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Sepp Mall

Hoch über allem

Roman

Für Mara

1. Seeseits, Winter

Er hatte das Ferienhaus im Internet gefunden, wo es als Chalet am See für vier bis sechs Personen angeboten wurde. Zu seiner Überraschung war es über die Weihnachtsfeiertage noch frei gewesen und am nächsten Morgen hatte er gleich gebucht, ohne sich mit jemandem aus der Familie abzusprechen. Bis sie zu einer Einigung gekommen wären, hätte ihnen bestimmt ein anderer das Häuschen weggeschnappt.

Zwei Tage vor Heiligabend fuhren er und Irene am Vormittag los, Matthias sollte mit seiner Freundin und Irenes Mutter am nächsten oder übernächsten Tag nachkommen. Ursprünglich hatte auch Josef, Jakobs ältester Freund, mit ihnen fahren wollen, in Matthias’ Van wäre Platz genug für alle gewesen, aber Joe hatte sich nicht mehr gemeldet.

Auf der Autobahn kamen sie schnell voran, es war weniger Verkehr, als Jakob sich vorgestellt hatte. Irene war auf dem Beifahrersitz eingenickt und erst wieder aufgewacht, als er auf einer Raststätte kurz vor ihrem Ziel anhielt, um sich Zigaretten zu kaufen. Er fragte im Shop nach dem kürzesten Weg zum See und als er zum Auto zurückkehrte, sah er Irene mit dem Tankwart sprechen, einem groß gewachsenen Schwarzen. Sie standen neben einer der Zapfsäulen und Irene schien zuzuhören, während der Tankwart ihr etwas erklärte. Er hielt die Zapfpistole in der einen Hand und zeigte mit deren Spitze in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann beschrieb er mit seinem Arm eine Kurve und als Irene in dieselbe Richtung zeigte, wiederholte er seine ausladende Geste.

„Wir hätten bereits bei der letzten Abfahrt raus müssen“, sagte Irene, als sie sich neben ihn in den Wagen setzte.

„Macht doch nichts“, entgegnete Jakob, „wir haben noch Zeit.“

Der Besitzer des Ferienhauses erwartete sie, eingehüllt in Schal und dickem Lammfellmantel, an der Ecke, wo der Zufahrtsweg von der Uferstraße abzweigte. Er schimpfte über die Kälte, aber Jakob verstand gleich, dass damit ihre Verspätung gemeint war, und versuchte zu erklären, dass es gar nicht so einfach sei, hier heraufzufinden. Der Besitzer ließ sich die Miete für die zehn Tage aushändigen und übergab ihnen die Hausschlüssel. Sie würden schon zurechtkommen, sagte er, es sei alles an seinem Platz. Außerdem könnten sie ihn jederzeit anrufen, seine Nummer hätten sie ja. Dann sprang er in sein Auto, einen glänzenden neuen Landrover, ließ den Motor aufheulen und brauste davon.

Das einstöckige Haus war geräumig, fast noch wohnlicher, als es die Fotos, die Jakob heruntergeladen und ausgedruckt hatte, erahnen ließen. Die zwei Schlafzimmer und das große Wohnzimmer mit ausziehbarer Couch, Esstisch und Kamin zeigten alle zur Seeseite und wenn man eins der großen Fenster öffnete, schwappte die Seeluft herein voller Feuchtigkeit und dem Geruch nach Moos und fauligem Holz. Der Kamin entpuppte sich bei näherem Hinsehen als billige Attrappe ohne Rauchabzug, nur die Simsplatte schien aus echtem Granit zu bestehen, und Jakob hatte für eine Sekunde das Gefühl, hereingelegt worden zu sein.

Irene war zufrieden, dass es keine direkten Nachbarn gab, die einem in die Wohnung schauten; weder von den Fenstern aus noch vom Garten, der leicht zum Ufer hin abfiel, konnte man andere Häuser erblicken. Natürlich gab es welche, sie hatten ja auf der Herfahrt die Zufahrtswege und die Hinweisschilder mit den Hausnummern gesehen, aber der dichte Wald, der zwischen den Grundstücken teilweise bis ans Wasser reichte, verdeckte jede Sicht. Man hatte das Gefühl, allein zu sein mitten in der Natur, und das hatten sie ja gesucht.

