Für Paolo, der vielleicht nicht ahnt, dass er diese Kugel ins Rollen gebracht hat
Als Enid in die Küche kam, strahlte die Sonne durchs Fenster, und fettiger Bratwurstdunst hing in der Luft. Olive hatte den Tisch schon gedeckt – mit Würstchen, Brot und Rahm. Sie stand in Kleid und Schürze am Tresen, das dunkle Haar mit einem Stoffstreifen zurückgebunden, und arbeitete. Enid fand, es war zu früh dafür.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Enid so beiläufig wie möglich.
»Ich wünschte, ihr würdet das nicht alle dauernd fragen«, sagte Olive, ohne von dem Teigkloß aufzublicken, den sie knetete, faltete und auf die Arbeitsfläche drosch, als könnte sie ihn in das Holz versenken.
Drei weitere Teigkugeln lagen schon in Schüsseln und gingen auf. So viel Brot würden sie hier in Serenity nicht brauchen. Vermutlich wollte Olive mit anderen Haushalten in Haven handeln.
Enid konnte sich einfach nicht zurückhalten. »Wie lange bist du schon auf?«
Olive lächelte gequält. »Noch nicht so lange wie Berol jedenfalls.« Berol hatte auf der Ziegenfarm außerhalb der Stadt die Frühschicht übernommen. Er stand also immer als Erster auf.
»Willst du dich nicht lieber ausruhen? Du brauchst nicht so hart zu arbeiten.«
»Ich will mich nützlich machen. Ich muss doch zu etwas gut sein.«
Das bist du!, dachte Enid. Aber vielleicht bedeutete Ausruhen für Olive, dass man sie in Ruhe ließ und sie mit ihrer Trauer nach der Fehlgeburt umgehen konnte, wie sie wollte. Auch wenn dazugehörte, Unmengen an Brot zu backen.
»Tee?«, fragte Olive, als Enid ihre erste Brotscheibe mit Rahm bestrich.
»Gern.«
Olive strahlte. So eine Kleinigkeit konnte sie glücklich machen. Sie eilte zum Herd und füllte die Kanne – Wasser hatte sie natürlich längst heiß gemacht. Als der Tee gezogen war, legte Enid die Hände um ihren Steingutbecher, genoss die Wärme, ließ sich den Dampf in die Nase steigen und versuchte, Olive nicht weiter zu bedrängen.
Sie plauderten über das Wetter und ihre Stadt, über den bevorstehenden Herbstmarkt und welche Haushalte von außerhalb bei der Gelegenheit wohl nach Haven kommen, welche alten Freunde sie wiedersehen würden. Der übliche Klatsch und Tratsch: wer mit wem schlief, ob die Getreideernte über oder unter Soll ausfallen würde, und wenn über Soll, ob das Komitee vorhatte, im nächsten Jahr mehr Felder brachliegen zu lassen, auch wenn manche sich beschweren würden, die Stadt könnte mit dem Überschuss doch mehr Einwohner ernähren, könnte endlich mehr Banner ausgeben. Mehr Banner, das wollten immer alle.
Nach dem Frühstück half Enid beim Abräumen, kam aber nicht weiter, als den Tisch abzuwischen. Den Becher und den Teller hatte Olive ihr schon abgenommen.
»Und was hast du heute vor?«, fragte Olive.
»Mal sehen, ob sie in der Klinik Hilfe brauchen. War nicht viel zu tun in letzter Zeit.«
»Ist doch gut, wenn nicht viel zu tun ist, hm?«
Denn wenn Enid zu tun hatte, dann war immer etwas schiefgelaufen. »Stimmt.«
Sie zog eine Weste über ihr Hemd, nahm ihren Strohhut vom Haken und ging aus dem Haus. Vor der Tür blieb sie gleich wieder stehen, denn gerade kam Tomas den Weg entlang.
Tomas war ein Mann in den mittleren Jahren mit vielen Lachfältchen im hellen, wettergegerbten Gesicht. Das halb ergraute Haar trug er in einem kurzen Pferdeschwanz. Trotz seiner durchschnittlichen Größe strahlte Tomas Autorität aus. Er trug die Uniform der Ermittler: Gürtel und Stiefel aus schlichtem Leder, dazu Hemd und Hose aus erdbraunem Stoff – eine viel sattere, dunklere Farbe, als man sie von der Alltagskleidung kannte.
Enid begriff gleich, dass es Arbeit für sie gab.
»Traust du dir was zu heute?«, fragte er, nachdem sie sich begrüßt hatten.
»Was denn?«
»In Pasadan gab’s einen ungeklärten Todesfall.« Die Sorgenfalten in seiner Stirn waren jetzt tiefer als die Lachfältchen.
Enid sah ihn verblüfft an. Sie hatte Diebstähle und Betrugsfälle aufgeklärt – Haushalte, die dieselben Getreidesäcke oder Weinfässer zweimal eintauschten oder einen Handel platzen ließen. Sie war bei Schlägereien eingeschritten, hatte Räuber gestellt. Und dann gab es die bannerlosen Schwangerschaften – Frauen, die ein Kind bekamen, weil ihr Implantat versagt hatte oder, was seltener vorkam, weil sie geplant hatten, es geheim zu halten. Eine Geburt geheim zu halten, war so gut wie unmöglich; soweit sie wusste, war es nie jemandem gelungen. Andererseits hätte sie es natürlich auch nicht gewusst, wenn es gelungen wäre. Die meisten Leute wären sicher davon ausgegangen, dass bannerlose Schwangerschaften für Enid die schlimmsten Fälle waren. Die schwersten Fälle, weil sie die Entscheidung treffen musste, ob ein Unfall passiert war, dessen Folgen behoben werden konnten, oder ob jemand die heiligsten Werte der Küstenstraßengemeinschaft mit Absicht in den Schmutz gezogen hatte.
Mord war selten geworden. Viel seltener als in der Vorzeit, nach dem, was die Zeitzeugen erzählten. Natürlich kam er vor, wie immer, wenn genug Leute auf mehr oder weniger engem Raum zusammenlebten. Trotzdem hatte Enid nicht geglaubt, dass sie einmal einen aus der Nähe mitbekommen würde. Vielleicht würde sie es auch nicht: Ein ungeklärter Todesfall war erst einmal nur ungeklärt. Aber Tomas wirkte sehr ernst.
