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Unsuitable

Nicht standesgemäß

Samantha Towle

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© 2017 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
Originalausgabe © 2016 Samantha Towle
© Übersetzung aus dem Englischen: Martina Campbell
© Umschlaggestaltung: Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864437373
ISBN eBook-mobi: 9783864437380
ISBN eBook-epub: 9783864437397

www.sieben-verlag.de

Ich widme dieses Buch meinen Wettermädels. Eure Unterstützung
und die täglichen Lacher (und die heißen Männerbilder) sind unbezahlbar
.

Inhalt

Vor sieben Jahren

Prolog: Daisy

Eins: Gegenwart

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Epilog: Dreieinhalb Jahre später

Danksagung

Vor sieben Jahren

Wo bin ich?

Was ist passiert?

Überall Schmerzen …

Dann erinnere ich mich.

Nein.

Ich öffne die Augen.

Ich kann nichts sehen. Es ist dunkel. Meine Sicht ist verschwommen. Blut. Ich spüre, wie es mir von oben in die Augen läuft.

Ich kann nichts sehen.

Ich kann sie nicht sehen.

Ich halte die Luft an und lausche, warte auf ein Geräusch, das mir sagt, wo sie ist.

Nichts.

Ich versuche, ihren Namen zu sagen, aber es tut weh.

Es tut so sehr weh.

Meine Lungen brennen. Mein Magen steht in Flammen. Ich blute …

Ich muss mich bewegen. Hilfe suchen.

Ich strecke die Hand aus, aber spüre nur die feuchte Erde, auf der ich liege.

Ich taste mit den Fingern herum, versuche, etwas zu finden, woran ich mich festhalten kann, um aufzustehen, aber da ist nichts.

Ich zwinge meine Augen auf, blinzle heftig, versuche, meine Sicht zu klären, aber es funktioniert nicht. Mit dem Handrücken reibe ich über meine Augen, wische Blut und Tränen ab und kann endlich etwas sehen.

Ich drehe meinen Kopf zur Seite.

Da ist sie.

Und sie bewegt sich nicht. Ihr vorher schönes rosa Kleid ist jetzt voller Blut und Dreck, und es ist nach oben gezogen und entblößt sie.

Nein.

Ich beiße die Zähne fest zusammen, Wut rast durch mich hindurch. Ich schleppe mich zu ihr rüber. Schmerzen schreien in meinem Körper auf. Ich lege meine schwache Hand auf meinen Magen.

Meine Hand ist glitschig an meinem Shirt.

Nass. So nass. Und kalt.

Ich blute schlimm. Aber das ist egal. Ich muss zu ihr. Muss wissen, ob sie noch lebt.

Sie muss einfach noch leben.

Ich bin gleich da, Baby. Halte aus.

Jetzt bin ich bei ihr. Ihre Augen sind offen. Und ausdruckslos.

„Nein, Baby, nein!“ Pure Rage erfasst mich und ich stoße einen tierischen Schrei aus.

Dann falle ich neben sie. „Es tut mir so … leid.“ Ich ziehe ihr Kleid hinunter und bedecke sie.

Meine Sicht wird wieder unklar.

Mein Herz schlägt langsamer.

Das Atmen tut weh und fühlt sich an, als ob ich Wasser zu mir nähme.

Ich sterbe.

Ich schließe die Augen und fasse nach ihrer Hand. Nehme sie und lege meine Finger um ihre.

Schritte. Schwere Schritte kommen durch das Unterholz.

Dann höre ich ein Schnüffeln. Ein Tier. Vielleicht ein Hund?

„Hilfe“, krächze ich und versuche, meine Stimme so laut klingen zu lassen, wie ich nur kann. Aber sogar für meine Ohren ist es nicht genug.

Ich bekomme keine Antwort.

Mit aller Kraft, die ich noch habe, zwinge ich meine Stimme zu rufen. „Hilfe!“

Die Schritte stoppen.

„Ist da jemand?“, fragt eine männliche Stimme.

Ja. „Hilfe … bitte …“

Die Schritte fangen wieder an, kommen schneller und näher. Ich höre das Rascheln von den Blättern der Büsche um uns und dann:

„Jesus Christ!“

Danke dir, Gott.

Der Mann geht neben mir auf die Knie. Ein Hund leckt über mein Gesicht.

„Hank, hör damit auf. Ich binde nur schnell den Hund an. Bin gleich wieder da.“

„Nein! Nicht … gehen. Hilf ihr … bitte“, gurgle ich, und Blut füllt meine Kehle, weil ich in Panik gerate.

Er geht, aber ist eine Sekunde später wieder da. „Ich bin hier. Nicht sprechen.“

Ich ignoriere das. „Hilf … ihr.“

Vielleicht ist sie noch nicht wirklich tot.

Er könnte versuchen, sie wiederzubeleben.

Er steigt über mich, um zu ihr zu gelangen. „Kannst du mich hören?“

Ich zwinge meine Augen auf und drehe den Kopf.

Er fühlt an ihrem Hals ihren Puls.

Warum hab ich das nicht gemacht?

Diese Sekunden, in denen ich ihn beobachte und warte, fühlen sich wie Stunden an.

Sein Ausdruck sinkt, er schließt die Augen und seufzt traurig.

Und das bestätigt, was ich schon wusste.

Sie ist tot.

Mein Herz reißt auf und blutet mit dem Rest von mir aus.

„Ist sie …“

„Versuch, nicht zu sprechen. Halte noch aus, ja? Kannst du das schaffen? Ich rufe jetzt den Krankenwagen.“ Er nimmt sein Handy. „Ja, ein Notfall, schnell, bitte. Zwei Kinder. Eins … bewegt sich nicht mehr. Ich glaube nicht, dass … sie hat keinen Puls. Der andere ist am Leben und spricht, aber hier ist überall Blut, so viel Blut …“

Prolog

Daisy

Vor achtzehn Monaten

„Erzählen Sie mir noch mal, wo Sie gestern Abend waren.“

Ich sehe den Polizisten an, der mir am Tisch gegenübersitzt. Meine Hände sind feucht. Ich verknote meine Finger auf dem Schoß ineinander.

Wieso muss ich ihm das nochmals erzählen? Hat er mir das erste Mal nicht geglaubt?

„Nachdem ich von der Arbeit kam, ging ich direkt nach Hause und mein Freund Jason kam rüber. Er war die ganze Nacht bei mir. Fragen Sie ihn, er wird es bestätigen.“

„Vor ein paar Minuten hat mein Kollege mit Jason gesprochen.“ Der Polizist beugt sich vor. Er legt die Unterarme auf den Tisch und verschränkt seine Hände. „Er hat gesagt, dass er gestern Abend nicht bei Ihnen war.“

„Was?“ Das Wort verlässt meinen Mund in einem atemlosen Stoß.

„Jason sagte meinem Kollegen, dass er mit seinem Bruder und Freunden zusammen war, den ganzen Abend Karten gespielt und Sie überhaupt nicht gesehen hat.“

„Ich … was? Ich verstehe nicht …“ Mein Blick sucht hektisch den Raum ab. Verwirrung und Panik rasen durch meinen Verstand und meinen Körper. „Ich verstehe das nicht. Warum sollte Jason so etwas sagen?“

Der Polizist sieht mich fest an und sagt nichts.

