Hamilton, Peter F. Der Neutronium-Alchemist

PIPER

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PIPER

 

Übersetzung aus dem Englischen von Axel Merz


ISBN 978-3-492-96564-4

Juli 2017

© Peter F. Hamilton 1996

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Neutronium Alchemist, Part 2«, PanMacmillan, London 2012

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Erstmals erschienen bei Bastei Lübbe AG, Köln 2000

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Thinkstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1. Kapitel

Arnstadt fiel nach einer neunzigminütigen Schlacht über dem Planeten. Das strategische Verteidigungsnetzwerk des Planeten wurde von Al Capones antimateriegetriebenen Kombatwespen aus dem Weltall gehämmert. Es hatte einige Warnungen seitens der Edeniten gegeben, und die einheimische Navy fand genügend Zeit, ihre Schiffe umzugruppieren. Die edenitischen Habitate im Orbit um den Gasriesen des Systems hatten drei Geschwader Voidhawks abgestellt, um die Flotte der Adamistenschiffe zu verstärken.

Nichts von alledem änderte etwas am Ergebnis. Siebenundvierzig Schiffe der Navy von Arnstadt wurden vernichtet, zusammen mit fünfzehn Voidhawks. Die verbliebenen Voidhawks tauchten weg und zogen sich zum Gasriesen zurück.

Die Transportschiffe der Organisationsflotte glitten ohne Gegenwehr in einen flacheren Orbit, und Raumflugzeuge begannen damit, eine kleine Armee von Besessenen zur Oberfläche zu schaffen. Wie alle modernen Konföderationswelten besaß auch Arnstadt kaum Bodenstreitkräfte. Es gab ein paar Brigaden Marineinfanterie, die hauptsächlich in Raumkämpfen ausgebildet waren – die Kriege jener Epoche wurden zwischen Raumschiffen ausgetragen, und die Tage fremder Invasionsarmeen, die in Feindesland einmarschierten, waren bereits vor dem Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorbei gewesen.

Mit einem strategischen Verteidigungsnetzwerk, das zu flammenden radioaktiven Meteoriten zerschmolzen war, hatte Arnstadt keinerlei Möglichkeit mehr, den Besessenen, die in Scharen aus den Raumflugzeugen stiegen, Widerstand entgegenzusetzen. Die kleinen Ortschaften wurden zuerst infiltriert, um die Zahl der vorhandenen Besessenen zu erhöhen, bevor die großen Städte an die Reihe kamen. Das Gebiet, das von den Besessenen erobert wurde, wuchs in exponentiellem Ausmaß.

Luigi Balsmao errichtete sein Hauptquartier auf einer der Asteroidensiedlungen im Orbit. Informationen über die gefangen genommenen Bewohner von Arnstadt wurden per Datavis nach oben gesandt, wo das von Emmet Mordden geschriebene Koordinationsprogramm darüber entschied, ob sie zur Possession freigegeben wurden oder nicht. Stellvertreter wurden ernannt, und ihre Macht wurde durch die geballte Feuerkraft der Raumschiffe im niedrigen Orbit gestützt.

Nachdem die Unterwerfung des Planeten planmäßig voranschritt, teilte Luigi die Hälfte seiner Flotte in Geschwader aus und sandte sie gegen die Asteroidensiedlungen des Systems. Lediglich die edenitischen Habitate wurden ausgelassen; nach dem Debakel vom Yosemite war Capone nicht willens, noch einmal das Risiko einer so vernichtenden Niederlage einzugehen.

Andere Schiffe wurden zurück nach New California geschickt, und bald trafen die ersten Frachter mit frischem Nachschub ein. Sie brachten grundlegende Komponenten für ein neues strategisches Verteidigungsnetzwerk zusammen mit anderer Ausrüstung, die der Organisation helfen sollte, ihre Macht zu verfestigen. Reporter durften sorgfältig ausgewählte Gegenden des Planeten betreten und über die neuen Herren berichten: über Kinder, die man von der Possession verschont hatte und die frei herumliefen, über Besessene und Nicht-Besessene, die Seite an Seite arbeiteten, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, über Luigi, der jeden Besessenen unbarmherzig zur Rechenschaft zog, der sich der Organisation und ihrem Führungsanspruch widersetzte.

Die Nachricht von der erfolgreichen Eroberung verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Konföderation, zusammen mit Sens-O-Vis-Berichten der Reporter. Die Überraschung war total. Die Mächtigen hatten stets geglaubt, dass die Übernahme eines ganzen Sonnensystems durch ein anderes – ganz gleich, welche Herrschaftsform es besaß – vollkommen unmöglich war. Capone hatte bewiesen, dass sie sich geirrt hatten. Und löste damit eine panische Kettenreaktion aus.

Die Kommentatoren fingen an, über eine exponentielle Ausbreitung der Besessenen im planetaren Maßstab zu reden; die extremsten Vorhersagen sahen die Konföderation innerhalb von sechs Monaten von Capones Organisation erobert – um so schneller, je mehr industrielle Ressourcen von seinem Imperium absorbiert wurden.

In der Konföderationsversammlung wurden die Forderungen lauter und lauter, dass die Navy endlich intervenieren und die Flotte der Organisation vernichten sollte. Der Leitende Admiral Samuel Aleksandrovich musste mehrmals vor den Abgeordneten auftreten und erklären, wie undurchführbar dieser Vorschlag war. Bestenfalls, so betonte er, könne die Navy versuchen, die Antimateriequelle der Organisation ausfindig zu machen und auf diese Weise zu verhindern, dass ein drittes System von der Organisation übernommen wurde. Arnstadt war bereits verloren. Capone hatte einen Sieg gefeiert, der ihm nicht ohne große Verluste an Menschenleben zu nehmen war. Und im gegenwärtigen Stadium waren derartige Verluste völlig inakzeptabel. Außerdem wies der Admiral einigermaßen niedergeschlagen darauf hin, dass zahlreiche nicht-besessene Besatzungen mit der Organisation kooperierten und ihre Raumschiffe steuerten. Ohne ihre Hilfe hätte die Invasion von Arnstadt gar nicht erst stattfinden können. Vielleicht, so schlug der Admiral vor, könne sich die Konföderationsversammlung auf ein Notstandsgesetz einigen, um mit diesen Verrätern an der Menschheit abzurechnen. Harte Strafen würden die Kommandanten vielleicht in Zukunft davon abhalten, um kurzfristiger Profite willen in Capones Dienste zu treten.

