragte Belinda: »Können wir uns die Vögel und Schmetterlinge bitte ansehen, Daisy?«

»Schmetterlinge!«, stöhnte Derek. »Wir haben Unmengen von Vögeln und Schmetterlingen zu Hause. Typisch Mädchen! Du wärst genauso wie alle anderen, wenn dein Vater nicht Detective bei Scotland Yard wäre. Du hast doch gesagt, dass es hier Dinosaurier und Wale gibt. Wer will sich schon Schmetterlinge angucken, wenn’s Dinosaurier und Wale gibt?«

»Es gibt auch alle möglichen Arten von ekligen Insekten«, klärte ihn Bel auf. »Solche, wie Jungs sie mögen.«

»Ihr habt genug Zeit für alles«, versprach Daisy. »Ihr könnt ohne mich losziehen, aber bleibt zusammen. Geht zuerst zu den Schmetterlingen, dann treffen wir uns um Viertel vor eins in der Dinosaurier-Galerie. Ich spendiere euch im Museumscafé ein Mittagessen.«

»Mensch, ehrlich?«, hauchte Belinda mit glänzenden Augen. »Fabelhaft!«

Derek, für den Restaurantbesuche nichts Ungewöhnliches waren, wenn ihn seine Eltern an seiner Privatschule besuchten, war weniger beeindruckt. »Gut«, sagte er nur kurz, was ganz untypisch für ihn war, dann nahm er seine feuchte Mütze ab und steckte sie in die Tasche, während sie zwischen dem rauschebärtigen Darwin und dem backenbärtigen Huxley hindurchgingen, die in marmorner Würde auf ihren Sockeln thronten.

»Bel, schau mal, da klettern Affen aus Stein an den Säulen hoch.«

»Ja, bis ganz nach oben und über den Bogen«, sagte Belinda. »Komm mit, von hier kannst du sie sehen.«

»Tatsächlich!« Derek fiel fast hintenüber, weil er den Hals so streckte, um an die Gewölbedecke zu blicken, die teils aus Glas, teils aus blumenbemalten Holzpaneelen bestand und sich rund zwanzig Meter über ihnen erhob. »Junge, ist das hoch!«

Wie eine Mischung aus einer Kathedrale und einem großen Bahnhof, fand Daisy, wenn auch immerhin nicht so schmutzig wie Letzterer.

Die allgegenwärtigen Steinfiguren im Inneren hatten den Honigton von Cotswold-Gestein, das schiefergrau gemasert war und zu der faltigen Haut des afrikanischen Elefanten passte, der sich in der Mitte der Halle erhob. Derek musste den Elefanten voller Bewunderung umrunden. Dann machten sich die Kinder zum Westflügel auf, um auf Vogel- und Schmetterlingsjagd zu gehen, während Daisy beim Leiter der Geologie vorstellig wurde.

Dr. Smith Woodwards säuberlich gestutzter Bart konnte es mit Darwins prachtvoller Struppigkeit nicht aufnehmen. Der kleine ältere Herr, der beinahe kahl war, sah von seinem mit Papieren bedeckten Schreibtisch auf und blickte Daisy einigermaßen verwirrt durch seinen Kneifer an. »Miss …?«

»Dalrymple. Daisy Dalrymple. Ich bin Journalistin.«

»Ah ja.« Das Schriftstück, das er gelesen hatte, noch in der linken Hand, umrundete er den Schreibtisch, um ihr die Rechte entgegenzustrecken. Er hinkte beim Gehen etwas, ein Andenken – so vermutete Daisy – an eine seiner abenteuerlichen Expeditionen auf der Jagd nach Fossilien.

Ehe sie angerufen hatte, um einen Termin zu vereinbaren, hatte Daisy angenommen, dass sich Geologie mit Steinen und dergleichen befasste, wie sie ihrer Mitbewohnerin Lucy anvertraut hatte. Das Mädchen an der Zentrale des Naturkundemuseum klärte sie auf, dass Steine und dergleichen dem Leiter der Mineralogie unterstanden und dass es in der Geologieabteilung nur um Fossilien ging.