Ich lecke über meine Lippen. Mein Mund ist trocken, als ich versuche, zu sprechen. „Jason lügt. Ich war die ganze Nacht bei mir zu Hause mit ihm zusammen.“

„Kann das jemand bezeugen?“, fragt der Polizist.

Jesse. Nein. Der blieb gestern bei seinem Freund Justin. Jason und ich waren allein im Haus. Oh Gott.

„Nein.“ Ich befeuchte meine Lippen erneut. „Aber ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage.“ Ich halte den Blick des Polizisten und versuche, ihn so zu überzeugen, dass meine Worte die Wahrheit sind. Aber ich weiß, dass es sinnlos ist. Er denkt, dass ich es getan habe. Ich schlucke schwer und versuche, meine wachsende Panik zu unterdrücken. „Sie glauben, dass ich es war. Sie denken, dass ich die Juwelen gestohlen habe. Aber Sie irren sich. Ich war es nicht“, behaupte ich energisch.

Der Polizist lehnt sich auf dem Stuhl zurück. „Was soll ich denn sonst glauben, Daisy? Es war Ihre Schlüsselkarte, die benutzt wurde, nachdem der Laden geschlossen war, dieselbe Karte, die Sie immer noch bei sich hatten, als wir Sie abgeholt haben. Sie wissen, dass das die Alarmanlage ausschaltet. Sie wissen, wie man die Kameras abschaltet. Sie wissen genau, wo sich die teuren Juwelen befinden …“

„Aber ich habe sie nicht gestohlen! Warum sollte ich?“

„Sie haben Ihren Bruder allein aufgezogen, Sie sind mit der Miete im Rückstand, und Sie haben offene Rechnungen und Kreditkarten. Menschen stehlen schon für weniger.“

„Aber ich habe den Schmuck nicht gestohlen! Das würde ich niemals tun! Ich bin kein Dieb! Ich habe keine Ahnung, wie man meine Karte dafür benutzt haben kann. Vielleicht hat sie jemand kopiert.“ Ich greife nach Strohhalmen, denn nichts davon ergibt irgendeinen Sinn.

Der Polizist schüttelt den Kopf.

„Ja“, sage ich. „Vielleicht hat sie jemand gestohlen und dann wieder zurückgetan.“

„Wer, Daisy?“ Er lehnt sich vor. „Wer könnte das getan haben?“

Mein Hirn verknotet sich. Dann liefert es mir die einzig andere Person, die gestern in meinem Haus war. „Jason.“ Meine Stimme zittert, und Tränen machen meine Worte schwer. „Jason hat gelogen und gesagt, dass er nicht bei mir war, obwohl er es war. Er könnte die Karte genommen haben und …“

„Aber wie hätte er den Raub begehen sollen, wenn Sie sagen, dass er bei Ihnen war?“

Da hat er recht. Ich fahre mir mit den Fingern durch die Haare und kratze meinen Kopf. Dann kommt mir ein Gedanke. „Vielleicht gab Jason sie jemandem.“ Ich atme jetzt schwer und habe Angst. Ich merke, dass sich der Polizist von mir zurückzieht. Ich verliere sein Interesse. Er denkt, ich war es. Er glaubt, ich habe den Schmuck aus dem Laden gestohlen. Von meinem Arbeitsplatz. Dem Job, den ich liebe. „Vielleicht gab Jason die Karte jemandem und hat sie in meine Tasche zurückgetan, bevor ich gemerkt habe, dass sie verschwunden ist.“

„Eine gute Theorie, Daisy.“ Der Polizist nickt. „Und wir haben Ihren Freund Jason Doyle überprüft. Vor ein paar Jahren wurde er für einen Autodiebstahl eingebuchtet. Außerdem hat er ein paar Ladendiebstähle in seiner Akte, und natürlich kennen wir seinen Bruder …“

„Das ist es! Damien!“, rufe ich. „Damien und Jason könnten zusammengearbeitet haben. Ich weiß, dass Damien ein schlimmer Finger ist. Ich habe Sachen über ihn gehört …“

„Wir wissen genau, was für eine Art Mann Damien Doyle ist“, unterbricht mich der Polizist. „Diebstahl ist nur eins der vielen Dinge, in denen er seine schlüpfrigen Finger über die Jahre hatte, aber wir konnten ihn nie bei irgendwas dingfest machen. Keiner will ihn verraten.“ Er kratzt mit den Fingern über seine Bartstoppeln am Kinn. „Hören Sie, Daisy, wenn Sie mir irgendwas geben, dann kann ich Ihnen helfen. Vielleicht wollten Sie das ja gar nicht tun und wurden gezwungen. Oder die Menge Geld klang einfach zu gut, um die Gelegenheit nicht wahrzunehmen. Geben Sie mir den Namen der Person, die Ihnen dabei geholfen hat, und sagen Sie mir, wo der Schmuck ist. Dann kann ich Ihnen helfen.“

Er will, dass ich sage, es war Damien, und dass ich an dem Raub beteiligt war. Aber das wäre eine Lüge. Ich weiß nicht, wer den Raub begangen hat. Ich spüre in meinen Eingeweiden, dass Jason die Karte genommen hat, aber ich kann es nicht beweisen. Und wenn ich sage, es war Damien, dann gestehe ich etwas, das ich nicht getan habe. Ich würde ins Gefängnis gehen.

Ich schüttele den Kopf, fahre mir wieder durch die Haare und ziehe an den Strähnen, wobei ich auf den Tisch starre. Ich kann ihm nichts geben, weil ich nichts weiß, außer meiner eigenen Wahrheit. Und ich bin keine Lügnerin.

Oh Gott, ich kann nicht glauben, dass mir das passiert.

Ich hebe den Blick und sehe auf die Uhr an der Wand. Es ist Viertel nach drei. Bald wird die Schule aus sein. „Mein Bruder Jesse kommt gleich aus der Schule. Dann muss ich zu Hause sein. Er macht sich Sorgen, wenn ich nicht da bin.“

„Keine Sorge. Man kümmert sich um Jesse.“

Was meint er damit? Ich öffne die trockenen Lippen, um ihn zu fragen, als die Tür aufgeht. Ein Polizist in Uniform steht dort.

Mein Verhörer steht von seinem Stuhl auf. „Ich bin gleich zurück“, sagt er.

Ich beobachte durch den Glaseinsatz in der Tür, wie er mit dem Uniformierten spricht. An ihren Gesichtern kann ich nicht erkennen, worüber sie reden. Mein Herz rast in meiner Brust. Ich hatte noch nie solche Angst.

Die Tür geht auf. Der Polizist kommt rein, und der Uniformierte folgt ihm. Der Beamte setzt sich wieder mir gegenüber, und der andere Mann bleibt stehen.

„Daisy, während Sie hier sind, durchsuchten Kollegen Ihre Wohnung. Sie haben eins der gestohlenen Schmuckstücke gefunden.“

Nein! Das kann einfach nicht sein.

„Ich habe nichts gestohlen!“, rufe ich und springe auf. „Ich habe das nicht getan!“

Der Uniformierte bewegt sich schnell, und ehe ich mich versehe, hat er mir meine Hände auf den Rücken gezogen und hält mich fest. Ich versuche, freizukommen und bettle darum, dass er mich loslässt.