»Geleitschutz?«, fragte André Duchamp müde. »Ich dachte, wir wären hier, um New California bei der Verteidigung zu unterstützen. Was genau beinhaltet dieser Geleitschutzauftrag?«

»Ich habe keine detaillierte Aufgabenbeschreibung von Monterey erhalten«, entgegnete Iain Girardi. »Sie werden die Frachter vor jedem Angriff seitens der Konföderierten Navy beschützen, ganz einfach. Und genau das steht auch in Ihrem Kontrakt.«

»Wohl kaum«, grollte Madeleine. »Genauso wenig, wie darin steht, dass wir irgendeinem derangierten Diktator helfen müssen, einen ganzen verdammten Planeten auszulöschen. Ich sage, wir verschwinden von hier, Kommandant. Wir aktivieren die Sprungknoten und springen weg, solange wir noch dazu in der Lage sind.«

»Ich hätte gedacht, dass Ihnen diese Aufgabe mehr zusagt«, sagte Iain Girardi. Das Sicherheitsnetz seiner Beschleunigungsliege glitt zurück, und er schwebte aus dem Polster. »Immerhin handelt es sich bei der Mehrheit der Besatzungen an Bord der Frachter um Nicht-Besessene, und Ihr Schiff wäre darüber hinaus nicht permanent vor den Läufen unserer strategischen Plattformen. Wenn überhaupt, dann ist Ihre Aufgabe leichter geworden; weniger Risiko fürs gleiche Geld.«

»Und wohin soll die Reise gehen?«, fragte André.

»Nach Arnstadt. Die Organisation verfrachtet Industrieanlagen dorthin, um die planetare Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

»Hätte die Organisation nicht alles zerstört, müsste sie die Wirtschaft auch nicht wieder in Gang bringen«, sagte Madeleine.

André fuhr ihr ungeduldig über den Mund. »Scheint ein vernünftiger Gedanke zu sein«, sagte er zu Girardi. »Allerdings benötigt das Schiff ein paar Reparaturen, bevor wir einen solchen Auftrag annehmen können. Geleitschutz zu fliegen ist etwas ganz anderes, als eine planetare Verteidigung zu verstärken.«

Zum ersten Mal schien Iain Girardi die Geduld auszugehen. »Sicher. Aber ich muss zuerst mit Monterey darüber reden.« Er setzte sich per Datavis mit dem Bordrechner der Villeneuve’s Revenge in Verbindung und bat um einen Kommunikationskanal.

André wartete mit neutralem Lächeln.

»Die Organisation wird die Villeneuve’s Revenge wieder voll einsatztauglich machen«, verkündete Iain Girardi schließlich. »Wir werden Rumpf und Sensoren reparieren, doch die Kosten für die sekundären Systeme müssen Sie selbst tragen.«

André zuckte die Schultern. »Ziehen Sie es von unserer Prämie ab.«

»Wie Sie wünschen. Bitte docken Sie am Raumhafen von Monterey an, Bai VB757. Ich werde dort von Bord gehen, und man wird Ihnen für die Dauer der Mission einen Verbindungsoffizier zuweisen.«

»Aber keinen Besessenen!«, sagte Desmond Lafoe scharf.

»Selbstverständlich. Ich glaube, man möchte außerdem, dass Sie ein paar Reporter mit an Bord nehmen. Sie werden während des Fluges Zugriff auf Ihre Sensoren erhalten.«

»Merde! Dieser Abschaum! Wozu soll denn das gut sein?«

»Mister Capone legt sehr großen Wert auf eine möglichst gewissenhafte Berichterstattung. Er möchte, dass die Konföderation begreift, dass von ihm keine wirkliche Bedrohung ausgeht.«

»Das sieht Arnstadt wahrscheinlich anders«, sagte Madeleine spitz.

André steuerte das Raumschiff aus der Austrittszone hinunter zu dem großen Asteroiden. Über New California herrschte gewaltiger Verkehr. Schiffe jagten zwischen der Austrittszone und den Asteroiden im Orbit hin und her, Raumflugzeuge und Ionenfeldflieger waren im ständigen Fähreinsatz zwischen Orbit und Oberfläche. Obwohl die Villeneuve’s Revenge nur noch fünfundsechzig Prozent ihrer Sensoren besaß, hatte André sämtliche funktionierenden Bündel voll ausgefahren, um an Informationen zu sammeln, was nur möglich war.

Als der Bordrechner sich bei Madeleine meldete und berichtete, dass Girardi schon wieder mit Monterey sprach, öffnete sie einen gesicherten Kanal zu André und sagte: »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn wir auf dem Monterey andocken.«

André erweiterte die Datavis-Verbindung auf Erick und Desmond. »Warum nicht?«

»Sieh dir die Schiffe dort draußen an!«, sagte Madeleine. »Der Verkehr ist noch stärker als zu der Zeit, bevor die Besessenen New California übernommen haben. Mir war überhaupt nicht bewusst, wie verdammt professionell die Organisation von diesem Capone ist. Wir kommen hier nicht mehr so einfach raus, André. Wir stecken bereits viel zu tief drin. In der Sekunde, wo wir andocken, schwärmen sie an Bord und nehmen uns unsere Körper.«

»Und wer soll dann das Schiff für sie steuern? Non, die Anglos brauchen uns.«

»Sie hat sicherlich recht, was die Größe dieser Organisation und ihre Beweggründe angeht«, sagte Erick per Datavis. »Die Besessenen sind darauf angewiesen, dass wir ihre Kriegsschiffe fliegen, aber was geschieht, wenn es keine Welten mehr zu erobern gibt? Capone hat weniger als einen Tag benötigt, um Arnstadt zu erobern, und dabei seine militärischen Ressourcen fast verdoppelt! Er wird ganz bestimmt nicht aufhören, nicht jetzt. Wenn er und die restlichen Besessenen so weitermachen, dann dauert es nicht mehr lang, bis es in der gesamten Konföderation keinen Platz mehr gibt für uns normale Menschen. Und wir helfen diesem Capone auch noch dabei!«

»Das weiß ich selbst.« André warf einen schuldbewussten Blick auf Girardi, um sicherzugehen, dass er nichts von der Unterhaltung mitbekam. »Das ist schließlich der Grund, warum ich dem Geleitschutzauftrag zugestimmt habe.«

»Das begreife ich nicht«, sagte Madeleine.

