Aufmerksamkeit im Zeitalter der Ablenkungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
lektorat@redline-verlag.de
1. Auflage 2017
© 2017 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
© der Originalausgabe 2017 by Derek Thompson
Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Penguin Press, einem Imprint der Penguin Random
House LLC, unter dem Titel Hit Makers.
Teile des Buches erschienen bereits im The Atlantic. Copyright © 2013, 2014, 2016 by Derek Thompson
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Jordan T.A. Wegberg, Berlin
Redaktion: Matthias Michel, Wiesbaden
Umschlaggestaltung: Karen Schmidt, München
Satz: Helmut Schaffer, Hofheim-Wallau
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-86881-672-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-928-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-929-0
Weitere Informationen zum Verlag finden sie unter
www.redline-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Einleitung: Das Lied, das die Welt eroberte
TEIL 1: POPULARITÄT UND VERSTAND
1. Die Macht der Publicity
Ruhm und Vertrautheit – in Kunst, Musik und Politik
2. Die MAYA-Regel
Aha-Momente in Fernsehen, Technologie und Design
3. Die Musik der Geräusche
Die Macht der Wiederholung in Lied und Sprache
Zwischenspiel: Schauder
4. Der Mythen schaffende Geist I: Die Macht der Story
Die Summe der tausend Mythen
5. Der Mythen schaffende Geist II: Die dunkle Seite der Hits
Warum Geschichten wie Waffen sind
6. Die Geburtsstunde der Mode
»Ich mag es, weil es beliebt ist.«»Ich hasse es, weil es beliebt ist.«
Zwischenspiel: Kurze Geschichte des Teenagers
TEIL 2: POPULARITÄT UND MARKT
7. Beliebigkeit und Rock’n’Roll
Grillen, Chaos und der größte Hit in der Geschichte des Rock’n’Roll
8. Der virale Mythos
Fifty Shades of Grey und die Wahrheit darüber, warum manche Hits so erfolgreich werden
9. Das Publikum meines Publikums
Cluster, Cliquen, Sekten
Zwischenspiel: Le Panache
10. Was die Leute wollen I: Die Ökonomie der Prophezeiung
Das Business des überwiegenden Irrtums
11. Was die Leute wollen II: Die Geschichte von Pixeln und Tinte
Was die Leute von den Nachrichten erwarten (… oft genug nicht die Nachrichten)
Zwischenspiel: 828 Broadway
12. Die Zukunft der Hits: Reich und Stadtstaat
Vertraute Überraschungen, Netzwerke und magischer Feenstaub
Danksagung
Anmerkungen
Register
Marco Polo beschreibt eine Brücke, Stein für Stein. »Aber welcher davon ist der Stein, der die Brücke trägt?«, fragt Kublai Khan. »Die Brücke wird nicht von diesem oder jenem Stein getragen«, antwortet Marco, »sondern von der Linie des Bogens, den sie bilden.«
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte
»Die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, dem Studium der Kartographie minder ergeben, hielten diese ausgedehnte Karte für unnütz und überließen sie, nicht ohne Ruchlosigkeit, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern …«
Jorge Luis Borges, Von der Strenge der Wissenschaft
Das erste Lied, das ich liebte, war das meiner Mutter. Jeden Abend saß sie auf der linken Seite meines Bettes und sang dasselbe Schlaflied. Ihre Stimme war süß und zart und passte genau in ein Schlafzimmer. Wenn wir bei meinen Großeltern mütterlicherseits in Detroit waren, sang meine Momi dasselbe Lied mit etwas tieferen Tönen, mit einem rauchigeren Timbre und deutschem Text. Ich wusste nicht, was die Worte bedeuteten, aber ich liebte sie wegen ihrer altertümlichen Rätselhaftigkeit in dem alten Haus: »Guten Abend, gut’ Nacht …«
Damals glaubte ich, das Lied sei ein Familienerbe. Aber in der ersten Klasse, bei einer meiner ersten Auswärtsübernachtungen in meiner Heimatstadt in Virginia, drehte mein Klassenkamerad an der kleinen Spieluhr neben seinem Bett, und digitale Glöckchen klimperten die vertraute Melodie.
So erfuhr ich, dass das Lied meiner Mutter kein Familiengeheimnis war. Es war erstaunlich weitverbreitet. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben auch Sie es schon Dutzende, vielleicht sogar Tausende Male gehört. Es handelt sich um Johannes Brahms’ »Wiegenlied« mit dem Text »Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht …«
Millionen von Familien singen seit über einem Jahrhundert allabendlich eine Version des Brahms’schen Schlaflieds für ihre Kinder. Es ist eine der meistverbreiteten Melodien der westlichen Welt. In Anbetracht der Tatsache, dass ein Schlaflied jeden Abend an Hunderten Tagen des Jahres und über mehrere Jahre im Leben eines Kindes hinweg gesungen wird, besteht eine recht hohe Wahrscheinlichkeit, dass Brahms’ Wiegenlied eins der meistgehörten Lieder der westlichen Hemisphäre, wenn nicht sogar der gesamten Welt ist.
Das »Wiegenlied« ist unbestreitbar schön und schlicht und repetitiv – alle notwendigen Elemente, die ein Lied haben muss, das die Kehlen müder Eltern für ihre Kinder hervorbringen. Aber eine derart universelle Melodie ist auch ein Geheimnis. Wie konnte ein deutsches Gesangsstück des 19. Jahrhunderts zu einem der beliebtesten Lieder der Welt werden?
Johannes Brahms wurde 1833 in Hamburg geboren und war einer der bekanntesten Komponisten seiner Zeit. Das »Wiegenlied« war sein unmittelbarster Erfolg.1 Es erschien auf dem Höhepunkt seiner Popularität im Jahre 1868 und war als Schlaflied für das neugeborene Kind einer alten Freundin geschrieben worden. Doch bald wurde es auf dem gesamten Kontinent und auf der ganzen Welt zum Hit.
Einer von Brahms’ Tricks zum Auffüllen seiner sprudelnden Quelle hübscher Melodien war die Vermischung von Genres. Er studierte die Musik seiner Heimat und bediente sich raffiniert griffigen Refrains. Wenn er durch Europa reiste, besuchte er in den Städten oft die Bibliotheken und stöberte in deren Sammlungen von Volksliedern, um ganze Stapel von Notenblättern zu studieren und seine Lieblingsstellen abzuschreiben. Genau wie ein fachkundiger moderner Songwriter die Hookline eines anderen Künstlers für seine eigene Musik sampelt – oder wie ein cleverer Designer sich die Schnörkel anderer Produkte zu eigen macht –, fügte Brahms von überallher aufgeschnappte Volksliedmelodien in sein musikalisches Werk ein.