Dann höre ich die Stimme des Polizisten. „Daisy May Smith, ich verhafte Sie wegen Verdacht auf Diebstahl. Sie müssen nichts sagen, aber es könnte schlecht für Ihre Verteidigung sein, wenn Sie keine Fragen beantworten, die später vor Gericht wichtig für Sie sein könnten. Alles was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.“

Oh, Jesus. Ich werde verhaftet. Für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe. Panik, die ich so noch nie gefühlt habe, dringt in jede Zelle meines Körpers.

Eins

Gegenwart

Ich starre meine Reflexion in dem kleinen Spiegel an.

Mein langes braunes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Das Gesicht ist sauber, kein Make-up. Ich betrachte meine Kleidung. Jeans und ein babyblaues T-Shirt. Schwarze Ballerinas an den Füßen.

Die Kleidung, die ich trug, als ich ins Gefängnis kam. Die Jeans und das T-Shirt sitzen ein wenig locker an mir. Ich weiß, dass ich hier an Gewicht verloren habe. Der tägliche Besuch im Fitnessraum und Stress tut einem das an. Nicht, dass ich früher dick gewesen wäre.

Ich sehe zu dünn aus. Ich sollte etwas zunehmen.

„Fertig?“

Ich wende mich von meinem Spiegelbild ab und sehe Officer Roman an, die in der Tür steht. „Ich bin fertig.“

So was von.

Noch nie im Leben war ich fertiger. Ein letzter Blick in die Runde, und ich gehe mit nichts aus der Zelle, in der ich meine letzte Nacht verbracht habe, und folge ihr die Flure entlang.

Gestern Abend war ich in eine Entlassungszelle verlegt worden, also verbrachte ich die letzte Nacht nicht in der Zelle, in der ich die vergangenen achtzehn Monate war. Nicht, dass mich das gestört hätte. Im Gegenteil.

Ich bin ekstatisch aufgeregt.

Ich werde entlassen!

Achtzehn Monate habe ich von diesem Moment geträumt. Habe die Minuten gezählt, die Stunden, die Tage. Habe gebetet, dass ich auf Bewährung rauskomme, nachdem ich achtzehn Monate der dreijährigen Haftstrafe abgesessen hatte. Auf Bewährung raus sein bedeutet, dass ich bestimmte Bedingungen einhalten muss, die mir mein Bewährungshelfer auferlegt hat, aber zumindest muss ich nicht mehr hier sein.

Ich komme raus aus dem Höllenloch.

Ich halte meine Erleichterung zurück, halte sie unter Verschluss. Ich erlaube mir nicht, irgendwas zu fühlen, bis ich hier raus bin und wieder in der realen Welt. Eine Welt, in der ich mein Leben zurückbekomme. Eine Welt, in der ich zu der einzigen Person zurückkehren kann, die mir je etwas bedeutet hat. Mein Bruder Jesse.

Ich sage Bruder, aber er ist mehr wie mein Kind. Als ich sechzehn war und mein Bruder sechs, haute unsere drogensüchtige, nutzlose Mutter ab, verschwand mit allem Geld und überließ es mir, ihn großzuziehen. Aber eigentlich habe ich ihn, seit er ein Baby war, großgezogen, denn meine Mutter interessierte sich nur für sich selbst, Drogen, und wen sie zurzeit gerade vögelte. Als sie fort war, habe ich die Schule abgebrochen und mir einen Job gesucht, in einer Fabrik gearbeitet, um das Geld zusammenzukriegen für Essen und Kleidung und unsere Miete und Rechnungen zu bezahlen. Nicht gerade glamourös, aber es half weiter. Gerade so. Wir kamen zurecht. Ich kaufte billige Lebensmittel und ging kurz vor Ladenschluss in die Supermärkte, um preisreduzierte Ware zu bekommen, wie verbeulte Dosen, die im Preis gesenkt wurden. Manchmal wurden sie mit Absicht verbeult. Ich kaufte Kleidung in Secondhandläden. Ich tat, was ich konnte, um das Geld zu strecken. Es war schwer, aber ich sorgte immer dafür, dass es Jesse gut ging. Er kam immer zuerst. Er kommt immer noch zuerst.

Ein Jahr habe ich in der Fabrik gearbeitet, verlor den Job aber, als Leute entlassen werden mussten. Wer zuletzt kam, musste zuerst gehen. Bis ich einen neuen Job fand, wurde es so richtig hart. Ich hatte keine Rücklagen, denn es war nie Geld zum Sparen übrig gewesen. Viele Jobs, auf die ich mich bewarb, bekam ich nicht, weil ich nicht qualifiziert genug war. Ich bekam Sozialhilfe und kassierte immer noch das Kindergeld für Jesse, das auf den Namen meiner Mutter reinkam – ja, dafür habe ich ihre Unterschrift gefälscht –, aber es reichte nicht für uns beide. Und ich konnte den Behörden auch nicht sagen, dass ich mehr Geld brauchte, denn wenn sie gewusst hätten, dass unsere Mutter abgehauen war, hätten sie mir Jesse weggenommen. Und ich durfte ihn einfach nicht verlieren.

Eine Weile sah es wirklich düster aus. Es gab Tage, an denen ich nichts aß, damit Jesse etwas bekam. Ich hätte meine beste Freundin Cece um Hilfe bitten können, aber ich musste es allein schaffen. Jesse war meine Verantwortung.

Dann war mir das Glück hold und ich bekam einen Teilzeitjob in einem örtlichen Supermarkt, um Regale aufzufüllen. Eine Woche später kam noch ein Teilzeitjob als Kellnerin dazu. Das Kellnern fand abends statt, und ich mochte Jesse ungern allein lassen, aber Cece sah nach ihm, wenn ich arbeitete.

Sechs Monate arbeitete ich in beiden Jobs und bewarb mich nebenbei weiter für eine Ganztagsstelle. Schließlich bekam ich was bei diesem gehobenen Juwelier. Ich konnte kaum fassen, diese Stelle bekommen zu haben. Zwar lief das Vorstellungsgespräch gut, aber ich hatte keine Erfahrungen, und der Laden war schön. Irgendwas hatte der Manager in mir gesehen und mir die Stelle gegeben.

Es war das Beste und das Schlimmste, was mir je passiert ist.

Das Beste daran war der Verdienst. Ich bekam mehr als für meine beiden Teilzeitjobs zusammen. Ich lernte alles über das Juweliergeschäft und konnte abends für Jesse zu Hause sein.

Damals hatte ich keine Ahnung, dass ich vier Jahre später beschuldigt werden würde, Schmuck im Wert von Hunderttausenden aus dem Laden gestohlen zu haben, und dass ich dafür in den Knast gehen würde. Dass ich alles verlieren würde. Jesse. Mein Kind, meine Familie. Ich will ihn zurück.

Ich werde ihn zurückbekommen!

Achtzehn Monate, ohne ihn zu sehen oder zu sprechen, haben mich fast umgebracht. Wir kommunizierten nur per Brief. Ich sage kommunizieren, aber so war es eigentlich nicht. Ich schrieb ihm, aber er hat mir nie geantwortet. Er ist sauer. Weil ich ihm nicht erlaubt habe, mich da drin zu besuchen. Er dachte, ich hätte ihn verlassen. Aber in Wahrheit konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass er mich so sah. Und ich wollte nicht, dass er diesen schrecklichen Ort besuchte.

Ich habe niemandem erlaubt, mich zu besuchen. Nicht mal Cece. Also habe ich seit achtzehn Monaten mit niemandem mehr gesprochen, den ich liebe.