»Ganz einfach, ma cherie. Die Organisation repariert für mich die Villeneuve’s Revenge, ergänzt unsere Treibstoffreserven, füllt unsere Abschussrohre mit Kombatwespen auf und schickt uns davon. Und während wir unterwegs sind, verschwinden wir. Was sollte uns daran hindern?«

»Beispielsweise ihr Verbindungsoffizier«, sagte Desmond.

»Ha! Ein einzelner Mann! Wir können ihn überwältigen. Es war Capones größter Fehler, André Duchamp zu beleidigen. Jetzt bin ich es, der sie benutzt, für seine eigenen Zwecke, comme il faut. Ich bin kein collaborateur. Und ich denke, wir sollten sicherstellen, dass die Reporter von dem schweren Schlag erfahren, den wir diesem Capone zufügen.«

»Du willst wirklich verschwinden?«, fragte Madeleine.

»Naturellement.«

Erick verzog das Gesicht zu einem Grinsen, soweit seine Haut das zuließ. Vielleicht führte Duchamps verschlagenes Wesen endlich einmal zu etwas Gutem. Er öffnete eine neue Datei in den Speicherzellen seiner neuralen Nanonik und machte sich daran, die Sensorbilder der Villeneuve’s Revenge aufzuzeichnen. Der KNIS würde wissen wollen, wie es um die Truppenstärke der Organisation stand – obwohl er vermutete, dass das gesamte System von New California längst verdeckt überwacht wurde.

»Was ist mit Shane Brandes?«, fragte Desmond.

Andrés Miene wurde düster. »Was soll mit ihm sein?«

»Wie lange willst du ihn denn noch in Null-Tau lassen?«

»Ich konnte ihn ja wohl kaum auf dem Chaumort rauswerfen, der Asteroid ist viel zu klein. Wir brauchen irgendeine Hinterwelt, wo wir ihn mitten in einer Wüste oder einem Dschungel aussetzen können.«

»Lalonde wäre genau richtig gewesen«, sagte Madeleine leise.

»Nun, wenn du nach einer Welt suchst, von der er ganz bestimmt nicht zurückkehrt …?«, schlug Desmond maliziös vor.

»Nein«, sagte Erick per Datavis.

»Warum denn nicht?«, fragte André. »Übergeben wir ihn der Organisation, sobald wir angedockt haben. Das ist eine ausgezeichnete Idee. Und es zeigt ihnen, wie loyal wir sind.«

»Entweder wir töten ihn, oder wir setzen ihn aus. Aber nicht das. Ihr habt nicht gesehen, was sie Bev angetan haben.«

André zuckte zusammen. »Also schön. Aber ich behalte den Bastard nicht für immer an Bord. Null-Tau kostet mich jede Menge Energie.«

Die Villeneuve’s Revenge legte in der vorgegebenen Bai an, und die Besatzung wartete ängstlich auf ein Zeichen von Verrat seitens der Organisation. Aber niemand war zu sehen. Wie Iain Girardi versprochen hatte, machten sich die Wartungsteams unverzüglich daran, den stark beschädigten Rumpf und die zerstörten Sensoren zu reparieren beziehungsweise auszutauschen. Es dauerte elf Stunden, bis die neuen Sensoren und Rumpfplatten eingebaut waren. Die anschließende Systemintegration und Diagnostik nahm zwei weitere Stunden in Anspruch.

Nachdem André erklärt hatte, dass die Villeneuve’s Revenge nun bereit für Geleitschutzaufgaben war, wurden die Abschussrohre des Schiffs mit Kombatwespen aufmunitioniert. Ein Andockschlauch glitt aus der Wand des Docks und legte sich um die Luftschleuse der Villeneuve’s Revenge.

Desmond bewaffnete sich mit einer der Maschinenpistolen, die sie auf dem Chaumort gekauft hatten, und ging mit Girardi auf das Unterdeck. Er überzeugte sich zuerst, dass der Andockschlauch völlig leer war, bevor er die Schleuse öffnete und den Vertreter der Organisation nach draußen ließ. Erst nachdem Girardi durch den gesamten Schlauch geschwebt war und die Schleuse auf der anderen Seite sich hinter ihm geschlossen hatte, gab André klar Schiff. »In Ordnung, schicken Sie jetzt Ihren Verbindungsoffizier an Bord.«

Wie vereinbart war der Mann splitternackt. Er zog seine Kleidung in einem kleinen Sack hinter sich her, während er durch den Schlauch schwebte. Desmond wandte jeden Test an, den er sich nur vorstellen konnte. Er rief komplexe Datavis-Übertragungen aus der neuralen Nanonik des Verbindungsoffiziers ab und brachte ihn in die Nähe verschiedener komplexer Prozessorblocks.

»Ich glaube, er ist sauber«, sagte er schließlich.

Madeleine entriegelte die manuellen Verschlüsse des Deckels, der von der Messe ins Unterdeck führte.

Der Verbindungsoffizier stellte sich als Kingsley Pryor vor. Erick erkannte an seiner bedrückten Haltung und der leisen, stotternden Stimme, dass der Mann eben erst einen schweren Schock erlebt hatte.

»In drei Stunden bricht ein Konvoi bestehend aus zwölf Frachtschiffen nach Arnstadt auf«, berichtete Kingsley Pryor. »Die Villeneuve’s Revenge wird eines von fünf Kampfschiffen sein, die für den Geleitschutz sorgen. Ihre Aufgabe ist es, den Konvoi vor jedem Angriff seitens der Konföderation zu schützen. Falls wir angegriffen werden, dann werden sie höchstwahrscheinlich Voidhawks einsetzen.« Er ließ den Blick nachdenklich über die Brücke schweifen. »Man hat mir nicht mitgeteilt, dass Ihre Besatzung nur aus vier Leuten besteht. Reicht das denn für die volle Kampftauglichkeit aus?«

»Selbstverständlich!«, entrüstete sich André. »Wir haben schon einiges hinter uns gebracht, das schlimmer war als ein Voidhawk-Angriff.«

»Wie Sie meinen. Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten. Die Organisation wird durch Furcht und Respekt zusammengehalten. Al Capone verlangt totalen Gehorsam. Sie haben unser Geld angenommen und sich der Flotte angeschlossen; wir werden keine Illoyalität dulden.«

»Was denn, Sie kommen auf mein Schiff und sagen mir …«, brauste André auf.

