Erst, als sie das singende Geräusch unter ihrem Kopf hörte, gelang es ihr, die Augen zu öffnen. In der grellen Morgensonne schienen die Zuggleise zu glühen.
Sie lag in einer merkwürdigen Position. Halb auf dem Rücken, den einen Arm unter sich, den anderen auf dem Bauch.
Sie versuchte sich auf die Seite zu rollen, wurde jedoch von einem stechenden Schmerz in der Bauchdecke gestoppt, der sie nach Luft ringen ließ. Während sie sich mit dem Arm den Bauch hielt, blickte sie an ihrem Körper hinunter. Ihr Pulli war zerrissen und wies auf der Vorderseite große dunkle Flecken auf. Rotes klebriges Blut sickerte zwischen ihren Fingern hindurch. Panik erfasste sie.
In der Ferne konnte sie das Herandonnern eines Zuges hören. Als sie sich aufrichtete und mit einem Arm abstützte, blitzte es auf der Schiene neben ihr. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Kreischen. Das Geräusch der Hupe und der quietschenden Bremsen des Zuges gellte in ihren Ohren. Sie schaute blinzelnd im Gegenlicht dem Verlauf der Schienen nach und versuchte dabei ihre Hand als Schutz gegen die Sonne zu heben, doch die unkontrollierten Zuckungen ihres Körpers ließen es nicht zu.
Sie musste aufstehen! Mühsam gelang es ihr, auf alle viere hochzukommen. Dann zog sie ein Knie so weit unter den Bauch, dass sie den Fuß auf den Boden setzen und sich hochstoßen konnte. Der stechende Schmerz und der Schwindel verursachten ihr Übelkeit.
Im Augenwinkel sah sie, wie sich der Zug in rasantem Tempo näherte.
Mit letzter Kraft richtete sie sich vollends auf, doch auf den lockeren Steinen fand sie keinen Halt, sodass sie das Gleichgewicht verlor.
Ihr Schrei verstummte, als ihr Körper vom Zug erfasst wurde.
»Was zum Teufel hattest du dort zu suchen, Leona?«
Meine Chefin Alexandra Risberg starrte mich an, während ich im Krankenhausbett lag. Ihre tiefe Stimme hallte zwischen den sterilen Wänden des Zimmers wider. Ich unternahm einen Versuch, mich zu bewegen und im Bett aufzurichten, doch mein Körper war wie gelähmt.
»Ich … ich … war mit dem Auto unterwegs nach …«
»Genau, das Auto! Der Streifenwagen, den du kurz vorher auf der Wache abgeholt hattest. Wie zum Henker kommt es, dass er ausgerechnet an dem Ort auftaucht, wo es zum schwersten Überfall aller Zeiten auf einen Geldtransporter in Schweden kommt?«
Ich wiederholte die Worte im Stillen.
Der schwerste Überfall aller Zeiten auf einen Geldtransporter in Schweden.
Dass ich, Leona Lindberg, Polizistin und Ermittlerin im Dezernat für Gewaltverbrechen in der Ermittlungsgruppe 2 bei der Citypolizei Stockholm, mich in einer äußerst prekären Lage befand, war mir nur allzu bewusst.
Ich war nach einem fehlgeschlagenen Überfall auf einen Geldtransporter, den ich zudem noch selbst geplant hatte, halb totgeschlagen worden und im Krankenhaus gerade erst wieder zu mir gekommen, und meine Chefin wollte mich offensichtlich einer Art informeller Vernehmung unterziehen.
Ich kramte fieberhaft in meiner Erinnerung nach Einzelheiten, um den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren.
Der Geldtransporter.
Die Polizeiuniformen.
Die Geiseln.
Die Kriminellen.
Meine Tochter Beatrice.
Das Geld.
In meinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander.
Um mich aus dieser Situation herauswinden zu können, musste ich den absoluten Überblick über jedes einzelne Detail des Geschehens besitzen und möglichst schnell eine logische Erklärung parat haben. Unter normalen Umständen hätte mir dies keine Probleme bereitet, doch nachdem ich eine unbestimmte Zeitspanne bewusstlos gewesen war, arbeitete mein Verstand nicht ganz so verlässlich wie sonst.
Die Augen aufzuschlagen und um sich herum nichts als Schläuche und Maschinen zu erblicken, ohne zu wissen, was passiert ist, würde wohl den meisten Menschen einen furchtbaren Schrecken einjagen.
Doch für mich war es nicht nur das.
Ich hasste die klinischen Gerüche, die weißen Kittel und die leeren glasigen Blicke der anderen Patienten. Seit der Darmoperation meines dreijährigen Sohnes waren diese Eindrücke in meinem Bewusstsein ständig präsent. Auch der Anblick meines Exmannes, der unmittelbar vor den Augen des Arztes im Krankenhausflur zusammengebrochen war, hatte sich in meine Netzhaut eingebrannt. Die Chirurgen hatten damals alles in ihrer Macht Stehende getan, doch fatalerweise waren Komplikationen aufgetreten.
Unser geliebter Sohn war tot.
Es spielte keine Rolle, wie viel Zeit seitdem vergangen war – der Gedanke daran verursachte mir noch immer Erstickungsängste.
Es fiel mir zwar schwer, mich im Bett zu bewegen, aber die Verletzungen waren mein geringstes Problem. Das weitaus größere Problem bestand darin, was ich Alexandra sagen sollte.
Viele würden behaupten, dass es das Beste wäre, ehrlich zu sein, aber als Polizistin zu erklären, dass ich eine kriminelle Bande angeführt hatte, um einen Überfall auf einen Geldtransporter zu verüben, würde nicht besonders gut ankommen. Zumindest nicht, wenn ich es vermeiden wollte, meine Zukunft in einem noch kleineren sterilen Raum als dem jetzigen zuzubringen.
Wenn alle Mitglieder der Bande wenigstens getan hätten, was ich ihnen befohlen hatte, dann würde ich jetzt nicht in diesen Schwierigkeiten stecken. Das Geld vom Überfall wäre jetzt noch in meinem Besitz, und ich hätte mich zu diesem Zeitpunkt weit entfernt von Schweden befunden.
Doch daraus war nichts geworden.
Sie hatten meine Instruktionen befolgt, durchaus. Alle außer einem. Und das genügte, um den ganzen Plan misslingen zu lassen. Aber es hätte durchaus noch schlimmer kommen können.
Immerhin lag ich jetzt in einem Bett im Söder-Krankenhaus.
Und nicht auf einer Latexmatratze im Gefängnis.
Oder noch schlimmer – auf einer Bahre in der Leichenhalle.
Alexandras Frage, warum ich mich an einem Ort befunden hatte, an dem zwei Security-Leute als Geiseln genommen worden waren, dürfte einem Außenstehenden leicht sonderbar vorkommen. Denn normalerweise war es nicht weiter verwunderlich, dass sich eine Polizistin an einem Tatort befand, im Gegenteil, genau dort erwartete man schließlich unsere Anwesenheit.