Mein Herz rast, und ich folge weiterhin Officer Roman. Ich warte, während sie das Tor aufschließt, und dann führt sie mich durch und wir gehen zum Empfang. Diesen Teil des Gefängnisses habe ich seit meiner Einweisung nicht mehr gesehen. Ich sehe aus dem Fenster. Mein Herz klopft vor Nervosität genauso wie vor Aufregung. Ich komme hier raus. Ich bekomme mein Leben zurück. Das Leben, das mir gestohlen wurde.

Officer Kendall reicht mir eine Plastiktüte. „Die Sachen, mit denen Sie gekommen sind“, sagt sie.

Ich öffne die Tüte und sehe hinein. Mein altes Handy, das nicht mehr funktioniert, ein gebrauchter Lipgloss, mein Geldbeutel. Ich nehme ihn heraus und sehe hinein. Drin ist ein Zwanzigpfundschein.

Ich besitze zwanzig Pfund.

Seufz.

Ich sehe meine alten Hausschlüssel am Boden der Tüte. Mit den Fingern berühre ich sie. Die Schlüssel zu meinem alten Zuhause. Ein Zuhause, das ich nicht mehr habe. Tränen stechen in meinen Augen. Ich blinzle sie fort.

„Alles in Ordnung, Daisy?“, fragt mich Officer Roman.

Ich schlucke meine Emotionen, nicke und lasse den Geldbeutel wieder in die Tüte fallen.

„Du weißt, wo du von hier aus hingehen sollst?“, fragt sie.

„Yep.“ Ich sehe sie an. „Ich gehe direkt zur Londoner Bewährungshilfe und treffe meinen Bewährungshelfer …“ Ich versuche, mich an seinen Namen zu erinnern.

„Toby Willis“, sagt sie für mich. „Toby wird dir die Bedingungen für deine Entlassung erklären und dir sagen, in welchem Hostel du wohnen wirst.“

„Du meinst, ich wohne nicht im Ritz?“ Ich sehe sie gespielt schockiert an, und sie lacht.

„Komm schon, Komikerin, lass uns hier abhauen.“

Der Officer im Empfangsraum summt uns die Tür auf. Ich folge Officer Roman, und sie führt mich zu der Tür, die mich hier rausbringt. Ich sehe mit hämmerndem Herzen zu, wie sich die letzte Tür öffnet.

Ich bin frei. Tief atme ich durch. Eine Lunge voll freier Luft. Ich weiß, das klingt blöd, aber die Luft fühlt sich hier draußen einfach besser an. Sauberer, frischer. Besser als die Luft, die ich hinter diesen hohen Mauern geatmet habe, die mich so lange gefangen hielten. Ich mache den ersten Schritt in Richtung Freiheit.

„Ich will Sie hier drin nie mehr sehen“, sagt Officer Roman hinter mir.

Ich sehe zu ihr zurück. „Sie werden mich nie mehr hier sehen, das verspreche ich.“

Ein Lächeln erscheint um ihren harten Mund. „Gut. Viel Glück, Daisy. Ich hoffe, alles wird gut für Sie.“

Ja, ich auch. Ich nicke ihr zu und sehe nach vorn. Noch ein Mal tief durchatmen, und dann trete ich auf die Straße. Die Tür hinter mir schließt sich mit einem dumpfen Schlag. Ich höre, wie der Schlüssel umgedreht wird und mich aussperrt. Für einen Moment gerate ich in Panik. Ich weiß wirklich nicht, was ich jetzt tun soll. Ich habe so lange nur getan, was mir gesagt wurde, dass ich gerade nicht mal meine eigenen Gedanken kenne. Ich sehe die Straße entlang. Leute laufen herum. Eine Frau fällt mir ins Auge und ich kann das Lächeln auf meinem Gesicht nicht verhindern. Cece.

„Ce?“, sage ich und plötzlich ersticken mich Emotionen bei ihrem Anblick.

„Mayday!“ Sie lächelt breit.

Meinen Spitznamen zu hören, den Jesse mir gab, als er noch klein war, erfüllt mich mit einem so tiefen Schmerz, dass ich Angst habe, er wird nie mehr vorbeigehen.

Cece stößt sich von dem Auto ab, an dem sie gelehnt hat, und kommt auf mich zu. Ihre dunkelbraune Haarmähne, jetzt mit lila Strähnen durchsetzt, tanzt um ihr Gesicht, und ihre großen braunen Augen sind vor Freude weit geöffnet. Cece rennt mich fast um und haut mir die Luft aus den Lungen mit ihrer festen Umarmung. Sie riecht nach Zuhause. Gott, ich hab sie so vermisst.

„Ich hab dich vermisst“, wispert sie.

Ich höre die Emotionen in ihrer Stimme. Es zieht mir die Brust zusammen, und in meinen Augen brennt es. Ich stelle die Tüte auf den Boden und erwidere die Umarmung. „Ich hab dich auch vermisst, Ce.“ Ich schlucke meine Tränen. „Was machst du hier?“

„Schön, dich auch wiederzusehen.“ Sie lacht in sich hinein.

„Ich meine …“ Ich lehne mich zurück und sehe in ihr Gesicht. „Ich dachte, du bist arbeiten.“

„Montags ist mein freier Tag. Aber selbst wenn nicht, dachtest du wirklich, ich würde nicht hier sein und auf dich warten?“ Sie lächelt herzerwärmend. „Es war so eine lange Zeit. Mir hat es nicht gefallen, dass du mir keine Besuche erlaubt hast.“ Sie runzelt die Stirn und zieht eine Augenbraue hoch.

Ich atme aus. „Ich weiß, aber so war es besser, Ce. Ich wollte nicht, dass du mich da drin siehst.“

Außerdem wollte ich meine Zeit nicht damit verbringen, auf ihre Besuche zu warten und die Tage zu zählen. Ich musste mich darauf konzentrieren, die Tage bis zu meiner Entlassung zu zählen.

„Du wusstest, dass mir das egal ist …“

„Ich weiß“, unterbreche ich sie. Meine Stimme klingt zu streng, also mildere ich sie ab. „Aber ich musste die Dinge so halten.“

Sie sieht mich lange an. „Na gut, aber wenn du noch mal weggehst, komme ich mit. Dass das mal klar ist.“

Ich schenke ihr ein verkrampftes Lächeln. „Verstanden. Aber ich gehe nicht mehr weg.“

Und das meine ich ernst. Niemals mehr werde ich das Opfer von jemandem sein.

Sie lächelt. „Gut siehst du aus“, sagt sie. „Bist du sicher, dass du im Knast warst und nicht in einem Fitnesscamp?“ Sie neigt albern ihren Kopf zur Seite.

„Sehr witzig.“ Ich boxe ihr sanft gegen die Schulter. „Ich war jeden Tag beim Fitnesstraining. Da drin gibt’s sonst nicht viel mehr zu tun.“ Abgesehen von Lesen, Fernsehen und irgendeinen Job machen, in meinem Fall Putzen.

„Jedenfalls machst du total einen auf Lara Croft.“ Sie greift über meine Schulter und zieht an meinem Pferdeschwanz.

„Ich mag das Lila.“ Ich deute auf ihr Haar.

„Letzte Woche war es blau.“ Sie grinst.

Cece ändert ständig ihre Haarfarbe. Das kommt von ihrem Beruf, sie ist Friseurin. Oder besser gesagt Haarstylistin. Sie arbeitet in einem gehobenen Salon in London.