Ein paar Jahre, bevor er sein berühmtes Schlaflied schrieb, verliebte Brahms sich in Hamburg in eine junge Sopranistin namens Bertha. Sie sang ihm viele Lieder vor, darunter auch Alexander Baumanns österreichisches Volkslied »S’is anderscht«. Einige Jahre später heiratete Bertha einen anderen Mann; sie benannten ihren Sohn Johannes nach dem Komponisten. Brahms wollte ihr seine Dankbarkeit zeigen – und vielleicht seine anhaltende Zuneigung. Er schrieb dem Paar ein Wiegenlied auf Grundlage des alten österreichischen Volksliedes, das Bertha ihm früher immer vorgesungen hatte. Den Text entnahm Brahms einer berühmten deutschen Gedichtsammlung, Des Knaben Wunderhorn:
Guten Abend, gut’ Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,
schlupf unter die Deck.
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.
Im Sommer 1868 schickte Brahms der Familie die Noten zu dem Lied mit einer Anmerkung. »Frau Bertha wird nun gleich sehen, dass ich das Wiegenlied gestern ganz bloß für ihren Kleinen gemacht habe; sie wird es auch, wie ich, ganz in Ordnung finden, dass, während sie den Hans in Schlaf singt, der Mann sie ansingt und ein Liebeslied murmelt.« Die erste größere Aufführung des Liedes erfolgte ein Jahr später, am 22. Dezember 1869, in Wien. Sie wurde ein riesiger kommerzieller Erfolg. Brahms’ Verleger beeilte sich, vierzehn verschiedene Arrangements des Liedes herauszubringen – bei Weitem die meisten aller Brahms-Stücke –, darunter für vier männliche Singstimmen, für drei Pianos, für Harfe und für Zither.
»Viele von Brahms’ Melodien sind wunderschön, aber das ›Wiegenlied‹ erfüllt auf einzigartige Weise die allgemeine Struktur, die moderne Musikzuhörer in Refrains erkennen«, sagte Daniel Beller-McKenna, ein Brahms-Forscher und Mitglied im Vorstand der American Brahms Society. »Es besitzt die zentralen Elemente von Wiederholung und milder Überraschung«, fuhr er fort und summte während unseres Gesprächs immer wieder die Melodie. Das »Wiegenlied« war ein Original. Aber es war auch überraschend vertraut, eine Kombination aus Volkslied-Anspielungen und Hamburger Erinnerungen. Ein Musikhistoriker sagte, das Stück ähnele Baumanns usprünglichem Volkslied so sehr, dass man es als »verschleierte, aber erkennbare Parodie« bezeichnen könne.2
Doch das beantwortet immer noch nicht die wichtigste Frage in Bezug auf das Schlaflied: Wie hat es sich weltweit verbreitet? Im 20. Jahrhundert wurden die meisten Popsongs bekannt, weil sie immer und immer wieder im Radio gespielt oder über andere Massenmedien gesendet wurden. Die Songs fanden den Weg zum Ohr des Zuhörers über Autolautsprecher, Fernsehgeräte und Kinos. Um einen Song zu mögen, mussten Sie ihn zuerst mal finden; oder, aus einer anderen Perspektive, der Song musste Sie finden.
Im 19. Jahrhundert dagegen wurden die Lieder berühmter Komponisten vielleicht in verschiedenen Konzerthäusern aufgeführt, aber es gab keine geeignete Technologie, um sie rasch auf aller Welt zu verbreiten. Um ein Gespür für die Langsamkeit zu bekommen, mit der Kultur sich in Brahms’ Zeiten ausbreitete, denken Sie an die gemächliche transatlantische Reise von Beethovens 9. Symphonie.3 Ihre Uraufführung fand 1824 im Wiener Theater am Kärntnertor statt, als Beethoven Berichten zufolge schon so taub war, dass er den donnernden Applaus nicht hören konnte. Doch erst zweiundzwanzig Jahre später, nämlich 1846 in New York, gab es die erste Aufführung in den Vereinigten Staaten. Neun weitere Jahre dauerte es, bis die Symphonie erstmals in Boston gespielt wurde.
Stellen Sie sich vor, jedes künstlerische Meisterwerk würde heutzutage einunddreißig Jahre brauchen, um den großen Teich zu überqueren. Michael Jacksons Album Thriller kam 1982 heraus, was bedeutet, dass Jackson bereits seit vier Jahren tot gewesen wäre, ehe die Londoner 2013 den Titelsong »Billie Jean« hätten hören können. Please Please Me, das erste Album der Beatles, erschien im März 1963 in Großbritannien, also hätten die Amerikaner erst mitten in Clintons Amtszeit die Fab Four kennengelernt. Für das Jahr 2021 könnten die Europäer sich auf die erste Staffel von Seinfeld freuen.
Ende der 1870er-Jahre wanderten noch keine Radiowellen hin und her. Dafür aber deutsche Familien. Während Brahms seinen künstlerischen Höhepunkt erreichte, war Mitteleuropa eine Brutstätte von Chaos, Krieg und Hungersnöten. In den zwanzig Jahren nach der Uraufführung des »Wiegenlieds« in Wien 1869 schoss die Zahl deutscher Auswanderer in die Höhe und erreichte in den 1880er-Jahren einen Rekord.4 Zwischen 1870 und 1890 nahmen die Vereinigten Staaten mehr deutsche Auswanderer auf als im gesamten 20. Jahrhundert. Ein beliebtes Schlaflied profitierte von einer zufälligen Zeiterscheinung und wurde nach ganz Europa und Amerika exportiert, besonders in den nördlichen Teil des Landes, wo sich die meisten Deutschen ansiedelten, vom Nordosten und Pennsylvania über Ohio und Michigan bis nach Wisconsin.
Ein historischer Exodus deutschsprachiger Familien erreichte, was 1870 weder das Radio noch andere Technologien leisten konnten. Eine beispiellose transatlantische Migrationswelle brachte das Wiegenlied nach Amerika.
Im Jahre 1879, auf dem Höhepunkt der deutschen Einwanderung, lebte ein Teilzeit-Rabbiner namens Joseph Kahn in der kleinen Stadt Echternach im östlichen Luxemburg. Joseph und seine Frau Rosalie reisten mit ihren fünf Kindern per Schiff in die Vereinigten Staaten, auf der Suche nach einem besseren Leben. Wie viele deutschsprachige jüdische Immigranten ließen sie sich schließlich im Mittleren Westen nieder, in Michigan.