»Ich bin erfreut, eine junge Dame kennenzulernen, die sich für Paläontologie interessiert.« Woodward sprach mit leicht nordenglischem Zungenschlag. »Ich muss mich selbst dafür loben, entscheidend daran beteiligt gewesen zu sein, dass Frauen in die Geological Society aufgenommen werden. Es war immerhin eine Dame, Mrs. Mantell, deren Entdeckung von Iguanodon-Zähnen zu einer der ersten wichtigen Studien an Dinosauriern geführt hat, und Mary Anning fand die ersten Plesiosaurier und Ichthyosaurier. Was kann ich für Sie tun?«

Daisy hatte das Museum bereits ausgekundschaftet und ihren Artikel entworfen, der sich an amerikanische Reisende richten sollte, die in London einen freien Nachmittag ausfüllen wollten. Jetzt hatte sie nur noch ein paar Fragen und wollte um Erlaubnis bitten, Fotos von den eindrucksvolleren Ausstellungstücken zu machen.

Dr. Smith Woodward, offensichtlich verliebt in sein Fachgebiet, beantwortete ihre Fragen mit einer solchen Flut an Informationen, dass Daisy Mühe hatte, alles in ihrer selbstentwickelten Version der offiziellen Pitman-Stenographie mitzuschreiben.

Besonders leidenschaftlich sprach er von dem Schädel des Piltdown-Menschen, Eoanthropus dawsoni, wie er ihn nannte. Überzeugt davon, dass Daisy unbedingt ein Foto machen wollte, führte er sie in die Abteilung der fossilen Säugetiere. Daisy bemühte sich nach Kräften, begeisterte Zustimmung zu murmeln. In ihren Augen war das umstrittene Relikt jedoch nicht mehr als das Bruchstück eines bräunlich verfärben Knochens.

»Ich werde natürlich darauf eingehen«, sagte sie zögernd, »aber ich fürchte, eine Fotografie würde wahrscheinlich nicht so recht – »

»Sie schwärmen wohl mal wieder von Ihren moderigen alten Knochen, was, Woodward?«, dröhnte die Stimme einer sich nähernden Gestalt, eines großen, kompakten Mannes, der durch die Ausstellung stiefelte, als gehöre ihm hier alles, wobei er die Besucher, die ihm in den Weg kamen, auseinanderfegte wie ein Windstoß das Herbstlaub.

Smith Woodward stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus.

»Sie sollten sie in Frieden verrotten lassen«, sagte der Neuankömmling verächtlich und beäugte Daisy interessiert, »statt so zu tun, als hätten sie eigene Persönlichkeiten. Alles Unsinn, wenn Sie mich fragen.«

»Das habe ich nicht«, stellte der Leiter der Geologie missmutig, aber würdevoll fest. Da der Mann keine Anzeichen machte, weiterzugehen, fuhr Smith Woodward schicksalsergeben fort: »Miss Dalrymple, darf ich Ihnen den Leiter der Mineralogie vorstellen, Dr. Pettigrew. Miss Dalrymple schreibt einen Artikel über das Museum.«

»Sie will doch sicher nicht über muffige alte Fossilien schreiben, altes Haus. Damit verschwendet sie ihre Zeit – und die Ihre. Edelsteine, daran sind die Damen interessiert. Sie wissen wahren Wert nämlich zu schätzen. Im Moment bin ich auf dem Weg zum Direktor, Miss Dalrymple, aber in einer halben Stunde werde ich oben in meinem Büro sein. Besuchen Sie mich, dann zeige ich Ihnen Edelsteine, die von königlichem Wert sind.«

»Danke, heute Nachmittag, wenn ich darf?« Für Daisy ging das Geschäftliche vor, auch wenn ihr der ungehobelte Leiter der Mineralogie sofort unsympathisch war. »Heute Vormittag befasse ich mich erst einmal mit Fossilien. Ehrlich gesagt finde ich diese alten Knochen durchaus faszinierend.«

»Nun gut, das ist Ihre Sache, Verehrteste.« Mit einem abfälligen Lachen machte sich Pettigrew davon.

Daisy und Mr. Smith Woodward wechselten einen Blick.

»Danke«, sagte der Leiter der Geologie schlicht. »Ich fürchte, Mr. Pettigrew hat mehr Achtung vor irdischen Werten als vor dem Wert reiner Wissenschaft.« Er seufzte. »Ich nehme an, dass die Mammuts und die größeren Reptilien sich am besten für Ihre Fotos eignen. Lassen Sie uns nach den zuständigen Kuratoren suchen. Ah, da ist ja auch schon Witt.«

Weiter hinten in der Galerie standen zwei Männer innerhalb der Seile, mit denen eines der Mammutskelette abgesperrt war. Einer war klein und dürr, das Gesicht umrahmt von einem fransigen, gelblichen Kinn- und Lippenbart, die Krawatte saß schief. Er sprach eifrig und wild gestikulierend auf seinen Begleiter ein, wobei er ständig seine Hornbrille hochschob, die ihm über die Nase rutschte.

