Nach Saddams Sturz wird die südirakische Stadt Amaria von den Briten besetzt – ein zweites Mal nach dem Ersten Weltkrieg. Im »Englischen Friedhof« stößt Harun auf eine Inschrift, die er als Kind eingraviert hatte: »Der Engel des Südens«. So nannte er das Idol seiner Jugend – eine Jüdin, die für ihn das »Goldene Zeitalter« von Amaria verkörpert, als die unterschiedlichsten Ethnien und Religionen noch friedlich zusammenlebten. Die Jüdin fällt in den sechziger Jahren dem Antisemitismus der panarabischen Bewegungen zum Opfer; muss ihre Beziehung zu einem muslimischen Dichter aufgeben und wird verfolgt. In dieser und anderen Geschichten von Treue und Verrat, von Krieg, Diktatur, aber auch von Sehnsucht und Hoffnung, wird die Vergangenheit einer einst multikulturellen Stadt heraufbeschworen. Najem Walis mehrstimmiger, historisch profunder Roman erzählt nicht nur eine Liebesodyssee, sondern bringt faszinierende, vom Vergessen bedrohte Geschichten ans Licht.
Hanser E-Book
Engel des Südens
Die Bücher von Amaria
Roman
Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien
Carl Hanser Verlag
Erklärung
Nicht der erste Weg zur Geschichte
Erstes Buch
Die Rückkehr nach Amaria
Goldschmieden
Die Frau mit der Buschia
Filippas Juweliergeschäft
No man’s land
Bilder einer Stadt
Zweites Buch
In Memoriam Amaria
Ein anderer Weg zur Geschichte
Abschied vom Englischen Friedhof, Abschied vom Girga-Friedhof – Die Abschiedsfeier für Mister T. S. Eliot im Gästehaus
Drittes Buch
Die Zerstörung Amarias
Facts and Fiction: Faction
Der Überfall
Viertes Buch
Briefe von jenseits der Grenze
Ein anderer Weg zur Geschichte
Malaika in Basra
Spione im Ruhestand
Die Abenteuer des Mannes, der Harun genannt wurde
Die Rückkehr des kurdischen Freundes
Fünftes Buch
Das ewige Exil
Ein anderer Weg zur Geschichte
Die Hinrichtung des letzten Juden
Fauzi die Pest schlägt wieder zu
Noch einmal Uzir – Amaria
Der Aufenthalt in Bagdad
Ein Besuch im »Kriegsmuseum für seltene Künste«
Nicht der letzte Weg zur Geschichte
Glossar
Namensverzeichnis
Zeittafel
Für Fardscha Jussif und Wali Sultan, für Sabria Auid und Faradsch Jussif – sie sind alle in der anderen Welt.
Und für Nuria Faradsch Jussif und Abdallah Wali Sultan – sie sind beide in dieser Welt.
Das zweite und das dritte der vorliegenden Bücher stammen in Wirklichkeit von Naim Abbas, dem jüngsten Dichter und Journalisten, der je in Amaria gelebt hat. Das zweite habe ich ohne Änderungen übernommen. Das dritte schrieb Naim ursprünglich als einfaches Tagebuch; es blieb unvollendet. Abgesehen von den Geschichten in den Büchern Naims sind die anderen Geschichten erfunden.
Harun Wali
»Amaria, Amaria, lass hören, wie die Engel singen.«
(Altes Kinderlied)
»Sieh, sie scheiden und wir gehen mit ihnen.
Wir werden mit den Toten geboren:
Sieh, sie kehren wieder und führen uns mit.«
T. S. Eliot (Vier Quartette, Little Gidding V)
»Malaika al-Dschanub – Engel des Südens«: dieser Satz fiel mir gleich ins Auge, nachdem ich den Friedhof betreten hatte. Er stand in blauer Farbe auf dem weißen Marmorsockel genau unterhalb des riesigen Marmorkreuzes, so wie ich ihn vor etwa einem halben Jahrhundert geschrieben hatte. In der großen, weiten Gartenanlage behinderten jetzt, anders als früher, keine hohen Palmen mehr die Sicht. Es gab keine Brustbeersträucher mehr, die sonst überall im Schatten der Dattelpalmen gediehen waren. Hinter dem Kreuz stand einst eine gewaltige marmorne Gedenktafel, in die die Namen der gefallenen Soldaten eingemeißelt waren. Nun hatte man die Tafel zu einer Trennwand umfunktioniert. Ja, abgesehen von jenem Satz auf dem Sockel des Kreuzes gemahnte nichts mehr an den einst idyllischen alten Ort.
Ein seltsames Gefühl, sagte ich mir. So musste es jedem ergehen, der diesen Ort früher einmal besucht hatte. Sogar das innere, aus spitzen Eisenstäben gefertigte Tor war verschwunden. Wie leer der Weg war, den ich gerade zur Hälfte zurückgelegt hatte! Beinahe hätte ich mich für den einzigen Friedhofsbesucher gehalten. Aber da sah ich die bucklige alte Frau, die gekrümmt an ihrem Stock humpelte und in eine merkwürdige Abaja gehüllt war, unter der sich ihre Schenkel abzeichneten. Sie näherte sich drei jungen Männern, die am Brunnen saßen, der sich auf der gegenüberliegenden Seite des Kreuzes befand.
Es war in den frühen Morgenstunden, zwischen fünf und sechs – ich hatte nach dem Aufwachen nicht auf die Uhr geschaut –, genau jene Stunden, in denen mein Großvater früher zu seiner Arbeit auf dem Friedhof aufbrach. Die jungen Männer waren damit beschäftigt, irgendein Pulver zu mischen. Ich hörte die Löffel klirren, als würde Zucker in Tee eingerührt. Zwei der Burschen lehnten mit dem Rücken an dem Marmorsockel, während der dritte etwas abseits gegenüber der schwarzen, verfallenen Mauer hockte. An der südlichen Seite des Friedhofs stand in einer Ecke das steinerne Häuschen, das bis auf das Giebelgeschoss noch fast intakt war.
Es war unklar, was die drei eigentlich vorhatten, und es wunderte sie wahrscheinlich auch, was jemand wie ich zu so früher Stunde auf dem Friedhof zu suchen hatte.
Ich blickte mich um; alles war ruhig. Nur eine leichte Morgenbrise strich durch die Wipfel einiger Myrthenbäumchen, die die Zeiten überdauert hatten und verstreut den Pfad säumten. Vielleicht hörte man das Flattern von Lerchen, vielleicht ertönte in der Ferne das Krächzen eines Raben oder eines anderen Vogels, vielleicht bellte irgendwo ein Hund oder iahte ein Esel. Vielleicht hörte man Hähne krähen. Sonst lag eine verdächtige Stille über dem Ort, in der man nur dann und wann das rhythmische Geklirre der Löffel und das Geflüster der jungen Männer vernahm. Sogar die Alte, die gerade erst grüßend auf die Männer zugegangen war, verschwand auf einmal. Sie hatte sich dem Park hinter dem Friedhof zugewandt; nur das Schlurfen ihrer Schritte und das Aufstoßen ihres Stocks waren noch zu hören. Plötzlich schoss ein Vogel mit gerecktem Schnabel dort nieder, wo einer der Männer an der schwarzen Mauer saß. Der Mann fuhr hoch, als wolle er den Vogel packen, wurde jedoch von einem seiner Freunde zurückgehalten: »Lass dem Armen doch einen Teil der Beute.«
Da sah ich, dass der Mann mich anstarrte. Seine Stimme wirkte wie betäubt, schläfrig.