Josephs und Rosalies Enkel war ein gut aussehender, frühzeitig kahl werdender junger Mann namens William, genannt Bill, der es liebte, auf seinem Anwesen in Franklin, einem grünen Vorort von Detroit, Poolpartys zu veranstalten. Eines Nachmittags im Jahr 1948 begegnete er auf einer Wiese in der Nähe seines efeuumrankten Hauses einem jungen Mädchen namens Ellen, dessen Familie vor den Nazis aus Deutschland geflohen war. Sie verliebten sich ineinander und heirateten innerhalb von acht Monaten. Im Oktober darauf bekamen Bill und Ellen eine Tochter. Sie sollte das Schlaflied von Brahms im deutschen Original im Lauf ihres Lebens Tausende Male zu hören bekommen. Ich kannte dieses Mädchen ebenfalls. Es war meine Mutter.
In diesem Buch geht es um Hits, jene wenigen Produkte und Ideen, die in der Popkultur und in den Medien außergewöhnliche Beliebtheit und kommerziellen Erfolg erzielen. Die These dieses Buches lautet: Obgleich viele Nummer-eins-Songs, Fernsehsendungen, Kinohits, Internet-Memes und allgegenwärtige Apps aus dem Nichts zu kommen scheinen, wird dieses kulturelle Chaos von bestimmten Regeln geleitet: der Psychologie dessen, warum Menschen das mögen, was sie mögen, den sozialen Netzwerken, über die Ideen verbreitet werden, und der Ökonomie der kulturellen Märkte. Es gibt Möglichkeiten, Hits zu manipulieren, und, was noch wichtiger ist, es gibt die Möglichkeit, zu erkennen, wann Popularität manipuliert wird.
Im Kern stellt dieses Buch zwei Fragen:
1.Was ist das Geheimnis, ein Produkt zu erzeugen, das andere mögen – in der Musik, bei Filmen, im Fernsehen, bei Büchern, Spielen, Apps und in der gesamten weiten Kulturlandschaft?
2.Warum scheitern einige Produkte auf diesen Märkten, während ähnliche Ideen Fuß fassen und zu gewaltigen Hits werden?
Diese beiden Fragen hängen miteinander zusammen, doch sie sind nicht dasselbe, und die Antwort auf die erste Frage hat sich im Laufe der Zeit weniger verändert als die Antwort auf die zweite. Produkte verändern sich, Moden kommen und gehen. Aber die Beschaffenheit des menschlichen Geistes ist uralt, und die meisten menschlichen Grundbedürfnisse – dazugehören, davonkommen, nach etwas streben, verstehen und verstanden werden – währen ewig. Das ist der Grund, warum die Geschichten von Hits sich im Laufe der Geschichte ähneln, und wie wir sehen werden, spiegeln sowohl ihre Schöpfer als auch ihr Publikum immer und immer wieder die Ängste und Freuden vergangener Kulturen wider.
In der Geschichte des Brahms’schen »Wiegenlieds« kann man Antworten auf beide zentrale Fragen finden. Warum war das Publikum augenblicklich begeistert von diesem Lied? Vielleicht, weil viele von ihnen die Melodie schon mal gehört hatten, oder zumindest etwas Ähnliches. Brahms hatte Anleihen bei einem bekannten österreichischen Volkslied gemacht und es mit Konzertsaal-Grandezza ausgeschmückt. Sein Schlaflied war nicht deshalb ein sofortiger Erfolg, weil es eine mit nichts zu vergleichende Neuheit darstellte, sondern weil es eine vertraute Melodie im neuen Rahmen bot.
Manche neuen Produkte und Ideen fügen sich in die ausgefahrenen Furchen der menschlichen Erwartungen. In fünfzehn der letzten sechzehn Jahre war der erfolgreichste Kinofilm in Amerika die Fortsetzung eines bereits zuvor erfolgreichen Films (z. B. Star Wars) oder die Adaption eines zuvor erfolgreichen Buches (z. B. Der Grinch).5 Die Macht der wohlverborgenen Vertrautheit erstreckt sich aber weit über die Filmbranche hinaus. Es kann auch ein politischer Essay sein, der mit neuer und beeindruckender Klarheit eine Idee formuliert, die der Leser schon hatte, die er aber nie in Worte gefasst hat. Das kann eine Fernsehsendung sein, die eine fremde Welt zeigt, jedoch mit so wiedererkennbaren Figuren, dass der Zuschauer das Gefühl hat, er stecke in ihrer Haut. Es kann ein Kunstwerk sein, das mit einer ganz neuen Form verblüfft, aber dennoch eine Bedeutung durchscheinen lässt. In der Psychologie der Ästhetik gibt es eine Bezeichnung für jenen Augenblick zwischen der Angst vor dem Neuen und dem befriedigenden Einsetzen des Begreifens: das »ästhetische Aha«.
Das ist die erste These dieses Buches. Die meisten Verbraucher sind gleichzeitig neophil – neugierig auf die Entdeckung von Neuem – und zutiefst neophob – voller Angst vor allem, das zu neu ist. Die besten Hitmacher haben das Talent, durch die Verknüpfung von Alt und Neu, von Furcht und Begreifen Augenblicke der Sinnhaftigkeit zu erzeugen. Sie sind Architekten vertrauter Überraschungen.
Das »Wiegenlied« war für sein deutsches Publikum eine solche vertraute Überraschung. Doch das allein machte es nicht zu einem der beliebtesten Lieder der gesamten westlichen Welt. Ohne die Kriege, die Europa in den 1870er- und 1880er-Jahren erschütterten, wären Millionen von Deutschen nicht ausgewandert, und vielleicht hätten Millionen von Kindern, die das Lied heute in- und auswendig kennen, es niemals gehört. Brahms’ musikalisches Genie verlieh dem Lied seine Anziehungskraft. Aber die deutsche Emigration verschaffte ihm seine Reichweite.
Die Art und Weise, wie Ideen sich ausbreiten, sowohl auf als auch innerhalb von Gruppen, ist überaus wichtig und wird häufig missverstanden. Die meisten Menschen denken nicht viel über all die Songs, Bücher und Produkte nach, die ihnen noch nie begegnet sind. Doch ein brillanter Artikel in einer unbekannten Zeitschrift bleibt ungelesen, ein mitreißender Song ohne Radioausstrahlung welkt im Verborgenen dahin, und ein bewegender Dokumentarfilm ohne Sendeplatz ist zur Vergessenheit verdammt, egal, wie großartig er sein mag. Die erste Frage für Menschen mit einem neuen Produkt lautet also: Wie bringe ich meine Idee an meine Zielgruppe?
