Inhaltsverzeichnis

Sprichwort der Haussa

Prolog

So vergingen zwei Tage. Am dritten Tag meldete sich der Portier und sagte, die Lobby sei leer. Ich warf einen Blick auf mein Handy, das im Flugzeugmodus auf der Anrichte lag. Seit zweiundsiebzig Stunden war ich offline, und ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, so eine Leistung müsste heutzutage eigentlich zu den großen Beispielen persönlichen Gleichmuts und moralischer Standhaftigkeit zählen. Ich zog meine Jacke über und ging nach unten. In der Lobby traf ich den Portier. Er nutzte die Gelegenheit, sich bitterlich zu beklagen – »Sie machen sich ja keinen Begriff, was die letzten zwei Tage hier unten los war – der reinste Piccadilly Circus, sag ich Ihnen!« –, auch wenn er merklich hin- und hergerissen und sogar ein bisschen enttäuscht war: Für ihn war es schade, dass die Aufregung sich gelegt hatte – er hatte sich achtundvierzig Stunden lang richtig wichtig gefühlt. Stolz berichtete er mir, er habe etlichen Leuten erklärt, das könnten sie sich »sonst wohin stecken«, und diverse Personen darüber in Kenntnis gesetzt, wenn sie glaubten, sie kämen an ihm vorbei, müssten sie »aber früher aufstehen«. Ich lehnte an seinem Tresen und hörte ihm zu. Ich war so lange nicht in England gewesen, dass mir schon die schlichtesten Redewendungen exotisch vorkamen, fast sinnentleert. Ich fragte ihn, ob er glaube, dass am Abend wieder Leute kommen würden, und er antwortete, das glaube er nicht, es sei schon seit gestern keiner mehr da gewesen. Ich wollte wissen, ob ich bedenkenlos einen Übernachtungsgast einladen könne. »Da seh ich kein Problem«, sagte er, und sein Ton gab

Als die Veranstaltung zu Ende war, lief ich durch die Stadt zurück zur Wohnung, rief Lamin an, der in einem Café in der Nähe wartete, und sagte ihm, die Luft sei rein. Auch er war gefeuert worden, doch anstatt ihn nach Hause in den Senegal zurückkehren zu lassen, hatte ich ihn hierher nach London geschleppt. Gegen elf kam er vorbei, im Kapuzenshirt, für alle Fotografen-Fälle. Die Lobby war leer. Mit der Kapuze sah er sogar noch jünger aus und noch viel schöner, und mir kam es regelrecht

Teil Eins

Eins

Zwei

Das ist die Kirche,

Der Turm lädt uns ein.

Geht die Tür auf,

Treten alle herein.

Die bunten Glasfenster erzählten die Geschichte vom heiligen Christophorus, der das Jesuskind auf den Schultern über den Fluss trug. Sie waren nicht besonders gut gemacht: Der Heilige wirkte verstümmelt, wie ein Einarmiger. Die Originalfenster waren im Krieg zerbombt worden.

Meine Mutter war eine der Wenigen: Sie ließ sich nicht von handgeschriebenen Flyern einschüchtern. Sie hatte einen unfehlbaren Instinkt für die Sitten und Gebräuche der Mittelschicht. Beispielsweise wusste sie, dass man auf Flohmärkten – trotz des wenig ansprechenden Namens – die besseren Menschen traf, samt ihren alten Penguin-Taschenbüchern, die häufig von Orwell waren, ihren alten Pillendöschen aus Porzellan, ihrem angestoßenen Steingutgeschirr aus Cornwall, ihren ausrangierten Töpferscheiben. Unsere Wohnung war voll mit solchen Sachen. Plastikblumen, auf denen künstliche Tautropfen glitzerten, und Kristallfigürchen kamen uns nicht ins Haus. Es war alles Teil des Plans. Selbst die Dinge, die ich scheußlich fand – wie die Espadrilles meiner Mutter –, wirkten in aller Regel anziehend auf genau die Leute, die wir anziehen wollten, und ich lernte, die mütterlichen Methoden nicht infrage zu stellen, sosehr ich mich auch dafür schämte. Eine Woche vor Beginn der Ballettstunden hörte ich sie in der Einbauküche mit ihrer schnöseligen Stimme reden, doch als sie aufgelegt hatte, wusste sie die Antwort auf alle Fragen: Die Ballettschläppchen kosteten fünf Pfund, wenn man sie im Einkaufszentrum nebenan besorgte anstatt in der Innenstadt, und die Steppschuhe konnten noch warten. Die Schläppchen trug man auch für Modern. Und was war Modern? Das hatte sie nicht gefragt. Die besorgte Mutter gab sie jederzeit gern, die uninformierte aber keinesfalls.