Als sie nach dem Abendessen die paar Schritte vom Haus zum See hinuntergingen, hakte sich Irene bei ihm ein und so, Arm in Arm, tasteten sie sich über die feuchte Wiese zum Ufer vor. Es war schon dunkel, im schwachen Licht, das von den Fenstern des Wohnzimmers herüberschien, konnte man gerade noch erkennen, wo der feste Uferbereich aufhörte. Das Wasser lag still vor ihnen, beinahe geräuschlos, so als schliefe der See bereits, und sie standen einige Zeit nebeneinander, vor sich nichts als das Grauschwarz einer Oberfläche. Jakob versuchte auszumachen, wo das gegenüberliegende Ufer begann, in welcher Entfernung, aber je länger er ins Dunkel starrte, desto mehr verschwammen alle Konturen.

Irene blieb nahe bei ihm und schien zufrieden zu sein, dass sie hier waren, allein und ohne Ablenkung durch andere, ihren Sohn, der noch zu Hause wohnte, durch die Arbeit, durch ein Telefongespräch oder durch die abendliche Müdigkeit, die einen ganz und gar auf den eigenen Körper zurückwarf. Wie lang mochte es her sein, dass sie beide in so einer Situation gewesen waren, ausschließlich mit sich selbst? Diese Frage ging Jakob durch den Kopf, während er immer noch auf die Wasseroberfläche starrte und abzuschätzen versuchte, wie groß der See eigentlich war, aber er fand keine Gewissheit, weder in seinen zeitlichen noch in seinen räumlichen Anliegen. Vor drei Jahren hatten sie einen ganzen Sommermonat ohne Matthias verbracht, den die Schule zu einem Sprachaufenthalt südlich von London gedrängt hatte, ja, aber das war nicht dasselbe gewesen. Hier waren sie weg von allem, es gab kein Café in der Nähe, keine lärmende Straße, keine Nachbarn, mit denen man redete, nicht einmal einen Fernseher gab es im Chalet.

Als ihnen die Kälte von unten in die Beine kroch, beschlossen sie, ins Haus zurückzugehen. Während sie sich vorsichtig über den Rasen tasteten, sagte Irene plötzlich, so als wären ihre Gedanken ganz woanders gewesen: „Man weiß nie, wie es weitergeht.“

„Was meinst du?“, fragte Jakob.

„Mit einem selbst“, sagte sie, „mit uns zwei, mit der Welt. Man hat einfach keine Ahnung.“

„Wir sind diese Stille nicht mehr gewohnt“, sagte Jakob.

„Ich schon“, sagte Irene, „früher schon, vor deiner Zeit, aber so …“

Sie hielt mitten im Satz inne, als müsste sie nachdenken, wie lange sie wohl brauchen würde, um sich an etwas zu gewöhnen, was ihr einmal nahe und vertraut gewesen war. Jakob wartete darauf, dass sie weiterreden würde, vielleicht über die Waldeinsamkeit in ihrem Vorarlberger Dorf, in dem sie aufgewachsen war, aber dann zuckte sie nur mit den Schultern, wohl mehr für sich als für ihn. Der Schlüssel der Gartentür klemmte im Schloss und erst, als Jakob die Tür an der Klinke mit Gewalt anhob, ließ er sich umdrehen.

Sie gingen früh zu Bett und Irene schmiegte sich an seine Seite. Es war Wind aufgekommen, plötzlich, und noch durch die geschlossenen Fenster hörte man das Rauschen der Fichten und Föhren, die das Haus umstellten. Irgendwo quietschte eine schlecht geölte Jalousie, aber Jakob gelang es, das Geräusch wegzublenden. Es waren Weihnachtsfeiertage, er hatte Urlaub und konnte alles über sich ergehen lassen, alles, was außen herum passierte. Man darf sich nicht wehren, sagte er sich, dann fließen die Dinge über einen hinweg oder durch einen durch und man wird eins mit ihnen, mit dem Wind, dem Rauschen der Welt, dem Klappern eines Fensterladens. Man darf sich nicht dagegenstemmen, dann wird alles leicht.

„Kannst du schlafen?“, fragte Irene plötzlich.