Das »Wiegenlied« wurde nur vor einigen Tausend Menschen live gespielt. Doch heute kennen Millionen diese Melodie. Das Lied verbreitete sich weit über das Wiener Opernhaus hinaus durch Familien und Freunde und eine Vielzahl sozialer Netzwerker auf aller Welt. Die tiefer liegende Frage für Menschen mit einem neuen Produkt oder einer Idee lautet also: Wie kann ich etwas machen, das Menschen aus freien Stücken an andere weitergeben – an die Zielgruppe meiner Zielgruppe? Es gibt keine Formel dafür. Aber es gibt ein paar grundlegende Fakten darüber, was Leute zusammen- und zum Reden bringt – zum Beispiel, warum der Verkauf einer Dating-App genau die entgegengesetzte Strategie erfordert wie der Verkauf einer angesagten Modekollektion, und warum die Menschen schlechte Nachrichten ihren Freunden erzählen und gute Nachrichten bei Facebook posten. Etwas Schönes zu machen ist das Entscheidende. Aber diese menschlichen Netzwerke zu verstehen ist ebenso essenziell für Hitmacher.
Manche Menschen halten Vertrieb und Werbung für sinnlos, langweilig, geschmacklos oder alles auf einmal. Doch dies sind die unterirdischen Wurzeln, die schöne Dinge an die Oberfläche bringen, wo die Zielgruppe sie entdecken kann. Es genügt nicht, die Produkte selbst zu untersuchen, um den ihnen innewohnenden Reiz zu begreifen, denn häufig können die beliebtesten Dinge kaum als »das Beste« bezeichnet werden. Sie sind deshalb überall die beliebtesten, weil sie einfach überall sind. »Content is king« – der Inhalt ist der König, heißt es. Aber der Vertrieb ist das Königreich.
Es ist aufschlussreich, die Geschichte des »Wiegenlieds«, eines Hits der alten Welt, mit jener eines durch und durch neuzeitlichen Hits zu vergleichen, nämlich der Foto-App Instagram, um die gemeinsamen Themen des Vertrauten und der Macht der Netzwerke zu betrachten.
Wenn der Markt für Klaviermusik des 19. Jahrhunderts überlaufen war, so gilt das erst recht für Foto-Sharing-Apps der letzten Jahre. Im Jahr 1999 wurden laut Jahresbericht 2000 der Firma Kodak weltweit 80 Milliarden Bilder gemacht und 70 Millionen Kameras verkauft.6 Heute werden jeden Monat mehr als 80 Milliarden Fotos auf etlichen Milliarden Handys, Tablets, Computern und Kameras gespeichert.7
Wie mit vielen anderen Apps kann man mit Instagram Bilder machen und sie mit Retro-Filtern versehen. Die Gestaltung war beinahe perfekt für ihre Zwecke: einfach und ansprechend mit intuitiven Möglichkeiten, Bilder aus dem menschlichen Alltag zu bearbeiten und weiterzuleiten. Aber es gab viele einfache, ansprechende Apps in diesem Bereich, und Instagram hat den Filter nicht erfunden.8 Was war also so Besonderes an Instagram?
Der Erfolg der App verdankte sich gleichermaßen der Kunst und der Verbreitung. Ehe Instagram auf den Markt kam, stellten seine Gründer einigen Tech-Tycoons aus San Francisco wie dem Unternehmer Kevin Rose, dem Journalisten M. G. Siegler, dem Technik-Evangelisten Robert Scoble und dem Twitter-Mitgründer Jack Dorsey frühe Versionen der App zur Verfügung.9 Diese Technologie-Promis posteten mehrere Instagram-Fotos auf Twitter, wo sie alle zusammen Millionen von Followern hatten. Durch den Zugang zu bereits existierenden riesigen Netzwerken erreichte Instagram Tausende von Menschen, ehe es überhaupt zur Markteinführung kam.
Als Instagram am 6. Oktober 2010 auf den Markt kam, luden sich 25.000 Menschen die App herunter, was sie an die Spitze des App Store katapultierte.10 Viele iPhone-Nutzer, die Dorseys Instagram-Bilder in ihren Twitter-Nachrichten gesehen hatten, luden sich die App voller Begeisterung herunter, als sie verfügbar war. Silicon-Valley-Berichterstatter sagten, sie hätten noch nie erlebt, dass ein Start-up noch vor dem Auftakt so viel Werbung und Aufmerksamkeit auf Technik-Blogs bekommen habe. Der Erfolg von Instagram hatte etwas mit einem einwandfreien, witzigen und einfachen Produkt zu tun. Und mit dem Netzwerk, in dem es eingeführt wurde.
Ob durch eine Atlantiküberquerung oder durch einen Twitter-Nutzer aus San Francisco, die Geschichte der Verbreitung eines Produkts ist ebenso wichtig wie die Beschreibung seiner Merkmale. Es wird kaum genügen, das perfekte Produkt zu entwickeln, ohne sich ebenso intensive Gedanken darüber zu machen, wie man es an die richtigen Leute bringt.
Zu Brahms’ Zeiten mussten Sie Musiker und einen Konzertsaal ausfindig machen, wenn Sie wollten, dass die Leute Ihre Symphonie zu hören bekamen. Kommerzielle Musik war Mangelware, und das Musikgeschäft gehörte jenen, die die Konzerthäuser und die Presse kontrollierten.
Doch heute passiert etwas Interessantes. Die Verknappung ist dem Überfluss gewichen. Der Konzertsaal ist das Internet, die Instrumente sind billig, jeder kann seine eigene Symphonie schreiben. Die Zukunft der Hits ist demokratisch, chaotisch und ungleich. Millionen wetteifern um Aufmerksamkeit, ein paar Glückliche kommen groß heraus, eine mikroskopisch kleine Minderheit wird unvorstellbar reich.
Am deutlichsten ist die Revolution im Medienbereich während der letzten sechzig Jahre bei Kino- und Fernsehfilmen. Als der Bibel-Kassenschlager Ben Hur am 18. November 1959 vor einem Publikum von über 1.800 Prominenten im New Yorker Loew’s State Theatre uraufgeführt wurde, war die Filmindustrie die drittgrößte Verkaufsbranche in den Vereinigten Staaten nach der Lebensmittel- und der Autoindustrie.11 Der Film brach die Hollywood-Rekorde für das größte Produktionsbudget und die teuerste Werbekampagne und wurde nach Vom Winde verweht zum zweiterfolgreichsten Kinofilm jener Zeiten.