»Guten Morgen, mein Herr! Treten Sie näher«, forderte er mich auf und winkte mir zu. »Wir haben Ihre Ankunft jeden Moment erwartet.«
Ich ging auf die Männer zu; auch die beiden anderen schienen keineswegs gestört zu sein, als sei mein Kommen die natürlichste Sache der Welt.
»Bitte sehr, gesellen Sie sich zu uns!«, sagte der erste, der nach wie vor stand. Er war der jüngste der drei; während seine Freunde auf die dreißig zugingen, war er Anfang zwanzig. Er bemühte sich, ruhig und freundlich zu sein. Der Anblick ihrer schäbigen, ungewaschenen Kleidung, die ungepflegten Bärte, die schläfrigen Augen, die Falten, die sich frühzeitig um die Lider herum eingegraben hatten, ihre Aussprache … all das machte mir Angst. Die Männer wirkten auf mich wie die Figuren von Victor Hugo oder Charles Dickens, nicht wie Menschen aus Fleisch und Blut. Sie trieben sich auf einem Friedhof herum, der früher einmal »Englischer« Friedhof geheißen hatte, im Süden eines Landes mit Namen irakische Republik, in einer Stadt namens Amaria. Hätten wir nicht geredet, hätte ich an der Wirklichkeit der Szene gezweifelt. Es war noch zu früh, um nach Lust und Laune der Geschichte nachzusinnen, die ich mir seit dem ersten Tag der Rückkehr in meine Heimatstadt auszudenken begonnen hatte. Ja, es war noch zu früh, um sagen zu können, ich erzählte eine Geschichte, von der ich glaubte, sie habe tatsächlich stattgefunden. Denn wer eine Geschichte erzählt, in der sich Illusion und Wirklichkeit vermischen, dem fällt es schwer, zwischen Erfindung und Wahrheit zu unterscheiden.
»Unser einziger Freund, gegen unseren Willen!«, rief der junge Mann und zeigte in die Luft. »Jeden Morgen zur selben Stunde kommt er angeflogen und schnappt sich seine Tagesration.«
Er meinte den gerade weggeflogenen Vogel. Als nächstes deutete er auf den Boden, auf den er sich niedergelassen hatte, und bat mich höflich – oder besser: kühl –, mich ebenfalls zu setzen.
»Gesellen Sie sich zu uns!«, meinte er und legte ein Stückchen Karton zurecht, auf dem ich Platz nehmen sollte.
Ich begrüßte die beiden anderen und hockte mich hin. »Ich bin zum ersten Mal hier«, erklärte ich. Nach kurzem Schweigen und ohne in seiner Arbeit innezuhalten, sagte der Mann neben mir: »Es gibt immer ein erstes Mal. Der Vogel kam vor sechs Monaten zum ersten Mal und ist seither jeden Morgen erschienen. Auch wir kamen irgendwann zum ersten Mal. Sie sehen es ja. Auch wenn Sie erst in vielen Jahren wieder hier sein sollten, werden Sie uns finden.«
Dann begann der andere neben mir zu sprechen, ebenfalls ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen: »Seltsam, Vögel dieser Art haben die Angewohnheit, weiterzuziehen und von Ort zu Ort zu fliegen – außer diesem einen. Im Sommer, im Winter, im Frühling, im Herbst – jeden Tag besucht er uns zur gleichen Stunde mit demselben Wunsch … es ist wirklich erstaunlich.«
Der Mann, der mich eingeladen hatte, mich zu ihnen zu setzen, fügte hinzu: »Offensichtlich mag er unsere Mischung. Eine Mischung ›made in Amaria‹ – hier vor Ort hergestellt und gefährlicher als jede Bombe.«
Dann wandte er sich mir zu und zeigte auf das Gemisch, das jetzt fertig war: »Sicher wird sie auch Ihnen gefallen. Bitte sehr.«
Bevor ich antworten konnte, bevor ich wusste, ob ich wirklich mit ihnen teilen sollte, reichte er mir die Mischung. Dann ergänzte er mit ernster Stimme: »Dies ist die Vogelmischung, dann kommt die Hahnenmischung, danach die Katzenmischung, die Pferdemischung und die Eselsmischung und nach der Eselsmischung die Mischung für den Menschen … welche auch immer Sie wünschen.«
Ich griff nach dem Löffel und sah darauf das Pulver. Ein weißes Mehl, das er stark angebrannt hatte, um die nächste Mischung vorzubereiten: die »Hahnenmischung«.
Als ich mich in den ersten Morgenstunden auf den Weg zum Friedhof gemacht hatte, war mir nicht in den Sinn gekommen, dort junge Männer aus der Stadt zu treffen, die Rauschgift konsumierten. In meiner Jugendzeit, in den siebziger Jahren, gab es auch Drogen, aber eher in Form von Tabletten, »Pillen«, wie wir sie nannten. Einer von uns hatte die Aufgabe, über seinen Bruder, der in der Schifa-Apotheke in der Maarif-Straße arbeitete, an sie heranzukommen: »Mendrex« und »Metodin«. Die Valiumtabletten, nach denen unsere Mütter süchtig waren, standen bei uns nicht hoch im Kurs. Sie waren zu leicht zu beschaffen. Wir stahlen sie nur dann von unseren Müttern, wenn andere »Pillen« nicht aufzutreiben waren. Manchmal mischten wir sie auch mit Arrak oder Bier.