»Komm doch rein und erzähl mir alles«, sagte sie.
***
Tomas setzte sich in der Küche an den Tisch.
Olive, die noch immer Brotteig knetete, drehte sich nach ihm um und grüßte freundlich. »Oh, Besuch! Soll ich noch einen Tee …« Aber dann stockte sie und sah Tomas mit großen Augen an. Es war die Uniform. Jeder erschrak davor, selbst wenn es ein alter Freund war, der sie trug.
»Tee wäre großartig, danke«, sagte Tomas. »Wie geht es dir, Olive?« Es klang nett und unverbindlich, ganz anders als die zudringlichen Fragen, die Enid und die anderen im Haushalt ihr seit einer Woche stellten, also antwortete sie auch unverkrampft.
»Mir geht’s gut«, sagte sie, wischte sich die Hände ab und füllte frische Teeblätter in die Kanne. »Wenn ihr arbeiten müsst, kann ich auch gehen …«
»Nicht nötig«, sagte Tomas. »Du hast zu tun; lass dich nicht stören.«
Olive goss den Tee auf und kümmerte sich wieder um ihr Brot. Sie formte einen der Teigklöße zu einem runden, nach Hefe duftenden Laib.
»Also, worum geht’s?«, fragte Enid. Ungeklärter Todesfall sagte ihr viel zu wenig.
»Jemand aus dem Pasadaner Gemeindekomitee hat uns angefordert. Der Tote ist ein Mann um die dreißig. Mehr weiß ich nicht.«
»Das liegt dreißig Meilen südlich, oder?«, fragte Enid. »Ziemlich kleines Nest.«
»Paar Hundert Leute. Stabil eigentlich, Selbstversorger und ein bisschen Handel. So weit gesund, dachten die Regionalen immer.«
»Und glauben sie tatsächlich an Mord?«
Olive unterbrach ihre Arbeit und schaute ungläubig zu Enid herüber.
In dem Moment kam Sam herein – barfuß und ohne Hemd, sodass unter der braunen Haut seine drahtigen Muskeln sichtbar waren. Sam war schmal gebaut und doch stark. Die Leute hielten ihn nur für einen Schwächling, bis sie zum ersten Mal sahen, wie er sich einen Mehlsack einhändig über die Schulter schwang. Ihm konnten auch Stürme nichts anhaben.
»Hm? Mord?«, murmelte er verschlafen und bemerkte erst dann Tomas und seine Uniform. »Ach so, ihr habt zu tun. Dann bis später.« Er wandte sich zum Gehen.
»Setz dich, Sam«, sagte Tomas. »Trink einen Tee.«
Sam sah Enid fragend an, und sie bemühte sich, beruhigend zu lächeln. Warum auch nicht, es war ja schließlich ihre Arbeit. Und Sam gehörte zur Familie, zu denen, die immer hinter Enid standen. Die sie erwarteten, wenn sie nach Hause kam.
»Morgen, mein Lieber«, sagte sie und küsste Sam auf die Wange.
Er setzte sich an den Küchentisch und ließ sich von Enid einen Teebecher geben. »War hier von Mord die Rede?« Er legte ungläubig die Stirn in Falten. Es war ihm nicht zu verdenken.
Tomas entgegnete: »Das Wort ist bisher nicht gefallen, aber wir sollen den Fall untersuchen.« Er wandte sich an Enid. »Traust du dir das zu? Du sollst die Ermittlungen leiten.«
»Ja, sicher. Irgendjemand muss es ja tun. Aber … gibt es Zeugen? Was ist überhaupt passiert?«
»Das weiß ich nicht, aber die Leiche ist noch da. Ansonsten müssen wir eben sehen.«
»Wenn die Leiche da auf Eis liegt, müssen wir uns beeilen«, sagte Enid.
»Ich dachte, wir könnten in ein paar Stunden los, wenn wir uns im Archiv umgesehen haben.«
Tja, zumindest wusste sie jetzt, was sie zu tun hatte.
»Wird denn alles wieder gut?«, fragte Olive.
Bei der Frage schauten sich alle nach Tomas um, dem Ältesten in der Runde, dem Mentor, und er ließ sich mit der Antwort Zeit. Was sollte man dazu sagen? Für die meisten würde natürlich alles gut werden, oder doch so gut wie alles. Aber nicht für den Toten und für die, die ihn geliebt hatten.
»Mach du dir keine Sorgen«, sagte er. »Wir erledigen einfach unsere Arbeit.«
Die Arbeit – als Ermittler durch die Lande zu ziehen wie düstere Vorboten des Schreckens.
»Ach, ich sorge mich sowieso immer«, sagte die liebe, süße Olive, und ihr Lächeln war fast schon wieder normal. Dann seufzte sie. »Zumindest ist es kein Bannervergehen.«
Sie hatte neuerdings tiefes Mitleid mit Haushalten, die in Bannervergehen verwickelt wurden. Wenn man sich sehnlichst ein Kind wünschte, konnte man schon auf die Idee kommen, die Regeln zu brechen, sagte sie, um dann gleich zu versichern, sie selbst würde so etwas natürlich niemals tun. Aber verstehen konnte sie es. Schließlich konnte es auch passieren, dass man alles richtig machte, ein Banner verdiente, und dann machte die Natur einem einen Strich durch die Rechnung.
Über der Küchentür hing ein gewebtes Stück Stoff an der Wand, je einen Fuß hoch und breit, mit einem Schachbrettmuster in Rot und Grün, wie das Blut und das Leben. Das Banner, das sie sich zu viert erarbeitet hatten. Sie stammten alle selbst aus Haushalten, in denen man die Banner stolz an den Wänden herzeigte. Dieses hier war ihr erstes, und sie durften auf weitere hoffen. Aber Olive hatte eine Fehlgeburt erlitten. Jetzt hatten sie ein Banner und kein Kind dazu. Enid sagte Olive immer wieder, dass sie Zeit hatten und es noch einmal versuchen würden. Das Banner konnte ihnen niemand mehr nehmen.