Doch in meinem Fall war es anders.
Ich hätte nicht dort sein dürfen.
Zumindest aus Sicht der Polizeibehörde.
Aber ich hatte hinfahren müssen, um die Situation noch zu retten.
Alexandra stand von ihrem Besucherstuhl neben meinem Bett auf. Ich sah sie wie durch einen Nebelschleier hindurch. Im Gegenlicht des Fensters wirkte ihre Silhouette bedrohlich groß. Sie beugte sich vor und fixierte mich mit ihrem Blick.
»Leona, das reicht nicht! Wenn du mir nicht erklärst, was passiert ist, bleibt mir keine andere Wahl, als …«
Sie verstummte. Ich wusste, was sie sagen wollte. Sie würde mich anzeigen müssen. Wenn sie das täte, würde alles vorbei sein. Alles, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut hatte, wäre umsonst gewesen. All die durchwachten Nächte, die Scheidung von Peter, meine Nebentätigkeit und mein Streben nach einem sinnerfüllten Leben.
Alles würde zunichtegemacht werden.
Für nichts und wieder nichts.
Ich musste unbedingt etwas sagen. Was auch immer.
»Ich …« war alles, was ich hervorbrachte.
Alexandra starrte mich an. Ich spürte, wie mir das weiße Krankenhausnachthemd auf der Haut klebte. Meine Handinnenflächen waren schweißfeucht. Ich wünschte, eine Krankenschwester würde hereinkommen, um mir Blut abzunehmen oder Fieber zu messen. Spritzen verabscheute ich eigentlich, aber jetzt dürfte sie mir gerne in jede Vene meines Körpers Löcher stechen, nur damit ich Zeit gewann, um meine Gedanken zu sortieren. Doch es kam keine. Niemand verschonte mich vor Alexandras forderndem Blick. Ich schluckte.
»Es gab keine anderen freien Wagen.«
Diese Erklärung müsste ausreichen. Alle wussten, dass die Polizei zu wenige Zivilstreifen hatte. Dass ich mir deshalb einen Streifenwagen geliehen hatte, war nur verständlich, insbesondere weil der Auftrag Priorität hatte. Das konnte niemand infrage stellen. Ich fuhr fort:
»Du weißt doch, dass ich versucht hab, die Detonation einer Sprengladung zu verhindern.«
Alexandra bedachte mich mit einem schiefen Lächeln, das eher einem höhnischen Grinsen glich.
»Was meinst du damit? Da gab es keine Bombe.«
»Aber … all das hat doch miteinander zu tun.«
»Es hat miteinander zu tun? Du solltest eigentlich einen Selbstmordattentäter im Krankenhaus vernehmen, aber stattdessen tauchst du an einem ganz anderen Ort auf, und zwar mitten in einer Bande, die gerade zwei Security-Leute als Geiseln genommen hat. Und die Geiselnehmer fahren den Streifenwagen, den du dir ausgeliehen hast. Wie passt das zusammen?«
»Sie haben ihn entwendet.«
»Wie bitte?«
»Den Streifenwagen. Ich hab ihn für ein paar Minuten unbeobachtet gelassen, wollte kurz in einen 7-Eleven-Supermarkt gehen. Als ich wieder rauskam, war er weg. Ich muss die Schlüssel stecken gelassen haben.«
Alexandra betrachtete mich argwöhnisch.
»Und du hast es natürlich sofort gemeldet, als du gemerkt hast, dass sich einer unserer Polizeiwagen in Luft aufgelöst hat?«
»Das Einzige, woran ich in dem Moment dachte, war mein iPad, das noch im Wagen lag. Zum Glück konnte ich es mittels GPS lokalisieren. Und weil ich relativ nah an meiner Wohnung war, hab ich meinen eigenen Wagen genommen und bin ihnen hinterhergefahren.«
Ich wich Alexandras Blick aus.
»Als ich ankam, standen dort mehrere Männer mit gezogenen Waffen. Ich hatte keine Ahnung, was da abging, aber ich war gezwungen, schnell zu handeln.«
Meine Kehle war völlig ausgetrocknet. Das Ganze klang ziemlich abstrus, das merkte ich selbst, aber was konnte sie erwarten von jemandem, der gerade erst wieder zu sich gekommen war?
»Ich habe eine lebensgefährliche Situation für die Geiseln abgewendet und dabei mein eigenes Leben riskiert, Alexandra. Willst du mich dafür wirklich zur Rechenschaft ziehen?«
Ich schaute sie vorwurfsvoll an. Sie grinste noch immer. Ich musste dringend etwas trinken. Ich streckte mich nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch, ergriff es. Es war überraschend schwer. Es entglitt mir, und ich sah, wie es auf dem Fußboden zersplitterte.
Es erzeugte kein Geräusch.
Ich schaute wieder auf. Alexandra reagierte nicht, obwohl die Glassplitter bis an die Wand unter dem Fenster flogen. Stattdessen starrte sie mich weiterhin mit einer Miene an, die nun fast grotesk wirkte. Ihr Gesicht war völlig verzerrt. Deformiert. Sie bewegte sich langsam auf mich zu, und jetzt konnte ich hören, wie die Glasscherben unter ihren Schuhsohlen knirschten. Sie streckte die Arme nach mir aus. Dann schlossen sich ihre Hände um meinen Hals. Sie presste meinen Körper auf die Matratze hinunter. Der Druck war unerträglich. Ich ruderte mit den Armen und versuchte fieberhaft, Sauerstoff in meine Lungen zu saugen. Aber es wollte mir nicht gelingen.
Ich wachte davon auf, dass ich nach Luft rang. Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Ich befand mich in meinem Bett zu Hause in meiner Wohnung. Mein Handy vibrierte auf dem Nachttisch.
Ich hyperventilierte.
Alexandras bohrende Fragerei im Krankenhaus gut ein Jahr zuvor hatte stundenlang gedauert. Seitdem verfolgte die Szene mich in meinen Träumen.
Ich griff nach dem Handy. Keine Nummer auf dem Display. Es war 6.43 Uhr. Ich drückte auf »Annehmen«, brachte jedoch kein Wort hervor.
»Leona, hast du noch geschlafen?«
Alexandras tiefe resolute Stimme ließ mich erschaudern. Sie klang exakt so wie im Traum.
»Nein, nein«, antwortete ich mit belegter Stimme.
Ich log – aus reiner Gewohnheit. Ich log praktisch immer. Nicht nur in harmlosen Situationen wie dieser. Mein Leben war eine einzige große Lüge. Das hatte ich schon immer gewusst. Nur hatte ich bis vor ein paar Jahren nicht einsehen wollen, wie sehr es an mir zehrte. Damals wurde mir klar, dass ich es nicht länger schaffte, die Fassade aufrechtzuerhalten, für deren Errichtung ich mein Leben lang hatte kämpfen müssen. Seit meiner Kindheit war sie eine Überlebensstrategie gewesen. Ohne sie wäre ich untergegangen.