Das Blitzlichtgewitter bei der Premiere mag einige Filmmogule für die Tatsache blind gemacht haben, dass die monogame Beziehung Amerikas mit der Kinoleinwand bereits ihrem Ende zuging. Das Fernsehen erwies sich als unwiderstehliche Verführung. Bis 1965 besaßen über 90 Prozent aller Haushalte ein Fernsehgerät und verbrachten mehr als fünf Stunden täglich davor.12 Die Wohnzimmercouch ersetzte den Kinosessel, die Zahl der Kino-Eintrittskarten pro Erwachsenem sank von rund fünfundzwanzig im Jahr 1950 auf vier im Jahr 2015.13
Das Fernsehen ersetzte den Film als beliebtestes Medium des visuellen Storytelling und brachte eine starke Verlagerung von Aufmerksamkeit und Dollars mit sich – von wöchentlich gekauften Kinokarten zu Online-Abonnements, deren monatliche Zahlungen ein riesiges Ökosystem von Live-Sportübertragungen, brillanten wie klischeehaften Dramen und endlosen Reality-Shows ermöglichen. Die bekanntesten Filmgesellschaften der Welt, zum Beispiel die Walt Disney Company und Time Warner, machen schon seit Jahren mehr Gewinne mit Kabelsendern wie ESPN und TBS als mit ihrer gesamten Filmabteilung.14 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist jedes Filmunternehmen mehr oder weniger heimlich auch im TV-Geschäft aktiv.
Doch heutzutage ist der Bildschirm des Fernsehapparats lediglich die größte in einer Welt glitzernder Glasscheiben. Erstmals 2012 brachten die Amerikaner mehr Zeit mit digitalen Geräten wie Laptops und Handys zu als vor dem Fernseher.15 2013 betrug die weltweite Produktion von LCD-Bildschirmen über 3,5 Milliarden Quadratmeter oder rund 50 Quadratzentimeter für jeden lebenden Menschen.16 In Entwicklungsregionen wie China, Indonesien und Nordafrika wurde die Desktop- und Laptop-Ära gleich ganz übersprungen und begann mit dem Computer in der Hosentasche.
Im Großen und Ganzen verlagert sich die weltweite Aufmerksamkeit von weniger häufigen, großen und ausgestrahlten Inhalten (z. B. wöchentlicher Kinobesuch von Millionen Menschen) auf häufige, kleine und soziale Inhalte (z. B. Milliarden von Menschen, die alle paar Minuten auf ihren eigenen Displays die Beiträge sozialer Medien abfragen).
Noch 2000 wurde die Medienlandschaft dominiert von Eins-zu-eine-Million-Produktionen auf Kinoleinwänden, Fernsehbildschirmen und in Autoradios. Doch heute leben wir in einer mobilen Welt, in der Hits wie Angry Birds und Imperien wie Facebook auf winzigen Glasflächen existieren. 2015 berichtete die Technologie-Analytikerin Mary Meeker, ein Viertel der amerikanischen Medienaufmerksamkeit gelte mobilen Geräten, die es vor zehn Jahren noch gar nicht gab.17 Das Fernsehen stirbt nicht aus, sondern es entwickelt sich zu Milliarden von Videostreams auf einer Vielzahl von Bildschirmen, von denen die meisten in der Hand gehalten werden können. Einst hat das Fernsehen die »Bewegtbilder« aus dem Griff der Kinosäle befreit; im historischen Ablauf emanzipiert die Mobiltechnologie nun das Video vom Wohnzimmer.
Mit dem Medium haben sich auch die Botschaften verändert. Die traditionelle Fernsehübertragung war live, werbefinanziert und wurde einmal wöchentlich ausgestrahlt. Das machte sie zur perfekten Heimat von Dramen und Krimis, die in jeder Folge mehrere Cliff-hanger aufwiesen (um die Zuschauer während der Werbeblöcke zu binden) und offen endeten. Beim Streaming, das häufig werbefrei ist, werden diejenigen Zuschauer belohnt, die mehrere Stunden am Stück dabeibleiben. Sie müssen nicht nach einer Folge House of Cards bei Netflix oder Downton Abbey bei Amazon Video aufhören; sie können so viel schauen, wie sie wollen. Durch die Kombination der Ästhetik des Films, des episodischen Charakters traditioneller Fernsehserien und des »exzessiven« Potenzials eines Romans oder einer Wagner-Oper trägt das Fernsehen der nahen Zukunft nicht mehr die Zwangsjacke von Ein-Stunden-Blöcken. Es hat ein »Lang-format« – oder vielleicht ein beliebiges Format.
Inzwischen wird das Fernsehen von kleineren Inhalten untergraben. Im April 2013 postete Robby Ayala, Student an der Florida Atlantic University, mehrere spaßige Videos der Campus-Waschbären auf Vine, einem nicht mehr existierenden sozialen Netzwerk von sechssekündigen Loops, das für viele junge Leute die bessere Alternative zum Fernsehen darstellte. Als er einen Monat später über eine Million Follower versammelt hatte, brach er sein Jurastudium ab und arbeitete bei einem zu Twitter gehörigen Netzwerk für Vine-Stars. Er brachte es auf 3,4 Millionen Follower und eine Milliarde Aufrufe seiner Videos und lebte davon, dass er in gesponserten Beiträgen für Unternehmen wie HP auftrat. Früher gingen Schauspieler nach Los Angeles oder nach New York, weil in diesen Städten die Entscheidungsträger saßen, denen das mediale Distributionsnetz gehörte. Doch heute kann jeder Mensch mit einem Handy oder einem Computer zur viralen Sensation der Woche werden. In dieser Zeit der ungeladenen Gäste und der globalen Aufmerksamkeit kann jeder ein Hitmacher sein.
Von jeher hat die Technologie die Unterhaltung geprägt – und unsere Erwartungen dessen, welche Arten von Inhalten »gut« sind. Im 19. Jahrhundert bezahlten die Besucher von Symphonien für eine lange Abendaufführung. Anfang des 20. Jahrhunderts verlagerte sich die Musikindustrie auf Radio und Vinyl. Die ersten Zehn-Inch-Schallplatten konnten mühelos drei Minuten Musik enthalten, was zu der Erwartungshaltung beitrug, dass eine moderne Pop-Single nicht länger sein sollte als 240 Sekunden. Heute ist ein Vine-Video nur sechs Sekunden lang.
Ist sechssekündige Unterhaltung lächerlich kurz? Das ist sie – wenn Sie mit Schubert, Brahms und Konzertsälen aufgewachsen sind. Sie ist es nicht – wenn Sie mit Robby Ayala, Facebook und dem 3,5-Zoll-Bildschirm eines Smartphones groß geworden sind. So oder so, die Menschen tendieren immer zum Vertrauten, und die Technologie prägt diese Gewohnheiten.
Die Bildschirme werden immer kleiner und immer leistungsfähiger. Früher haben bloß wir die Inhalte konsumiert. Jetzt konsumieren die Inhalte auch uns – unsere Verhaltensweisen, unsere Rituale und unsere Identität. Vor den 1990er-Jahren hatte die Musikindustrie keine täglichen Informationen darüber, wer sich zu Hause und im Radio Musik anhörte. Heute hört die Musikindustrie mit, wann immer Sie über Ihr Handy einen Song abspielen, und verwendet diese Informationen, um den nächsten Hit auf den Weg zu bringen. Facebook, Twitter und digitale Verlage haben Tools, die ihnen nicht nur sagen, welchen Text Sie anklicken, sondern auch, wie weit Sie lesen und was Sie als Nächstes anklicken. Früher haben wir einfach Hits gespielt; jetzt spielen die Hits mit uns.