***
Enid und Tomas verabredeten sich im Archiv, wo sie alles durchsehen würden, was sich an Unterlagen über Pasadan auftreiben ließ, falls darin irgendetwas zu finden wäre. Irgendetwas, was nicht stimmig war. Irgendetwas, was ihnen auffiel und ihnen verstehen helfen konnte, was sie in Pasadan erwartete.
Als Tomas aufgebrochen war, ging Enid in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Mit der Uniform, dem erdbraunen Hemd und der Hose legte sie immer auch die Haltung an, die den Leuten klarmachte, dass sie das Sagen hatte, dass ihr Wort Gesetz war.
Das Wohnhaus ihres Haushalts Serenity war geräumig. Zu der Küche und dem Arbeitsraum kamen mehrere Schlafzimmer. Olive und Berol bewohnten das im Erdgeschoss, und Enid und Sam lebten oben. Dort saß sie jetzt auf ihrem Bett, das Hemd neben sich ausgebreitet, den Rucksack zu ihren Füßen, und musste sich erst einmal sammeln. So sah Sam sie, als er hereinkam: den Kopf in die Hände gestützt und sehr verletzlich, wenn auch nur für einen Augenblick.
Er setzte sich zu ihr. Das Geflecht unter der Matratze ächzte, und Enid schwankte von seinem Gewicht.
»Musst du nicht zur Arbeit?«, fragte sie, richtete sich auf und fuhr sich durch das kurze Haar, um sich nichts anmerken zu lassen.
»Wir arbeiten an der neuen Scheune drüben in End Zone. Das eilt nicht. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Ja, klar«, sagte sie. »Vermutlich ist es ein Missverständnis. Ein Mord ist ziemlich unwahrscheinlich, oder?«
»Du wirst es herausfinden, so oder so.«
»Das ist nett, dass du an mich glaubst.«
Sie hielt ihm die Hand hin, und er drückte sie. Seine dunklere Haut hob sich gegen ihre hellsandfarbene ab. Schwielig und zerschunden waren beide Hände, so rau, dass sie aneinander hängen blieben. Enid zog Sam zu sich heran und gab ihm einen langen Kuss, den er hocherfreut erwiderte. Sie hoffte, dass sie bald zurück sein würde, um ihn noch einmal zu küssen, dass er recht hatte und sie den Fall schnell würde aufklären können.
Unten in der Küche war Olive mit den Broten fertig und räumte den Tresen ab.
»Sollte nicht länger dauern als ein paar Tage«, sagte Enid, den Rucksack schon auf der Schulter. »Sag Berol schöne Grüße, ja?«
»Warte, Enid. Was ich noch sagen wollte …« Olive zögerte und senkte den Blick auf ihre Hände. Sie vermied es, wieder aufzusehen. »Ich habe überlegt, dass du es vielleicht einmal versuchen solltest. Vielleicht war es von vornherein für dich bestimmt.«
Es. Das Banner. Das Kind.
Wie konnte Olive das so beiläufig zu jemandem sagen, der gerade einen Todesfall aufklären musste? Olive war die Mütterliche von ihnen beiden und Enid die Ruhelose, ständig auf Reisen. Es war so ungerecht, was Olive passiert war, dass es Enid Tränen in die Augen trieb, aber sie blieb ruhig – die Uniform half ihr dabei – und antwortete in einem Ton, der keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit lassen sollte: »Es bleibt bei dem, was wir entschieden haben. Gib dich nicht gleich auf, Mädchen! Das Banner gehört dir.«
Sie trat auf Olive zu, küsste sie auf die Wange und wandte sich zum Gehen. Olive sah erschöpft aus, aber auch dankbar.
An der Tür ergriff Olive noch einmal ihre Hand. »Pass auf dich auf, Enid. Das klingt nach einem schwierigen Fall.«
»Keine Sorge«, sagte Enid. »Wir werden schneller zurück sein, als du denkst.«
»Na hoffentlich«, sagte Olive streng.
***
Serenity lag am Rande von Haven, einer Stadt an der Küstenstraße. Der Ort schmiegte sich in ein weites, grasbestandenes Tal, zwischen sanften Hügeln und einem offenen Himmel. Weiden, Felder, Obstgärten, Weinberge und die Haushalte, die sie bewirtschafteten, säumten die gewundenen Wege und die Überbleibsel alter Straßen. Haven kam mit Umgebung auf ein paar Tausend Einwohner. An wichtigen Markttagen konnte es im Ort richtig voll werden. Aber meistens war hier viel Platz.
Der Fußmarsch von Serenity zur Klinik im Ortskern dauerte nicht lange, vielleicht zwanzig Minuten, wenn man einfach der Küstenstraße folgte. Enid kam an weiteren Haushalten, an Gemüsegärten und Werkstätten vorbei. In der Schmiede glühten die Öfen, und aus der Töpferei waren Stimmen zu hören. Hühner kakelten in ihren Ställen, und hinter einer Scheune meckerten Ziegen.
Die Stadt war längst auf den Beinen. Viele winkten Enid zu, wenn sie sie kommen sahen, schreckten aber zurück, sobald sie ihre Uniform bemerkten. Die Uniform veränderte einen, und man konnte sich noch so gut kennen – die meisten behandelten einen wie einen Fremden, wenn man sie trug. Da half es wenig, dass Enid freundlich lächelnd zurückgrüßte.
Das Archiv war im Keller der Klinik. Dieses Gebäude war eins von wenigen, die aus der Zeit vor dem Ende erhalten geblieben waren, und wirkte fremd zwischen den neueren Häusern aus Holzbohlen und Gipsverputz. Die Klinik war aus glattem Beton und Stahl, ein streng geometrisches, eckiges Gebilde, wie das herausgebrochene Stück eines größeren Ganzen. Das Dach war mit Solarpaneelen bedeckt, bis auf Aussparungen für die Oberlichter, und die Regenrinnen mündeten in einen Wassertank. Die schmucklosen Fenster waren hoch und schmal. Eine Veranda war angebaut worden, und den Weg zur Tür säumten Zitronenbäume.