Meine Eltern hatten mir schon früh klargemacht, worauf es im Leben ankam. Ihnen hatte ich es zu verdanken, dass ich einen großen Teil meiner Kindheit allein in einem kalten, feuchten Keller verbracht hatte. So zeigten sie mir, dass sie mein wahres Ich nicht anerkannten, weil es von dem abwich, was sie für normal hielten. Anfänglich weinte und schrie ich, doch das führte zu nichts. Also verstummte ich und redete nur mit den Sternen am Nachthimmel, die ich durch das schmutzige Kellerfenster am Himmel sah.
Meine Mutter behauptete, ich sei anders. Nicht so wie meine Brüder Stefan und Samuel. Meine Brüder waren der ganze Stolz meiner Eltern, und sie hatten jeder ein schönes Zimmer im Obergeschoss.
Als ich meinen Vater sagen hörte, dass meine Eltern vorhatten, mich wegzugeben, begriff ich, was ich zu tun hatte.
Ich musste aufhören, anders zu sein.
Also begann ich, die Menschen um mich herum zu beobachten und mich genauso zu verhalten wie sie. Meine Brüder, die Klassenkameraden, die Schulbusfahrerin, einfach alle. Ich wurde eine Expertin darin, Menschen zu studieren. Bald war ich so gut darin, mich anzupassen, dass niemand mehr merkte, dass ich anders war. Und von da an konnte mir keiner mehr etwas anhaben.
Als Erwachsene machte ich damit weiter. Ich tat alles, was von mir erwartet wurde, bis ich verheiratet war, zwei Kinder und einen festen Job hatte und das perfekte Durchschnittsleben führte, angepasst und langweilig.
Und damit fing alles an.
Ich wachte nachts schweißgebadet auf und kam mir in meinem eigenen Leben gefangen vor. Die Erwartungen der Gesellschaft lasteten wie ein Albdruck auf mir. Ich sollte die perfekte Hausfrau, Mutter, Ehefrau sein und dazu noch eine vorbildliche Polizistin. Und all die Jahre hatte ich die Erwartungen perfekt erfüllt. Ich führte das Leben eines Roboters. In dieser Form weiterzuleben wurde jetzt zu einem Ding der Unmöglichkeit.
Also machte ich mich auf den Weg in die Freiheit.
Mein Ziel war es, weit entfernt von Schweden noch einmal neu anzufangen und endlich ein Leben zu führen, in dem ich mich nicht mehr verstellen musste.
Doch der Weg dahin hatte sich als beschwerlicher erwiesen als erwartet, und paradoxerweise erforderte er erst recht, dass ich mich verstellte. Ich hatte viele Opfer gebracht, hatte gewisse Grenzen überschritten, und ein Zurück gab es nicht mehr.
Mein letzter Plan war gescheitert, doch ich hatte bereits einen neuen geschmiedet.
»In der Nähe der Bahnstation Karlberg ist eine Frau vom Arlanda-Express erfasst worden«, sagte Alexandra jetzt am Telefon.
»Aha«, erwiderte ich trocken.
Es war nicht so selten, dass Leute in einer Großstadt vor einen Zug sprangen. Eine einfühlsamere Reaktion von meiner Seite konnte sie nicht erwarten.
»Die Kollegen vor Ort haben berichtet, irgendetwas am Unglücksort sei ihnen merkwürdig vorgekommen.«
Ich war froh, nicht länger im Außendienst zu arbeiten. Bei einem solchen Vorfall als Erste am Unglücksort einzutreffen war nicht sehr angenehm.
»Ist sie vom Bahnsteig gestoßen worden?«, fragte ich und schob die Bettdecke zur Seite.
»Komm zu mir ins Büro, wenn du dort gewesen bist«, gab Alexandra statt einer Antwort zurück und legte auf. Wie immer, ohne sich zu verabschieden.
Ich legte das Handy zurück auf den Nachttisch. Dann stand ich auf und ging ins Bad, um zu duschen. In der Wohnung in Vasastan, die ich gemietet hatte, hatte ich keine Vorhänge anbringen lassen, sodass man von der anderen Straßenseite sowohl ins Schlaf- als auch ins Wohnzimmer sehen konnte. Was mir aber nichts ausmachte. Wenn jemand gegenüber am Fenster stand, um mir auf die nackten Brüste zu starren, sollte er es doch tun. Ich ließ mir meine Alltagsgewohnheiten nicht von irgendwelchen Idioten nehmen.
Während das heiße Wasser über meinen Körper rann, massierte ich mir die Kopfhaut. Meine Schulter schmerzte bei manchen Bewegungen noch immer, obwohl mein Krankenhausaufenthalt schon über ein Jahr her war. Ich war damals im Eingangsbereich des Krankenhauses schwer verletzt zusammengebrochen, und noch immer wies mein Körper deutliche Spuren der Misshandlungen auf.
Meine Erklärung zum Ablauf des Geschehens während des Raubüberfalls in Arlanda war möglicherweise etwas unglaubwürdig gewesen, aber nicht gänzlich unwahrscheinlich. Bei der Arbeit als Polizistin wurde man oft mit weitaus bizarreren Erklärungen konfrontiert. Wenn die Leute wüssten. Sowohl Alexandra als auch ich waren uns im Klaren darüber, dass ihr keinerlei Beweise für einen anderen Tathergang vorlagen und sie somit nicht viel tun konnte. Hinterher war sie mir gegenüber ziemlich kurz angebunden gewesen, was mir aber nichts ausmachte.
Ich hatte sowieso kein Interesse an einem sozialen Umgang mit meinen Vorgesetzten.
Das Schlimmste an dem Vorfall war, dass meine Tochter Beatrice in die Sache hineingezogen worden war. Ein zu allem entschlossener Franzose hatte sie in seine Gewalt gebracht, um an mich heranzukommen. Danach hatte mein Exmann das alleinige Sorgerecht für Beatrice gefordert, sodass sie nun bei ihm wohnte. Ich zwang mich dazu, es zu akzeptieren, denn ich begriff, dass er recht hatte. Außerdem wollte ich ihn nicht noch mehr gegen mich aufbringen, denn ein aufreibender Sorgerechtsstreit würde keinem von uns beiden nützen. Derzeit sah ich Beatrice nur hin und wieder an Wochenenden. Mehr war bis auf Weiteres nicht drin.