Jakob spürte, wie ihn dieser Satz aus dem Wegsinken riss, zurück auf die Ebene der Wirklichkeit.

„Jetzt nicht mehr“, murmelte Jakob und drehte sich weg, auf die andere Seite.

Am nächsten Morgen fuhren sie gleich nach dem Frühstück ins Dorf, das sie bei der Herfahrt durchquert hatten. Jakob hatte versprochen, sich um ein Bäumchen zu kümmern, auch wenn es im Ferienhaus keinen Schmuck dafür gab. Sie würden es in einen mit Gartenerde gefüllten Topf stecken und zwei Kerzen daneben hinstellen, das müsste genügen.

Es hatte etwas geschneit über Nacht, kaum mehr als ein, zwei Zentimeter, aber der weiße Flaum blieb doch bis in den späten Vormittag liegen, auf den Hausdächern, auf den Feldern und Brachflächen, an denen sie vorbeikamen. Auf der schmalen Schotterstraße, die vom Haus am See wegführte, schnitten die Reifen ihres Autos zwei schnurgerade dunkle Linien aus, die im Rückspiegel hinter ihnen herliefen, bis sie die Hauptstraße erreichten.

Auch auf den Ästen einiger der kleinen Fichten, die auf einem Parkplatz hinter der Kirche zum Verkauf angeboten wurden, lag noch Schnee. Jakob wischte mit der bloßen Hand einen Schneerest weg, kaufte ein schmales Bäumchen und hoffte, dass es auch Irenes Mutter gefallen würde. Schließlich war es ihretwegen gewesen, dass Irene auf einem Weihnachtsbaum bestanden hatte. Gerade als Jakob dem Verkäufer helfen wollte, die Fichte durch die Verpackungsvorrichtung zu ziehen, rief Matthias an. Er wollte wissen, ob die Straßen zum See hinauf schneefrei waren, und sagte, dass sie gleich losfahren würden, wenn seine Großmutter nur endlich fertig gepackt hätte. Ja, sagte Jakob, sie könnten bestimmt problemlos durchfahren, das bisschen Schnee sei bis am Nachmittag garantiert geschmolzen.

Parallelen schneiden sich erst im Unendlichen, ging Jakob durch den Kopf, während er dem Verkäufer zusah, wie er den Baum im Gepäckraum des Autos unterzubringen versuchte. Dieser Satz war plötzlich dagewesen, irgendwo aufgetaucht in seinem Kopf, und dazu ein Bild, scharf und plastisch, eine Lektion, eine Seite aus seinem Mathematikbuch in der Oberstufe, auf der dieser Lehrsatz stand, aber Jakob konnte sich nicht erklären, wieso dieser Erinnerungsfetzen nun Gestalt angenommen hatte. Was hatte das mit ihm zu tun, jetzt, während er in einem fremden Dorf einen Weihnachtsbaum kaufte?

Einen Christbaum, hatte der Verkäufer gesagt. Vielleicht war es das gewesen, diese Parallelität der Bezeichnungen. Eigentlich hatte er darüber sinniert, ob er nicht doch eine kleine Tanne hätte nehmen sollen, die zwar unansehnlicher war, aber bestimmt langlebiger als eine Fichte. Aber dann waren diese schwarzen Linien aufgetaucht, die geradewegs in eine ferne, unerreichbare Zukunft liefen, oder was Unendlichkeit auch immer bedeuten mochte.

„Das war’s“, sagte der Verkäufer neben ihm und ließ die Hecktür des Wagens ins Schloss fallen. Das Bäumchen kostete nicht einmal die Hälfte von dem, was er in den letzten Jahren in der Stadt bezahlt hatte.

Irene war pünktlich in der Konditorei auf dem Dorfplatz, die sie als Treffpunkt vereinbart hatten. Jakob bestellte einen Espresso, Expresso, wiederholte die Bedienung, und als sie damit angetänzelt kam, fragte er Irene, ob ihr klar sei, dass sich Parallelen erst im Unendlichen schneiden würden.

„Parallelen schneiden sich nie“, sagte Irene, und damit war das Thema für sie erledigt. Sie zählte auf, was sie im Supermarkt gekauft hatte, zeigte ihm die drei Kerzen mit den applizierten goldenen Sternen, die ihr sozusagen untergekommen waren. Dann fuhren sie zurück zu ihrem Chalet am See.