Ich erzählte ihnen weder davon noch von dem Grund meines Friedhofbesuchs, dem ersten, nachdem ich vor dreiundzwanzig Jahren die Stadt verlassen hatte. Ich erzählte ihnen auch nichts von meinem Großvater, der vor etwa einem halben Jahrhundert als Gärtner auf dem Englischen Friedhof gearbeitet hatte und auf dem Friedhof gegenüber, den man den »Indischen« nannte. Stattdessen erzählte ich ihnen eine andere Geschichte: wie ich im Alter von fünf Jahren mit einem Freund hierhergekommen war und etwa einen Liter weißes Erdöl mitbrachte, das unsere Mutter zum Füllen ihres alten Primuskochers verwendete. Wir glaubten, wir würden davon betrunken werden. »Ja, im wahrsten Sinne des Wortes eine ›Eselsmischung‹«, erklärte ich ihnen lachend. Wir saßen nicht hier am Brunnen, sondern am Haupttor des Friedhofs, beim Rondell, das die beiden Friedhöfe voneinander trennte. Wir versteckten die Flasche hinter einer der Mauern im Dickicht, hinter der vorderen Kuppelhalle des Englischen Friedhofs. Das Seltsame war, dass ich – im Gegensatz zu meinem Freund, dem nichts passierte – das Bewusstsein verlor. Ich wollte trinken wie die älteren Männer, die jeden Abend am Rondell vorbeikamen. Sie waren auf dem Weg in die benachbarten Salatgärten zwischen den beiden Friedhöfen und dem Damm, mit dem man Wasser zum Kahla leiten wollte, einem Nebenfluss des Tigris, der im Marschland an der iranischen Grenze mündete. Sie trugen ihre »Trinkausrüstung« mit sich: eine Flasche Arrak der Marke »Messias«, einen Eisblock und Plastikbecher. Bevor sie sich ins Gras setzten, um ihren Arrak zu trinken, stellten sie ein Transistorradio neben sich auf.
»Und haben Sie denn auch jetzt die Ausrüstung dabei?«, fragte mich der junge Mann und deutete auf die kleine Tasche, die ich über der Schulter trug. Sie enthielt alte Zettel und Fotos, von denen einige auf dem Friedhof aufgenommen worden waren. Darunter auch ein Foto, auf dem ich gegenüber dem Kreuz in der Nähe des Brunnens, direkt neben dem Marmorsockel, stand und mit der Hand auf den dort in blauer Farbe geschriebenen Satz wies.
»Dann stammt dieser Satz von Ihnen?«, fragte mich der Mann, als ich ihm das Foto zeigte, auf dem die Worte deutlich zu erkennen waren.
Da warf der dritte Mann rechts von mir ein: »Merkwürdige Frage. Diesen Satz sieht man doch heutzutage überall.« Er beugte sich vor und reichte mir die alte Metalldose, in der sie das weiße Pulver aufbewahrten: »Auf dieser Dose steht er auch: ›Malaika, Engel des Südens‹.«
Ich schaute mir die Dose an. Es war eine der Marke »Dattelsirup der Braut«, jedoch keine der neueren Dosen, die nach Beschlagnahme der Fabrik ohne das Originalbild hergestellt worden waren. Auch meine Mutter hatte noch einige alte Dosen aufbewahrt. Sie erinnerten sie an die alte Zeit, wie sie mir sagte. Damals schmeckte alles so süß wie »Dattelsirup der Braut«. Heute Morgen vor dem Hinausgehen hatte ich eine solche Dose auf dem Frühstückstisch in der Küche gesehen. Meine Mutter wusste, dass dies die einzige Marke Dattelsirup war, die ich zum Frühstück mit Sahnedickmilch mischte. Als die letzte Dose der alten Marke leer war, trauerte ich vierzig Tage. Nicht um den Geschmack des erstaunlichen Dattelsirups, der einem den ganzen Tag nicht von der Zunge ging, sondern um das süße Bild darauf. Es war ein Bild von Malaika, der Tochter von Doktor Dawud Gabbay. Um dieses Mädchen rankten sich Erzählungen und Romane, seit der Goldschmied – den vor allem die Frauen in der Stadt Nûr, das Licht, oder al-Malak, den Engel, nannten – es etwa neun Jahre vor meiner Geburt gemalt hatte. Und der Spruch von der Braut kam von seinem Freund Naim Abbas, von dem man sagte, er sei der jüngste Dichter, den die Stadt je gekannt habe – Naim Abbas, der verschwunden war, sich in Luft aufgelöst hatte. Abgesehen von diesem Spruch, den man ihm eben zuschrieb, wollte niemand über ihn oder seine Familie sprechen, als hätte die Stadt ein Abkommen zur Geheimhaltung geschlossen. Auf meine Frage, ob es besser sei, einige der Geschichten über Malaika für andere Zeiten zu bewahren, antwortete mir sogar mein Großvater einmal: »Der Weg ist lang, um zur Geschichte zu gelangen, mein Enkel.«
»War sie wirklich so schön?«, wollte derselbe junge Mann wissen und schnüffelte weiter an dem Pulver.
Malaika war damals sechs oder sieben Jahre alt. Sie hatte blonde Zöpfe und blaue Augen, die wie die einer lachenden Braut aussahen. Und seit damals, seit ihr Abbild mit dem Zusatz »Malaika, Engel des Südens« auf der Dose verewigt worden war, wurde »Dattelsirup der Braut« nicht einfach der Lieblingssirup der Bewohner von Amaria. Malaika selbst, der »Engel des Südens«, war die konkurrenzlose Braut des ganzen Landes. Ihr Bild auf der Dose steht mir noch deutlich vor Augen, so wie Malaika selbst, als ich sie zum letzten Mal sah, bevor sie die Stadt verließ. Ich war damals elf Jahre alt. Wie viel Zeit war verstrichen – und sie hatte ihre Schönheit auf der Dose bewahrt.
»Welche Geschichte steckt hinter diesem Satz?«, hörte ich einen der jungen Männer fragen. Er zeigte auf das massive Kreuz auf dem weißen Marmorsockel.
»Was ist Malaikas Geschichte?«
Ich zog es vor zu schweigen. Mir war bewusst, dass ich, würde ich mit ihrer Geschichte oder der vom Goldschmied Nûr und seinem Freund Naim beginnen, ich die Geschichte der ganzen Stadt Amaria erzählen müsste. Und: »Jede Geschichte zu ihrer Zeit«, wie eine andere Weisheit meines Großvaters lautete. Und ich war sicher, dass die Zeit für diese Geschichte am ersten Tag nach meiner Heimkehr in die Stadt noch nicht reif war.
»Waren es etwa auch Sie, der diesen Satz geschrieben hat?«, fragte mich der junge Mann, während er an dem weißen Pulver schnüffelte. Diesmal meinte er den Satz auf der Dose.
»Das wäre schön«, erwiderte ich seufzend. Der Mann sah mich genervt an.