Als ich im Badezimmer aus der Dusche stieg, war der Spiegel über dem Waschbecken komplett beschlagen. Ich öffnete das kleine Fenster, um kühle Herbstluft hereinzulassen. Während sich der Dunst auf dem Spiegel allmählich verzog, inspizierte ich meinen Körper. Ich erhielt oftmals Komplimente für mein Aussehen, und mir war klar, dass viele Männer mich attraktiv fanden. Sowohl die weichen als auch die festen Körperpartien saßen an den richtigen Stellen, aber eigentlich war es mir egal. Mein Körper hatte bislang einwandfrei funktioniert, was das einzig Wichtige für mich war. Als Kind hatte er die Kälte im Keller ausgehalten, in den meine Eltern mich regelmäßig gesperrt hatten, und als Erwachsene war es ihm gelungen, zwei Kinder zu gebären. Die körperlichen Eignungsprüfungen bei der Polizeihochschule waren zwar anspruchsvoll, für mich aber kein Problem gewesen. Ich war kein ausgesprochener Fitness-Fanatiker, aber ich joggte zweimal in der Woche und machte regelmäßig Liegestütze und Sit-ups. Das genügte, um mich in Form zu halten.
Ich fuhr mit einer Hand über eine der Narben unterhalb des Bauchnabels. Meine Haut heilte für gewöhnlich sehr gut. Doch die Haut in diesem Bereich fühlte sich taub an.
Ich nahm ein Handtuch, frottierte mir die Haare, bis sie sich lockten. Dann warf ich den Kopf in den Nacken, spürte, wie die kalten Tropfen auf meinen Rücken spritzten und daran hinunterliefen. Schließlich schlang ich mir das Handtuch um den Oberkörper, schob mir die elektrische Zahnbürste in den Mund, schaltete sie ein und ging damit zurück ins Schlafzimmer. Slip, BH, T-Shirt, Jeans, Strümpfe – das meiste davon konnte ich mit einer Hand anziehen, während die Zahnbürste in meinem Mund vibrierte. Wenn ich sonst nichts anderes zu tun hatte, kamen mir die drei Minuten, die man fürs Zähneputzen aufbringen sollte, unendlich lang vor. Ich schaffte es sogar, nebenbei noch meine neue Kaffeemaschine zu füllen, bevor ein Vibrieren der Zahnbürste mir signalisierte, dass die drei Minuten um waren. Ich machte mich rasch fertig und ging dann mit einem Pappbecher in der Hand hinunter in die Garage. Unterwegs trank ich meinen Kaffee, damit er nicht kalt wurde. Denn wenn er nicht so heiß war, dass ich mir leicht die Zunge daran verbrannte, mochte ich ihn nicht mehr.
Auf der Fahrt zum Sankt Eriksplan dachte ich über das Zugunglück nach, von dem Alexandra gesprochen hatte. Was meinte sie damit, dass irgendetwas am Unglücksort merkwürdig gewesen sei?
Bereits oben von der Brücke, der Sankt Eriksbron, aus erblickte ich die Einsatzkräfte. Die Kollegen hatten die Gleise direkt am Zaun abgesperrt. Zwei Streifenwagen, ein Polizeibus und ein Feuerwehrwagen standen daneben auf der Straße. Auf der Brücke hatten sich Schaulustige versammelt und starrten hinunter aufs Gleis.
Gaffer waren mir schon immer ein Dorn im Auge. Als ich bemerkte, wie ein Mann das Geschehen mit seiner Handykamera filmte, ging ich auf ihn zu, riss ihm das Handy aus der Hand, warf es auf den Asphalt und trat drauf. Dann machte ich kehrt und ging zurück in Richtung der Treppe, die zum Unglücksort hinunterführte.
»Was zum Teufel fällt Ihnen ein!«, rief der Mann und lief hinter mir her.
Ich drehte mich abrupt um. Zückte meinen Dienstausweis und hielt ihm das Ding vor die Nase.
»Dort unten ist eine Person vom Zug erfasst worden. Da stellt man sich nicht hin und filmt, ist das klar?«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging ich weiter auf die Treppe zu.
Ich sah mich um. In der Nähe des Unglücksortes befanden sich mehrere Hochhäuser. Während ich die Treppe hinunterging, sah ich mindestens fünf, sechs Leute, die am Fenster standen. Alles potenzielle Zeugen.
»Der Krankenwagen hat sie schon abtransportiert«, erklärte der uniformierte Kollege, der mich unter der Absperrung hindurchließ.
»Sie lebt also noch?«
Er nickte.
»Sie war sogar bei Bewusstsein, als wir eintrafen. Pelle hat mit ihr geredet, bis der Krankenwagen kam«, antwortete er und deutete mit dem Blick in Richtung eines Kollegen, der auf den Schienen stand.
Ich zeigte auf das große Loch im Zaun. Der Kollege schüttelte den Kopf.
»Man kann noch so viele Zäune oder Mauern hochziehen. Es kommt trotzdem immer jemand durch.«
Er seufzte.
»Pelle«, rief er dann, »kannst du der Ermittlerin den Fall schildern?«
Ich ging auf Pelle zu.
»Leona Lindberg, Gewaltverbrechen. Hat sie dort gelegen?«, fragte ich und deutete auf die Blutlache neben der einen Schiene.
»Wir haben um 6.05 Uhr den Alarm reinbekommen und waren ein paar Minuten später hier. Kein schöner Anblick. Ein Bein lag dort, abgetrennt vom Körper. Und der Fuß des anderen lag da hinten …«
Er deutete auf eine blutbesudelte Betonschwelle.
»Und die Frau lag hier. In den Armen der Zugführerin. Sie hatte die Frau da hingeschleift, um zu verhindern, dass sie noch mal überfahren wird. Wie Sie sehen, liegen die Gleise hier ziemlich dicht nebeneinander.«
»Ist die Zugführerin schon vernommen worden?«
Pelle schüttelte den Kopf.
»Man konnte kein vernünftiges Wort aus ihr rauskriegen.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Die von der Zuggesellschaft kümmern sich um sie. Ein paar Leute vom Psychologischen Dienst sind gekommen. Die kennen sich mit so was aus. Elin Davidsson heißt die Zugführerin. Sie ist offenbar neu in dem Job, arbeitet erst seit ein paar Monaten hier. Stand unter Schock, als wir kamen. Erst saß sie ganz ruhig da und wiegte die Frau wie in Trance in ihren Armen, doch als wir übernehmen wollten, wurde sie plötzlich völlig hysterisch und weigerte sich, sie loszulassen.«
»Und die überfahrene Frau?«
»Sie war noch am Leben. Ich hab ihre Hand gehalten und …«
Er räusperte sich und richtete den Blick zu Boden.
»Na ja, ich glaub nicht, dass sie mitbekommen hat, was um sie herum geschah. Sie gab so ein sonderbares Geräusch von sich, fast so, als würde sie summen. Das war ziemlich unheimlich.«
Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzte sich.
»Das erste Zugunglück für Sie?«
Er schüttelte den Kopf.
»Man gewöhnt sich nur einfach nicht dran«, entgegnete er und steckte sein Taschentuch wieder zurück in die Tasche. »Wie auch immer, die beste Möglichkeit, um hier reinzugelangen, ist jedenfalls dort, von wo Sie gerade gekommen sind – durch die Öffnung im Zaun.«
»Haben wir die Personalien der Frau?«, fragte ich.
Der Unfall war zwar tragisch, aber bis jetzt hatte ich noch keine Auskünfte darüber erhalten, warum ausgerechnet ich zu dem Unglücksort gerufen worden war.