Sie lässt meine Arme los und nimmt meine Hand. „Komm, lass uns gehen.“

Ich nehme meine Tragetasche vom Boden und lasse Cece mich über die Straße zu ihrem Auto führen.

Kaum habe ich mich angeschnallt, da dreht sie sich zu mir um und kaut nervös auf ihrer Lippe herum. „Ich habe etwas gemacht und hoffe, du findest es cool.“

„Kommt drauf an. Die letzte Überraschung von jemandem hat mich in den Knast gebracht.“ Ich sehe sie gespielt emotionslos an.

Ihre Lippen heben sich zu einem halben Lächeln. „Wie lange hast du vor, darauf rumzureiten?“

„Für immer. Ich glaube, das hab ich mir verdient.“

„Stimmt.“ Sie nickt.

„Also, wovon sprichst du?“

„Ich habe uns eine Wohnung gemietet.“

Meine Augen weiten sich überrascht. „Du bist bei deinen Eltern ausgezogen?“

„Es wurde Zeit. Und du musst irgendwo wohnen. Als meine Oma gestorben ist, hat sie mir einen Haufen Geld hinterlassen. Also habe ich es gut angelegt und in ein Apartment investiert.“

Scham überwältigt mich. „Es tut mir leid, dass ich nicht da war für die Beerdigung.“

Sie winkt ab. „Ich weiß, dass du da gewesen wärst, wenn du gekonnt hättest. Egal, ich hab uns jedenfalls eine Wohnung in Sutton gekauft. Sie ist hübsch. Drei Schlafzimmer. Nicht weit weg von Jesse, sodass du nah bei ihm bist.“

„Drei Schlafzimmer?“ Ich starre sie an.

„Ja, eins für dich, eins für mich und eins für Jesse, wenn er nach Hause kommt.“

In meiner Kehle formt sich ein Kloß. Ich kann nicht glauben, dass sie das für mich getan hat. Sie hat eine Wohnung gekauft, um mir zu helfen. Sie weiß, dass ich das brauche, um Jesse zurückzubekommen. Ohne ein festes Zuhause kann ich nicht das Sorgerecht für ihn beantragen. Ich hatte erwartet, für den Anfang in einem Hostel zu wohnen, bis ich wieder auf eigenen Füßen stehe, und es hätte Jahre gedauert, bis ich was Eigenes gehabt hätte.

„Hast du …“, ich beiße mir auf die Lippe, „hast du Jesse kürzlich gesehen?“

Sie atmet tief aus und ich ahne die Antwort. „Ich hab ihn gestern besucht.“

Jesse lebt in einem Heim, seit ich ins Gefängnis kam. Ich kenne solche Zuhause. Jeden Tag war ich krank vor Sorge und betete zu Gott, auf ihn aufzupassen, bis ich wieder bei ihm sein werde. Cece hatte versprochen, regelmäßig nach ihm zu sehen, und sie hielt mich auf dem Laufenden.

„Wie geht es ihm?“

„Ganz gut.“

„Hast du …“ Ich schlucke an meinem Schmerz vorbei. Ich kenne die Antwort auf meine Frage nur zu gut, muss sie aber trotzdem stellen. „Weiß er, dass ich heute entlassen werde?“

„Ja.“ Ihre Stimme ist jetzt leiser. „Er ist einfach nur verwirrt, Mayday. Aber er wird schon nachgeben. Er liebt dich.“

Ich senke den Blick. „Ich habe ihn im Stich gelassen.“

„Nein, hast du nicht.“ Die Kraft in ihrer Stimme lässt mich sie ansehen. „Du hast einen Mann getroffen, dem du vertraut hast und von dem du dachtest, er ist ein netter Mensch, aber er hat sich als der größte Arsch in der Geschichte aller Ärsche herausgestellt. Das war nicht dein Fehler. Ich schwöre, wenn ich diesen Bastard jemals in die Finger kriege, werde ich ihm die Eier abreißen, tränke sie in Benzin, stecke sie in Brand und lass ihn beim Verbrennen zusehen.“

„Das erzeugt ein hübsches Bild in mir.“

„Danke. Ich kann gut Bilder erzeugen.“ Sie grinst mich an. „Und ich werde mich wunderbar fühlen, nachdem ich diesen Dreckfleck aus der Gesellschaft entfernt habe.“

„Ich will einfach nur vergessen, dass er je existiert hat. Mein einziges Ziel ist, Jesse zurückzubekommen.“

Sie greift herüber, nimmt meine Hand und drückt sie. „Und das wirst du auch. Da hab ich keine Zweifel. Ab jetzt fangen alle guten Sachen an.“

Die Tränen, die ich zurückhalte, gewinnen den Kampf und eine entkommt.

„Jetzt fang bloß nicht an zu heulen, Daisy May, oder ich muss auch flennen, und meine Mascara ist nicht wasserfest. Also, was sagst du zu der Wohnung?“

Mit dem Handrücken wische ich die Träne fort. „Ich sage, das ist fantastisch, aber …“

„Kein Aber, Mayday. Sag einfach Ja und zieh bei mir ein.“

Ich sehe sie streng an wegen der Unterbrechung. „Das Aber ist, dass ich das mit meinem Bewährungshelfer abklären muss, um zu wissen, ob das geht. Die haben mir ein Hostel als Wohnung zugewiesen.“

„Oh nein. Auf keinen Fall wird meine Freundin in irgendeinem schäbigen Hostel für Ex-Knackis leben. Das ist nicht persönlich gemeint.“ Ihr Gesicht wird bleich, als ihr auffällt, was sie da gesagt hat. „Denn du bist kein Ex-Gangster, Daisy. Na ja, technisch gesehen schon, aber das bist du nicht, und …“

„Schon gut, Ce.“ Ich lache. „Ich bin ein Ex-Knacki. So ist das nun mal.“

Daisy Smith, Ex-Diebin.

Dieser Makel wird mir bis zum Tode erhalten bleiben.

Mein Leben ist jetzt ein total anderes, als das, bevor ich eingebuchtet wurde. Dagegen kann ich nichts machen. Aber ich kann etwas für meine Zukunft unternehmen. Ich kann dafür sorgen, dass mich nie wieder jemand verarscht. Und ich kann verdammt noch mal dafür sorgen, ein besseres Leben für Jesse und mich aufzubauen. Besser als vorher. Ich bin nicht schlau. Habe keinen Titel. Aber ich kann hart arbeiten. Ich brauche nur jemanden, der mir eine Chance gibt und damit die Möglichkeit, Jesse alles zu geben, was er haben sollte. Alles, was er verdient.

Der Junge hat keine guten Karten ausgeteilt bekommen. Ich hatte unsere Mutter zumindest, als ich ein Kind war. Nicht, dass sie damals noch zu irgendwas getaugt hätte, aber ihre Drogenabhängigkeit wurde schlimmer, als Jesse geboren war. Ich glaube, der Tod unseres Vaters war der Katalysator. Unser Dad war selten zu Hause. Ebenfalls drogenabhängig war er irgendwo da draußen und hat sich schlechtes Heroin gespritzt. Nicht, dass es so was wie gutes Heroin gibt. Aber gerade war er noch da und in der nächsten Minute war er fort. Genau wie meine Mutter. Sie war noch körperlich anwesend – und das auch nicht immer –, aber mental hatte sie sich verabschiedet. Als sie uns dann verließ, war das nicht unbedingt tragisch. Ich hatte Jesse, und alles andere war nicht wichtig.