Die Klinik lag am Marktplatz, wo neben den Verkaufsbuden auch Platz für den Gemeinschafts-Kräutergarten war. Mehrere Haushalte pflegten die Beete, ernteten die Kräuter und bereiteten daraus Gewürze und Medikamente zu. Jetzt, im Spätsommer, roch es hier beinahe überwältigend. Minze, Salbei und Lavendel und noch viele andere Düfte wallten träge über den Platz. Es war stickig und heiß; Enid war froh um ihren Hut, der vor der Sonne schützte.
Die Hauptstraße quer durch den Ort war einmal asphaltiert gewesen. Als der Belag zerfiel, wurden die Bruchstücke weggeschafft. Das war vor Enids Lebzeiten geschehen, aber in ihrer Kindheit hatte Tante Kath noch davon erzählt – von den Überresten der Vorzeit und was nötig gewesen war, um zu überleben. Ein Schatten war davon geblieben: der Verlauf mancher Straßen und die Fundamente der Häuser. Aber man hatte eine neue Welt darauf erbaut. Mehr wusste Enid damals nicht darüber, aber Tante Kath hatte oft auf der Veranda vor der Klinik gesessen und gemurmelt: Es ist alles so anders heute.
Tomas stand schon am Eingang zum Keller. Enid nickte ihm zu, und er hob eine der hölzernen, angeschrägten Klappen und ging voran.
Die Betontreppe führte direkt in einen großen Raum. Es gab einen Schalter für das elektrische Licht, das mit den Solarpaneelen auf dem Dach betrieben wurde. Die Decke war so niedrig, dass Tomas gebückt gehen musste, aber in der Länge und Breite bot der Keller viel Platz für überquellende Regale, Truhen, Kisten und Plastiktonnen. Es war wie in einem Museum: ein Sammelsurium von Dingen aus der Vorzeit, von denen die Leute gedacht hatten, sie könnten noch einmal nützlich sein … oder die sie hatten erhalten wollen, obwohl sie nicht mehr nützlich waren. Die staubige, verbrauchte Luft hier unten kitzelte in der Nase.
Den Kern der Sammlung bildeten die Bücher, Hunderte davon. Es hieß, die Gründer von Haven hätten mehrere Bibliotheken geplündert. Ratgeber zur Landwirtschaft, zur Lebensmittelkonservierung, zu Bewässerungssystemen und zur Heilkunde – alles, was sie für unentbehrlich hielten. Aber es gab auch Romane, Essays, Zeitschriften und Tageszeitungen, lauter Dinge, die damals verzichtbar gewesen wären. Inzwischen war eine Zeitkapsel daraus geworden. Ein Überbleibsel aus einer versunkenen Welt. Dazu noch die Tagebücher und Briefe, die Berichte von Leuten, die das Ende selbst erlebt hatten – jetzt waren sie Geschichte. Für Ermittler gehörte es zur Ausbildung, solche Zeugnisse zu lesen, um ihre Verfasser zu verstehen. Um zu verstehen, wo ihre Gesellschaftsordnung herkam und warum es ihre Regeln gab: damit so etwas nicht noch einmal passierte.
Ein kleiner Schreibtisch in einer Ecke des Kellers diente den Ermittlern als Arbeitsplatz, wo sie Beweismittel sichten und Berichte über ihre Fälle verfassen konnten. Wo sie ihr kollektives Wissen mehrten. Auch die Aufzeichnungen der Komitees wurden hier gesammelt, gebunden und in schlichtes Leder eingeschlagen: Dokumente zu Erntemengen, Geburten und Todesfällen, Sturmschäden, sozialen Ereignissen und Veranstaltungen. Lokalgeschichte, auch Personenporträts.
Viel war es nicht. Die wechselnden Komitees und Ermittler hatten erst vor gut zwanzig Jahren mit den Aufzeichnungen begonnen, lange nach dem Ende. Anfangs hatte man andere Sorgen gehabt, das Papier war knapp, und man hatte nicht wissen können, ob es überhaupt eine Zukunft geben würde, in der sich jemand für ihre Niederschriften interessierte. Irgendwann kam dann doch die Idee auf, ein Archiv könnte praktisch sein. Es war leichter, Anbauflächen und Nachwuchszahlen vorauszuplanen, wenn man in der Vergangenheit Muster erkennen konnte. Seitdem wuchs diese neue Sammlung.
Enid und Tomas suchten die betreffenden Bände heraus, teilten sie sich auf und begannen mit der zähen Lektüre. Sie waren keine zwanzig Minuten dabei, als Tomas fragte: »Erinnerst du dich an Tante Kath?«
»Natürlich.«
»Sie hat oft davon erzählt, dass man nicht wusste, was man retten sollte. Alles ging ja nicht, also mussten sie sich entscheiden. Und sie hat oft bedauert, dass bestimmte Dinge nicht erhalten geblieben sind.«
»Kameras. Und Gummihandschuhe.« Enid erinnerte sich sehr gut. Sie konnte fast die leise, heisere Stimme der alten Dame hören, wie sie sich beklagte.
»Frischhaltefolie«, fügte Tomas hinzu, und beide lächelten. Frischhaltefolie war eins von Tante Kaths Lieblingsthemen gewesen, denn wenn man ihr glaubte, hatte man in der Vorzeit Tausende Dinge damit angestellt. Jedes Mal, wenn ihr eine dieser Verwendungsmöglichkeiten einfiel, fing sie wieder damit an. Ihre Zuhörer hatten nie richtig verstanden, wovon sie sprach.
»Irgendwann stoßen wir auf einen gut erhaltenen Keller oder ein älteres Archiv und finden diese Frischhaltefolie«, sagte Enid.