Mein

Unsere Mütter dienten uns als Stützen, als Fußhalter. Wir legten ihnen eine Hand auf die Schulter, stellten ihnen einen Fuß aufs gebeugte Knie. Mein Körper befand sich also gegenwärtig in den Händen meiner Mutter, wurde hochgezogen und niedergedrückt, festgezurrt und aufgerichtet, glatt gestrichen – doch meine Gedanken waren bei Tracey und bei den Sohlen ihrer Ballettschläppchen,

Zu diesem frühen Zeitpunkt waren Tracey und ich weder befreundet noch verfeindet, kannten uns nicht einmal näher: Wir sprachen kaum ein Wort miteinander. Trotzdem

Tracey, stellte sich heraus, war ebenso neugierig auf meine Familie wie ich auf ihre und behauptete mit einiger Überzeugung, bei uns sei es »falsch rum«. Ich hörte mir ihre Theorie eines Tages in der Pause an, während ich beklommen meinen Keks in den Orangensaft tunkte. »Bei allen anderen ist es der Vater«, erklärte sie, und ich konnte nichts darauf erwidern, weil ich wusste, dass das im Großen und Ganzen stimmte. »Wenn der Vater weiß ist, dann heißt das …«, fuhr Tracey fort, doch in dem Moment kam Lily Bingham und stellte sich neben uns, und ich sollte nie erfahren, was es hieß, wenn der Vater weiß war. Lily war schlaksig und einen halben Kopf größer als alle anderen. Sie hatte lange, völlig glatte blonde Haare, rote Wangen und ein fröhliches, offenes Wesen, das

Drei

Oh, natürlich ist es ganz wunderbar, vernünftig und anständig zu behaupten, dass jede Frau ein Recht auf ihr eigenes Leben hat, auf ihre Ziele, ihre Wünsche und all das – schließlich habe ich das selbst immer für mich eingefordert –, aber als Kind, nein, da ist es in Wahrheit ein reiner Zermürbungskrieg, da spielt Vernunft überhaupt keine Rolle, nicht die geringste, das Kind will von der Mutter nur das endgültige Eingeständnis, dass sie seine Mutter ist, nichts als seine Mutter, und dass der Kampf mit dem restlichen Leben hinter ihr liegt. Sie muss die Waffen strecken und sich dem Kind ergeben. Tut sie das nicht, dann herrscht wirklich Krieg, und ein solcher Krieg tobte zwischen meiner Mutter und mir. Erst als Erwachsene, vor allem in den letzten, schmerzerfüllten Jahren ihres Lebens, schaffte ich es, sie ehrlich dafür zu bewundern, was sie alles tat, um der Welt ein klein wenig Raum für sich abzuringen. Als ich klein war, verwirrte und verletzte mich ihre Weigerung, sich mir zu unterwerfen, nur umso mehr, als aus meiner Sicht keiner der gängigen

Am Samstag hatte sie ›frei‹. Wovon? Von uns. Sie widmete sich ihren Ismen. Wenn mein Vater mit mir von der Ballettstunde kam, mussten wir irgendwie weitermachen, uns eine Beschäftigung suchen, die uns von der Wohnung fernhielt, bis es Zeit zum Abendessen war. Es wurde unser Ritual, mit einer Reihe von Bussen nach Süden zu fahren, weit südlich vom Fluss, wo Onkel Lambert wohnte, der Bruder meiner Mutter und Vertraute meines Vaters. Von den Geschwistern meiner Mutter

»Ich mache einen Schritt auf sie zu«, hörte ich meinen Vater eines Tages im Hochsommer klagen, »und sie macht einen zurück!«

»Da kannste nix machen. So war sie schon immer.«

Ich stand im Garten, zwischen den Tomatenpflanzen. Im Grunde war es ein reiner Nutzgarten, nichts spross zur Zierde oder zum bloßen Bewundertwerden, alles war zum Essen da und wuchs, an Bambusstäbe gebunden, in langen, ordentlichen Reihen. Ganz hinten stand ein Klohäuschen, das einzige, das ich jemals in England gesehen habe. Onkel Lambert und mein Vater saßen in Liegestühlen vor der Hintertür und rauchten Marihuana. Sie waren alte Freunde – auf dem Hochzeitsfoto meiner Eltern ist außer ihnen nur noch Lambert zu sehen – und Arbeitskollegen: Lambert war Postbote, mein Vater Zustellbeamter bei der Royal Mail. Sie hatten den gleichen trockenen Humor und den gleichen Mangel an Ehrgeiz, in beiden Fällen sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Und während sie rauchten und über all die Dinge klagten, die mit meiner Mutter nicht zu machen waren, fuhr ich mit den Armen in die Tomatenranken, ließ sie sich um meine Handgelenke kringeln. Die meisten von Lamberts Pflanzen wirkten bedrohlich auf mich, sie waren doppelt so groß wie ich, und alles, was er pflanzte, wucherte wie wild: ein wahres Dickicht aus Weinreben, hohem

Ich hatte genug davon, zwischen den Gemüsereihen herumzulaufen, ging langsam durch den Garten zurück und

»Ist dir langweilig?«, fragte Lambert. Ich bekannte mich schuldig.