»Vielleicht ist Ihnen die Dose zu irgendetwas nütze. Wir haben viele Dosen, die wir zum Mischen verwenden. Ich glaube, die Menschen dort«, fügte er hinzu und wies auf das Steinhaus, »lassen sie für uns da. Wenn wir morgens herkommen, finden wir eine Dose vor.«
Ich fragte ihn, ob in dem Steinhäuschen noch jemand lebte, da ich vor wenigen Minuten die alte Frau darauf hatte zugehen sehen. Der junge Mann wandte sich an seine Freunde. Vielleicht wollte er sich vergewissern, ob er mir etwas Bestimmtes verraten dürfe. Die drei verständigten sich wie in einer ihnen eigenen, mir unverständlichen Sprache. Er beugte sich vor und sagte leise:
»Das Haus steht leer. Aber von Zeit zu Zeit kommt die kurzsichtige Alte und säubert den Sockel des Kreuzes, genau an der Stelle, wo der Satz geschrieben steht. Meistens versorgt sie jedoch einfach nur den Garten vor dem Haus. Sie wässert auch den Jasminstrauch. Vielleicht will sie, dass er schnell wächst, um den ganzen Ort zu überdecken.« Dabei zeigte er auf die Fläche zwischen Steinhäuschen und Kreuz. »Wir haben die Alte noch nie reden hören. Sie grüßt immer nur und winkt uns aus der Ferne zu. Aber sie mischt sich nicht in unsere Angelegenheiten ein und wir uns nicht in die ihren.«
War dies nicht genau der Ort, an dem man Major Cowley begraben hatte, der vor etwa einem halben Jahrhundert über die Stadt herrschte? Ich musste an eine der Geschichten denken, derer sich mein Großvater rühmte. Er erzählte: »Sogar Major Cowley war der Ansicht, es gäbe kein süßeres Paradies als den Englischen Friedhof.« Ich erinnerte mich, dass ein kleiner Jasminstrauch das Grab umgab, so zugeschnitten, dass er noch näher zum Garten vor dem Steinhaus hin wuchs. Sonst gab es an dem Grab nichts Auffälliges – außer einem Gedichtvers, der in die Steinplatte eingraviert war: »Das Gras singt über den stillen Gräbern«. Man behauptete, Mister T. S. Eliot, der englische Inspektor, der drei- oder viermal im Jahr kam, um den Gärtnern ihren Lohn auszuzahlen und ihre Arbeit zu überprüfen, habe den Vers geschrieben, als Reverenz an seinen Freund, den Major, der ihm höchstpersönlich die Dichtkunst beigebracht habe. Der Grabstein selbst war niedrig und unterschied sich in nichts von den anderen Grabsteinen auf dem Englischen Friedhof.
»Vor ein paar Tagen kamen die Engländer und buddelten hinter dem Baum da herum. Sie gaben vor, dort ein Grab zu suchen«, berichtete der Mann von zuvor weiter. Dann fügte er hinzu: »Vor zwei Tagen haben wir die alte Frau gefragt, ob sie Hilfe braucht, aber sie hat nichts erwidert, sondern nur genickt.«
»Denken Sie viel darüber nach?«, erkundigte sich derselbe junge Mann bei mir und blickte mich aufmerksam an.
Hatte er vielleicht bemerkt, dass die Alte mich neugierig machte? Doch noch bevor ich ihn fragen konnte, wer sie eigentlich sei und ob sie in dem Steinhaus lebe, rief er: »Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Es gibt immer ein erstes Mal!«
Etwas verwirrt wandte ich mich ihm zu und verlangte nach einer Erklärung. Er antwortete mit einer Kopfbewegung. Da wurde mir bewusst, dass ich die ganze Zeit über ahnungslos bei der Vorbereitung ihrer Mischung dabei gewesen war. Ich musste sehen, dass ich davonkam. Vielleicht ist es Zufall, redete ich mir ein. Vor einundvierzig Jahren bin ich hier mit meinem Kindheitsfreund Laith aufgekreuzt. Wir haben etwa einen viertel Liter weißes Erdöl getrunken, bevor sein Bruder al-Malak, der Goldschmied, uns fand. Er brachte mich daraufhin in die Praxis von Doktor Dawud Gabbay (da Laith seltsamerweise nichts zugestoßen war – vielleicht hatte er mich hintergangen und gar nicht wirklich getrunken!). Als ich die Augen aufschlug, spürte ich, wie eine Hand mir die Stirn streichelte. Ich vernahm eine Stimme, die mir ins Ohr flüsterte: »Amaria, Amaria, lass hören, wie die Engel singen.« Ich hob den Kopf und sah Malaika. Sie lächelte mich an und gab mir ein Zeichen mit der Hand. In diesem Moment verstand ich nicht, ob sie sich verabschieden oder mich begrüßen wollte. Ich blickte mich um und sah mich auf einer Lederpritsche in der Praxis ihres Vaters liegen. Da wusste ich, dass ich lebte. Dann hörte ich sie jenes Lied singen, das ich mein Leben lang nicht mehr vergessen sollte: »Amaria, Amaria, lass hören, wie die Engel singen.«
Diese Geschichte hatte mir später mein Vater genauer erzählt, denn, was mir damals im Kopf hängen blieb, war vor allem ihr Bild: Malaika. Wäre sie nicht so schön gewesen und hätte ihre Hand nicht meine Stirn gestreichelt, ich hätte nicht gewusst, dass ich noch am Leben war. Und ein Satz klingt mir noch im Ohr, den ihr Vater sagte, da ich damals einen Matrosenanzug trug: »Wie geht’s dir, Matrose auf Landgang, Held des Festlands?«
Und was, fragte ich, wird mir jetzt zustoßen, wenn ich die Katzenmischung überspringe? Wer wird sie mir erzählen:
Die Geschichte von Malaika, Engel des Südens …
Die Geschichte von Nûr und Naim und der Marke »Dattelsirup der Braut« …
Die Geschichte des Englischen Friedhofs, des Chevrolet Sedan Deluxe, Modell 51, und des alten Steinhäuschens …
Die Geschichte von Amaria und dem, was der Stadt widerfuhr …
Die Geschichte von uns allen …
Mein Vater sagt, als ich die Augen öffnete, mich umschaute und sie ihre Hand nach mir ausstreckte, hätte ich gewusst, dass sie an meinem Kopfende stand. »Amaria, Amaria, lass hören, wie die Engel singen« – dies waren die ersten Worte, die ich von ihr hörte. Außer ihr hätte damals niemand geglaubt, dass ein kleiner Junge zwischen fünf und sechs Jahren gerettet werden könnte, nachdem er eine Viertelliterflasche Erdöl getrunken hatte. »Sie wusste, dass du leben würdest«, sagte mein Vater mehrmals. Doch wie oft mein Vater mir diese Geschichte auch erzählte, was mir von diesem Moment stets in Erinnerung blieb, war das Bild des wunderhübschen Mädchens, das mich begleitete und festhielt, meinen Kopf an ihre Brust drückte und mir über die Haare strich.
Dieses Bild mochte zuweilen verblassen. Aber es dauerte nie lange, bis es von Neuem zurückkehrte, und mit ihm all die Geschichten, die es heraufbeschwor. Es war, als drehte sich alles, was mir oder den Menschen in meiner oder ihrer Umgebung nach jenem Tag zustieß, um dieses Bild. Ja, es war, als würde die Stadt Amaria selbst mit ihr zusammenhängen: Malaika. Ich meine die ganze Stadt mit ihren Bewohnern, Vierteln und Märkten, bevor sie verlosch und aus den Trümmern einer anderen Stadt wieder emporstieg, ohne etwas von der alten zu übernehmen außer einigen Buchstaben des Alphabets.