Tomas zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt sind wir ohne ausgekommen. Seit Kaths Tod scheint niemand mehr dieses Zeug zu vermissen. Aber ich frage mich gerade, ob es ihnen damals so ging wie uns jetzt. Wir wollen uns alles merken, weil wir nicht wissen, was wir brauchen werden. Aber das geht nicht. Irgendetwas werden wir vergessen oder übersehen und müssen doch hoffen, dass genau das nicht passiert.«
Sie versuchten, sich anhand der Aufzeichnungen ein Bild von Pasadan zu machen und von dem, was sie dort erwartete. Aber es kam nicht viel dabei heraus. All die sauber beschrifteten Tabellen, die ordentlich ausgefüllten Zeilen, die verblasste Tinte in verschiedenen Handschriften, die Namen und Beschreibungen der Komiteemitglieder – letztendlich sagten sie nichts über Pasadan aus. Sie hätten von jedem beliebigen kleinen Ort an der Küstenstraße handeln können, aber es ging um den einen, der die Ermittler angefordert hatte, um einen Todesfall aufzuklären.
Sie würden nichts über Pasadan erfahren, bis sie selbst dort gewesen waren.
Fünfzehn Jahre davor
Es begann mit Windböen, die Enid im Garten von Plenty beinahe umgeworfen hätten. Sie hatte die Aufgabe, die Gartengeräte einzusammeln und die Tomaten- und Zucchinipflanzen anzubinden, damit sie nicht ausgerissen würden. Bei dem peitschenden Wind, der jetzt aufkam, wurde diese alltägliche Aufgabe zu einer gefährlichen Mission. Etliche Pflanzen lagen schon flach am Boden. Enid bemühte sich mit zitternden Fingern, einen letzten Knoten festzuzurren. Stürme waren nichts Neues für sie, aber diesmal fühlte es sich anders an, knisternd und bedrohlich, und tiefschwarze Wolken breiteten sich vom Horizont über den Himmel aus.
Enids Mutter Peri, eine der Ärztinnen von Haven, schaute aus der Kellertür und rief nach ihr. »Enid! Lass gut sein und komm!«
Es fing an zu regnen. Dicke Tropfen bohrten sich in die lose Erde und prasselten auf Enid ein. Sie waren eiskalt und taten richtig weh. Bald würden sie wie aus Eimern fallen. Enid rannte mit ein paar anderen Mitgliedern des Haushalts zur Kellertür. Der Wind heulte.
Als Letzter stieg Tomas durch die hölzernen Klappen, den Hammer in der Hand, mit dem er bis eben noch Fenster vernagelt hatte. Er trug sein braunes Haar zum Pferdeschwanz gebunden und dazu ein schweißnasses, verschmutztes Hemd.
»Das wird ja ein Spaß, hm?«, sagte er mit einem Grinsen zu Enid, legte den Hammer beiseite und schloss mit beiden Händen die Kellertür.
»Was?« Sie staunte ihn mit großen Augen an. Enid wäre nie auf die Idee gekommen, dass daran etwas spaßig sein könnte.
»Kommt rein, ihr zwei, na, kommt.« Peri klopfte Tomas auf die Schulter, drängte ihn die schmale Stiege hinunter und nahm Enid in den Arm. Der Sturm hatte Strähnen aus ihrem Haarband gelöst, die ihr jetzt an den verschwitzten Wangen klebten. »Alles gut, mein Schatz?«
»Ja«, sagte Enid, aber ohne echte Überzeugung. Die Erwachsenen sahen so besorgt aus. Sie schauten schmallippig, mit gerunzelten Brauen zur Kellerdecke, als könnten sie durch das Holz und das Erdreich sehen, was am Himmel vor sich ging. Und sie zogen wie Peri ihre Kinder zu sich heran.
Plenty war ein wohlhabender Haushalt, mit einem halben Dutzend Kinder unter achtzehn Jahren. Das Kleinste weinte, und es schien niemanden zu kümmern. Bei einem Sturm im Keller ausharren zu müssen, war schließlich ein guter Grund zu weinen. Tomas dagegen hockte oben auf der Stiege und ließ die Hand auf dem Türgriff ruhen, als wollte er hindurchfassen und den Sturm berühren. Die Gefahr machte ihn hellwach.
»Du siehst aus, als würdest du am liebsten mal rausgehen und schauen«, sagte eine der Frauen.
»Am liebsten schon«, antwortete er. Einige lachten nervös. Ein Donnerschlag brachte sie zum Schweigen. Der Regen trommelte auf die Tür wie mit tausend Fäusten.
Alle Fenster waren vernagelt und die Türen verriegelt, die Wassertanks geleert und festgezurrt, die Windmühlenflügel gesichert. Alles Vieh stand in den Ställen; was auf den Feldern schon erntereif war, hatte man eingebracht. Jetzt blieb nichts mehr zu tun, als zu warten.
Selbst im Keller strich der Wind über die lehmigen Wände und pfiff durch die Ritzen an der Tür. Der Regen war so laut wie Donnerschläge, und der Donner klang, als ob die Erde bebte. So etwas hatte Enid noch nie gehört. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr diese Wucht sie erschreckte. Dieser Sturm konnte einen Menschen mit sich reißen.
Stundenlang tobte das Unwetter. Enid suchte sich einen Winkel, wo sie sich in eine Decke gewickelt an die Wand lehnte, die Beine angezogen, und doch nicht schlafen konnte.
Die dreißig Bewohner von Plenty waren fast vollständig im Keller versammelt, bis auf wenige, die Bereitschaftsdienst in der Klinik hatten. Sie hatten Laternen, reichlich Trinkwasser, Decken, Nahrung und einen Eimer hinter einem Vorhang, der als Latrine diente. Trotzdem zog die Zeit sich quälend hin. Viele versuchten zu schlafen, schreckten aber beim nächsten Donnerschlag wieder hoch, klammerten sich aneinander und starrten schweigend die Decke an.
»Was meint ihr, wie schlimm es ist?«, fragte jemand.
»Bestimmt der schlimmste Sturm, den wir je hatten«, sagte jemand anderes.
»Nein, weißt du noch, der eine, als der Fluss über die Ufer getreten ist und das Haupthaus von Angelos weggerissen hat? Der Haushalt wurde nie wiederaufgebaut.«
Von da an diskutierten die Älteren über die Stürme in der Vergangenheit: welcher bisher der heftigste gewesen war und ob er vor zwanzig Jahren gewütet hatte oder vor fünfundzwanzig. Nur wenn der Regen stärker wurde und sie übertönte, schwiegen alle wieder eine Weile.