„Ich muss mich jetzt bei dem Bewährungshelfer melden“, sage ich zu Cece. „Ich werde ihn fragen, ob ich bei dir einziehen darf, und dann sehen wir weiter.“

„Cool. Wir fahren zu ihm und sagen ihm, dass du heute mit mir nach Hause gehst.“ Sie lächelt mich störrisch an.

Lachend schüttle ich den Kopf. Wenn sich Cece was in den Kopf gesetzt hat, kann sie keiner davon abhalten. Das ist einer der vielen Gründe, warum ich sie liebe. Und ihre absolute Loyalität.

Sie startet den Motor, und das Radio geht mit an. Drakes Hold On, We’re going Home dröhnt aus den Lautsprechern.

Mir entkommt ein humorloses Lachen, und ich fange Ceces Blick auf. „Hast du das so geplant?“

Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. „Vielleicht.“

Ich lache wieder. Aber ich fühle es nicht. Weil ich eben nicht nach Hause gehe. Nicht wirklich. Zuhause ist, wo Jesse ist, aber ich kann nicht bei ihm sein, weil ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe der falschen Person vertraut und das hat mich meinen Bruder und achtzehn Monate meines Lebens gekostet.

Ich lehne den Kopf an die Kopfstütze und sehe mit einem Seufzen aus dem Fenster.

„Hey, alles in Ordnung?“ Ceces Stimme ist leise.

Ich drehe den Kopf und sehe sie an. „Ja.“ Ich lächele. „Es geht mir gut. Und danke für … alles. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.“

Sie greift herüber und drückt meine Hand. „Das musst du gar nicht erst herausfinden.“

Zwei

Ich sehe aus dem Fenster auf die überfüllte Gegend Londons im Wartezimmer im ersten Stock des Bewährungshelferbüros und warte auf den mir zugeteilten Bewährungshelfer Toby Willis.

Alles sieht aus wie immer, nur anders. Oder vielleicht bin ich nur anders.

Cece wollte mit mir reingehen, aber ich hab ihr gesagt, sie soll irgendwo einen Kaffee trinken gehen, statt mit mir im Wartezimmer rumzuhängen, bis ich an der Reihe bin. In einer Stunde werde ich sie am Auto treffen.

Das war vor einer Stunde, und ich wurde immer noch nicht reingerufen.

Als ich das denke, erscheint ein Typ in der Tür. Sieht aus, als wäre er in seinen Mittdreißigern. Rasiertes Haar – wirklich kein einziges Haar ist auf seinem Kopf zu erkennen –, und er trägt einen schwarzen Nadelstreifenanzug, der wirkt, als hätte er schon bessere Tage gesehen.

„Daisy Smith? Ich bin Toby Willis. Würden Sie bitte mitkommen?“

Ich stehe auf und folge ihm durch den Korridor zu seinem Büro. Dann setze ich mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, während er die Tür zumacht. Er geht um den Schreibtisch und setzt sich dahinter.

„Tut mir leid, dass es so spät wurde. Ich konnte einem zu langen Meeting nicht entkommen.“

„Schon gut.“ Ich lächle. „Ich bin das Warten gewohnt und es ist ja nicht so, dass ich irgendwo anders sein müsste.“

Er hebt den Blick zu meinem. Seine Augen sind blau und freundlich. Eigentlich, wenn ich so drüber nachdenke, sieht sein ganzes Gesicht freundlich aus. Was in starkem Kontrast zu dem krassen, kahlrasierten Kopf steht.

Er lächelt. „Gut, dann hoffen wir mal, dass wir das für Sie ändern können.“ Er dreht sich zu seinem Computer und tippt etwas ein. Dann greift er zu einer Akte. Mein Name steht oben drauf. Er öffnet die Akte und blättert durch ein paar Papiere. „So.“ Er sieht mich an. „Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Sie müssen nur über die Entlassungsbedingungen sehen und unterschreiben. Dann reden wir über Wohnmöglichkeiten und mögliche Arbeitsstellen.“

„Kann ich mit den Wohnmöglichkeiten anfangen?“

Er lehnt sich im Stuhl zurück, nickt, und gibt mir so grünes Licht.

„Ich weiß, dass ich in ein Hostel soll. Aber meine beste Freundin hat eine Wohnung in Sutton, Süd-London, und ich würde gern bei ihr einziehen. Falls das erlaubt ist.“

„Hat Ihre Freundin eine kriminelle Vergangenheit?“

„Oh Gott, nein.“ Ich lache kurz. „Sie ist Friseurin. Und hatte noch nie irgendwelche Schwierigkeiten in ihrem Leben.“

Die hatte ich auch nicht, bis ich wegen Diebstahl verhaftet wurde. Das sage ich aber nicht laut. Es macht keinen Sinn mehr, auf meine Unschuld zu bestehen. Dieses Schiff ist schon lange vorbeigesegelt.

„Dann sehe ich keine Probleme. Solange ich die Adresse und ein paar Details über Ihre Freundin habe, ist das in Ordnung.“

„Vielen Dank.“ Ich atme erleichtert durch. Ich wollte das vor Cece nicht zugeben, aber der Gedanke, in einem Hostel zu wohnen, fühlt sich an wie eine andere Form von Gefängnis. „Wollen Sie die Adresse gleich haben? Cece hat sie mir aufgeschrieben.“

„Gern.“

Ich angle das Stück Papier mit der neuen Adresse aus meiner Jeanstasche und überreiche es ihm. Er heftet den Zettel in meine Akte.

„Hier sind die Entlassungsbedingungen. Für den Rest Ihrer verurteilten Strafe müssen Sie sich an diese Regeln halten.“ Er reicht mir ein Blatt Papier. „Lesen Sie das gründlich und unterschreiben Sie unten. Sie müssen nicht unterschreiben, aber die Regeln sind trotzdem rechtlich bindend.“

„Okay.“ Ich lächele schwach. Dann lese ich die Bedingungen. Sie beinhalten, was ich erwartet habe. Wenn ich auf irgendeine Weise gegen das Gesetz verstoße, muss ich wieder rein und den Rest der Strafe absitzen. Das wird nicht passieren, ist also irrelevant. Aber ich unterschreibe trotzdem. Ich nehme den Kugelschreiber von seinem Schreibtisch, schreibe meinen Namen auf die gepunktete Linie und gebe ihm das Papier zurück.

Er heftet es in meine Akte und legt die Arme darauf ab, die Hände zusammengefaltet. „Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie jetzt nach Ihrer Entlassung tun wollen?“

„Einen Job finden. Meinen Bruder zurückholen.“

Seine Augen verdüstern sich etwas, und mir fallen Steine in die Magengrube. „Daisy“, sagt er beim Ausatmen. „Ich habe Ihre Akte intensiv gelesen und kenne Ihre familiären Umstände. Und ich weiß von Ihrem Wunsch, das Sorgerecht für Ihren Bruder zu bekommen. Aber bitte beachten Sie, dass das ein langer Prozess ist. Sie müssen dem Sozialamt gegenüber beweisen, dass Sie Ihr Leben wieder im Griff haben. Ein Leben, das Ihren Bruder mit einschließen kann. Dass Sie ihm Stabilität bieten können.“

„Das alles hab ich ihm vorher auch gegeben.“ Meine Stimme ist tonlos.