Diese smarten Geräte haben ein gewisses Maß an Wissenschaft in die Arbeit des Hitmachens eingeführt und helfen den Unternehmen, den ultimativen Code für Konsumenten und Zielgruppen zu knacken: Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit und warum?
Wenn ein Buch den Geschmack von Milliarden Menschen und den Erfolg oder das Scheitern von Millionen Produkten zu erklären versucht, müssen darin einige Annahmen getroffen werden, die zwar zusammengenommen durchaus zu rechtfertigen sind, bestimmte Ausnahmen jedoch nicht berücksichtigen. Ich habe Pauschalaussagen zu vermeiden versucht, die nicht von maßgeblichem Zahlenmaterial gestützt werden. Aber sich sehr um die Vermeidung von Irrtümern zu bemühen, ist nicht dasselbe, wie immer richtigzuliegen.
Einige Monate, bevor ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, fand ich zwei Zitate, die mir gefielen. Ich kopierte sie auf einen Notizzettel meines Computers, wo ich sie immer sehen konnte. Es sind die Zitate am Anfang dieses Kapitels.
Das erste Zitat stammt aus Italo Calvinos Buch Die unsichtbaren Städte. Es ist eine Ode an die Vielschichtigkeit. Kublai Khan fragt, ob es einen einzelnen Stein gibt, der die Brücke stützt. Marco Polo erwidert, dass eine Brücke nicht auf einem einzelnen Stein ruhe, sondern auf einem Bogen, der von vielen Steinen gebildet wird.
Im Non-Fiction-Bereich gab es in den letzten zwanzig Jahren einen Reigen von kleinen Büchern über das Leben, die einige allgemeine Kritik erfahren haben. Sie übervereinfachen die Beschaffenheit des menschlichen Geistes, der, wie Polos Brücke, nicht durch den einen oder anderen Stein zu erklären ist, sondern durch die Interaktion einer Vielzahl stützender Elemente. Auch dieses Buch stellt ein paar schwer zu beantwortende Fragen: Warum erlangen manche Ideen und Produkte Popularität? Welche Faktoren markieren die Grenzlinie zwischen Hits und Flops? Das Bestreben, befriedigende Antworten auf diese Fragen zu finden, erfordert natürlich ein gewisses Maß an Verallgemeinerung. Aber während des gesamten Prozesses habe ich im Gedächtnis zu behalten versucht, dass der menschliche Geschmack nicht von einem einzigen Konzept oder einem Naturgesetz bestimmt wird. Vielmehr sind die individuellen Vorlieben so etwas wie ein Brückenbogen, der sich aus vielen Steinen zusammensetzt.
Das Calvino-Zitat wäre ein gutes Argument gegen ein Buch wie dieses gewesen, in dem großartige Theorien für die Funktionsweise der Welt aufgestellt werden. Doch da kommt das zweite Zitat ins Spiel.
Borges beschreibt ein Reich mit einer derart fortgeschrittenen Kartografenzunft, dass sie eine Landkarte in Originalgröße des Reiches gestalten. Doch die Menschen lehnen diese Errungenschaft der Präzision ab, und die Fetzen der Karte dienen letztlich den Bettlern in der Wüste als Kleidung. In der Einfachheit liegt die Tugend. Eine papierene Landkarte in genau derselben Größe wie das Reich, das sie darstellt, ist »unnütz«, weil eine Karte nur dann von Nutzen sein kann, wenn sie klein genug ist, um sie in der Hand zu halten und zu lesen. Die Welt ist komplex. Aber jeder Sinnhaftigkeit liegt eine kluge Vereinfachung zugrunde.
Eins der Themen dieses Buches ist, dass die Menschen nach Sinnhaftigkeit hungern und dass ihre Vorlieben durch das Zusammenspiel des Komplexen und des Einfachen bestimmt werden, die Stimulation des Neuen und die tiefe Geborgenheit des Vertrauten. Statt übervereinfachender Abkürzungen zu den Gründen, warum einige Kulturprodukte so erfolgreich sind, besteht mein Ziel darin, auf einfache Art eine komplexe Geschichte zu erzählen. Das Rückgrat dieses Buches ist zu klein, um Marco Polos Brücke zu stützen. Doch im Idealfall finde ich gute Steine, zeichne eine nützliche Landkarte.
An einem regnerischen Herbsttag ging ich allein durch die Impressionisten-Abteilung der National Gallery of Art in Washington. Während ich vor einer Wand mit berühmten Gemälden stand, stellte sich mir eine Frage, die sich wohl insgeheim viele Menschen in einem Museum stellen, selbst wenn es unhöflich wäre, sie laut in Gesellschaft von Fremden auszusprechen: Warum ist das Ding so berühmt geworden?
Es war die Japanische Brücke von Claude Monet mit dem blauen Steg, der sich über einen smaragdgrünen Teich wölbt, gesäumt von gelben, rosafarbenen und grünen Tupfern – den legendären Seerosen. Es war unmöglich, das nicht zu erkennen. In einem meiner Lieblingsbilderbücher als Kind hatte es mehrere der Seerosen-Bilder von Monet gegeben. Es war auch unmöglich zu ignorieren, was an ein paar Jugendlichen lag, die sich durch die älteren Besucher drängelten, um einen näheren Blick auf das Bild zu werfen. »Ja!«, sagte ein Teeniemädchen und hielt das Handy vors Gesicht, um ein Foto zu machen. »Oh!«, rief der etwas größere gelockte Junge hinter ihr. »Das ist das berühmte!« Ein paar andere Oberschüler hörten ihre Rufe, und innerhalb von Sekunden hatte sich eine ganze Gruppe um den Monet versammelt.