Am späten Nachmittag kamen Matthias, seine Freundin Kristina und Erika, Jakobs Schwiegermutter. Kristina studierte Architektur in München, war im dritten Semester, und Matthias schien ein anderer Mensch geworden, seit er sie kannte. Es war nichts mehr zu spüren von der aufgeblähten Renitenz des Heranwachsenden, die Jakob immer wieder zur Weißglut getrieben hatte. Er war zum braven Hündchen geworden, das alles befolgte, was Kristina von ihm verlangte, und auch Jakob gegenüber hatte er eine Sanftmut entwickelt, eine passive Geduld, die seinen Vater verwirrte. Nur Irene wollte die eigenartige Wandlung ihres Sohnes nicht wahrhaben, sie war nicht im Geringsten besorgt darüber, und wenn sich Jakob abends im Bett darüber beklagte, dass Matthias so angepasst geworden sei und alles hinnehme, was man ihm vor die Füße werfe, entgegnete sie ihm, dass er schließlich ihr Sohn sei und er langsam die Eigenschaften entwickle, die im Verborgenen schon immer dagewesen waren und die es brauche, um unbeschadet durchs Leben zu kommen. Jakob habe Matthias’ Sensibilität und Einfühlungsvermögen nur nie sehen wollen.

„So richtig am Arsch der Welt“, platzte Kristina, kaum eingetreten, heraus, und Matthias kam beim Versuch, ihr beizupflichten und gleichzeitig ihren Worten die Spitze zu nehmen, ins Stottern.

„Einsam“, sagte er, „ja, einsam, doch, aber irgendwie auch … – er blickte auf seine Mutter – „irgendwie auch … romantisch.“

Kristina hörte ihm schon nicht mehr zu, ließ ihren Trolley stehen und war mit zwei Schritten am Fenster, von wo aus man auf den See blicken konnte, auf die Wasserfläche, in der sich die Wolken spiegelten und die schwarzen Bäume am Rand. Dort blieb sie reglos stehen, die Hände im Nacken verschränkt, bis Matthias nachtrottete, sie von hinten umarmte und seinen Kopf an ihre Schulter legte.

Irene hatte das Gepäck ihrer Mutter hereingetragen und half ihr, das Zimmer zu beziehen, in dem sie für die zehn Tage bleiben sollte. Auch Matthias und Kristina verzogen sich. Sie würden auf der Schlafcouch im Wohnzimmer nächtigen, aber jetzt sollten erst einmal der See und die nähere Umgebung erkundet werden. Das Mädchen schob Matthias hinaus in die Kälte, sie querten Hand in Hand das Wiesengrundstück, das an das Ufer grenzte. Jakob sah ihnen vom Fenster aus zu, bis ihre roten Windjacken im Unterholz der Fichten verschwanden.

Dann setzte er sich auf die breite Fensterbank und zündete sich eine Zigarette an. Er genoss es, den Rauch tief in seine Lungen zu ziehen, um ihn dann in breitem Strom durch seinen Mund und die zugespitzten Lippen auszustoßen. Die Dämmerung schob erste Schatten aus der Dunkelheit über den See, es sah aus, als würden sie sich an einzelnen Orten zusammenballen, unter den ausladenden Ästen der Bäume, wo das Wasser sich verlief und in festen Grund überging, oder im dichten Buschwerk der Sträucher im Garten. So als würden sie sich dort sammeln, sagte sich Jakob, um dann erstarkt weiterzuklettern, sich vorzuwühlen zu all den anderen Dingen, die auf die Nacht ­warteten und die Einebnung der Einzelheiten.

Aus den Zimmern hinter sich vernahm er die Stimmen von Irene und Erika, sie redeten miteinander, schienen über Matthias zu sprechen, über die Autofahrt hierher, Jakob konnte kaum einen ganzen Satz verstehen. Er wollte sich aber auch nicht anstrengen. Die Ruhe, die sich in leiser, steter Bewegung über alles gelegt hatte, über das Haus, den See, die Wiesen ringsum und auch das Wohnzimmer, in dem Jakob saß, weckte in ihm auf einmal keine Ungeduld mehr. Und kein Begehren, alles mitzubekommen, alles zu verstehen.