»Anita Litzell, geboren 1969. Sie leidet den Angaben zufolge unter einer psychischen Störung.«
Ich nickte und beobachtete ein Stück entfernt einen der Schaulustigen, der versuchte, sein Handy zwischen den Stäben des Zauns hindurchzuschieben, um ein Foto zu machen.
»Können Sie mir sagen, aus welchem Grund ich hier bin, Pelle?«, fragte ich. »Deutet irgendetwas darauf hin, dass es sich hier um etwas anderes als einen Selbstmordversuch handelt?«
»Kommen Sie«, forderte er mich auf und ging ein Stück weiter.
Nach einigen Schritten deutete er auf den Boden neben dem Gleis. Ich trat vor und schaute hinunter. Ging in die Hocke, um besser sehen zu können.
»Das ist ja ein Ding«, sagte ich leise.
Auf einer Betonschwelle neben dem Kiesbett war ein größerer Blutfleck zu sehen. Der Fleck an sich war nicht weiter ungewöhnlich, denn die Frau war schließlich vom Zug überfahren worden. Aber in dem Blut konnte man deutlich die Spur einer groben Schuhsohle erkennen.
»Was hatte die Frau an den Füßen?«, fragte ich.
»Nur Strümpfe. Soweit wir es bis jetzt beurteilen können, gibt es keinerlei Fußspuren von ihr. Und wir haben auch keine Schuhe in der Nähe gefunden. Die Techniker sind schon unterwegs, und wir bemühen uns, nicht allzu viel hier herumzulaufen.«
»Und die Schuhe der Zugführerin?«, fragte ich.
»Die haben wir uns angesehen. Stiefel mit einer ganz anderen Sohle. Außerdem in einer kleinen Damengröße.«
Das Blut und der Schuhabdruck mussten demnach schon dort gewesen sein, bevor die Frau vom Zug erfasst wurde. Ich ließ meinen Blick von der Schiene bis hin zur Öffnung des Zauns schweifen. Auf den spitzen Steinen neben dem Gleisbett waren Blutstropfen zu erkennen.
»An der Öffnung befindet sich noch mehr Blut«, erklärte Pelle.
Ich folgte ihm. Neben dem Zaun erstreckte sich eine kleine Fläche mit Erde und Sand, auf der ebenfalls ein Schuhabdruck sichtbar war, diesmal allerdings vom hinteren Teil der Sohle. Hier war es noch deutlicher zu erkennen, dass der Abdruck nicht von einem Damenschuh stammte. Der Abdruck war auffällig tief. Derjenige, der dort gegangen war, war entweder sehr schwer, oder er hatte etwas Schweres getragen. Mit ein wenig Glück würde der Abdruck einen Treffer in unserer Datenbank erzielen. Die technische Untersuchung würde ebenfalls zeigen, ob alles Blut am Unglücksort von Anita Litzell stammte oder ob sich auch die DNA einer weiteren Person fand.
Ich sah hinauf zu den Fenstern der Hochhäuser.
»Befragen Sie so viele Anwohner wie möglich, bis wir übernehmen«, wies ich Pelle an. »Ich will, dass alle Leute vernommen werden, deren Fenster auf die Gleise gehen. Wie sieht es bezüglich der Überwachungskameras auf der Strecke aus?«
»Hier gibt es keine, da wir uns genau zwischen zwei Bahnstationen befinden.«
»Ich möchte, dass die Aufzeichnungen aus den vergangenen zehn Stunden sowohl vom Hauptbahnhof als auch von der Station hier gespeichert werden. Rolltreppen, Bahnsteige, alles.«
Ich schaute auf die Uhr.
»Sorgen Sie dafür, dass sich die Bild- und Tonanalysegruppe darum kümmert, bevor sie gelöscht werden.«
»Ich kümmere mich drum.«
»Wir brauchen ebenfalls die Personalien aller Zugführer, die in den vergangenen Stunden auf dieser Strecke unterwegs waren. Sie könnten vielleicht etwas gesehen haben. Um diese Uhrzeit fahren schließlich viele Züge.«
Ich betrachtete den Zaun.
»Wenn jemand die Frau auf die Gleise gelegt hat, muss er mit dem Auto gekommen sein und hier unter der Brücke geparkt haben. Überprüfen Sie, ob es in irgendeiner der Straßen in der Nähe Geldautomaten mit Überwachungskameras gibt.«
Ich schaute mich weiter um.
»Der Zaun. Wir müssen herausfinden, ob das Loch schon länger drin war oder erst zu diesem Zweck reingeschnitten wurde, und wenn Letzteres, mit welcher Art von Werkzeug. Erinnern Sie die Techniker daran, damit es nicht vergessen wird.«
Eigentlich wussten alle Polizisten um die Wichtigkeit der einleitenden Ermittlungsmaßnahmen, aber es war nicht ungewöhnlich, dass irgendetwas übersehen wurde, worunter wir Ermittler dann zu leiden hatten. Es war unmöglich, nach ein paar Wochen noch einmal an einen Tatort zurückzukehren, um das nachzuholen, was am Anfang übersehen worden war.
Bevor ich ging, drehte ich mich noch einmal um und betrachtete den Unglücksort. Die Puzzleteile ergaben einfach kein zusammenhängendes Bild. Dass jemand versuchte, einen Mord zu vertuschen, indem er ihn wie einen Selbstmord aussehen ließ, war nichts Ungewöhnliches, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass es sich hier um etwas ganz anderes handelte.
Eine weitaus größere Sache.
»Es spielt keine Rolle, was du willst, David, kapiert?«
Kriminalinspektor Mats Stensund stand direkt vor ihm und schrie ihn an. David Lind holte tief Luft. Mehrere Jahre hatte er als Polizeiinformant gearbeitet. Das war zugleich das Ende seiner kriminellen Karriere gewesen. Doch ausgerechnet jetzt, wo er sich endlich ein eigenes Leben aufbauen wollte, kam ein Bulle daher und musste alles wieder zerstören.
Das Ganze hatte vor einigen Jahren auf einer Party bei einem Kumpel angefangen. Eine Polizeieinheit hatte die Wohnung gestürmt und Drogen gefunden. David und drei andere Leute hatten mehrjährige Haftstrafen aufgebrummt bekommen. Danach hatte ihm ein Kriminalbeamter einen Job als Informant angeboten, was David als Chance begriff, der Kriminalität abzuschwören. Doch erst, als es schon zu spät war, hatte er festgestellt, wie naiv er gewesen war, das Angebot anzunehmen. Anstatt einen Weg aus der Kriminalität herauszufinden, war er gezwungen worden, genau in dem Milieu zu verharren, von dem er wegwollte.