»Früher hat’s hier von euch Kurzen gewimmelt«, sagte Lambert. »Aber die Kinder haben jetzt selber alle Kinder.«

Mir stand das Bild von Kindern in meinem Alter vor Augen, die Babys auf dem Arm hielten: ein Schicksal, das ich mit Südlondon verband. Ich wusste, dass meine Mutter von zu Hause fortgegangen war, um genau dem zu entkommen, damit ihre Tochter einmal nicht als Kind mit Kind endete, denn ihre Tochter sollte nicht einfach nur über die Runden kommen, wie meine Mutter es getan hatte – sie sollte wachsen und gedeihen und möglichst viele unnötige Fähigkeiten erwerben, Steppen beispielsweise. Mein Vater streckte mir die Arme entgegen, und ich kletterte auf seinen Schoß, legte die Hand auf seine beginnende Glatze und spürte die dünnen, feuchten Haarsträhnen, die er immer darüberkämmte.

»Scheu ist sie, was? Du musst doch bei deinem Onkel Lambert nicht scheu sein!«

Lamberts Augen waren von roten Äderchen durchzogen, und er hatte Sommersprossen wie ich, doch seine standen hervor; er hatte ein rundes, freundliches Gesicht und hellbraune Augen, die angeblich für chinesisches Blut im Familienstammbaum sprachen. Trotzdem schüchterte er mich ein. Meine Mutter, die Lambert, außer an Weihnachten, selbst nie besuchte, beharrte merkwürdigerweise sehr darauf, dass mein Vater und ich es taten, wenn auch mit der ewigen Einschränkung, wir sollten

»Sie braucht Gesellschaft«, grämte er sich. »Bücher bringen doch nichts. Filme bringen nichts. Das ist alles kein Ersatz.«

»Bei der Frau kannste nix machen. Das hab ich schon gewusst, als sie noch klein war. Die hat einen eisernen Willen.«

Das stimmte. Bei ihr war nichts zu machen. Als wir nach Hause kamen, schaute sie gerade eine Vorlesung der Fernuni, Block und Bleistift auf dem Schoß, schön und heiter, zusammengerollt auf dem Sofa, die nackten Füße an den Po gezogen, doch als sie sich zu uns umdrehte, sah ich, dass sie verärgert war, wir waren zu früh zurückgekommen, sie brauchte noch mehr Zeit, mehr Frieden, mehr Ruhe zum Studieren. Wir waren die Vandalen im Tempel. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaft. Warum, wussten wir nicht.

Vier

Um Viertel nach elf, gleich nach der Ballettstunde, wenn wir unsere erste Pause hatten, kam Mr Booth mit einer großen schwarzen Tasche in der Hand herein, wie sie früher Landärzte verwendeten, und in dieser Tasche steckten die Noten fürs Steppen. Wenn ich Zeit hatte – sprich: wenn ich es schaffte, mich von Tracey loszueisen –, lief ich zu ihm hinüber, folgte ihm, während er langsam auf das Klavier zuhielt, stellte mich dann so hin wie die Frauen, die ich vom Fernsehbildschirm kannte, und bat ihn, »All of You« zu spielen, »Autumn in New York« oder »42nd Street«. Im Steppunterricht musste er immer und immer wieder dieselben sechs Songs spielen, und ich musste dazu tanzen, doch vor der Stunde, während alle anderen im Saal mit Reden, Essen und Trinken beschäftigt

Fünf

Schließlich war meine Mutter bei mir, musterte mich – sie hatte eine verschmitzte Miene aufgesetzt –, und der erste Satz, den sie an mich richtete, lautete: »Zieh die Schuhe aus.«

»Aber das müssen wir doch wirklich nicht jetzt gleich machen«, murmelte Miss Isabel, aber meine Mutter entgegnete: »Je früher wir es wissen, desto besser« und verschwand wieder in der Wohnung, um kurz darauf mit einer großen Packung Mehl zurückzukehren, das sie auf dem Balkon verstreute, bis dort ein dünner weißer Teppich lag, wie nach dem ersten Schnee. Ich sollte barfuß darüberlaufen. Ich musste an Tracey denken. Ob Miss Isabel nacheinander jedes einzelne Mädchen besuchte? Was für eine ungeheure Mehlverschwendung! Miss Isabel ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Meine Mutter lehnte am Balkongitter, die Ellbogen darauf gestützt, und rauchte eine Zigarette. Sie hielt den perfekten Abstand zum Balkongitter, die Zigarette in perfektem Abstand zu ihren Lippen, und sie trug eine Baskenmütze, als wäre es das Normalste von der Welt, eine Baskenmütze zu tragen. Auch zu mir hielt sie Abstand, ironischen Abstand. Ich war am anderen Ende des Balkons angekommen und drehte mich zu meinen Fußabdrücken um.

»Na, da haben wir’s doch«, sagte Miss Isabel. Und was hatten wir? Plattfüße. Meine Ballettlehrerin streifte einen Schuh ab und hinterließ zum Vergleich ihren Fußabdruck: Bei ihr sah man nur Zehen, Ballen und Ferse, bei