2. Abend, Nacht

Dann kam der Anruf von Emma, am Weihnachtsabend gegen halb elf. Sie hatten gemeinsam gegessen und sich nachher, als eine Art zweites Dessert, wie Irene gemeint hatte, die kleinen Geschenke gegenseitig über den Tisch gereicht. Nur einen Gedanken, hatte Irene vor Jahren die Devise ausgegeben, und damit meinte sie eine Kleinigkeit wie ein gerahmtes Foto, eine neue Füllfeder oder ein paar selbst gestrickte Socken, und alle hatten sich daran gehalten. Irenes Mutter schenkte, seit sich Jakob erinnern konnte, allen denselben Geldbetrag, in beschrifteten Kuverts aus Gold- oder Silberpapier, und so tat sie es auch diesmal.

Die Gedanken lagen noch auf dem Tisch verstreut, zwischen den schmutzigen Tellern und Gläsern, Jakob war in die Küche gegangen, eine weitere Flasche Wein zu entkorken, und als er zurückkam, hielt ihm Irene sein Mobiltelefon entgegen.

„Deine Tochter“, sagte sie.

„Emma!“, rief Jakob ins Telefon. Er war freudig überrascht, schließlich hatte ihn das Mädchen seit vielen Monaten nicht mehr angerufen. Und dass sie ihn zu Weihnachten gesucht hatte, das lag bestimmt mehr als zehn Jahre zurück.

Die Stimme seiner Tochter klang weit entfernt, gerade dass sie das Rauschen im Gerät übertönte.

„Ich habe keinen Akku mehr“, verstand Jakob, „aber ich rufe dich morgen an.“

„Morgen“, sagte Jakob, „wann morgen?“

„Wir landen gegen Mittag in Schwechat. Bist du da? Es ist wegen Mama.“

„Ja“, hörte sich Jakob sagen, „gegen Mittag.“

Dann war das Rauschen weg und damit Emmas Stimme. Er hatte gar nicht mehr fragen können, was mit Emmas Mutter war, was so wichtig war, dass sie sich vergewisserte, dass er erreichbar sei. Und auch nicht, wo um alles in der Welt sie denn umgehe. Die Verbindung war abgerissen und es nützte nichts, dass er noch ein paar Hallo ins Mobiltelefon schickte.

Irene sah ihn fragend an und wollte wissen, was los sei. Jakob zuckte mit den Schultern, Emma wolle ihn morgen noch einmal anrufen, sagte er, das sei alles.

„Meine Halbschwester“, klärte Matthias Kristina auf. „Aber ich kenne sie überhaupt nicht.“

„Du hast dem Kind nicht einmal frohe Weihnachten gewünscht“, sagte Erika.

Dann aber kam das Gespräch wieder auf Kristinas Studium zurück, auf das, was München einer Stadt wie Wien voraushabe, und darauf, dass Matthias überhaupt keine Ahnung hatte, dass seine Freundin später einmal Häuser, Bahnhöfe oder Industrieanlagen bauen wolle.

„Ich dachte, du willst Wohnungen einrichten oder Geschäfte“, sagte Matthias und riss verwundert seine Augen auf.

Als der Kaffee abgeräumt war, verzogen sich Kristina und Matthias auf die Couch, wo sie weitertranken, lachten und tuschelten. Irene brachte ihre Mutter zu Bett und wollte später noch das restliche Geschirr in die Küche bringen.

Erst jetzt, wo er allein am Tisch zurückblieb, dachte Jakob wieder an Emmas Anruf und an den Satz, den sie über ihre Mutter hatte fallen lassen. Es ist wegen Mama, hatte sie gesagt, und die Unbestimmtheit dieses Satzes setzte sich in seinen Gedanken fest. Was wohl mit ihr war?

Manchmal, wenn ihm auffiel, dass er über Monate hinweg nicht mehr an sie gedacht hatte, an Marilyn und ihre gemeinsame Zeit, hatte er geglaubt, dass der Mahlstrom des Vergessens auch diese Jahre allmählich mit sich ziehen würde, wie es mit so vielen Dingen passiert, Dinge, die zuerst verblassen und dann langsam verschwinden. Man konnte ja nichts willentlich aus dem eigenen Hirn hinausdrängen, auch wenn man das gerne wollte, aber war es nicht so, dass vieles sich irgendwann von alleine auflöste? Zu einem Zeitpunkt, den die Dinge selbst bestimmen, den niemand von außen steuern kann, weder aufhalten noch beschleunigen? Kindheitserinnerungen, die Gesichter von früheren Gefährten, erste Küsse, Liebesgeschichten, alles, was man mit sich trug.