Kingsley Pryor hob die Hand. So schwach und kraftlos die Geste war, sie brachte Duchamp augenblicklich zum Schweigen. Irgendetwas am Benehmen des Verbindungsoffiziers verlieh seiner Autorität ein besonderes Gewicht. »Sie haben einen Pakt mit dem Teufel unterschrieben, Mister Duchamp. Und jetzt erkläre ich Ihnen das Kleingedruckte. Sie trauen uns nicht über den Weg, verständlicherweise – aber wir trauen Ihnen ebenfalls nicht. Jetzt, nachdem Sie New California mit eigenen Augen gesehen und erkannt haben, wie mächtig und entschlossen die Organisation ist, kommen Ihnen wahrscheinlich Bedenken, ob es richtig ist, uns zu unterstützen. Das ist vollkommen natürlich. Schließlich ist es für ein Raumschiff ein Leichtes, in Richtung Konföderation zu verschwinden, nicht wahr? Lassen Sie mich versuchen, Ihnen das auszureden. Bei der Reparatur Ihres Schiffes wurde ein Atomsprengkopf in einem der neuen Apparate mit an Bord gebracht. Er besitzt einen automatischen Timer, der alle sieben Stunden neu initialisiert werden muss. Ich besitze den erforderlichen Kode nicht; es macht daher keinen Sinn, wenn Sie Extraktionsnanoniken einsetzen, um ihn mir zu entreißen. Ein Verbindungsoffizier an Bord eines der anderen Schiffe wird uns diesen Kode alle drei Stunden übermitteln und damit den Timer zurücksetzen. Im Gegenzug werde ich den Kode, den man mir gegeben hat, an ein anderes Schiff übermitteln, die ebenfalls Sprengsätze tragen. Wenn wir alle zusammenbleiben, gibt es keinerlei Probleme. Falls ein Schiff verschwindet, bringt sich die Besatzung selbst um und eine weitere Mannschaft dazu.«

»Entfernen Sie die Bombe! Augenblicklich!«, kreischte André außer sich vor Wut. »Ich weigere mich, unter diesen Bedingungen für Sie zu arbeiten! Das ist Erpressung!«

»Nein, ist es nicht, Kommandant. Wir stellen nur sicher, dass Sie sich an die Bedingungen Ihres Vertrags halten. Ich denke, die Argumentation lautet: Falls Sie sowieso vorhatten, sich an unsere Abmachung zu halten, haben Sie nichts zu befürchten.«

»Ich fliege nicht mit einer Bombe an Bord. Das ist mein letztes Wort!«

»Dann werden die Besessenen in Ihr Schiff kommen und Sie übernehmen. Sie wollen das Schiff und seine Kampfkraft, Kommandant, nicht Sie als Individuum.«

»Das ist unerträglich!«

Einen Augenblick lang blitzte echte Wut in Kingsley Pryors Augen auf. »Genau wie ein Mann, der sich aus freien Stücken bereit erklärt, Capone zu helfen, Mister«, fauchte er. Dann war der Gefühlsausbruch wieder vorüber, und der gewohnte niedergeschlagene Ausdruck kehrte zurück. »Sollen wir jetzt die Reporter an Bord bringen? Uns bleibt nicht mehr allzu viel Zeit, bevor wir zum Sprungpunkt aufbrechen müssen.«

Jed Hinton war noch hundert Meter vom Pub entfernt, als er niederkniete und das Taschentuch von seinem Knöchel nahm. Die Erwachsenen vom Koblat hatten allmählich genug von den jugendlichen Spinnern; Kinder, die Kiera Salters Aufruf folgten, wurden schikaniert. Nichts Ernstes – ein wenig Spott in Kneipen, Krach zu Hause. Der übliche Mist.

Digger verabscheute die Sens-O-Vis-Aufzeichnung. Natürlich. Er geriet in Wut, wann immer die Rede darauf kam. Zum ersten Mal verspürte Jed eine heimliche Freude, als er beobachtete, wie Digger mit Miri und Navar schimpfte und ihnen verbot, sich die Botschaft anzusehen oder mit anderen Kindern darüber zu reden.

Ohne es zu bemerken, hatte Digger die politische Struktur der Familie geändert. Jetzt waren Jed und Gari mit einem Mal diejenigen, die auf der Sonnenseite des Lebens standen, die die Botschaft ansehen und mit ihren Freunden über Kieras Ideen und die versprochene Freiheit reden konnten.

Jed spazierte in das Blue Fountain. Normalerweise ging er nicht hierhin; es war Diggers Stammkneipe. Doch Digger war an diesen Tagen nicht im Blue Fountain zu finden. Er arbeitete wieder, doch nicht an den Tunnelmaschinen, sondern draußen, beim Raumhafen, an den technischen Apparaten der Docks. Inzwischen arbeiteten sie dort rund um die Uhr, in drei Schichten, um die zunehmende Anzahl von Raumschiffen abzufertigen. Und obwohl alle ganz genau wussten, dass jeden Tag Schiffe kamen und gingen, gab es kein offizielles Logbuch. Dreimal bereits hatte Jed sich in das Netz eingebucht und im Raumhafenregister nach den angedockten Schiffen erkundigt, und jedes Mal hatten sie ihm gesagt, es gäbe keine.

Fasziniert hatten die Jugendlichen herumgefragt, und zusammen waren sie hinter die Einzelheiten der Operation gekommen, mit der die Quarantäne umgangen

wurde. Sie waren an jenem Tag alle sehr aufgeregt gewesen: Illegaler Schiffsverkehr war für ihr Vorhaben geradezu ideal. Beth hatte ihn angelächelt und gesagt: »Verdammt, vielleicht schaffen wir es ja doch, nach Valisk zu kommen.« Dann hatte sie ihn umarmt. Das hatte sie vorher noch nie getan, jedenfalls nicht so.