Davids ehemaliger Kontaktmann, Kriminalinspektor Sven Malmström, kam später bei einem Autounfall ums Leben. Für David die Gelegenheit, seine Tätigkeit als Spitzel zu beenden. Er hoffte, dass damit alles abgeschlossen sein würde. Doch stattdessen war jetzt ein anderer Bulle auf die Idee gekommen, ihn zu terrorisieren – Svens Kollege Mats.
Mats Stensund war um die fünfundvierzig, trug eine Siebzigerjahrefrisur und Oberlippenbart. Genau wie Sven führte er sich auf wie ein durchgeknallter Spinner. David hatte Mats nur einmal zuvor getroffen, und das war zusammen mit Sven gewesen.
»Hast du in deinem Spatzenhirn immer noch nicht realisiert, dass Sven nur deinetwegen sterben musste?«, fuhr Mats ihn an.
Sven hatte David unter Druck gesetzt und Informationen von ihm verlangt, die David ihm unmöglich beschaffen konnte. Sven hatte ihn auch in Situationen gebracht, die leicht hätten aus dem Ruder laufen können, wenn David nicht selbst Strategien entwickelt hätte, um sich zu schützen. Er hatte Sven zwar nicht den Tod gewünscht, aber er konnte auch nicht unbedingt sagen, dass er um ihn getrauert hätte. Er war einfach erleichtert gewesen, dass es vorbei war. Doch jetzt schien alles noch schlimmer zu werden.
»Verkauf mich nicht für blöd, David. Ich weiß, dass du der Letzte warst, der mit Sven telefoniert hat, bevor er starb. Ich weiß, dass du in den Arlanda-Raub involviert warst.«
Mats zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und steckte sich eine zwischen die Lippen.
»Ich weiß über dich Bescheid.«
Er zündete die Zigarette an und nahm ein paar hektische Züge.
»Und ich kannte Sven gut genug, um zu wissen, dass er dich nie bei einem verdammten Überfall auf einen Geldtransporter hätte mitmischen lassen. Deshalb ist mir klar, dass du es auf eigene Faust getan hast. Hat Sven überhaupt gewusst, dass du ihn hintergangen hast?«
David antwortete nicht. Er wollte kein Sterbenswörtchen über den Coup preisgeben. Die Bullen drehten einem jedes Wort im Mund um, sodass man am Ende als Schuldiger dastand. Und außerdem hatte er nicht das geringste Bedürfnis, daran zurückzudenken, wie kläglich der Arlanda-Raub gescheitert war.
Das einzig Gute an der Sache war, dass er in diesem Zusammenhang einer Polizistin begegnet war, die anders war als alle übrigen Bullen, die David bislang kennengelernt hatte. Ein Kumpel hatte ihm erzählt, welchen Aktivitäten sie neben ihrer Arbeit nachging, und hatte ihn ihr vorgestellt. David wollte zuerst nicht glauben, dass es stimmte, und dachte, sein Kumpel hätte die eine oder andere Line zu viel gezogen, doch dann konnte er sich selbst von der Richtigkeit seiner Schilderungen überzeugen. Dass es Bullen gab, die hin und wieder das Gesetz brachen, hatte er schon oft erlebt, doch das hier war etwas ganz anderes. Eine Polizistin, die ausgeklügelte Verbrechen beging. Und noch dazu in dieser Art und Weise! Sie war unglaublich scharfsinnig und hatte David persönlich unter ihre Fittiche genommen.
Leona war in einer coolen Weise verrückt. David hatte damals eine Freundin gehabt, doch Leona hatte ihn völlig in seinen Bann geschlagen. Nachdem zwischen David und Saga Schluss war, hatten Leona und er angefangen, sich zu treffen. Allerdings nur sporadisch. Manchmal wurde er einfach nicht schlau aus ihr. Und jetzt tat sich eine weitere Hürde zwischen ihnen auf. Er war Polizeiinformant, und das durfte sie unter keinen Umständen erfahren.
Leona hatte den Arlanda-Raub geplant, doch die anderen Beteiligten hatten es verbockt, und dann war alles den Bach runtergegangen.
Merkwürdigerweise kam Mats nicht auf all die Millionen zu sprechen, die nach dem Überfall verschwunden waren. David hatte ihm versichert, dass er keinen Zugang zu der Beute hatte, was auch stimmte, aber Mats hatte es einfach so hingenommen, ohne weiter nachzufragen. Dass er so wenig persönliches Interesse an der Knete hatte, machte David misstrauisch. Das bedeutete nämlich, dass Mats ein verdammt ehrgeiziger Bulle war, dem ausschließlich daran gelegen war, Erfolge zu erzielen, mit denen er gegenüber seinen Vorgesetzten glänzen konnte. Er schien Gefallen daran zu finden, Leute zu schikanieren, und offenbar hatte er es jetzt auf David abgesehen.
»Sven hat versucht, dich von der Teilnahme am Arlanda-Raub abzuhalten, um deine Haut zu retten, aber du hast dich geweigert, auf ihn zu hören, habe ich recht? Und das war das Letzte, was er im Leben getan hat. Verdammte Scheiße, David!«
Mats stieß eine weitere Rauchwolke aus.
»Sven und ich haben siebzehn Jahre lang zusammengearbeitet. Er war ein erstklassiger Polizist.«
David zwang sich, nichts zu entgegnen. Dass Sven ein derart erstklassiger Bulle gewesen sein sollte, konnte er kaum bestätigen.
»Aber ich gebe dir jetzt die Chance, deinen Fehler wiedergutzumachen, David«, sagte Mats, wurde jedoch vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Er zog es aus der Hosentasche und schaute aufs Display.
»Warte hier.«
Er entfernte sich ein paar Schritte. David nahm sein eigenes Mobiltelefon zur Hand, während er Mats leise sprechen hörte.
»Natürlich tue ich das, aber ich kann jetzt nicht länger reden, das weißt du doch. Ich muss arbeiten.«
Mats’ Stimme hatte einen anderen Tonfall angenommen. Obwohl er mit leiser Stimme sprach, konnte David hören, was er sagte.
»Ja, ich liebe dich, aber ich muss jetzt auflegen, mein Schatz. Was? Mandarinen und Vollkornkekse, okay, besorge ich auf dem Heimweg«, sagte er und sah verstohlen in Davids Richtung.
David tat, als läse er etwas auf seinem Display, während er im Augenwinkel Mats mit raschen Schritten auf sich zukommen sah.
»Jetzt hör mir gut zu, David. Du wirst uns wie gehabt mit Informationen versorgen. Nur dass du jetzt zu mir damit kommst.«
Seine Stimme hatte wieder den harten Tonfall von vorher angenommen. Mats ließ seine Kippe auf den Boden fallen und trat sie aus. David starrte ihn an.
»Jetzt guck nicht so erstaunt. Das ist doch nichts Neues für dich. Und ich lass mich nicht linken, kapiert? Versuch also nicht noch mal, Spielchen zu spielen!«
»Ich will den Job nicht mehr machen. Das hab ich doch schon gesagt. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe vor zu studieren«, sagte David.
Jetzt guckte Mats erstaunt. Dann lachte er laut los.