Malaika war in ihrer Generation das berühmteste Mädchen der Stadt. Das lag an dem Bild von ihr, das man auf den Dosen der alten Marke »Dattelsirup der Braut« sehen konnte. Sie war damals sechs oder sieben Jahre alt, ich weiß es nicht genau. Als sie mich in der Praxis ihres Vaters pflegte, war sie gerade zwanzig geworden. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, dessen Bild ich jeden Morgen auf der Dose gesehen hatte. Sie war sehr hübsch, hatte große blaue Augen und lange dunkelblonde Haare, länger als die der wenigen Zigeunerinnen, die wir damals im Zigeunerlager am anderen Tigrisufer sahen. Sie war das Gegenteil ihrer Altersgenossinnen, die sich, um elegant zu erscheinen, die Haare kurz schnitten. Ihre an den Spitzen gewellten Haare flocht sie meistens zu Zöpfen oder band sie in einem Pferdeschwanz zusammen. Auch ihr Lachen war charakteristisch: Sie schlug für einen Augenblick die Wimpern nieder und öffnete den Mund so weit, dass eine Reihe blendend weißer Zähne sichtbar wurde. Sie war mittelgroß und trug zumeist einen knielangen, bunten Rock mit Baummuster. Für gewöhnlich trug sie dazu eine weiße Bluse, die an der Brust eine Stickerei in Herzform hatte, und darunter einen weißen Spitzenkragen, von dem man nur einen Teil sah. Kurz: Malaika, das arabische Wort für »Engel«. Und ihr Aussehen war in der Tat engelhaft. Dies hörte ich zumindest von meiner Mutter und den anderen Frauen der Stadt. Sie sahen in ihr ein Vorbild für die eigenen Töchter, gleich ob geboren oder ungeboren, so wie im Falle meiner Mutter, die damals nur einen Sohn hatte. Aber auch für uns, die Jungen, war sie ein Idealbild, das Mädchen der Zukunft.
Heute, vier Jahrzehnte später, glaube ich, Malaikas Schönheit war für einige – insbesondere für jene, die nicht gerne lasen – der Grund, den langen Weg zur Stadtbücherei auf sich zu nehmen. Die, die gerade in die Pubertät gekommen waren, trieben uns, die Kleinen, an, nicht nur in den Schulferien in die Bücherei zu gehen, sondern auch während der Schulzeit. Und wenn Malaika nicht zu ihrer Arbeit erschien, zögerten sie nicht, uns zu ermutigen, das Sabunia- oder Tora-Viertel aufzusuchen, um uns vor das Haus ihrer Familie zu stellen. Am meisten stachelte uns ein junger Kerl an, der Fauzi Adnan Swadi hieß, auch bekannt als »Fauzi die Pest«.
Fauzi die Pest war erst dreizehn Jahre alt oder sogar noch jünger. Seine Familie wohnte im Sarai-Viertel, dem ältesten der Stadt. Mit seinem Wohnort prahlte Fauzi ebenso oft wie mit seinem Großvater, Dschabbar Swadi. Man sagte, dieser habe als Oberst in der irakischen Armee die Truppen befehligt, die 1948 in Palästina kämpften und sich dabei besonders hervorgetan. Schon vorher habe er in geheimen Aktionen mitgewirkt, um die Juden an der Auswanderung nach Palästina zu hindern: Er ermutigte die arabische Jugend, in Palästina gegen die Juden zu kämpfen. Später saß er für lange Zeit im Gefängnis, nachdem man ihn zusammen mit dem Führer der Palästinensischen Bewegung in einem Café im Bagdader Racheta-Viertel verhaftet hatte. Als der König oder Regent Abdallah davon erfuhr, erteilte er nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1951 den Befehl, ihn freizulassen – noch am Flughafen! So zumindest schilderte uns Fauzi die Ereignisse, obwohl andere Gerüchte über seinen Großvater kursierten. Man sagte, er habe als Doppelagent für die Engländer und die Deutschen gearbeitet. Aber Fauzi, den wir deshalb die Pest nannten, weil er uns mit seinen Geschichten überfiel wie eine Seuche, erlog wahrlich nicht nur diese Geschichte. So erzählte er etwa, und zwar nicht zufällig, dass sein Großvater zwei Berufe gehabt hätte: Er war Chef der örtlichen Polizei, überwachte aber »wegen seiner kämpferischen Vergangenheit« gleichzeitig auch den Verwaltungschef der berittenen Polizei. Die Lehrer fürchteten ihn. Ein Wort und sie landeten im Polizeigefängnis, zusammen mit Juden, Kommunisten, Armeniern und Kurden. Warum also sollte er, Fauzi, sich die Mühe machen zu lernen? Wir waren erstaunt, dass er immer wieder den Lesesaal der Bücherei aufsuchte, noch dazu mit uns Kleinen. Hätte er nicht jede Klasse ein- oder zweimal wiederholen müssen, so wäre er mindestens schon in der ersten Klasse der Mittelschule gewesen und nicht, wie wir, erst in der vierten Klasse der Grundschule. Außerdem war bekannt, dass er Bücher nicht leiden konnte. Einmal vertraute er uns an, er würde sofort alle Bücher der öffentlichen Bücherei verbrennen, wenn man ihm die Sache überließe. Den Lesesaal betrat er nur gezwungenermaßen mit uns. »Angesichts der Augen des ›Traummädchens‹ Malaika ist nichts von Bedeutung.«
Vielleicht war sich Malaika all dessen bewusst. Aber sie sah Fauzi nicht gern mit uns zusammen. Sie hielt ihn für einen leichtsinnigen und pubertären, aber ungefährlichen Jungen, dem einzig daran gelegen war, jeden Tag neue Kleider zu tragen. Sie hatte keine Ahnung, dass er damit nur ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Wir wussten, dass sein Vater, der berühmte Rechtsanwalt Adnan Swadi, ihm von seinen gemeinsam mit Fauzis aristokratischer Mutter unternommenen Reisen nach Europa Kleidung mitbrachte. Sein Vater hatte zunächst in der Firma für Flusstransport von Hanna al-Schaich Bardschuni gearbeitet, bevor er Oberstaatsanwalt in der Stadt und später Chef der herrschenden Partei wurde. Fauzi war überzeugt, dass er Malaika seine Liebe irgendwann aufzwingen könnte. Wenn nicht mit der eleganten Kleidung, dann auf andere Weise. »Sie wird sich den Bedingungen von Oberst Fauzi Swadi schon beugen« – so erträumte er sich die Zukunft. Mit diesen Worten wandte er sich an Laith, den er zudem bat, ihn an sein Vorhaben zu erinnern. Wir lachten, nicht weil sie sich so sehr im Alter, sondern vor allem in der Schönheit unterschieden.