Jed bestellte ein Bier und ließ den Blick langsam über die Gäste schweifen. Die mindestens zehn Jahre alten Hologramme an den Wänden waren längst verblasst, die Farben zu undeutlichen Flecken verschwommen. Nackte Wände hätten weniger deprimierend gewirkt. Die meisten der verkratzten Tische aus Komposit und Aluminium waren besetzt. Männer saßen in Gruppen über ihren Getränken und unterhielten sich gedämpft. Fast ein Viertel der Besucher trug Bordanzüge, die im Vergleich zur normalen Kleidung von Koblats Einwohnern hell und exotisch wirkten. Jed entdeckte die Besatzung der Ramses X. Der Name des Schiffs war sauber auf die Brusttaschen gestickt. Die Kommandantin war bei ihnen, eine Frau im mittleren Alter mit einem silbernen Stern auf dem Schulterstück. Jed ging zu ihr.

»Ich frage mich, ob ich vielleicht ein paar Worte mit Ihnen reden könnte, Ma’am?«

Sie blickte zu ihm auf, ein wenig misstrauisch aufgrund der respektvollen Anrede. »Was gibt’s denn?«

»Ich habe einen Freund, der gerne nach Valisk reisen möchte.«

Die Kommandantin platzte laut lachend heraus. Jed lief rot an, während die Mannschaft laut stöhnte und vielsagende Blicke wechselte.

»Nun, mein Sohn, ich kann ganz gut verstehen, warum dein Freund an der jungen Kiera Salter so interessiert ist.« Sie zwinkerte grinsend.

Jeds Verlegenheit nahm zu, und alle schienen es zu bemerken. Zugegeben, er hatte Stunden mit dem Prozessorblock und einem Animationsprogramm verbracht und die visuellen Daten von Kiera Salters Aufzeichnung verändert. Jetzt war der kleine AV-Projektor des Blocks imstande, sie in der Nacht neben ihm ins Bett zu projizieren oder wie sie lächelnd auf ihm saß. Zuerst hatte er geglaubt, es sei respektlos, doch Kiera würde verstehen, wie sehr er sie brauchte. Die Liebe. Sie würde es begreifen. Sie würde es wissen, die Liebe in all ihren verschiedenen Formen. Schließlich redete sie von nichts anderem.

»Nicht an Kiera Salter«, stammelte er hilflos. »Sondern an dem, was sie uns angeboten hat. Wir sind an ihrem Angebot interessiert.«

Was eine weitere Runde herzhaftes Gelächter in der Gruppe hervorrief.

»Bitte«, sagte Jed. »Können Sie uns nach Valisk bringen?«

Ihr Gesicht verlor jeden Humor. »Hör zu, Söhnchen. Nimm den Rat einer älteren Frau an. Diese Aufzeichnung: Das ist alles eine einzige große Lüge! Sie wollen nicht dich, sondern nur deinen Körper, das ist alles. Da wartet kein Paradies auf euch am Ende des Regenbogens, sondern die Hölle.«

»Waren Sie schon einmal dort?«, fragte er steif.

»Nein. Nein, war ich nicht. Also hast du recht, ich weiß es nicht mit Bestimmtheit. Also ist es wohl nur eine gesunde Dosis Zynismus; das passiert eben mit den Menschen, wenn sie älter werden.« Sie wandte sich wieder ihrem Drink zu.

»Werden Sie mich hinbringen?«

»Nein. Sieh mal, Sohn, selbst wenn ich verrückt genug wäre, um nach Valisk zu fliegen – hast du eigentlich eine Idee, wie viel es euch kosten würde, ein Raumschiff zu chartern?«

Er schüttelte stumm den Kopf.

»Von hier aus ungefähr eine Viertelmillion Fuseodollars. Hast du so viel Geld?«

»Nein.«

»Siehst du? Also hör endlich auf, meine Zeit zu verschwenden.«

»Kennen Sie vielleicht jemanden, der uns hinbringen könnte? Jemanden, der an Kiera Salter glaubt?«

»Gottverdammt!« Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und funkelte ihn an. »Könnt ihr schwachköpfigen Spinner selbst dann keinen Wink mit dem Zaunpfahl begreifen, wenn man ihn euch vor die Nase hält?«

»Kiera hat gesagt, Sie würden uns hassen, nur weil wir ihr zuhören.«

Die Kommandantin stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Ich glaube das einfach nicht. Seht ihr denn nicht, wie naiv ihr seid? Ich tue euch lediglich einen Gefallen!«

»Darum habe ich Sie aber nicht gebeten, Ma’am. Warum sind Sie so blind gegenüber dem, was Kiera sagt?«

»Blind? Du bist blind, du kleiner dummer Junge.«

»Nein, Sie sind blind. Und Sie haben Angst, dass Kiera recht haben könnte.«

Sie starrte Jed einen langen Augenblick schweigend an, und ihre Besatzung musterte ihn mit feindseligen Blicken. Ein Wink von ihr, und sie würden ihn windelweich prügeln. Jed war es egal. Er hasste sie genauso, wie er Digger hasste und all die anderen Erwachsenen mit ihren engstirnigen Meinungen und ihren toten Herzen.

»Also gut«, flüsterte die Kommandantin. »Ich mache eine Ausnahme. Für dich.«

»Nein«, widersprach eines ihrer Besatzungsmitglieder. »Das kannst du nicht tun, Captain! Er ist noch ein Kind und in dieses Mädchen verliebt!«

Sie schüttelte die Hand ab und zog einen Prozessorblock aus der Tasche. »Das hier wollte ich der Konföderierten Navy übergeben, selbst wenn ich angesichts unseres gegenwärtigen Flugplans in Erklärungsnot gekommen wäre. Aber du kannst es stattdessen haben.« Sie zog eine Flek aus dem Schlitz und drückte sie dem verblüfften Jed in die Hand. »Grüß Kiera von mir, wenn du sie siehst. Falls du nicht zu sehr mit Schreien beschäftigt bist, während sie dich für die Possession vorbereiten.«

Stühle wurden laut zurückgeschoben, und die Besatzung der Ramses X ließ ihre Drinks stehen und marschierte geschlossen aus der Bar.

Jed stand in der Mitte des Raums, in dem plötzlich Totenstille herrschte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, doch er bemerkte es nicht einmal. Er starrte wie gebannt auf die kleine schwarze Flek in seiner Hand, als wäre sie der Schlüssel zu ewiger Jugend. Was sie, wie er vermutete, auf gewisse Weise auch war.