Ein paar Räume weiter zeigte das Museum die Sonderausstellung eines anderen impressionistischen Malers, Gustave Caillebotte. Das war eine ruhigere, gemächlichere Angelegenheit. Es gab dort keine Schüler und keine ekstatischen Ausrufe des Wiedererkennens, nur eine Menge Mhm-hms und feierliches Nicken. Caillebotte ist nicht weltberühmt wie Monet, Manet oder Cézanne. Das Schild an der National Gallery, das seine Ausstellung ankündigte, bezeichnete ihn als den »vielleicht am wenigsten bekannten französischen Impressionisten«.18
Aber Caillebottes Gemälde sind wundervoll. Sein Stil ist impressionistisch und dennoch präzise, wie mit einer etwas schärfer eingestellten Kamera aufgenommen. Häufig durch ein Fenster betrachtet, gibt er die bunte urbane Geometrie vom Paris des 19. Jahrhunderts wieder – die gelben Rauten der Gebäude, die weißen Bürgersteige und das spiegelnde Grau der regennassen Boulevards. Seine Zeitgenossen betrachteten ihn als Phänomen, auf gleicher Stufe mit Monet und Renoir. Émile Zola, der große französische Schriftsteller, der die Aufmerksamkeit auf die »zarten Farbtupfer« der Impressionisten lenkte, bezeichnete Caillebotte als »einen der Kühnsten dieser Gruppe«. Noch heute, 140 Jahre später, ist Monet einer der berühmtesten Maler der Geschichte, während Caillebotte relativ anonym blieb.
Ein Mysterium: Zwei rebellische Maler zeigen ihre Kunstwerke 1876 in derselben impressionistischen Ausstellung. Man hält sie für gleich talentiert und vielversprechend. Doch die Seerosen des einen werden zu einem weltweiten kulturellen Erfolg – verewigt in Bildbänden, untersucht von Kunsthistorikern, begafft von Oberschülern und bei jeder Führung durch die National Gallery of Art hervorgehoben –, und der andere Künstler ist den Liebhabern der Malerei kaum bekannt. Warum?
Viele Jahrhunderte lang haben Philosophen, Künstler und Psychologen die moderne Kunst untersucht, um die Wahrheit über Schönheit und Beliebtheit herauszufinden. Aus nachvollziehbaren Gründen konzentrierten sich viele auf die Gemälde selbst. Aber die Tupfer Monets und die Pinselstriche Caillebottes zu erforschen sagt nichts darüber aus, warum der eine berühmt ist und der andere nicht. Man muss tiefer in die Geschichte eintauchen. Berühmte Gemälde, Hits und Kassenschlager, die mühelos auf dem kulturellen Bewusstsein dahintreiben, haben eine verborgene Entstehungsgeschichte; sogar Seerosen haben Wurzeln.
Ein Forschungsteam der Cornell University untersuchte die Geschichte des impressionistischen Grundprinzips und stellte fest, dass etwas Überraschendes die bekanntesten Künstler von den anderen unterschied.19 Es waren nicht ihre gesellschaftlichen Verbindungen oder ihre Bekanntheit im 19. Jahrhundert. Die Geschichte geht darüber hinaus. Und es fängt alles an mit Caillebotte.
Gustave Caillebotte wurde 1848 in eine wohlhabende Pariser Familie geboren. Als junger Mann studierte er zunächst Jura, dann Ingenieurwissenschaft, dann trat er im Deutsch-Französischen Krieg in die Armee ein. Mit Mitte zwanzig entdeckte er seine Leidenschaft und sein enormes Talent für die Malerei.
1875 reichte er Die Parkettschleifer bei der Akademie der Künste in Paris ein. Auf diesem Gemälde strömt weißes Licht durch ein Fenster und erhellt die nackten weißen Rücken einiger auf den Knien arbeitender Männer, die den dunkelbraunen Holzfußboden eines leeren Raumes abziehen, während sich die Holzspäne neben ihren Beinen zu Spiralen ringeln. Doch das Bild wurde abgelehnt. Ein Kritiker fasste später die erboste Antwort mit den Worten zusammen: »Wenn schon Nackte, dann schöne – oder gar keine.«
Die Impressionisten – oder, wie Caillebotte sie auch nannte, les Intransigents – waren anderer Meinung. Einigen von ihnen, darunter Auguste Renoir, gefiel sein alltäglicher Blick auf die Parkettschleifer, und er bat Caillebotte, gemeinsam mit seinen Mit-Rebellen auszustellen. Er schloss Freundschaft mit einigen der umstrittensten jungen Künstler der Epoche, wie Monet und Degas, und kaufte Dutzende ihrer Werke zu einer Zeit, da sich nur ein paar wenige reiche Europäer dafür interessierten.
Caillebottes Selbstporträt zeigt ihn in mittleren Jahren mit kurzem Haar und einem Gesicht wie eine Pfeilspitze, knochig und straff, mit ernstem grauem Bart. Auch charakterlich war er eine ernste Natur. Caillebotte war überzeugt, dass er jung sterben würde, und wies den französischen Staat in seinem Testament an, seine Kunstsammlung anzunehmen und fast siebzig seiner impressionistischen Gemälde in einem Nationalmuseum aufzuhängen.20
Seine Befürchtungen waren nicht grundlos. 1894 starb Caillebotte im Alter von fünfundvierzig Jahren an einem Schlaganfall. Zu seinem Nachlass gehörten mindestens sechzehn Gemälde von Monet, acht von Renoir, acht von Degas, acht von Cézanne und vier von Manet, außerdem achtzehn Bilder von Pissarro und neun von Sisley.21 Es ist durchaus vorstellbar, dass seine Sammlung bei einer Christie’s-Versteigerung des 21. Jahrhunderts mehrere Milliarden Dollar eingebracht hätte.
Damals war seine Sammlung jedoch weitaus weniger begehrt. In seinem Testament hatte Caillebotte verfügt, dass alle Gemälde im Pariser Musée du Luxembourg aufgehängt werden sollten. Doch selbst gegenüber Renoir als Testamentsvollstrecker lehnte die französische Regierung die Kunstwerke zunächst ab.
Die französische Elite, darunter konservative Kritiker und sogar prominente Politiker, hielten das Ansinnen für anmaßend, wenn nicht gar lächerlich. Wer war denn dieser Bursche, dass er glaubte, die französische Regierung posthum zwingen zu können, Dutzende von hingeklecksten Frechheiten an ihre eigenen Wände zu hängen? Mehrere Kunstprofessoren drohten, aus der École des Beaux-Arts auszuscheiden, wenn der Staat die impressionistischen Gemälde annehmen würde. Jean-Léon Gérôme, einer der bekanntesten akademischen Künstler seiner Zeit, ging scharf mit der Spende ins Gericht: »Ehe die Regierung solchen Schmutz annimmt, müsste die Moral massiv geschwächt werden.«
Aber was anderes ist die Geschichte der Kunst, wenn nicht die einer großen Schwächung nach der anderen? Nachdem Renoir jahrelang dafür gekämpft hatte, dass sowohl der französische Staat als auch Caillebottes eigene Familie dem Ansinnen nachgaben, überredete er die Regierung, wenigstens ungefähr die Hälfte der Sammlung anzunehmen. Bei einer Zählung umfassten die akzeptierten Bilder acht Werke von Monet, sieben von Degas, sieben von Pissarro, sechs von Renoir, sechs von Sisley, zwei von Manet und zwei von Cézanne.
