OSKAR
Ein Kater mit Charakter
Mein Name ist OSKAR.
Ich bin 7 Jahre alt. Ich bin ein Kater.
Aber ich bin was Besonderes.
Das sagen sie hier jedenfalls. So wie ich aussähe, sei ich nie im Leben ein gewöhnlicher Kater.
Mit so einem Kopf.
Mit solchen Pfoten.
Mit solchen Krallen.
Und sie haben recht: Ich habe Vorfahren aus den wildesten Wäldern!
Leider wohne ich seit ein paar Tagen im Tierheim, und hier muss ich mir nun das Gewusel der anderen heimatlosen Viecher ansehen. Zum Glück meistens von oben. Seit ich hier bin, habe ich meinen festen Platz auf dem obersten Sitzbrett. Von dort schaue ich auf das Theater unter mir.
Aufrecht.
Ruhig.
Gelassen.
Ich sehe und höre alles.
ALLES.
Auch wenn ich die Augen geschlossen habe und so tue, als döste ich vor mich hin. – Ich kann mit geschlossenen Augen sehen!
Meine Schnurrhaare sind meine Antennen.
Da kommt keiner dran vorbei.
Keiner kommt unbemerkt in meine Nähe.
Auf meine Instinkte kann ich mich verlassen.
Meine Sinne sind über Generationen von Vorfahren im Wald geschärft.
Ich stamme von Wildkatzen ab.
Es ist Mittag, und sie bringen einen großen Futternapf. Normalerweise verlasse ich meinen Platz auf dem oberen Sitzbrett nicht. Nur wenn es was zu fressen gibt, mache ich eine Ausnahme. Ich fresse für mein Leben gern.
Die anderen Viecher drängeln und streiten um den besten Platz am Napf. Dabei bekommt hier jeder genug. Es reicht für alle.
Ich halte mich heraus und warte ab.
Jemand ruft: »Elvira, hol bitte noch einen Napf!«
Schon kommt eine freundliche Frau und stellt mir einen eigenen vollen Napf vor die Pfoten.
»Na, komm schon, Oskar, du hast doch auch Hunger«, sagt sie besorgt.
Klar hab ich Hunger. Ich schenke Elvira einen dankbaren Katerblick und kann abseits der Meute in Ruhe fressen.
Meine raue Zunge schabt den Napf blitzblank. Wohlig satt springe ich zurück auf meinen Platz und putze mich. Ich gähne.
Ein kurzes Nickerchen wäre jetzt das Richtige! Ich mache es mir gemütlich. Ich blinzle aus dem Fenster in die Sonne.
Es ist Frühling. Genau wie damals im Wald, als ich geboren wurde.
Zwischen Moos und Gras und Waldmeisterblüten bin ich zur Welt gekommen.
Meine Mutter war eine Wildkatze. Mein Vater war ein Hauskater, aber einer, der die Freiheit liebte. In meinem Vater war noch etwas von der alten Wildheit seiner Urahnen aus der Steppe. Im Haus hielt er’s nie lange aus.
Das Angenehme einer warmen Wohnung, das regelmäßige Fressen und die Zärtlichkeit seiner Menschenfamilie wusste er durchaus zu schätzen – trotzdem zog es ihn immer wieder in den nahen Wald. Raus musste er. Raus zu den Wildkatzen!
So hat er meine Mutter kennengelernt. Und bald darauf kam ich. Zusammen mit zwei Geschwistern.
Das alles hat mir meine Mutter erzählt, als ich noch ein Winzling war. Mehr weiß ich von meinem Vater nicht. Selbst hab ich ihn nur ein einziges Mal gesehen. Es war ausgerechnet an dem Tag, an dem das Unglück geschah.
Ich lag mit meiner Mutter und meinen Geschwistern in unserem Unterschlupf. Eine kleine Höhle zwischen hoch aufgestapelten Baumstämmen war das, irgendwo mitten im Wald.
Plötzlich hörten wir laute Motorengeräusche.
Vorsichtig kroch meine Mutter aus dem Versteck. Drohte Gefahr?
Dann ging alles schrecklich schnell: Der Boden bebte. Der ganze Holzstoß knarrte und ächzte und geriet in Bewegung. Alles schwankte, polterte und rumpelte.
Krachend stürzten die Baumstämme über uns zusammen.
Es gab kein Entkommen.
Außer mir hat keiner überlebt.
Ich hatte als Einziger Glück: Über MIR hatten sich zwei Baumstämme verkeilt. So war wieder eine kleine Höhle entstanden. In DER saß ich nun.
Allein und zu Tode erschrocken.
Durch einen schmalen Schlitz konnte ich ins Freie sehen. Waldarbeiter waren gekommen und luden die Stämme auf einen Lastwagen.
Wussten sie denn nicht, dass der Holzstoß unser Zuhause gewesen war?
Ich gab keinen Mucks von mir.
Ich zitterte.
Ich hatte fürchterliche Angst.
Aber plötzlich hörten die Waldarbeiter auf zu arbeiten. Einer von ihnen hatte »HALT!« gerufen.
Jetzt holte er eine Schaufel vom Lastwagen. Er grub ein Loch und schob etwas hinein. Was es war, konnte ich nicht sehen, nur dass er zum Schluss eine große Schaufel Erde über alles warf. Und noch eine und noch eine, bis ein kleiner Hügel entstand. Ich sah, dass der Waldarbeiter alles sorgfältig mit Moos bedeckte.
»Wildkatzen«, sagte er. »Wenn sie Junge haben, suchen sie sich immer wieder die Holzstöße als Unterschlupf. Und dann passiert so was. Eigentlich sollten wir um die Zeit das Holz noch im Wald lassen, dann käme so was nicht mehr vor.«
Der Mann schüttelte traurig den Kopf. Er brachte die Schaufel zurück zum Lastwagen.
Alle machten sich wieder an die Arbeit.
Nicht lange, dann war der größere Teil der Stämme verladen. Bis zu mir waren die Männer nicht gekommen.
Sie fuhren davon.
Ich blieb, wo ich war.
Allein und verlassen.
Ohne meine Mutter.
Ohne meine beiden Geschwister.
Es wurde dämmrig im Wald. Es wurde Nacht.
Die Nacht hatte mir bis dahin keine Angst gemacht, aber jetzt traute ich mich nicht aus meinem Versteck.
Ich zitterte immer noch am ganzen Körper. Ich wollte mich an das warme weiche Fell meiner Mutter kuscheln.
Ich wollte meine Geschwister bei mir haben!
Ich rückte näher an den Spalt, durch den ich ins Freie sehen konnte, und betrachtete den kleinen Erdhügel, den der Waldarbeiter aufgehäuft hatte.
Ringsum war nur düsterer Wald.
Alles war so finster – nur das Mondlicht malte schummrige Flecken auf den Boden.
Dann sah ich einen Schatten.
Eine Katze!
Ein Kater!
Er näherte sich meinem Versteck. Er beschnüffelte die liegen gebliebenen Stämme. Zögerlich setzte er eine Pfote vor die andere. Lautlos schlich er umher, als würde er nach etwas suchen.
Er blieb stehen.
Senkte den Kopf.
Schnupperte an dem kleinen Erdhügel.
Langsam, ganz langsam hob er wieder den Kopf
und schaute hinauf zum Mond.