Die Levêque kreiste mit voll ausgefahrenen Sensorbündeln in fünfzehntausend Kilometern Höhe über Norfolk und tastete den Planeten ab. Trotz des Informationshungers der Konföderierten Navy kamen nur wenige Daten an. Langsame, zyklonische Wolkenwirbel aus Rot stiegen von den Inseln auf, vereinigten sich und bildeten nach und nach eine glatte geschlossene Decke, unter der die Welt in einem gleichförmigen Zwielicht versank. Kleine elfenbeinfarbene Schäfchenwolken schwammen noch für ein paar Stunden über den Polarregionen; die Letzten hartnäckigen Sprenkel fremder Farbe. Doch nach wenigen Stunden verschwanden auch sie, verschmolzen auch sie mit dem alles umgebenden roten Schleier.

Fünf Stunden, nachdem die Wolkendecke den gesamten Planeten umhüllte, begann die Veränderung. Die Beobachtungsoffiziere der Levêque bemerkten eine Zunahme der Lichtemission. Der Kommandant der Fregatte beschloss, kein unnötiges Risiko einzugehen, und befahl, den Orbit um weitere zwanzigtausend Kilometer zu erhöhen. Bis der Fusionsantrieb gezündet hatte, leuchtete das rote Wolkendach heller als jede Feuersbrunst. Die Fregatte beschleunigte mit fünf g, und jeder an Bord verspürte die Furcht vor dem sich rasend schnell ausbreitenden feindseligen Leuchten, das die Sterne ringsum erblassen ließ.

Die gravitonischen Sensoren entdeckten gegenläufige Schwingungen in der Planetenmasse tief unter dem Schiff. Falls die Messdaten zutrafen, dann stand Norfolk kurz vor dem Auseinanderbrechen. Die mit starken Filtern geschützten optischen Sensoren zeigten jedoch, dass die Geometrie Norfolks unverändert war.

Die Beschleunigung stieg auf sieben g, und die Wolkenfläche strahlte mit der Intensität eines nuklearen Brennofens.

Luca Comar blickte in den verschwommenen Dunst hinauf. Die rote Wolke, die den Himmel über den Dächern von Cricklade Manor bewachte, krümmte und wand sich heftig, und die purpurgoldene Unterseite wurde von gewaltigen Strudeln durchzogen. Riesige Bereiche rissen auf, und grelles weißes Licht krachte zuckend in den Boden. Luca breitete die Arme aus und heulte jauchzend auf.

Energie strömte mit einer beinahe schmerzhaften Vehemenz durch seinen Körper und verschwand im rasenden Himmel über ihm. Die Frau neben ihm tat es ihm gleich; ihr Gesicht war von der Anstrengung verzerrt. Luca konnte spüren, wie die Besessenen überall auf Norfolk sich in diesem finalen, höchsten Sakrament vereinigten.

Wolkenfetzen jagten mit irrsinnigen Geschwindigkeiten durch die Luft, und korkenzieherförmige Blitze rasten zwischen ihnen hin und her. Die rote Farbe verblasste mehr und mehr und versank hinter der grellen Dämmerung, die das gesamte Universum jenseits der Atmosphäre erfasst zu haben schien.

Dichtes, schweres Licht ergoss sich über Luca. Es durchdrang seinen gesamten Körper, das weiche Gras unter seinen Füßen, den Erdboden, die gesamte Welt. Lucas Bewusstsein war gefesselt von der Invasion, unfähig an etwas anderes zu denken als daran, den Augenblick zu erhalten. Er hing einfach dort, losgelöst von der Realität, während der letzte Schwall von Energie aus seinen Zellen strömte.

Stille.

Langsam stieß Luca den Atem aus. Vorsichtig öffnete er die Augen. Die Wolken hatten sich beruhigt, waren verblasst, weiße Schleier wie an einem gewöhnlichen Tag. Warmes gelbes Licht schien über das Hochland, doch es gab keine Sonne, keine einzelne Lichtquelle – es kann von den Grenzen des umschließenden Universums selbst. Es war überall, und es war überall gleich hell.

Und sie waren weg. Luca konnte die Schreie der Verlorenen Seelen nicht mehr hören. Die alles durchdringenden Flehrufe und das Betteln aus dem Jenseits – alles war verschwunden. Es gab keinen Weg zurück, keine verräterischen Risse mehr in den Falten dieses neuen Universums. Luca war endlich, endlich frei in seinem neuen Körper.

Er sah die Frau an, die in stummem Staunen die Augen aufgerissen hatte.

»Wir haben es geschafft«, flüsterte er. »Wir sind ihnen entkommen.«

Sie lächelte zaghaft.

Er breitete die Arme aus und konzentrierte sich. Nicht wieder den Rauch schnaubenden Ritter – dieser Augenblick erforderte etwas Würdevolleres. Weicher goldener Stoff schlang sich um seinen Leib, eine kaiserliche Toga, die seiner Stimmung angemessen war.

»Oh ja! Ja!«

Die energistischen Kräfte waren noch immer vorhanden.

Er konnte der Materie noch immer seinen Willen aufzwingen. Und die Kleidung besaß ein stärkeres, festeres Gewebe als alle Artefakte, die er zuvor erschaffen hatte.

Zuvor … Luca Comar lachte auf. In einem anderen Universum. Einem anderen Leben.

Diesmal würde alles anders werden. Hier würden sie ihr Nirwana etablieren. Und es würde bis in alle Ewigkeit so bleiben.

Die fünf Aufklärungssonden der Levêque entfernten sich langsam voneinander, während sie durch den Bereich des Raums glitten, wo eigentlich Norfolk sein sollte. Durch die Kommunikationskanäle flossen gewaltige Datenströme zurück an Bord des Mutterschiffs. Jeder vorhandene Sensor war auf maximale Empfindlichkeit geschaltet. Zwei elektromagnetische Spektren von zwei verschiedenen Sonnen fielen auf die Empfänger, und zaghafte Wellen solarer Ionen trübten den Blick. Das kosmische Strahlungsbombardement war vollkommen normal.

Sonst gab es nichts. Kein Gravitationsfeld, wie schwach auch immer, keine Magnetosphäre. Keine atmosphärischen Gase. Die Quantensignatur der Raumzeit war nicht im Geringsten verzerrt.

Nichts war von Norfolk geblieben, nichts außer Erinnerung.