„Und dann haben Sie das Gesetz gebrochen. Sie haben Ihren Arbeitgeber bestohlen. Für den Sie vier Jahre gearbeitet haben. Diese Menschen haben Ihnen vertraut. Sie müssen mir und dem Sozialamt beweisen, dass man Ihnen wieder trauen kann.“

Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie schwer es ist, zu wissen, dass man nicht getan hat, was jeder glaubt, und zuzusehen, wie man trotzdem charakterlich danach beurteilt wird. Zuzusehen, wie sie die Kontrolle über dein Leben übernehmen, dir die Familie wegnehmen. Es ist schmerzhaft, frustrierend und bricht einem das Herz.

Ich mache Fäuste mit meinen Händen und drücke die Nägel in meine weiche Haut, lasse den Schmerz meine Emotionen beherrschen. Anstatt zu sagen, was ich gern sagen würde, nämlich die Wahrheit, sage ich nur, was er hören will. „Das kann ich schaffen. Man kann mir wieder vertrauen. Ich will nur Jesse zurückhaben, und ich tue alles, was nötig ist, um zu beweisen, dass ich es wert bin, ihn bei mir zu haben.“

Das scheint ihm zu gefallen, denn er lächelt. „Gut. Da wir jetzt wissen, dass Sie eine Wohnung haben, können wir mit der Jobsuche anfangen. Ich hätte da was für Sie.“

„Wirklich?“ Ich hebe überrascht die Augenbrauen.

„Ja. Wir haben eine Liste von Arbeitgebern, die bereit sind, Leute aus dem Gefängnis einzustellen.“ Er starrt auf den Bildschirm und liest vor. „Die Stelle ist die eines Dienstmädchens. Die Besitzer haben eine Pferdevermietung auf ihrem Anwesen. Damit haben Sie aber nichts zu tun. Nur Reinigungsdienste im Haupthaus. Die Arbeitszeit geht von acht Uhr dreißig bis sechs Uhr abends mit einer Stunde Mittagspause. Die Bezahlung ist sieben Pfund die Stunde.“

Schnell versuche ich, mir das auszurechnen. Das wären sechzig Pfund am Tag. Um die dreihundert Pfund die Woche. Ich kann Cece Miete zahlen und zu den Nebenkosten beitragen. Das ist mein neuer Start! Es fühlt sich gut und richtig an. „Das klingt super. Vielen Dank.“ Ehrlich, ich würde Pferdescheiße schaufeln, wenn das bedeutet, Geld zu verdienen und mich einen Schritt weiter bringt, Jesse zurückzubekommen. „Wann fange ich an?“

„Morgen.“

„Morgen? So schnell hatte ich nicht damit gerechnet. Nicht, dass ich mich beschweren will“, füge ich schnell hinzu.

„Wir glauben, es ist gut, die Leute so schnell wie möglich zurück zur Arbeit zu schicken. Sie in eine solide, stabile Routine einzubinden. Ein Verstand, der nur rumsitzt, ist einer, der zu wandern beginnt.“

Nickend stimme ich ihm zu.

Er lächelt wieder. „Gut. Der Job ist in Westcott in Surrey auf dem Matis Estate. Sie müssen bei der Ankunft nach Mr. Matis fragen. Ich nehme an, Sie haben kein Auto.“

Ich schüttle den Kopf.

„Man kommt auch mit dem Zug problemlos dort hin.“

Scheiße, Fahrtkosten. Das muss ich berücksichtigen. Ich kann mir eine Bahncard holen, dann wird es billiger. Oder vielleicht noch besser, ich kann mir die Busfahrpläne ansehen. Vielleicht gehen welche von Sutton nach Westcott.

„Die Bezahlung erfolgt wöchentlich, also werden Sie Ihr erstes Geld Ende dieser Woche bekommen“, sagt Toby. „Wie sind Sie finanziell gestellt?“

Ich schlucke, senke den Blick, und mein Gesicht rötet sich vor Scham. „Ich, äh … ich besitze zwanzig Pfund.“ Ich schäme mich, das zuzugeben. Zwar hat er das bestimmt schon tausend Mal gehört, aber trotzdem fällt es schwer, es auszusprechen.

„Und wie sieht es mit Kleidung aus?“

„Äh, ich habe meine alten Klamotten.“ Ich sehe ihn an. „Meine Freundin Cece, mit der ich zusammenleben werde, hat all meine Sachen gelagert, während ich im Bau war.“

„Das klingt nach einer wirklich guten Freundin.“

„Das ist sie.“ Ich lächle.

„Nun, Sie werden Geld brauchen, um zur Arbeit zu kommen, und auch für Essen, also werde ich Ihnen einen kleinen Kredit geben, mit dem Sie durch die Woche kommen.“

„Das wäre sehr nett. Vielen Dank.“

Ich empfinde echte Dankbarkeit. Ich meine, ich hasse es, Almosen annehmen zu müssen, aber er sagte, es sei ein Kredit, was bedeutet, dass ich ihn zurückzahlen muss. Damit kann ich leben. Mein Sparplan muss vielleicht noch ein bisschen warten, aber das ist eben so.

„Gut, dann werde ich das für Sie arrangieren. Davon abgesehen sind wir jetzt fertig.“ Er legt die Hände auf den Schreibtisch. „In den nächsten vier Wochen muss ich Sie ein Mal die Woche sehen. Dafür werde ich mit Ihrem Arbeitgeber sprechen, damit Sie an dem Tag früher gehen können, darüber müssen Sie sich also keine Sorgen machen. Im zweiten und dritten Monat müssen Sie alle zwei Wochen herkommen. Und wenn alles gut läuft, ist es nur noch ein Mal im Monat. In ungefähr zehn Tagen werde ich Sie zu Hause besuchen kommen. Am besten tragen wir uns das ein, solange Sie noch hier sind.“ Er wendet sich dem Computer zu und tippt etwas ein. „Okay. Da Sie arbeiten und ich Ihnen keinen Tag stehlen will, wie wäre es mit Samstag in einer Woche? Vormittags?“

„Das ist in Ordnung.“ Ich lächele ihn an.

„Gut.“ Er tippt wieder etwas ein und dreht mir dann sein Gesicht zu. „Dann lassen Sie uns diesen Kredit für Sie holen.“

Drei

Cece biegt mit dem Auto in eine Sackgasse ein. Am Ende steht das Apartmenthaus.

„Wir sind da.“ Cece fährt auf den zur Wohnung gehörenden Parkplatz und stellt den Motor ab.

Durch die Windschutzscheibe schaue ich an dem vierstöckigen Haus hoch. Es sieht sehr hübsch aus. Schöner, als ich je hätte erhoffen können.

Als wir aus dem Auto steigen, öffnet sich der Himmel und wir rennen zum Haus. Mit einem Schlüssel öffnet Cece die Haupteingangstür.

„Wenn wir Besuch kriegen, müssen wir ihn mit dem Türsummer reinlassen“, erklärt sie mir.

Das gefällt mir. Es ist sicher. Wir gehen die Treppe hoch zum zweiten Stock, wo die Wohnung liegt. Cece schließt auf und lässt mich vorgehen. Als Erstes sehe ich ein Willkommen-zu-Hause-Banner an der Decke im Flur. Lächelnd drehe ich mich um.

„Willkommen zu Hause!“, sagt sie und wirft die Arme hoch.