Aber jetzt war unvermittelt die Rede auf Marilyn gefallen und es schien, als hätte dies alles keine Gültigkeit.

Es braucht nicht viel, sagte sich Jakob, dann sind sie alle wieder da und machen sich breit, legen sich quer in deinem Kopf, als wäre es nie anders gewesen.

Was wohl mit Marilyn sein mochte, dieser Gedanke drehte sich jetzt in seinem Kopf, zusammen mit einigen verwackelten Bildern, die mit einem Schlag wieder aufgetaucht waren, und der Vorstellung, dass seine Tochter irgendwo durch eine fremde Nacht flog. Nein, anders, sagte er sich – seine fremde Tochter, die durch irgendeine Nacht flog. Oder beides zugleich.

Vielleicht hätte er weniger Rotwein trinken sollen, fiel ihm ein und gleichzeitig nahm er wahr, dass er unwillkürlich seinen Kopf schüttelte, wie um seine Gedanken abzuschütteln, loszuwerden.

Im Hintergrund des Zimmers hatte sich Matthias auf Kristinas Körper gelegt, er versuchte sie zu küssen, aber das Mädchen entwand sich seinem Griff, sprang auf und suchte hinter Jakobs Stuhl Deckung. Matthias kam lachend näher, aber schon war Kristina an der Garderobe, zog ihre Windjacke über, lief quer durchs Wohnzimmer und dann ins Freie.

„Geh doch nach“, sagte Jakob zu seinem Sohn, der unschlüssig mitten im Zimmer stehen geblieben war.

„Du musst ihr nachlaufen“, wiederholte Jakob, „sonst ist das Spiel aus.“

Erst nach einigen Augenblicken bequemte sich Matthias, seinen Mantel zu holen, Jakob sah ihm zu, wie er zwei Schritte in den Garten machte, dann aber innehielt, unsicher umherblickte und laut nach Kristina rief. Jakob konnte nicht hören, ob er eine Antwort bekam, jedenfalls latschte sein Sohn langsam aus dem Lichtkegel, der durch das Wohnzimmerfenster ins Freie fiel, und verschwand aus Jakobs Blickfeld.

In der Nacht fand er sich plötzlich wach. Er suchte nach seiner Armbanduhr und erinnerte sich, dass er sie in der Küche abgelegt hatte. Leise, um Irenes Schlaf nicht zu stören, verließ er das Bett und tastete sich an der Garderobe vorbei durch den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und im Halbdunkel nahm er eine Gestalt wahr, die gebückt auf der ausgezogenen Couch saß. Es musste Matthias sein, der durch Jakobs Geräusche aufgewacht war. Jakob machte mit der Hand eine Geste, dass er nicht stören wolle, und ging rasch durch bis zur Küche.

Sie hatten vergessen die Heizung zurückzudrehen, vielleicht konnte er deshalb nicht mehr schlafen, durch die ungewohnte Hitze. Ja, das musste es sein. Auch in der kleinen Küche hatte sich die Wärme gestaut, die Fensterscheibe war beschlagen und an einigen Stellen hatte das Tauwasser bereits schmale Rinnsale über das Glas gezogen. Auf dem Bord über der Abwasch fand Jakob seine Uhr, neben der angebrochenen Zigarettenpackung. Er würde eine rauchen, den Wein austrinken, der noch in der Flasche war, den Temperaturregler zurück auf eins drehen und sich dann wieder in sein Bett schleichen.

Er hatte gerade das Glas an die Lippen gesetzt, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Matthias, dachte er, aber es war Kristina, Matthias’ Mädchen, die auf Zehenspitzen hereinschlich, die Tür zudrückte und sich ihm gegenüber an die Tischkante lehnte. Sie trug ein ärmelloses Unterhemd, das wohl Matthias gehörte, das Haar zerzaust.