Bei seiner Entdeckung im Jahre 2125 wurde Nyvan sofort in die aufkeimende Hoffnung mit einbezogen, die in der Folge der Entdeckung Felicitys durch die Erdbevölkerung ging. Die zweite jemals entdeckte terrakompatible Welt, ein wunderbares, jungfräuliches, grünes Land, Beweis dafür, dass Felicity nicht ein bloßer Glückstreffer gewesen war. Jeder auf der Erde wollte hinaus zu den Sternen. Und zwar auf der Stelle. Und das war letzten Endes der Grund für Nyvans Untergang.

Zum damaligen Zeitpunkt hatten die Menschen längst begriffen, dass die Arkologien kein vorübergehender Unterschlupf vor dem zerstörten Klima waren, ein Ort, an dem man Zuflucht suchte, während GovCentral die Atmosphäre abkühlte, die Umweltverschmutzung beseitigte und das Wetter in sein gewöhnliches Muster zurückführte. Die schmutzigen Wolken und die Armadastürme würden bleiben. Wer unter einem offenen Himmel leben wollte, der musste die Erde verlassen und eine neue Welt finden.

Der Fairness halber und aus Gründen des Erhalts der eigenen zweifelhaften Macht über individuelle Nationalregierungen erklärte GovCentral, dass jeder das Recht hatte, die Erde zu verlassen, ohne Unterschied. Es war diese letzte, ehrenvolle Klausel – hinzugefügt, um zahlreiche lautstarke Minderheiten zu beruhigen –, die in der Praxis zur Folge hatte, dass die Kolonisten eine multikulturelle Zusammensetzung bilden mussten, repräsentativ für die irdische Bevölkerung. Es gab keine Beschränkungen für die Anzahl der verkauften Raumschiffspassagen, lediglich ausgewogen hatten sie zu sein. Die Staaten, die zu arm waren, um ihre Anteile aufzufüllen, erhielten von GovCentral Subventionen, sodass die reicheren Staaten sich nicht beklagen konnten, man würde sie unfair beschneiden. Ein politischer Kompromiss, der typisch war.

Im Großen und Ganzen funktionierte das Konzept für Nyvan und die anderen terrakompatiblen Welten, die von den ZTT-Schiffen angeflogen wurden. Zumindest die ersten Jahrzehnte interstellarer Kolonisation waren berauschende Zeiten, in denen gemeinsam Erreichtes die alten ethnischen Vorurteile und Animositäten überwog. Nyvan und seine frühen Geschwister waren Gastwelten für eine entschlossene Einheit, die die Menschen früher so nicht gekannt hatten.

Doch es war nicht von Dauer. Nachdem die neuen Grenzen befriedet und die Welten gezähmt waren, erlosch der Pioniergeist der frühen Tage, und die alten Rivalitäten breiteten sich wieder aus. Auf einem Dutzend Welten wichen die irdischen Kolonialverwaltungen lokalen Regierungen, und lokale Politiker befleißigten sich bald der chauvinistischsten Aspekte eines Nationalismus, wie es ihn seit dem zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte. Der Mob folgte ihnen mit einer ans Absurde grenzenden Gutgläubigkeit. Diesmal jedoch gab es keine Meere und keine geografischen Grenzen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Religionen, Kulturen, Hautfarben, Ideologien und Sprachen waren in den städtischen Ballungsräumen alle dicht zusammengedrängt. Unruhen und Aufstände waren das Resultat und zerstörte Leben und eine vernichtete Wirtschaft die Folge.

Alles in allem wurde das Problem 2156 durch den GovCentral-Nationalstaat Kalifornien mit der Gründung New Californias gelöst, der ersten ethnisch sauberen Kolonie, die nur geborenen Kalifornien offenstand. Eine Entwicklung, die zuerst heftig kritisiert, dann aber rasch von den anderen Staaten aufgegriffen wurde. Diese zweite Welle von Kolonien litt nicht unter den Problemen, die bei den ersten so tragisch hervorgetreten waren, und sie machten endlich den Weg frei für die Massenauswanderungen der Großen Expansion.

Während die neuen ethnisch reinen Welten erfolgreich die überschüssige Bevölkerung der Erde absorbierten, verloren die früheren Kolonien langsam, aber sicher sowohl den kulturellen als auch den wirtschaftlichen Boden unter den Füßen. Eine falsche Morgendämmerung, die in einem ewigen Zwielicht endete.

»Was ist mit den Asteroiden passiert?«, fragte Lawrence Dillon.

Quinn betrachtete nachdenklich die Bilder, die von den Sensoren der Tantu auf die halbkugelförmigen Holoschirme am Fuß seiner Beschleunigungsliege projiziert wurden. Insgesamt waren elf Asteroiden in eine Kreisbahn um Nyvan geschoben worden, um ihre Mineralien für die planetare Industrie abzubauen. Normalerweise hätten sie sich in gesunde merkantile Siedlungen mit Scharen von Industriestationen entwickeln müssen.

Doch die Sensoren der Fregatte zeigten, dass nur acht von ihnen mehr oder weniger gewöhnliche elektromagnetische Aktivität besaßen und ein starkes infrarotes Signal abstrahlten. Die restlichen drei lagen kalt und dunkel. Die Tantu richtete ihre hochauflösenden optischen Sensoren auf den nächstgelegenen der toten Felsen und enthüllte auf der grauen, zerklüfteten Oberfläche zerstörte Maschinerie. Einer der Asteroiden hatte sogar einen nicht-rotierenden Raumhafen besessen, obwohl sich die Scheibe längst nicht mehr gegenläufig drehte; die Spindel war verbogen und die gesamte Konstruktion von Einschlaglöchern übersät.

»Es hat eine Menge ethnischer Kriege gegeben«, sagte Quinn.

Lawrence blickte seinen Herrn verständnislos an.

»Hier leben viele verschiedene Völker zusammen«, erklärte Quinn. »Sie kommen nicht besonders gut miteinander aus, deswegen gibt es immer wieder Streit.«

»Wenn sie sich alle so hassen, warum gehen sie dann nicht von hier fort?«

»Ich weiß es nicht. Frag sie.«

»Wen?«

»Halt endlich die Klappe, Lawrence. Ich muss nachdenken. Dwyer, wurden wir bereits entdeckt?«

»Ja. Die Detektorsatelliten haben uns augenblicklich gefunden. Bisher gab es drei verschiedene Transponderabfragen von drei verschiedenen Verteidigungsnetzen, aber soweit scheinen diesmal alle mit unserem automatischen Identifikationskode einverstanden zu sein.«

»Gut. Graper, ich möchte, dass du unseren Kommunikationsoffizier spielst.«

»Sicher, Quinn.« Graper bemühte sich um Eifer in der Stimme, Eifer, seinen Wert zu beweisen.