Malaika war jedoch nicht nur berühmt geworden, weil sie so hübsch und ihr Bild auf der Dose »Dattelsirup der Braut« zu sehen war, sondern noch aus einem weiteren Grund: ihre Beziehung zu dem Goldschmied Nûr oder al-Malak, dem Engel, wie ihn die Bewohner der Stadt wegen seines Aussehens nannten. Angeblich hatten die beiden sich von Kindheit an geliebt, seit sie zusammen in die »school« genannte Schule gegangen waren. Malaikas Eltern hätte man leicht für eine Heirat gewinnen können (sie gehörten unterschiedlichen Religionsgemeinschaften an – Malaikas Vater war Jude, ihre Mutter, Doktor Nawal Hanna al-Schaich, Christin). Doch bei Nûrs Vater, Schaich Jahja Mulla Ibrahim, wäre es nicht nur schwierig, sondern unmöglich gewesen, ihn von einer Verbindung zu einer Halbjüdin zu überzeugen. Er war der Schaich, der Älteste, der Sabäer-Mandäer. Die Leute sagten damals, die beiden seien wegen des anhaltenden väterlichen Verbots ledig geblieben. Zumindest Malaika hätte es geschafft, allein zu bleiben. Sie lehnte alle Bewerber ab, die um ihre Hand anhielten.
Auch Nûr oder al-Malak war stadtbekannt. Er gehörte einer berühmten Familie an, die wie die meisten Sabäer der Mittelschicht im Stadtviertel Siriya wohnte. Die Sabäer anderer Schichten, Handwerker wie Bootsbauer und Hersteller von handbetriebenem Ackerbaugerät, lebten jenseits des Flusses, im anderen Teil von Amaria. Das Stadtviertel wurde ein Jahr vor Nûrs Geburt erbaut und später nach dem ersten Bürgermeister der Stadt Madschdia-Viertel genannt. Dieser Bürgermeister hatte das Land zu einem Fils pro Quadratmeter verteilt, um es denjenigen Sabäern zum Häuserbau zur Verfügung zu stellen, die südlich des Flusses auf einer Länge von dreiundfünfzig Kilometern bis nach Uzir in verstreuten Hütten wohnten. Die der Mittelschicht zugehörigen Goldschmiede und Juweliere hingegen lebten in Ziegelsteinhäusern im Siriya-Viertel. Nûrs Vater, Schaich Jahja, vertrat als Ältester die Interessen der Mandäer in offiziellen Angelegenheiten. Er besaß zwei Häuser. Das Haus in Madschdia war aus Lehm und Papyrus gebaut und diente als Versammlungsort und Gotteshaus, Manda genannt; hier verbrachte er am meisten Zeit und betete mit seiner Gemeinde. Nûr oder al-Malak (wie ich ihn von jetzt ab nennen werde) begleitete seinen Vater von klein auf dorthin. Nicht, wie sein Vater glaubte, weil er den Heiligenkult so liebte, sondern weil das Gotteshaus es ihm erlaubte, sich von dem Chaos im anderen Haus fernzuhalten. Das andere Haus lag im Siriya-Viertel. Es beherbergte die Großfamilie und wurde oft von anderen Sabäern aufgesucht, vor allem von den Armen. Al-Malaks Vater hatte ein offenes Ohr für ihre Probleme und vertrat sie bei den Behörden. Al-Malak flüchtete sich gern zu dem auf einer Anhöhe liegenden Manda. Dort konnte er stundenlang sitzen und die vorbeiziehenden Boote zeichnen, in denen die Fischer ihren Fang und die Bauern ihre Ernte zum Verkauf in die Stadt brachten. Am unliebsamsten war es ihm, wenn sein Vater rief, dass die Zeit für die Heimkehr gekommen sei. Er wusste, dass er dort dem Gezeter der drei Frauen seines Vaters und dem Geschrei seiner Geschwister ausgesetzt sein würde. Manchmal suchte er auch nachts Zuflucht im Gotteshaus. Mit der Zeit wurde der Tempel für ihn das Zentrum der Welt. Vielleicht – so erzählte er mir später – hing dies auch mit der Geschichte zusammen, die ihm in seiner ersten Nacht dort widerfuhr. Er war vielleicht sechs Jahre alt und hatte gerade von seinem Onkel das Werkzeug geerbt, das man als Goldschmied brauchte: Haken, Taschenmesser und Schmirgelstein. In den ersten Morgenstunden, wenige Sekunden vor Sonnenaufgang, als eine sanfte Brise vom Polarstern her wehte – ein Nordwind, den die Sabäer »Airziwa« nennen – habe er im Schlaf eine aufrechte Lichtgestalt vor sich gesehen. »Sie gab mir durch Gesten zu verstehen, dass ich sie mir gut einprägen und nie mehr vergessen sollte. Danach kehrte mein Bewusstsein zurück, und ich versuchte vergeblich, mir ihre Gestalt in Erinnerung zu rufen. Ich nahm einen Bleistift und versuchte sie zu zeichnen, aber ohne Erfolg. Als ich es erneut versuchte, diesmal mit geschlossenen Augen, spürte ich, wie meine Finger sich von selbst bewegten. Und vor mir auf dem Papier entstand das Bild Malaikas. Ich bekam es mit der Angst zu tun, weil ich Malaika nicht besonders gut kannte. Sie ging noch auf eine andere Schule, nicht auf unsere »school«. Ich hatte sie nur die wenigen Male gesehen, als ihr Vater meinen Vater besucht hatte, sei es im Manda oder in unserem Wohnhaus, um uns zum ›Bandscha‹-Fest zu gratulieren. Oder wenn mein Vater mich bat, ein Mitglied unserer Gemeinde oder einen Verwandten aus einem anderen Ort in die Praxis ihres Vaters, Doktor Gabbays, zu begleiten. Wenn ich Malaika sah, eilte sie meist geschäftig in der Praxis hin und her. Sie scherzte mit den Kranken und spielte ganz die Rolle der Krankenschwester. Als mich jene Gestalt besuchte, mochte sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Warum erschien das Trugbild als Malaika, die im Traum eine solch göttliche Gestalt annahm? War sie heiliger als ich, als mein Vater, der Oberpriester der Sabäer? Von Kindheit an hatten wir von ihm gelernt, dass das ›herrlichste Licht‹ die Wurzel der Welt, das Sein ein Ausdruck des Lichts ist. Und die Menschen sind allesamt Wesen aus Licht. Die Wesen kommen vom Licht und kehren zum Licht zurück. Sie sind nicht aus Lehm, wie die anderen glauben, die Muslime etwa. Wie konnte Malaika eine Lichtgestalt sein, wenn sie noch als Wesen aus Fleisch und Blut in dieser Welt weilte? Sagte mein Vater nicht, dass wir uns erst nach dem Tod in Licht verwandelten? Oder vor der Geburt?« Al-Malak war damals noch sehr klein, genauso alt wie ich, als ich das Erdöl verschluckte. Es war, als sei es unser gemeinsames Schicksal, in diesem Alter das wichtigste Bild zu sehen, das es damals in der Stadt Amaria gab: das Bild Malaikas.