Die Älteste von allen war Tante Kath, die sich noch an die Zeiten vor dem Ende erinnern konnte; als Haven gegründet wurde, war sie ein Teenager gewesen. Deshalb wollten alle irgendwann von ihr die Antwort wissen.
»Oh nein, das ist nicht annähernd der schlimmste«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Jemand hatte für sie einen Sessel in den Keller getragen, in dem sie in mehrere Decken eingewickelt saß. Eins der kleineren Kinder schlief zusammengerollt zu ihren Füßen. Sie war eine dürre, gekrümmte Alte mit schütterem Haar. Schon seit Jahren war sie blind und konnte nicht mehr arbeiten, aber in Plenty schätzte und umsorgte man sie, als wäre sie die Großmutter von ihnen allen. Die Letzte, die sich noch erinnerte. »Der heftigste Sturm, das war der, der L.A. zerstört hat. Das hier ist damit nicht zu vergleichen. Aber eigentlich kommen einem Stürme gleich weniger schrecklich vor, wenn man weniger zu verlieren hat.« Sie gluckste heiser.
Für Enid war dieses Unwetter eindeutig das heftigste ihres Lebens, aber sie war eben auch erst zwölf. Wenn sie den Erwachsenen so zuhörte, ahnte sie, dass noch Schlimmeres kommen würde. Sie versuchte sich auszumalen, wie das aussehen mochte, und stellte fest, dass sie Tomas verstehen konnte: Auch sie war neugierig darauf, einen noch stärkeren Sturm zu erleben. Wenn dieser nicht annähernd so schlimm wie andere war, wie schlimm war dann erst der schlimmste?
Wieder vergingen Stunden. Die Luft im Keller wurde stickig und feucht. Jetzt weinten schon mehrere Kinder. Enid riss sich zusammen, aber auch ihr war zum Heulen zumute. Gern hätte sie Tomas gebeten, die Tür aufzumachen, einen kleinen Spaltbreit nur. Immer wieder sprachen andere sie an, und sie hatte es satt, immer dieselben Fragen beantworten zu müssen: Ja, es ging ihr gut, und nein, sie hatte keinen Hunger, und dass sie Angst hatte, brauchte keiner zu wissen.
Peri überzeugte sich mehrmals, ob es allen im Keller gut ging, und kam zuletzt auch bei Enid vorbei. »Und, kommst du zurecht?«
»Ja!«, sagte Enid und verzog unwillkürlich das Gesicht. Was, wenn dieser Sturm nie wieder aufhörte? Und die Überschwemmungen, von denen sie gehört hatte, die Blitzschläge und Brände – was, wenn so etwas auch hier passierte?
Peri lächelte und strich ihr über den Kopf. »Es wird wohl bald vorbei sein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil in der gesamten Geschichte der Menschheit noch niemals ein Sturm nicht wieder aufgehört hat.«
»Kann ich nicht rausgehen? Nur ganz kurz, nur einmal gucken?« Sie wollte weg von den weinenden Kindern, den zudringlichen Erwachsenen, von der klebrigen Hitze …
»Schau mal, sogar Tomas ist geduldig.« Tomas saß noch immer auf der Treppe. Er hatte den Kopf auf die Knie gelegt und schien zu schlafen, trotz des Lärms, der stickigen Luft und des Getrommels des Regens. »Nicht mehr lange, Schatz. Versuch zu schlafen, hm?«
Enid zog die Knie fest an sich und starrte finster vor sich hin.
Stunden später wurde es allmählich leiser. Der Wind und der Regen ließen nach, das Haus über ihren Köpfen hörte auf zu klappern und zu knarren. Die Leute redeten leise miteinander, berieten sich, ob es Zeit sei, draußen nachzusehen, welche Schäden das Unwetter angerichtet hatte.
Da pochte es laut an der Kellertür. Tomas machte sofort auf. Sein Hemd und die oberen Treppenstufen wurden gleich durchnässt, aber er schien es gar nicht zu bemerken, sondern begrüßte die Besucher.
Zwei Männer in tropfnassen Ermittleruniformen schauten in den Keller herunter. Einem von ihnen lief Regenwasser aus dem Bart. Er redete laut, als hätte er schon stundenlang den Sturm übertönen müssen und jetzt die Stille noch nicht bemerkt. »Ein Stück nördlich hatten wir ’nen Tornado. Ant Farm und Potter hat’s erwischt. Da gibt’s Vermisste; sie brauchen Hilfe.«
»Dann los.« Tomas klappte die Tür ganz auf und wandte sich an Enid. »Mach hinter mir zu, ja?«
»Ich will mit«, sagte Enid und lief, ohne groß darüber nachzudenken, die Stufen hoch, wie eine Katze, die schnell durch einen Türspalt schlüpfen will. »Ich will auch helfen.« Sie hatte genug vom Herumsitzen, genug davon, allen nur beim Atmen, Reden oder Weinen zuzuhören. Ob sie wirklich helfen konnte, wusste sie nicht, aber sie wollte unbedingt raus und etwas tun.
»Enid«, sagte Peri streng. Sie schaffte es immer wieder, ihren Namen so auszusprechen, dass er plötzlich »nein« bedeutete.
Enid sah Tomas flehend an, und er überlegte.
»Du hast Mut, Kleine«, sagte er, und zu Peri: »Ich passe auf sie auf.«
Peri schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass …« Aber Enid war schon an der Tür. »Na gut. Pass nur auf, dass du niemandem im Weg stehst«, sagte sie, griff nach einem Umhang und gab ihn ihr. Enid nickte. »Können wir anderen jetzt raus?«, fragte Peri die Ermittler.
Der eine schaute zum Himmel hoch. »Eine Stunde noch«, sagte er.
»Na dann. Sei ja vorsichtig, Enid.«
»Ist gut.«
***
Tomas war seit zwei Jahren in der Ausbildung zum Ermittler. Enid hatte sich noch immer nicht an seine braune Uniform gewöhnt. Er sah fast bedrohlich aus, wenn er sie trug, und lachte auch viel weniger. Jetzt hatte er sie angezogen, damit er sich gut durchsetzen konnte. In Notfällen war es wichtig, dass andere seinen Befehlen folgten, und dabei half eben die Uniform.
Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie Tomas bei einem Einsatz begleitete, aber das konnte Enid noch nicht ahnen.
Der Regen hatte alles in einen Morast verwandelt. Der Garten, die Viehweiden und die Wege von einem Haus zum anderen – es war alles eine schlammige, glitschige Masse, die nach Nässe und Fäulnis stank. Der Sturm hatte mehrere Zäune umgeworfen. Von der Pappel hinter dem Haus waren Äste abgebrochen und hingen nur noch an schmalen Holzfasern vom Stamm herab. Es würde Wochen dauern, alles wieder in Ordnung zu bringen. Die Pflanzen, um die sich Enid so bemüht hatte, waren abgerissen oder standen unter Wasser. Es regnete immer noch, aber so, als hätte das Unwetter sich erschöpft. Es hätte ein angenehmes Tröpfeln sein können, wäre ihm nicht gerade ein Tornado vorausgegangen. Enid atmete tief durch. Die Luft roch erdig und nach Ozon, aber trotzdem viel besser als die muffige, verschwitzte Luft im Keller.
Die Ermittler waren mit einem Solarauto gekommen. Enid setzte sich auf die Rückbank, zu der Ausrüstung, die sie dabeihatten: Seile, Haken, Brechstangen, Schaufeln, einen Erste-Hilfe-Kasten. Werkzeug zum Graben, Aufbrechen und Retten – Enid fragte sich, was sie in den zwei Haushalten erwarten mochte. Sie blieb ganz still, staunte, dass Tomas sie tatsächlich mitgenommen hatte, und nahm sich fest vor, niemandem im Weg zu sein. Den Erwachsenen wirklich zu helfen. Es war ein geringer Preis dafür, dies alles aus der Nähe mitzuerleben.
Einer der beiden Haushalte hatte einen Läufer nach Haven geschickt, um Hilfe zu holen. Er hatte die Ermittler in der Klinik alarmiert; einer von ihnen war auch Arzt. Sobald der Regen nachließ, waren sie aufgebrochen. Aber bis dahin waren Stunden vergangen. Die Lage in dem Haushalt konnte sich weiter verschlimmert haben.
Eine Weile holperten und schlingerten sie über die nassen, halb ausgewaschenen Wege, rutschten seitlich weg oder blieben beinahe stecken, bis bei dem Auto schließlich auf halber Strecke die Batterie leer war. Damit schienen die Männer schon gerechnet zu haben, denn sie luden sich nur schweigend die Ausrüstung auf und gingen zu Fuß weiter. Enid legte sich ein Seil über die Schultern und hielt den Erste-Hilfe-Kasten an ihre Brust gepresst. Sie bogen in einen Seitenweg, und als der Baumbestand endete, konnten sie eine weite Ebene überblicken.
Plenty und was sie sonst noch von Haven gesehen hatte, war voller Pfützen und Schlamm, und der Wind hatte einigen Schaden angerichtet. Aber Potter, der erste Haushalt, zu dem sie jetzt gelangten, war zerschmettert worden. Eine Windmühle lag auf der Seite; ausgerissene Bäume streckten ihre schlammtriefenden Wurzeln in den Himmel. Das erste Holzhaus, an dem sie vorbeikamen, war eingestürzt, als hätte ein Riese mit der Faust darauf eingedroschen. Kleider, Geschirr und Möbel lagen zwischen den geborstenen Planken.
»Sie hatten keinen Keller«, murmelte der Ermittler mit dem Bart.
»Wie ist das passiert?«, fragte Enid ehrfurchtsvoll.
»Tornado«, sagte Tomas knapp. Enid wusste theoretisch, was das war – eine Windhose, ein schlauchartiger Wirbel, der von den Wolken bis zum Boden reichte –, konnte sich aber nicht vorstellen, was es im echten Leben bedeutete. Wie hatte es hier ausgesehen, als es passierte? Wie hatte das Heulen des Windes sich angehört?
Es gab noch zwei weitere Gebäude: eine Werkstatt und eine Scheune für die Ziegen und Hühner. Die Werkstatt, kaum mehr als ein Schuppen, war zerstört, die Planken im weiten Umkreis verstreut. Aber die Scheune stand zu großen Teilen noch, und dort fanden sie vier Überlebende, drei Erwachsene und ein etwa zehn Jahre altes Kind. Nass und verängstigt kauerten sie in einer Ecke.
»Habt ihr Bret und Smoke gefunden? Bret und Smoke?«, fragte einer der Erwachsenen, als die Ermittler sie baten, herauszukommen. Sie blinzelten unsicher ins Licht wie frisch geschlüpfte Küken.
Weil sie keinen Keller hatten, so berichteten die Bewohner des Haushalts, waren sie in eine nahe Schlucht geflohen, als der Sturm immer bedrohlicher wurde – sie war weit und breit der geschützteste Ort. Smoke war zurückgeblieben, um noch Dinge aus dem Haus zu holen: Wasser und Vorräte für die Wartezeit, aber auch Messer und andere Werkzeuge, die schwer zu ersetzen sein würden. Als das Schlimmste vorüber zu sein schien, waren die anderen zu ihrem zerstörten Wohnhaus zurückgekehrt. Bret hatte sie gedrängt, sich in der Scheune unterzustellen, während er nach den Nachbarn schauen und in Haven Hilfe holen wollte.
Bret war noch immer in der Klinik, wie seine Mitbewohner jetzt erfuhren, aber Smoke hatte niemand gesehen.
Der Arzt blieb bei den Leuten, um sie gegen kleinere Verletzungen und den Schock zu behandeln, während die anderen zwei Ermittler sich auf die Suche machten. Enid half ihnen, die Trümmer des Wohnhauses zu durchkämmen. Sie arbeiteten sich systematisch von einer Ecke aus vor, hoben Bretter hoch und stemmten mit der Brechstange Wandreste auf. Das Ganze wirkte überhaupt nicht mehr wie ein Haus, obwohl sie einmal eine intakte Vase fanden, in der sogar noch eine geknickte Blume steckte, und dann eine Puppe, eine schlammige wollene Decke, ein nasses Federbüschel, das sich als totes Huhn entpuppte.