»Halt dich an das, was wir abgesprochen haben. Ruf jede dieser militärischen Befehlszentralen an und sag ihnen, wir wären von der Konföderierten Navy beauftragt, das System zu überwachen. Wir bleiben bis auf weiteres in einer hohen Umlaufbahn, und falls sie Feuerunterstützung gegen Besessene brauchen, wären wir glücklich, ihnen dabei behilflich zu sein.«

»Schon dabei, Quinn.« Er setzte sich mit dem Bordrechner in Verbindung und erteilte die entsprechenden Befehle.

»Dwyer«, befahl Quinn, »gib mir eine Verbindung zum Kommunikationsnetz von Nyvan.« Er schwebte von seiner samtenen Beschleunigungsliege weg und verankerte seine Füße auf einem StikPad vor der großen Kommandokonsole.

»Äh, Quinn, das ist eigenartig. Die Sensoren zeigen mir mehr als fünfzig Kommunikationsplattformen im geosynchronen Orbit«, sagte Dwyer nervös. Er benutzte Haltegriffe, um sich vor seiner Station zu verankern, und sein Gesicht war nur Zentimeter von einem leuchtenden Holoschirm entfernt, als würde er aus so großer Nähe die Daten besser verstehen, die das Display lieferte. »Der Bordrechner meldet neunzehn verschiedene Kommunikationsnetze auf dieser Welt, und einige davon stehen nicht einmal untereinander in Verbindung.«

»Na und? Ich hab’ dir doch gesagt, Affenhirn, dass es dort unten einen ganzen Scheißhaufen verschiedener Nationen gibt.«

»Und mit welcher soll ich in Verbindung treten?«

Quinn versuchte sich zurückzuerinnern. Er stellte sich den Mann vor, sein Benehmen, seine Stimme, seinen Akzent. »Gibt es so etwas wie eine nordamerikanischethnische Nation?«

Dwyer konsultierte die Informationen auf seinem Holoschirm. »Es gibt deren fünf, Quinn. Tonala, New Dominica, New Georgia, Quebec und die Islamische Republik Texas.«

»Gib mir New Georgia.« Informationen flossen über seinen eigenen Holoschirm. Quinn studierte sie einen Augenblick, dann forderte er eine Verzeichnisfunktion an und startete ein Suchprogramm.

»Wer ist dieser Bursche, Quinn?«, fragte Lawrence Dillon.

»Er nennt sich Twelve-T. Ein gemeiner Drecksack, ein Gang Lord, ist ganz dick im Geschäft dort unten. Wenn du irgendwas brauchst, gehst du zu ihm.«

Das Suchprogramm war zu Ende. Quinn lud die elektronische Adresse, die es gefunden hatte.

»Ja?«, fragte eine Stimme.

»Ich will mit Twelve-T reden.«

»Hey, du verrückter Spinner, hier gibt es niemanden, der so heißt.«

»Hör zu, Arschloch, das ist seine öffentliche Adresse. Er ist da.«

»Sicher. Wenn du ihn kennst, kannst du ja per Datavis mit ihm reden.«

»Das geht nicht.«

»Aha? Dann kennt er dich nicht. Seine Bräute haben alle seine private Adresse.«

»Also schön, das Zauberwort heißt Banneth. Und wenn du mir nicht glaubst, dass es ein Zauberwort ist, dann verfolge doch mal zurück, woher dieser Anruf kommt. Und jetzt ruf mir Twelve-T her, weil es für dich nämlich verdammt unangenehm wird, wenn ich selbst vorbeikommen muss.«

Dwyer schielte einmal mehr kurzsichtig auf sein Display. »Er verfolgt den Anruf tatsächlich zurück. Er ist schon beim Satelliten. Ziemlich heißes Programm.«

»Ich schätze, sie benutzen es ziemlich häufig«, murmelte Quinn.

»Hast du ein Problem da oben, Arschloch?«, fragte eine neue Stimme. Sie klang fast genauso, wie Quinn sie in Erinnerung hatte, ein dunkles Schnurren, zu rau, um weich zu sein. Quinn hatte die Narbe am Hals gesehen, die dafür verantwortlich war.

»Überhaupt nicht. Aber ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

»Was willst du, Mann? Was soll dieser Mönchsscheiß? Du bist nicht Banneth.«

»Nein.« Quinn beugte sich langsam in Richtung der Aufnahmeoptik im Zentrum der Konsole und zog seine Kapuze zurück. »Lass dein visuelles Suchprogramm laufen.«

»Ah, ja. Du warst Banneth’ kleiner Botenjunge, und ihr Strichjunge außerdem. Ich erinnere mich. Was willst du hier, du kleine Ratte?«

»Einen Deal.«

»Was hast du anzubieten?«

»Du weißt, womit ich gekommen bin?«

»Sicher. Vin hat das Signal zurückverfolgt; im Augenblick pinkelt er flüssigen Stickstoff.«

»Sie könnte dir gehören.«

»Ehrlich?«

»Ehrlich.«

»Was muss ich dafür tun? Dich bumsen?«

»Nein. Ich will sie eintauschen, das ist alles.«

Das Flüstern verlor ein wenig an Gelassenheit. »Du willst eine verdammte Fregatte der Konföderierten Navy eintauschen? Gegen was, zur Hölle?«

»Darüber möchte ich mit dir reden. Außerdem habe ich hochwertige Hardware an Bord. Du machst das Geschäft deines Lebens.«

»Reden, Arschloch? Wenn deine Hardware so verdammt gut ist, wieso willst du sie dann loswerden?«

»Gottes Bruder zieht nicht ununterbrochen in den Krieg. Es gibt auch andere Wege, den Ungläubigen Sein Wort zu verkünden.«

»Hör auf mit diesem Voodoo-Scheiß, Mann. Verdammt, ich hasse diesen Schwachsinn, den ihr Arkologie-Freaks von euch gebt. Es gibt keinen Gott, folglich hat er auch keinen Bruder. Basta.«

»Versuch das den Besessenen zu erklären.«