„Habe ich dich geweckt?“, flüsterte Jakob.

„Überhaupt nicht“, antwortete sie, „ich konnte einfach nicht schlafen.“

Sie blickte an ihm hinunter und er hatte den Eindruck, als lächelte sie in sich hinein. In seiner Unterhose und mit seinen nackten Beinen schämte er sich beinahe, aber das Mädchen äußerte sich nicht über seinen Aufzug und griff nach der Zigarettenschachtel, während sie ihn fragend ansah.

„Nimm ruhig“, sagte Jakob und schob ihr das Feuer­zeug über den Tisch.

Sie nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch die Nase.

„Er sollte das nicht wissen“, sagte sie und blickte Jakob an.

„Dass du rauchst?“, fragte Jakob.

„Er würde bestimmt auch damit anfangen.“

„Ach“, sagte Jakob und dann nichts mehr.

Auch das Mädchen schwieg und während sie an der Zigarette zog, schien sie auf die Tischplatte zu blicken, wo die Weingläser lauter dunkle Ringe auf dem Furnier hinterlassen hatten. Jakob schob mit seinem Zeigefinger langsam sein Glas in einen der Ringe, dann weiter in den nächsten und behutsam wieder zurück. Das Mädchen machte es ihm nach, schweigend, mit einer der kleinen dickwandigen Espressotassen, die auf dem Tisch stehen geblieben waren, und irgendwann standen sich die beiden Behältnisse gegenüber und kamen nicht mehr weiter.

Das Mädchen klopfte die Zigarettenasche in den Aschenbecher und drückte umständlich ihre Kippe aus. Jakob überlegte, welchen Gedanken sie wohl nachhing. Vielleicht dachte sie an all die Verrenkungen, die man machen musste, wenn man in eine fremde Familie eindrang, oder vielleicht an Matthias’ Geplapper beim Abendessen, ihr möglichst bald nach München zu folgen, vielleicht dachte sie aber auch an gar nichts. So wird es sein, sagte sich Jakob, sie dachte an nichts, genauso wie er, stattdessen arbeiteten sie einträchtig daran, den Luftdruck in der kleinen ­Küche nach oben zu treiben, abwechselnd, mit jedem Stoß aus ihren Lungen; dieses Bild fiel Jakob jetzt ein. Er war froh, dass es hier keine Brandmelder gab, instinktiv warf er einen Blick nach oben an die Decke, und dann wollte er es sagen, aber es war, als fände er plötzlich keinen Zugang dazu, zur Sprache, zu einem ersten Wort. Wie jemand, dessen Hirn durchschleift, dachte Jakob, und keinen Halt, keinen Anfang findet. Bestimmt hätte er sich auch versprochen, wie ihm das immer öfter passierte, und die Kirche mit Rauch gefüllt statt der Küche, schließlich war Weihnachten.

Die Finger des Mädchens waren von den Tassen zum Aschenbecher gewandert, sie sortierte die Stummel, ordnete sie der Reihe nach und zwischendurch griff sie nach Jakobs Glas und nippte daran. Alles, was sie tat, war eigenartig langsam und nachdrücklich.

Das wird nicht lange gehen mit den beiden, fiel Jakob ein und nach einigen Augenblicken gelang es ihm, ihr das zu sagen.

„Du hast ja auch eine Tochter“, antwortete das Mädchen.

„Was hat das damit zu tun?“, fragte Jakob.

„Hat sie einen Freund?“, wollte Kristina wissen.

„Keine Ahnung“, sagte Jakob.

„Eben“, sagte das Mädchen und das war genug an Erklärung. Sie sah zur Seite und fixierte das schwarze Fenster, dessen Vorhang niemand zugezogen hatte, und schwieg.

Jakob wollte schon aufstehen und den Weg zurück ins Bett antreten, da legte das Mädchen seine Hand auf Jakobs Unterarm.

„Bleib noch ein bisschen“, sagte sie, „bitte.“

Und als Jakob zögerte, wiederholte sie ihre Worte, als glaubte sie, er habe sie nicht richtig verstanden.

„Wenn du meinst“, sagte Jakob überrascht und sah sie an.