Die Praxis von Doktor Gabbay lag im Tora-Viertel, in der Nähe der alten Synagoge. Diese wurde später, nach den Ausschreitungen gegen die Juden im Farhud 1941 und nach der Auswanderung der meisten jüdischen Familien, in eine Kirche umgewandelt. Die Emigration erreichte 1951 ihren Höhepunkt (in dem Jahr, in dem meine Eltern heirateten und die Fabrik für den »Dattelsirup der Braut« beschlagnahmt wurde). Das Viertel, das seit Entstehen der Stadt siebeneinhalb Jahrzehnte lang von Juden bevölkert gewesen war, wurde schlagartig hauptsächlich von Christen, Angestellten und aus der Hauptstadt eingetroffenen Polizeioffizieren bewohnt. Hier errichtete der Staat die erste Moschee mit Minarett. Ich sah später mit eigenen Augen, wie dieses elegante Minarett zerstört wurde. Es wurde zusammen mit der Moschee wieder aufgebaut, denn sie sollte die größte Moschee der Stadt werden. Familie Swadi überwachte die zwei Phasen der Baumaßnahmen: erst der Großvater, der Oberst, dann sein Sohn Adnan. In den achtziger Jahren begann schließlich sein Enkel Fauzi die Pest mit dem Bau einer noch größeren Moschee.
Die Veränderungen im Tora-Viertel waren in kultureller und demographischer Hinsicht verheerend. Diejenigen, die aus freien Stücken oder gezwungenermaßen die Häuser der Juden übernommen hatten, begannen darin zu wetteifern, den sechseckigen Davidstern zu beseitigen, der seit der Entstehung von Amaria in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Häuser schmückte. Außerdem verschwanden jüdische Familien, deren Angehörige entweder Kleinbetriebe für den Tuchhandel besaßen oder als Angestellte in verschiedenen Berufen tätig waren, als Ärzte und Apotheker, Lehrer und Ingenieure, Musiker und Spirituosenhändler. Mit ihnen verschwand nicht nur die Synagoge, sondern auch all jene Läden, die von ihnen gegründet worden waren: der erste Seifenladen, die erste Apotheke, der erste »Phonographen«-Laden für Musikinstrumente und Schallplatten, der erste Supermarkt, das erste Spirituosengeschäft. Ich betone: Wie auch immer die für einen Knaben wie mich unbegreiflichen Veränderungen ausfielen – eines veränderte sich nicht: die Praxis von Doktor Gabbay. Und er selbst.
Doktor Gabbay ließ keine Gelegenheit aus, seine Freunde oder die an einer Hand abzählbaren jüdischen Familien um sich zu versammeln. Dabei verkündete er stets, er werde seine Praxis und das Tora-Viertel, die Stadt und das Land nur als Leiche verlassen. In seinem Testament hielt er fest, er selbst wolle bei seinem Ableben in Uzir begraben werden, in der Nähe des Grabmals. Nicht aus religiösen Gründen, sondern weil er der Überzeugung war, dass es keinen Prophet gab, auf den die Menschen der verschiedenen Religionen, Konfessionen und Rassen unter seiner Ägide mehr Anspruch hätten als auf ihn: den schreibenden Propheten, Uzir.
So beließ Doktor Gabbay die Praxis, die er von seinem Vater geerbt hatte, in ihrem Zustand, allen Veränderungen, die dem Viertel und der Stadt widerfuhren, zum Trotz. Kranke verschiedenen Alters und Geschlechts versammelten sich dort, und dies machte ihn natürlich stolz. Wenn er am Freitag mit seiner Familie zum Picknick auf den Englischen Friedhof kam, hörte ich ihn oft zu meinem Großvater sagen, er werde die Menschen, die ihm so viel Vertrauen entgegenbrachten, nicht im Stich lassen. Auch den Hippokrates-Eid, den er in der medizinischen Fakultät geschworen hatte, würde er nicht verraten.
Abgesehen von der Familie von Doktor Gabbay gab es in Amaria ein oder zwei weitere Familien jüdischer Herkunft, darunter die von Chaduri Levi, dem Chevrolet-Verkäufer im Ort. Auch nachdem dieser aufgehört hatte, Autos zu importieren und mit der Liquidierung seines Geschäfts begann, wartete er auf den Verkauf des Chevrolets Sedan Deluxe, Modell 1951. Es war das erste der funkelnden, glänzenden, bunten Modelle, wie sie in den fünfziger Jahren entworfen wurden: ein prachtvoller optimistischer Wagen. Ich erinnere mich an das alte Schild, das am Eingang von Levis Ausstellungsraum für die eleganten Wagen hing: »Starte mit einem Chevrolet-Motor ins Leben«. Ich verstand damals nicht, warum mein Vater diesen Wagen trotz Chaduris Drängen am Ende nicht kaufen wollte, obwohl er ihn offensichtlich bewunderte und gern einen »echten« starken Wagen wie den Chevrolet erstanden hätte, wie er sagte. Er gab als Grund lediglich an, es sei ein »Unglücks«-Auto. Einer seiner Kindheitsfreunde, der den Wagen dem britischen Inspektor Mister T. S. Eliot abgekauft hatte, war damit in den Tod gefahren. Es handelte sich hierbei um Abbas Hamadi, den Vater von Naim, dem vorgeworfen wurde, den Chevrolet aus seinem durch den Schmuggel von Juden entstandenen Vermögen bezahlt zu haben. Mein Vater bestand darauf, das Auto »Unglücks«-Wagen zu nennen. Ich nannte ihn einfach »Chevy«, als ich klein war.