Als die Kunstwerke 1897 endlich in einem neuen Flügel des Musée du Luxembourg aufgehängt wurden, war dies die erste nationale Ausstellung impressionistischer Malerei in Frankreich oder überhaupt in einem europäischen Land.22 Das Publikum strömte in das Museum, um sich Kunst anzusehen, die es zuvor verrissen oder schlicht ignoriert hatte. Der lange Kampf um Caillebottes Nachlass (in der Presse als l’affaire Caillebotte bezeichnet) hatte genau den Effekt, auf den er vermutlich gehofft hatte: Er erzielte beispiellose Aufmerksamkeit und sogar ein wenig Respekt für seine unnachgiebigen Freunde.
Ein Jahrhundert nach der Ausstellung der Caillebotte-Sammlung zählte James Cutting, Psychologe an der Cornell University in Ithaca, New York, über fünfzehntausend Erwähnungen impressionistischer Gemälde in Hunderten von Büchern der Universitätsbibliothek. Er schloss daraus »zweifelsfrei«, dass es einen Kern aus sieben (»und nur sieben«) impressionistischen Malern gab, deren Namen und Werke weitaus häufiger auftauchten als die ihrer Kollegen. Dieser Kern bestand aus Monet, Renoir, Degas, Cezanne, Manet, Pissarro und Sisley. Ohne Zweifel war dies der impressionistische Kanon. Was hob diese sieben Künstler heraus? Sie hatten keinen gemeinsamen Malstil. Sie wurden nicht auf besondere Weise von zeitgenössischen Kritikern gelobt und unterlagen nicht gleichermaßen der Zensur. Es gibt keine Berichte darüber, dass diese Gruppe sich exklusiv zusammengeschlossen hatte, eine exklusive Sammlung der jeweiligen Werke besaß oder exklusiv ausstellte. Genau genommen schien es nur eine Eigenschaft zu geben, die den berühmtesten Impressionisten gemeinsam war.
Der Kern aus sieben impressionistischen Malern bestand aus den einzigen sieben Impressionisten in Gustave Caillebottes Nachlass.
Genau einhundert Jahre nach Caillebottes Tod, im Jahre 1994, stand James Cutting vor einem der berühmtesten Gemälde im Pariser Musée d’Orsay und ihm kam ein vertrauter Gedanke: Warum ist das Ding so berühmt?
Bei dem fraglichen Gemälde handelte es sich um Renoirs Ball im Moulin de la Galette (Bal du moulinde la Galette). Das 131 Zentimeter hohe und 175 Zentimeter breite Bild zeigt eine Reihe von gut gekleideten Pariser Bürgern, die zu einer Freiluftveranstaltung zusammengekommen sind, tanzen, trinken und sich im gesprenkelten nachmittäglichen Licht des Montmartre um Tische scharen.
Cutting erkannte das Werk augenblicklich. Aber er fragte sich, was so Besonderes an dem Gemälde war, abgesehen von der Tatsache, dass er es kannte. Ja, der Ball im Moulin ist faszinierend, das musste er einräumen, aber das Kunstwerk war nicht erkennbar besser als die der weniger berühmten Kollegen in den angrenzenden Räumen.
»Ich hatte wirklich ein Aha-Erlebnis«, sagte mir Cutting. »Ich erkannte, dass Caillebotte nicht nur der Ball im Moulin, sondern auch viele andere Gemälde in dem Museum gehört hatten, die außerordentlich berühmt geworden waren.«
Nach seiner Rückkehr nach Ithaca begann er, seine Erkenntnis zu teilen. In der Bibliothek der Cornell University studierten er und ein Forschungsassistent rund tausend Bücher über impressionistische Maler, um eine Liste der meistabgedruckten Künstler zu erstellen. Cutting zog den Schluss, dass der impressionistische Kanon sich auf einen festen Kern von sieben Künstlern konzentriert: Manet, Monet, Cézanne, Degas, Renoir, Pissarro und Sisley – Caillebottes Sieben.
Cutting entwickelte eine Theorie: Gustave Caillebottes Tod trug dazu bei, den impressionistischen Kanon zu schaffen. Sein Vermächtnis an den französischen Staat bildete die Brille, durch die zeitgenössische und zukünftige Kunstliebhaber den Impressionismus betrachteten. Kunsthistoriker konzentrierten sich auf Caillebottes Sieben, was deren Werken Ansehen verschaffte, andere Maler jedoch ausschloss. Die Gemälde von Caillebottes Sieben hatten die auffälligeren Plätze in Galerien, wurden für höhere Beträge an Privatsammler verkauft, fanden mehr Wertschätzung bei Kunstkennern, wurden in mehr Kunstbildbänden abgedruckt und von mehr Kunstgeschichtsstudenten erforscht, die zur nächsten Generation von Kunstexperten heranwuchsen und den ererbten Ruhm von Caillebottes Sieben bereitwillig weitergaben.i
Cutting hatte noch eine weitere Theorie: Die Tatsache, dass Caillebottes Nachlass den impressionistischen Kanon prägte, barg eine tiefe und universelle Wahrheit über Medien, Unterhaltung und Popularität. Die Menschen haben eine Vorliebe für Gemälde, die sie schon einmal gesehen haben. Das Publikum liebt Kunst, die jenen Ruck der Bedeutsamkeit auslöst, der oft durch das Wiedererkennen erfolgt. An der Cornell University überprüfte Cutting seine Theorie. Er versammelte 166 Personen aus seinen Psychologieseminaren und zeigte ihnen Paare impressionistischer Kunstwerke. Jeweils eins davon war deutlich »berühmter« – tauchte also mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem der Lehrbücher der Cornell University auf. Sechs von zehn Studenten gaben an, das bekanntere Bild gefalle ihnen besser.
Das konnte bedeuten, dass die berühmten Gemälde besser waren. Oder es konnte bedeuten, dass die Cornell-Studenten kanonische Kunstwerke bevorzugten, weil sie mit ihnen vertraut waren. Um das Letztere zu beweisen, musste Cutting eine Umgebung schaffen, in der die Studenten unwissentlich, aber wiederholt mit den weniger bekannten Bildern konfrontiert wurden, und zwar auf dieselbe Art, auf die Kunstliebhaber unwissentlich, aber wiederholt von ihrer Kindheit an mit dem impressionistischen Kanon konfrontiert werden.
Sein nächster Schritt war sehr clever:23 In einem separaten Psychologiekurs bombardierte Cutting die Studenten mit unbekannten Kunstwerken des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Den Studenten dieses zweiten Kurses wurden wenig bekannte impressionistische Gemälde viermal so häufig