„Ich kann nicht schlafen“, erklärte sie und ihre Stimme kippte etwas, um eine Nuance ins Leise, Heisere, „der fremde Ort vielleicht, die ungewohnte Situation. Reden wir doch noch ein bisschen, über irgendetwas, an das ich nachher denken kann. Nachher, wenn ich wieder zu Matthias krieche ins warme Bett und sich alles dreht in meinem Kopf.“

„Irgendetwas“, wiederholte Jakob. Ja, das glaubte er auch zu kennen, dass die Gedanken in der Nacht einen Ankerpunkt brauchten, außerhalb von sich selbst, um nicht ständig im Kreis zu laufen.

„Erzähl mir doch von deiner Tochter, wie heißt sie noch? Du warst anders nach ihrem Anruf.“

„Wie anders?“

„Einfach anders, ernsthafter, besorgt“, sagte das Mädchen.

„Ach.“

„Doch“, beharrte Kristina, „ich habe es deutlich gesehen.“

„Sie heißt Emma“, sagte Jakob, „so wie die Möwen in diesem Gedicht.“

Er war überrascht, dass das Mädchen seine kurze Irritation wahrgenommen hatte, im Gegensatz zu den anderen, die ihm doch viel näher waren. Es gab nicht allzu viel, was er über Emma hätte sagen können, aber dann begann er doch zu erzählen, fügte Erinnerungsfetzen aneinander, Bruchstücke, die sich in seinem Kopf abgelagert hatten. Er sprach von einem Kindergeburtstag, den sie zusammen in einem Innsbrucker Hotel gefeiert hätten, irgendwo in der Nähe des Bahnhofs, mit Kuchen und Kerzen drauf, Emma war neun geworden oder zehn. Und dass er ihr damals versprechen habe müssen, irgendwann mit ihr zusammen eine Weltreise zu machen. Eine Reise um den Globus, habe das Kind gesagt, eine Rundreise, habe er geantwortet, aber die stehe noch aus.

Dann überlegte er und meinte, dass seine Tochter drei, vier Jahre älter sein müsse als sie, als Kristina, und diese nickte und errechnete Emmas Geburtsjahr, und Jakob sprach davon, dass sie bei ihrer Mutter in Südtirol lebe, sie hätten eine Wohnung in einem kleinen Dorf, in einem dieser Gebirgstäler, aber vielleicht sei sie auch schon ausgezogen von zu Hause, das wisse er nicht so genau. Schließlich sehe er sie nur alle zwei, drei Jahre und in zwei, drei Jahren könne sich viel verändern.

„Jahre“, lachte Kristina auf, ein unterdrücktes, jäh abbrechendes Lachen, „oft bleibt in zwei, drei Tagen kein Stein auf dem anderen.“

Jakob gab ihr recht und erzählte, dass er manchmal zweimal habe hinschauen müssen, um Emma an den Bahnhöfen, wo er sie abgeholt hatte, wiederzuerkennen. Nein, sagte er, sie habe nicht studiert, nach der Matura habe sie zwar immatrikuliert und irgendetwas angefangen, an einer Uni in Norditalien, aber bald habe sie genug gehabt von allem, was mit Büchern und Prüfungen zu tun hatte. In der Zwischenzeit stehe sie jedoch auf eigenen Beinen, berufsmäßig, sagte Jakob, so zumindest habe sie es ihm erzählt, letztes Mal am Telefon oder vorletztes Mal. Aber das sei auch schon über ein Jahr her. Sie habe von kurzfristigen Aushilfen in Schulen gesprochen, auch von einer Art Urlaubsvertretung beim dortigen Rundfunk, aber als er nachgefragt habe und Genaueres wissen wollte, sei sie nicht darauf eingegangen.

Jakob erzählte und zwischendurch nahm er sich eine Zigarette und das Mädchen fragte. In den Pausen lauschten sie auf die Stille in der Wohnung, auf die Stille, die draußen über dem dunklen See hockte und ihre Fühler über das Haus ausstreckte und den Wald, und dann wollte Kristina wissen, warum er und Emmas Mutter nicht zusammengeblieben waren. Jakob stand unvermittelt auf und sagte, er müsse mal dringend.

Als er wieder in die Küche zurückkehrte, sah ihn das Mädchen fragend an und wollte immer noch eine Antwort. Was sollte er ihr sagen?