Eines Tages, ich glaube, es war an einem Samstag während der Frühlingsferien, klopfte eine Frau an unsere Haustür. Neben ihr stand ein kleines Mädchen, von dem ich später erfuhr, dass es ihre Tochter war. Ich war sechs Jahre alt, ging in die erste Klasse, und es waren meine ersten Schulferien. Wir gingen zu ihnen hinaus, mein Vater und ich. Ich weiß nicht, was genau die Frau zu ihm sagte; sie flüsterte fast. Sie trug eine Buschia, ein schwarzes Stück Stoff aus dünnem Chiffon, das ihre Zunge beim Sprechen berührte. Meiner Mutter war es nicht angenehm, als sie sah, dass mein Vater der Frau zustimmend zunickte, das Haus vor dem Frühstück verließ und mich bat, ihn auf der Fahrt zu begleiten. Die Frau war etwa im gleichen Alter wie mein Vater, vielleicht sogar zwei oder drei Jahre älter. Darauf ließen ihre Stimme, ihre Gangart, ihr Körperbau und ihre Kleidung schließen. Ihre Abaja ähnelte der meiner Mutter, obwohl ihr Gewand darunter kurz war. Die Tochter war wunderschön. Sie hatte kohlschwarzes Haar, grüne Augen und einen vollen Mund. Sie trug eine leichte Abaja, deren Spitze sie während der Autofahrt auf die Schultern fallen ließ, statt sie, wie ihre Mutter, auf dem Kopf zu belassen. Sie mochte fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein. Auf der ersten Fahrt wurde nicht darüber gesprochen, wer die beiden eigentlich waren. Und hätte die Frau mich nicht nach dem Schicksal des »Matrosenanzugs« gefragt, den ich als kleiner Junge trug und in dem ich auf einer großen Fotografie im Wohnzimmer unseres Hauses zu sehen war, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie unsere Familie kannte. Dies bestätigte sich jedoch am zweiten Samstag, als sie beim Bezahlen für die Fahrt zu meinem Vater sagte, sie müssten sich verabschieden, weil auch sie ausreisen würden. »Die Firma Morrison geht auch weg. Viele werden ihre Arbeit verlieren.« Die Frau sprach von der amerikanischen Firma, die die Schnellstraße zwischen Amaria und Basra anlegte. An jenem Tag sah ich die beiden, Mutter und Tochter, in einen großen Umzugswagen steigen, der vor dem Eingang des Hamra-Nachtclubs stand. In dem Wagen saß eine Gruppe von Frauen. Die Frau mit der Buschia und ihre Tochter ließen sich jedoch auf den Beifahrersitzen nieder. Ich sah flüchtig, wie das Mädchen mir zuwinkte. Waren vielleicht auch sie Juden? An jenem Tag wurde mir jedenfalls klar, dass es außer der Familie von Doktor Gabbay keine weitere mir bekannte jüdische Familie in Amaria mehr gab.
Da sie nicht auswandern wollten, wirkten die Gabbays wie eine Ausnahmefamilie – Doktor Gabbay selbst, seine Frau und Malaika. Sie war zwar das schönste Mädchen der Stadt, lebte aber dennoch wie die anderen Mädchen am Ort: Schlicht, ohne großen Ehrgeiz verbrachte sie ihre Tage zwischen Stadtbücherei und Haus. Sie ging nur selten spazieren und hatte keinen Freund – anders als die anderen Mädchen ihres Alters. So war es zumindest bis zu ihrer plötzlichen Abreise in den außergewöhnlich heißen Herbsttagen. Man sagte, Doktor Gabbay sei nach Bagdad gezogen, nachdem seine Praxis von einem großen Polizeitrupp unter der Führung von Dschabbar Swadi überfallen worden war. Es war nicht bekannt, ob es sich dabei um ein Gerücht handelte. Denn der Ort, der damals realen Übergriffen ausgesetzt war, war das kleine Büro der einzigen Zeitung der Stadt, Al-Tahdhib. Die Polizei drang in das Büro der Zeitung ein, zerschoss die Fenster und zerriss mit Bajonetten viele alte Ausgaben, in denen Artikel über die Auswanderung der Juden zu finden waren, ein Thema, über das sonst niemand zu schreiben wagte. Die Nachricht dieses Angriffs hätte sich nicht in solcher Windeseile verbreitet, wenn der Herausgeber der Zeitung, der alte und kranke Ahmad Tuhfa, der auf einem großen Sofa im Büro schlief, dabei nicht einen Herzinfarkt erlitten hätte.
Dies geschah am 20. Oktober 1967, dem Tag, an dem ich Malaika die erste von mir verfasste Geschichte überreichen sollte. Ich hatte damit schon fast zwei Monate gezögert. Eigentlich wäre sie an meinem elften Geburtstag fällig gewesen, denn in diesem Alter, meinte ich, war ich reif genug, eine Geschichte zu schreiben. Seitdem jedoch sagte ich ihr, wann immer sie mich in der Bücherei nach meinen Schreibkünsten fragte, dass ich mir noch nicht über die Reihenfolge der Entwürfe im Klaren sei, die ich mir für die Geschichte ausgedacht hatte, und sie mir Aufschub gewähren müsse. Vielleicht dachte ich auch, dass der Erzählung noch etwas zu ihrer Vollendung fehlte. In der Hoffnung, zwei Monate Zeit zu gewinnen, erzählte ich ihr sogar, ich sei erst am 20. Oktober 1956 zur Welt gekommen, und nicht am 20. August. Sie sah mich fragend an und sagte lachend: »Du hast also angefangen zu schwindeln, wie jeder Romanautor dieser Welt!« Was für ein Satz … Ehe ich die Geschichte beenden und ihr geben konnte, war Malaika abgereist. Und noch am Tag ihrer Abreise wurde mir bewusst, dass ich sie für immer verloren hatte. Ich trauerte vierzig Tage lang und nahm eine ganze Weile keine Nahrung zu mir. Ich magerte so sehr ab, dass meine Mutter dachte, ich sei unheilbar krank geworden. Sie zwang mich, an den Mahlzeiten teilzunehmen, um mich überwachen zu können. Jedesmal tischte sie die letzte Dose »Dattelsirup der Braut« mit auf. Als sie merkte, dass mein Gesicht sich beim Anblick des Sirups verdüsterte, fragte sie lächelnd: »Möchtest du deinen Lieblingssirup nicht probieren? Ich habe ihn all die Zeit aufbewahrt, um dich damit zu überraschen!« Und als ich den Löffel wegschob, den sie mir in den Mund stecken wollte, sagte sie: »Sirup wie dieser wird jahrelang nicht schlecht!« Sie dachte wohl, ich wollte aus diesem Grund nicht davon essen. Ihre Versuche, meine Laune zu verbessern, scheiterten. Und wie auch nicht? Die Stadt war ohne Malaika bedeutungslos geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Haus und Praxis von Doktor Gabbay so plötzlich verschwunden sein sollten. Die Familie musste ihre Gründe gehabt haben, sonst wäre Doktor Gabbay vor seiner Abreise noch bei uns vorbeigekommen. Er hatte großen Respekt vor meinem Großvater und betrachtete meinen Vater als kleinen Bruder (Doktor Gabbay war zwanzig Jahre älter als er). Abgesehen davon hatte seine Frau, Doktor Nawal Hanna al-Schaich mich entbunden.
In jenen Tagen begann auch ich ernsthaft über die Abreise nachzudenken. Und in den folgenden Jahren benahm ich mich wie jemand, der sich bemüht, den Verlust einer geliebten Person zu vergessen. Ich sagte mir: Um das Leben in der Stadt zu ertragen, die auf den Trümmern ihrer Abreise entstanden ist, musst du dich daran gewöhnen zu vergessen, wie andere Menschen auch.
Wisst ihr? Wer sich im Vergessen übt, dem wird es möglicherweise tatsächlich gelingen. So dachte ich damals. Aber es kam ganz anders, ihr Bild gewann mit dem geringsten Anlass Macht über mich.