Der andere – jünger, größer, eher schlank denn dürr und flott gekleidet – schien mit gelassener Höflichkeit zuzuhören. Doch als sich Daisy und Smith Woodward dem Paar näherten, hatte sie den Eindruck, eine Spur von Belustigung auf dem ernsten, eindeutig gutaussehenden Gesicht zu entdecken.

»Ah, Witt, haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte Smith Woodward. Beide Männer wandten sich um.

»Gewiss, Sir«, sagte der Jüngere höflich. Seine Stimme verriet den reinsten Public-School- und Oxbridge-Akzent. »Mr. ffinch-Brown überlässt mir einige Feuersteine für ein paar Experimente. Entschuldigen Sie mich kurz, ffinch-Brown.«

»Miss Dalrymple, das ist Calvin Witt, unser Kurator der fossilen Säugetiere.« Smith Woodward erläuterte Daisys Projekt. »Ihr Artikel bringt uns mit Sicherheit Besucher aus Amerika, daher wünsche ich, dass sie jegliche Unterstützung bekommt. Und wenn Sie ihre Fragen beantwortet haben, seien Sie so freundlich und bringen Sie sie zu Mr. Steadman.«

Witt neigte bestätigend den dunklen, gepflegt frisierten Kopf. Dr. Smith Woodward entfernte sich und fing gebeugten Hauptes wieder in dem Schriftstück zu lesen an, das er immer noch in der Hand hielt. Dabei achtete er nicht auf die Menschen um ihn herum, die ihm eilig aus dem Weg gingen.

»Er wird bestimmt wieder stürzen«, sagte Witt etwas genervt, aber fürsorglich. »Und sich höchstwahrscheinlich den anderen Arm oder das Bein brechen.«

»Ist das der Grund für sein Hinken?«, fragte Daisy enttäuscht.

»Ein Zusammenstoß mit einem Schaukasten. Wollte sich nicht die Zeit nehmen, ins Krankenhaus zu gehen, und bestand darauf, den Bruch selbst zu verarzten.«

»Gute Güte!« Als sie sah, wie der finster blickende ffinch-Brown den Mund öffnete, fuhr Daisy rasch fort: »Ich möchte Ihre Unterredung nicht unterbrechen, Mr. Witt.«

»Wir sind eigentlich durch, Ma’am, nicht wahr, ffinch-Brown? Ich glaube, ich habe nur zu gut verstanden, was ich unternehmen soll.«

»Sicher? Gut, gut.« Der kleine Mann rieb sich die Hände. »Ich schaue regelmäßig vorbei, um zu sehen, wie Sie zurechtkommen.«

Unmut legte sich wie ein Schatten über Witts Gesicht.

»Es wird etwas dauern, ehe man Resultate sieht«, sagte er.

»Warum sollte es?«, wandte ffinch-Brown ein und fing wieder an, mit den Händen zu fuchteln. »Schließlich müssen die Jäger recht schnell zu Werke gegangen sein.«

Daisy ahnte, dass sie eine ganze Weile auf Witts ungeteilte Aufmerksamkeit würde warten müssen, und außerdem war ihre Neugierde angestachelt. »Erzählen Sie doch mal, welche Experimente Sie vorhaben«, bat sie.

»Darf ich Ihnen Mr. ffinch-Brown vorstellen?«, sagte Witt und ergab sich in sein Schicksal. »Er ist vom Britischen Museum, von dem wir ja nur eine Niederlassung sind. Mr. ffinch-Brown ist Anthropologe. Er will die Kerben untersuchen, die die Waffen primitiver Jäger an den Knochen erlegter Mammuts hinterlassen haben, indem er sie mit Kerben vergleicht, die heutzutage an Fleischerknochen entstehen.«

»Witt weigert sich, mir auch nur einen einzigen seiner eingekerbten fossilen Knochen zu leihen.« Mr. ffinch-Brown gab sich keine Mühe, seine Verstimmung zu verbergen, sondern machte ein finsteres Gesicht, und sein Schnauzbart sträubte sich geradezu.

»Mein Verehrter, wir sind doch schon übereingekommen, dass Fossilien viel seltener sind als Feuersteine, und zudem auch noch brüchig.« Er lächelte Daisy zu. »Wie dem auch sei, Miss Dalrymple ist sicher nicht daran interessiert, uns zuzuhören, wie wir unsere Auseinandersetzung erneut durchkauen. Ich habe Ihnen doch versprochen, Ihre Lanzenspitzen und Messer mit größter Sorgfalt zu behandeln.«