»Studieren? Was willst du denn studieren? Atomphysik, oder was? Es ist doch immer dasselbe mit euch. Erst wollt ihr in eine Klinik, um clean zu werden, dann soll es eine Villa sein und ein Volvo vor der Haustür, und bei der nächsten Gelegenheit hängt ihr high am Bahnhofsvorplatz rum oder lasst euch bei einem dilettantischen Raubüberfall erwischen. Einfach lachhaft!«
David sah ihn wütend an. »Aber ich hab keine Informationen für Sie.«
»Dann musst du eben welche besorgen«, entgegnete Mats. »Du willst doch nicht wegen dieser Geldtransportergeschichte in den Knast wandern, oder? Dann wärst du so einige Jährchen weg vom Fenster.«
David biss die Zähne zusammen. Mats hatte recht damit, dass er der Letzte war, mit dem Sven telefoniert hatte. Er hatte selbst mit angesehen, wie sich Svens Wagen hinter ihm überschlug, und im Stillen gedacht, dass niemand so einen Unfall überleben konnte. Welche Beweise Mats für Davids Beteiligung am Raubüberfall hatte, wusste er nicht, doch angesichts dessen, dass die Sache so kläglich gescheitert war, bestand die Gefahr, dass er wirklich etwas in der Hand hatte, das für eine Verurteilung ausreichen würde. David wagte nicht darauf zu setzen, dass Mats nur bluffte. Mehrere Jahre im Knast wegen schweren Raubs würde er nicht überstehen.
Was war nur mit diesen verfluchten Bullen los? Sosehr er auch versuchte, sich aus diesem Schlamassel herauszuziehen, es gelang ihm einfach nicht. Und das Verrückteste daran war, dass ihn ausgerechnet ein Bulle wieder zurück ins Milieu schickte.
»Gut, dann sind wir jetzt vollzählig«, sagte Alexandra, als ich den kleinen Konferenzraum in unserer Abteilung betrat.
Ich nickte Fredrik zu, der lächelte, als er mich sah. Er war der einzige Kollege, mit dem man noch reden konnte. Cilla, der blonde Sonnenschein des Büros, saß mit ihrer typisch beseligten Miene da und hob die Hand, um mir zuzuwinken.
Ich seufzte im Stillen.
Jetzt war also wieder Teamwork angesagt.
Meine Arbeitssituation war inzwischen so unerträglich geworden, dass ich sofort ein unangenehmes Kribbeln am Körper verspürte, sobald ich nur das Polizeigebäude betrat. Von offizieller Seite wurde die Polizeiarbeit in den Himmel gelobt und auf die hohe Aufklärungsrate hingewiesen, obwohl es uns nicht gelang, mehr als circa achtzehn Prozent aller Fälle zu lösen – ein Prozentsatz, der mir geradezu lächerlich erschien. Und dann die Kollegen. Durch die Bank sexistisch, rassistisch und homophob. Immer bereit, sich gegenseitig Rückendeckung zu geben, um Schweinereien zu vertuschen. Typen, die ihre Arbeitstage damit verbrachten, am Computer Patience zu spielen. Dabei taten sie, als wären sie schwer beschäftigt. Wenn es Ärger gab, waren natürlich die anderen schuld, die Verbrecher, irgendwelche Vorgesetzten oder die Politiker. Auch wenn sie ihren Fall nicht lösen konnten. Dann war eben die Bevölkerung schuld, die zu dumm war, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, und damit das Verbrechen überhaupt erst provozierte. In den Kaffeepausen fragte man sich, wie dämlich und leichtgläubig die eigenen Kollegen eigentlich waren. Geschimpft wurde auch gern über die Führungsebene mit ihrem Hang, ständig alles umzuorganisieren, was jedes Mal damit endete, dass Unmengen Steuergelder in alle möglichen Projekte, Geräte und Ausrüstungsgegenstände flossen, die so schlecht funktionierten, dass sie am Ende verschrottet werden mussten. Gelder, die man besser für Gehaltserhöhungen verwenden sollte …
Ich war das alles so leid. Doch bedauerlicherweise besaß ich nicht die finanziellen Mittel, um zu kündigen. Noch nicht.
Aber bald.
Währenddessen tat ich alles, um möglichst wenig Zeit auf dem Revier verbringen zu müssen.
An der Stirnseite des Tisches saß der Ermittlungsleiter Patrik Bergström.
»Hallo Leona, wir haben eben erst angefangen. Ich habe gerade erzählt, was du uns am Telefon über den Unglücksort berichtet hast. Inzwischen hat sich übrigens auch eine Ärztin aus dem Karolinska-Krankenhaus in Solna gemeldet. Der Zustand der verunglückten Frau ist ernst. Sie wird gerade operiert. Wie du vermutet hast, ist es offensichtlich alles andere als ein Selbstmordversuch. Die Ärztin sagt, dass die Frau Verletzungen am Körper aufweist, die höchstwahrscheinlich nicht vom Zugunglück herrühren.«
Ich blieb auf halber Strecke zu meinem Stuhl stehen.
»Ach ja?«
Wenn ich Glück hatte, bot sich mir gerade die perfekte Gelegenheit, um dem Gelaber meiner Kollegen zu entkommen.
»Ich könnte hinfahren und mit ihr reden. Fangen wir doch gleich damit an, oder?«
Ich beobachtete meine Kollegen am Tisch und hoffte, dass keiner von ihnen Lust hatte, jetzt mit dem Auto durch den frühen Berufsverkehr zu kurven.
»Die Zugführerin muss ebenfalls vernommen werden«, fuhr ich fort. »Vorhin stand sie noch unter Schock. Aber wenn ich schon mal unterwegs bin, könnte ich die Vernehmung gleich mit übernehmen. Es ist wichtig, dass sie so bald wie möglich befragt wird.«
Im Raum war es ganz still. Ich schaute einen nach dem anderen an.
»Dann hätten wir das auch erledigt, meine ich.«
Cilla und Fredrik schauten Patrik und Alexandra an. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen, Arbeitsaufteilung vorzuschlagen.
»Okay«, sagte Patrik und nickte mir zu.
Alexandra stand auf.
»Erstatte mir aber gleich nach dem Gespräch mit der Ärztin Bericht. Ich muss möglichst bald entscheiden, wie viele Ressourcen für diesen Fall erforderlich sind.«
Ich drehte mich um, zufrieden darüber, meinen Willen durchgesetzt zu haben.
»Ich kann dich begleiten, Leona«, flötete Cilla.
Ich hielt inne. Der Gedanke daran, Cilla im Schlepptau zu haben, gefiel mir gar nicht. Zum Glück kam Fredrik mir zu Hilfe.