»Hier!«, rief Tomas schließlich, und sein Kollege und Enid liefen zu ihm.
Tomas hatte unter einem Stück Wand eine Leiche gefunden. Er kniete sich hin und streckte eine Hand danach aus, aber ohne Eile. Enid sagte sich, sie sollte auf Abstand bleiben; sie brauchte den Toten nicht zu sehen. Sie wollte es nicht und hätte nie herkommen sollen. Doch sie hatte beschlossen, mitzugehen – und wenn sie schon einmal hier war, wollte sie auch jetzt nicht wegschauen.
Zwischen den zerborstenen Brettern lag die Leiche eines jungen Mannes mit aschfahler, ehemals sonnengebräunter Haut. Etwas hatte ihm das Hemd von der Brust gerissen und die Haut darunter gleich mit – eine klaffende Wunde verlief quer darüber und war vom Regen ausgewaschen worden. Sein schulterlanges Haar war schwarz; ein Bart begann gerade zu sprießen. Der Mann hatte die Augen geschlossen, und ein Hammer lag noch in seiner Hand.
»Tja«, murmelte der andere Ermittler. »So viel dazu.«
»Ist er verblutet?«, fragte Tomas.
Der Ältere schüttelte den Kopf. »Hier, er hat auch eine Kopfverletzung. Da wird Verschiedenes zusammengekommen sein, als die Wand auf ihn draufgefallen ist. Er hätte nicht noch mal reingehen dürfen.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Willst du es ihnen sagen, oder soll ich?«
»Was wäre dir lieber?«, fragte Tomas.
»Ich würde lieber den Jungen hier rausholen, wenn das in Ordnung ist.«
Tomas nickte. »Wir sollten schnellstens nach Ant Farm. Wenn es da ähnlich aussieht, haben wir noch viel zu tun.«
»Stimmt. Enid, kannst du mal mit anfassen?«
Enid erstarrte. Sie hatte sich vorgenommen, zu helfen, aber so etwas hatte sie sich nicht darunter vorgestellt. Tomas wartete noch ab, was sie tun würde. Das machte ihr die Entscheidung leichter. »Ja«, sagte sie. »Ja, okay.«
Tomas ging zur Scheune, um dort die schlechte Nachricht zu überbringen, und Enid half dem Ermittler, die zerbrochenen Bretter abzustützen, bis er die Leiche darunter hervorholen konnte. Er trug sie auf die Wiese hinaus und bettete sie sorgsam ins Gras.
Aus der Scheune war ein gellender Schrei zu hören. Kurz darauf kamen die anderen Mitglieder des Haushalts, um ihren Toten zu betrauern und aus den Trümmern des Hauses zu retten, was zu retten war. Sie würden nach Haven gehen, zu Bret, und dort gemeinsam beschließen, was sie tun sollten: ihren Haushalt wiederaufbauen oder sich einen anderen suchen, der sie aufnehmen konnte.
Eine der Überlebenden bückte sich und zog etwas aus den Trümmern: ein gewebtes Stück Stoff, dessen grün-rotes Schachbrettmuster trotz all des Drecks noch zu erkennen war. Ein Banner – vermutlich das Banner des Kindes, das sich jetzt an seiner Mutter festhielt, als fürchtete es noch immer, von ihr fortgerissen zu werden. Die Frau vergrub weinend ihr verquollenes Gesicht in dem Gewebe. Das Kind schmiegte sich an sie, und eine Zeit lang hielten sich beide aneinander fest. Die Frau ließ das Banner nicht wieder los, als wäre es ihr Anker, ohne den sie in eine unermessliche Leere abzudriften drohte.
Als Enid und die Ermittler Ant Farm erreichten, waren die Bewohner dort schon dabei, eine Herde Ziegen und zwei Pferde zusammenzutreiben, die aus der halb zerstörten Scheune davongelaufen waren. Auch sie hatten sich in einer Schlucht vor dem Unwetter versteckt, aber ihr Haushalt war nicht direkt von dem Tornado getroffen worden. Verletzte gab es trotzdem – eine Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Arm.
Sie spannten eins der Pferde vor einen Wagen, um die Verletzten in die Klinik in Haven zu transportieren. Enid holte Decken, schenkte Wasser aus und brachte den Erwachsenen ihr Werkzeug. Was sie sah, machte sie immer fassungsloser, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie die Leute dieses Unglück überstehen sollten.
Es war Abend, als sie sich auf den Rückweg nach Haven machten. Die Wolkendecke brach auf. Ein Stück dämmrig blauer Himmel kam zum Vorschein, ein strahlender Kontrast zu dem Grau der letzten Tage. Doch bald würde es dunkel werden, und sie beschlossen, besser in die Nacht hinein zu wandern, als mit der Reise bis zum nächsten Tag zu warten. Enid und Tomas gingen dem Wagen voraus und beleuchteten mit Laternen den Weg. Der Arzt lief hinterher, um die Verletzten im Blick zu behalten. Unterwegs machten sie halt und holten die Überlebenden aus Potter ab.
Sie kamen nur langsam voran, weil die Wege voller Hindernisse und tiefer Pfützen waren. Die Hufe des Pferdes schmatzten bei jedem Schritt im Schlamm. Die Luft war feucht und wurde mit jeder Minute kälter, und Enids durchnässter Umhang bot wenig Schutz dagegen. Sie zitterte.
»Alles gut bei dir?«, fragte Tomas.
Sie war sich nicht sicher. Aber wenn sie durchhielt, wären sie bald zu Hause, und zu Hause wäre alles gut. »War vielleicht doch keine gute Idee. Ich war keine große Hilfe.«
»Du warst gar nicht schlecht.« Tomas lächelte großzügig, aber Enid fühlte sich noch immer elend. Sie würde nie vergessen, wie die Leiche ausgesehen hatte – so verkrümmt und so zerbrechlich.
Es war nicht die letzte Leiche, die sie mit Tomas zusammen untersuchen würde, aber auch das konnte Enid da noch nicht ahnen.