„Du bist so ein Geek“, sage ich lachend. Ich gehe den Flur entlang bis zur ersten Tür und finde das Wohnzimmer vor. Beigefarbene Wände. Eine große braune Ledercouch mit dicken Kissen und einem passenden Sessel. Ein Glastisch davor. Ein Flachbildschirmfernseher auf einem Ahornholz-Schrank. Ich drehe mich um und sehe Cece in der Tür stehen. „Das ist wundervoll, Ce. Hast du das alles allein gemacht?“

Sie kommt rein und setzt sich auf die Lehne des Sessels. „Mein Vater hat die Deko gemacht, und meine Mutter half mir, das Sofa auszusuchen, aber der Rest ist von mir.“

„Wie lange wohnst du schon hier?“ Mit der Hand fahre ich über das weiche Leder der Couch.

„Seit einem Monat. So hatte ich Zeit, alles für dich und Jesse schön zu machen.“

Jesse.

Die Tatsache, dass er nicht bei uns ist, schneidet durch meine Eingeweide. Der Schmerz ist auf meinem Gesicht zu sehen, denn Cece kommt rüber und legt den Arm um meine Schultern.

„Komm, lass uns dein Schlafzimmer ansehen.“

Ich folge ihr aus dem Wohnzimmer den Flur entlang.

„Hier ist das Badezimmer.“ Sie deutet auf eine geschlossene Tür. „Und hier lang geht es in die Küche.“

Ich stecke meinen Kopf durch die offene Tür und sehe eine mittelgroße Küche mit glänzenden weißen Schränken und einem kleinen weißen Frühstückstisch mit vier schwarzen Lederstühlen. „Wie schön“, sage ich.

„Nur das Beste für uns“, informiert sie mich. „Und das hier ist dein Zimmer.“

Ich folge Cece in ein mittelgroßes Schlafzimmer, komplett mit Doppelbett, blassrosa Überwurf, Nachttisch, Kleiderschrank, weißen Wänden und einer Frisierkommode in der Ecke.

„Ich habe hier nicht viel gemacht. Ich dachte mir, du willst ihm deinen eigenen Stempel verpassen.“

„Es ist perfekt“, sage ich.

Dann sehe ich ein Geschenk auf dem Nachttisch liegen. Ich gehe hin, nehme es in die Hand und drehe mich zu Cece um.

„Dein Willkommensgeschenk. Es ist nichts Großes.“

Auf der Bettkante sitzend nehme ich den Deckel von der Schachtel ab. Es ist ein Smartphone darin. Ich sehe Cece an. „Das hättest du nicht …“

Sie setzt sich neben mich auf das Bett. „Du brauchst ein Telefon, damit du Jesse anrufen kannst. Es ist nur ein Prepaidhandy. Ich habe einen Chip für dich reingetan …“

„Cece, das ist zu viel. Die Wohnung, das Handy …“

„Blödsinn.“ Der harsche Tonfall lässt mich sie ansehen. „Es ist das Mindeste, das ich tun kann. Du hattest die schlimmste Zeit, und da war nicht das Geringste, was ich tun konnte, um dir verdammt noch mal zu helfen. Die Wohnung und das Telefon sind Dinge, die ich tun kann, also lass sie mich bitte auch tun.“

Meine Augen stehen unter Wasser. Ich beiße mir auf die Lippen und nicke ihr stumm zu.

„Gut.“ Sie steht auf und geht durch das Zimmer. „Ich habe deine Sachen aus dem Lager geholt. Deine Kleider und Schuhe sind hier drin.“ Sie zeigt auf den Schrank, neben dem sie steht. „Ich wusste nicht, was ich mit den anderen Sachen machen soll, also sind sie noch in den Kartons. Alles hier drin, oben auf dem Regal.“

„Ich danke dir.“

„Hör auf, mir zu danken.“ Sie lächelt sanft. „Willst du jetzt lieber was zu essen bestellen, oder soll ich kochen?“

„Pfannkuchen?“ Cece macht die besten Pfannkuchen der Welt.

Ihr Lächeln wird breiter. „Dann also Pfannkuchen.“

Vollgestopft mit einem Berg von Ceces Pfannkuchen, die sie extra für mich gemacht hat, gehe ich früh ins Bett. Meine Körperuhr ist noch auf Gefängniszeit eingestellt. Das wird wohl noch eine Weile so bleiben, kann ich mir vorstellen.

Aber jetzt, wo ich im Bett bin, kann ich nicht schlafen. Meine Augen sind weit offen, und ich starre an die Schatten an der Decke. Ständig erwarte ich, den Klang von in Schlössern herumgedrehten Schlüsseln und das endlose Weinen und Jammern zu hören, das nachts durch das ganze Gefängnis gehallt hatte.

Ich schalte die Lampe an und setze mich auf die Bettkante. Dann gehe ich zum Schrank, öffne die Tür und starre meine Kleider an, die dort hängen. Cece hat sie gewaschen und gebügelt und für mich aufgehängt. Ehrlich, ich könnte mir keine bessere Freundin wünschen.

Ich greife nach oben und hole eine der Schachteln herunter. Auf dem Teppichboden setze ich mich in den Schneidersitz und öffne die Schachtel. Obenauf liegt mein alter iPod. Ich versuche, ihn einzuschalten, aber er ist tot. In der Schachtel finde ich das Ladegerät. Ich stehe auf und stecke es in die Steckdose, damit ich ihn morgen benutzen kann.

Dann setze ich mich wieder neben die Schachtel. Da ist ein umgedrehter Bilderrahmen. Ich weiß, welches Bild das ist. Das von Jesse und mir, das in unserer alten Wohnung auf dem Kaminsims gestanden hatte. Es wurde aufgenommen, als ich sechzehn war und Jesse sechs. Nicht lange, nachdem Mum gegangen war. Ich nehme es, drehe es um und starre es an. Cece und ich hatten Jesse für den Tag nach Brighton mitgenommen. Wir nahmen den Zug. Mit dem Wetter hatten wir verdammtes Glück, es war ein wunderschöner Tag. Fast den ganzen Tag verbrachten wir am Strand, aßen unser mitgebrachtes Picknickessen und hatten Spaß im Wasser. Es war ein toller Tag. Als wir zurück zum Zug gegangen sind, stoppte Cece uns am Geländer, von dem aus man über den Strand blicken konnte, und schoss dieses Foto. Mein Arm liegt um Jesse und er lehnt sich an meine Seite. Wir lächeln. Der Strand, das Meer und der Himmel bilden den Hintergrund. Wir sehen glücklich aus. Wir waren glücklich.

„Ich werde alles wiedergutmachen, Jesse“, wispere ich dem Foto zu. „Ich hole dich nach Hause, das verspreche ich.“

Mir fällt nicht auf, dass ich weine, bis eine Träne auf den Glasrahmen fällt. Mit der Hand trockne ich mein Gesicht und stehe auf. Ich nehme das Bild mit ins Bett und drücke es fest an meine Brust.

Vier

Schon früh wache ich auf, denn mein Körper läuft immer noch auf Gefängniszeit. Ich brauche einen Moment, um mich zu erinnern, dass ich nicht mehr dort bin, gefangen in einer Zelle. Ich bin in der Sicherheit meines eigenen Zimmers in meinem neuen Zuhause.

Ich bin frei.

Das lasse ich ein paar Minuten einsinken. Ich kann frühstücken, wann immer ich will. Duschen, wann ich will. Und zwar allein, ohne zwanzig andere Frauen.

Erleichterung durchströmt mich.