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir beide hierbleiben. Zurzeit kommen Unmengen von Infos rein, darunter die Zeugenaussagen infolge der Personenbefragungen und viele andere Angaben, die wir durchgehen müssen. Und außerdem haben wir jede Menge Beweismaterial zu sichten.«
»So machen wir es«, entschied Patrik. »Ihr beide bleibt hier. Leona, du redest zuerst mit der Ärztin und vernimmst dann die Zugführerin.«
Es war amüsant zu beobachten, dass männliche Vorgesetzte die einzigartige Fähigkeit besaßen, ihre Worte so klingen zu lassen, als wären sie selbst diejenigen, die eine Anordnung erließen, obwohl vor ihnen bereits jemand anders die Beschlüsse gefasst hatte. Aber ich ließ ihn reden. Hauptsache, ich konnte allein fahren.
»Wie lautet die Beschuldigung genau?«, fragte ich und schaute Patrik an.
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Frau auf die Schienen gelegt wurde. Dazu auf eine viel befahrene Bahnstrecke. Wir müssen abwarten, wie sich die Sache entwickelt und ob sie es überlebt, aber im Augenblick lautet die Beschuldigung ›versuchter Mord‹.«
Ich bemühte mich, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, das mich immer in Krankenhäusern befiel. Ich schaute auf den Bildschirm, wo Annika Endahl, die Ärztin und Teamleiterin im Traumazentrum des Karolinska-Krankenhauses, einen Ordner mit Fotos öffnete.
»Die Patientin weist die typischen Verletzungen auf, die man bei dieser Art von Zugunglück erwarten kann. Außer der vollständigen Abtrennung des linken Beins und des rechten Fußes hat sie noch weitere Verletzungen an den Extremitäten und inneren Organen sowie am Brustbein und an den Rückenwirbeln.«
Ich nickte.
»Nichts Ungewöhnliches also, aber darüber hinaus hatte sie noch andere Verletzungen, die mich stutzig gemacht haben. Deshalb habe ich einen Mitarbeiter gebeten, Sie zu kontaktieren. Sehen Sie hier.«
Sie öffnete mit einem Doppelklick ein Foto, auf dem eine Hautfläche mit einer länglichen, offensichtlich großen, aufgeplatzten blutigen Narbe zu sehen war.
»Was ist das für ein Körperteil?«, fragte ich.
»Der Rumpf mit der unteren Rippenpartie. Und hier …«
Sie deutete auf einen Teil des Wundrands.
»… hier kann man Spuren von Einstichen erkennen. Die Form dieser Narbe ist recht typisch für eine bestimmte Art von Operation.«
»Operation?«
»Der Naht und der Wunde nach zu urteilen, ist sie nur wenige Stunden vor ihrer Einlieferung in unsere Klinik durchgeführt worden.«
»Und was für eine Art von Operation?«
Sie öffnete einen anderen Ordner, und eine Anzahl von Röntgenbildern wurde auf dem Bildschirm sichtbar.
»Bei dieser Art von Unfällen, bei denen man nicht genau weiß, welche inneren Verletzungen der Patient erlitten hat, führt man eine Computertomografie durch, oder ein Schichtröntgen, wie es auch genannt wird. Damit erhält man detaillierte Bilder von allen menschlichen Organen.«
Sie klickte ein schwarz-weißes Röntgenbild an, das den Körper der Frau im Querschnitt zeigte.
»Hier ist das Rückgrat. Seitlich davon sitzen an der Hinterwand der Bauchhöhle jeweils die Nieren. Die rechte können Sie hier sehen.«
Sie umkreiste mit einem Stift den Bereich auf dem Bildschirm.
»Aber wie Sie sehen, fehlt die linke.«
Es war eindeutig. Der helle ovale Bereich war nur auf einer Seite zu sehen.
»Was könnte der Grund dafür sein?«
»Es kann unterschiedliche Gründe geben. Wenn man zum Beispiel einen bösartigen Tumor diagnostiziert hat, entfernt man oftmals die gesamte Niere. Aber in der Akte dieser Patientin steht nichts, was darauf hindeutet, dass sie sich einer Nierenoperation unterziehen musste.«
Die Ärztin lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück.
»Die Alternative wäre, dass sie eine Niere gespendet hat, zum Beispiel einem Angehörigen. Derlei Operationen werden in der Transplantationschirurgie des Karolinska-Universitätskrankenhauses in Huddinge vorgenommen. Wir haben zwar noch nicht mit den Ärzten dort gesprochen, können uns aber bei Ihnen melden, nachdem wir es getan haben.«
»Danke, aber ich kann selbst Verbindung dorthin aufnehmen.«
Abzuwarten, dass andere von sich hören ließen, schien mir noch nie eine gute Strategie gewesen zu sein.
Sie räusperte sich.
»Eine Sache noch«, sagte sie und deutete mit einem Stift auf die Operationsnaht. »Auch wenn die Narbe infolge des Zugunglücks aufgeplatzt ist, kann man dennoch sehen, dass die Stiche auf ungefähr einem Drittel dicht und regelmäßig gesetzt sind, aber auf dem restlichen Teil sind sie so weit voneinander entfernt, dass es notgedrungen zu starken Blutungen kommen musste.«
Das war also die Erklärung für die Blutstropfen abseits der Gleise.
»Und wie sieht ihre Prognose aus?«, fragte ich. »Wird sie überleben?«
»Um das zu sagen, ist es noch zu früh. Die meisten Selbstmordversuche vor Zügen misslingen und resultieren nur in schweren Verletzungen und Verstümmelungen. In diesem Fall verkompliziert die Nierenoperation die Lage natürlich noch.«
»Ist das hier ihre Kleidung?«, fragte ich und deutete auf eine Plastiktüte, die auf einem Stuhl lag.
Sie nickte.
»Darin müsste sich alles befinden.«
Ich öffnete meine Tasche und nahm mehrere Minigrip-Beutel heraus. Es war nicht gut, dass diese Art von Beweisstücken in Plastiktüten verwahrt wurde, wie es in Krankenhäusern der Fall war. Wenn sie mit Blut oder anderen Flüssigkeiten besudelt waren, war es für die technische Analyse wichtig, dass sie in Papiertüten und getrennt voneinander lagen.
»Wo haben Sie Handschuhe?«, fragte ich.
Sie stand auf, ging zu einem der Regale an der Wand, griff nach einem Behälter mit Einmalhandschuhen und reichte ihn mir. Ich zog zwei aus dem Schlitz heraus und streifte sie über. Dann öffnete ich die Plastiktüte und zog ein zerrissenes und steifes, dunkelgraues Kleidungsstück heraus, das aussah, als wäre es einmal ein Pulli gewesen.
»An der Vorderseite war er schon aufgeschnitten. Die Ärmel haben wir selbst aufgeschnitten«, erklärte die Ärztin. »Die Hose auch.«
Die dunkle Baumwollhose war ebenso wie der Pulli ziemlich schmutzig und steif vom geronnenen Blut.
»Und was trug sie an den Füßen?«, fragte ich.
Von den Kollegen vor Ort wusste ich, dass sie keine Schuhe getragen hatte, aber sicher war sicher.
»Ihre Schuhe müssten auch darin liegen.«