Für meine Mutter Yvonne
Wechselt die Musik, ändert sich auch der Tanz.
Sprichwort der Haussa
Es war der erste Tag meiner Schmach. Ins Flugzeug gesetzt, heimgeschickt, zurück nach England, in eine Übergangswohnung in St.John’s Wood. Die Wohnung lag im achten Stock, die Fenster gingen auf das Kricketfeld hinaus. Ich glaube, das Hauptauswahlkriterium war der Portier, der alle Nachfragen abblockte. Ich ging nicht vor die Tür. Das Telefon an der Küchenwand klingelte unentwegt, doch mir war eingeschärft worden, nicht ranzugehen und das Handy ausgeschaltet zu lassen. Ich sah dem Kricket zu, obwohl ich keine Ahnung davon habe, das war keine echte Ablenkung, aber immer noch besser, als mich in dieser Luxuswohnung umzusehen, deren gesamte Ausstattung auf vollkommene Neutralität abzielte und die lauter runde Ecken hatte, wie ein iPhone. Als das Kricketspiel vorbei war, starrte ich auf die elegante, in die Wand eingelassene Kaffeemaschine, auf die beiden Buddha-Fotos – einer aus Messing, der andere aus Holz – und auf das Foto eines knienden Elefanten neben einem kleinen indischen Jungen, der ebenfalls kniete. Die Zimmer waren geschmackvoll und grau, ein makelloser Flur mit hellbraunem Cordboden verband sie. Ich starrte auf die Rillen im Cord.
So vergingen zwei Tage. Am dritten Tag meldete sich der Portier und sagte, die Lobby sei leer. Ich warf einen Blick auf mein Handy, das im Flugzeugmodus auf der Anrichte lag. Seit zweiundsiebzig Stunden war ich offline, und ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, so eine Leistung müsste heutzutage eigentlich zu den großen Beispielen persönlichen Gleichmuts und moralischer Standhaftigkeit zählen. Ich zog meine Jacke über und ging nach unten. In der Lobby traf ich den Portier. Er nutzte die Gelegenheit, sich bitterlich zu beklagen – »Sie machen sich ja keinen Begriff, was die letzten zwei Tage hier unten los war – der reinste Piccadilly Circus, sag ich Ihnen!« –, auch wenn er merklich hin- und hergerissen und sogar ein bisschen enttäuscht war: Für ihn war es schade, dass die Aufregung sich gelegt hatte – er hatte sich achtundvierzig Stunden lang richtig wichtig gefühlt. Stolz berichtete er mir, er habe etlichen Leuten erklärt, das könnten sie sich »sonst wohin stecken«, und diverse Personen darüber in Kenntnis gesetzt, wenn sie glaubten, sie kämen an ihm vorbei, müssten sie »aber früher aufstehen«. Ich lehnte an seinem Tresen und hörte ihm zu. Ich war so lange nicht in England gewesen, dass mir schon die schlichtesten Redewendungen exotisch vorkamen, fast sinnentleert. Ich fragte ihn, ob er glaube, dass am Abend wieder Leute kommen würden, und er antwortete, das glaube er nicht, es sei schon seit gestern keiner mehr da gewesen. Ich wollte wissen, ob ich bedenkenlos einen Übernachtungsgast einladen könne. »Da seh ich kein Problem«, sagte er, und sein Ton gab mir das Gefühl, eine absurde Frage gestellt zu haben. »Zur Not gehen Sie hintenrum.« Er seufzte, und in dem Moment kam eine Frau und fragte ihn, ob er die Lieferung aus der Reinigung für sie annehmen könne, sie müsse jetzt weg. Sie wirkte schroff und ungeduldig und sah ihn gar nicht an, während sie mit ihm sprach, sondern blickte starr auf die Uhr auf seinem Tresen, einen grauen Kasten mit Digitalanzeige, der alle Betrachter präzise bis auf die Sekunde darüber informierte, in welchem Moment sie sich befanden. Wir schrieben den Fünfundzwanzigsten des Monats Oktober im Jahr Zweitausendundacht, und es war genau zwölf Uhr, sechsunddreißig Minuten und dreiundzwanzig Sekunden. Ich wandte mich ab; der Portier klärte die Sache mit der Frau und kam dann eilig hinter dem Tresen hervor, um mir die Tür aufzuhalten. Er fragte, wohin ich wolle; ich sagte, das wisse ich nicht. Ich trat in die Stadt hinaus. Es war ein perfekter Londoner Herbstnachmittag, kühl, aber klar, unter manchen Bäumen lagen goldene Blätter. Ich ging am Kricketfeld vorbei und an der Moschee, an Madame Tussauds, die Goodge Street entlang und weiter durch die Tottenham Court Road, über den Trafalgar Square, bis ich schließlich am Embankment landete und dort die Brücke überquerte. Wie immer, wenn ich diese Brücke überquere, dachte ich an die beiden jungen Männer, Studenten, die einmal spätnachts hier entlanggegangen und dabei überfallen und über die Brüstung in die Themse gestoßen worden waren. Einer blieb am Leben, der andere starb. Ich habe nie begriffen, wie der Überlebende das geschafft hat, in Dunkelheit und absoluter Kälte, mit einem schrecklichen Schock in den Gliedern und Schuhen an den Füßen. Beim Gedanken an ihn hielt ich mich auf der rechten Seite der Brücke, nahe den Schienen, und sah ganz bewusst nicht ins Wasser. Am South Bank angekommen, entdeckte ich als Erstes ein Plakat, das ein nachmittägliches »Gespräch« mit einem österreichischen Regisseur ankündigte, es sollte in zwanzig Minuten in der Royal Festival Hall stattfinden. Spontan beschloss ich, mir eine Karte zu besorgen. Ich ergatterte einen Platz ganz oben auf der Galerie, in der allerletzten Reihe. Viel erwartete ich mir nicht, ich wollte mich einfach nur eine Zeit lang von meinen Problemen ablenken, im Dunkeln sitzen und einem Gespräch über Filme lauschen, die ich nicht gesehen hatte, doch auf der Hälfte der Veranstaltung bat der Regisseur den Moderator, einen Ausschnitt aus dem Film Swing Time zu zeigen, den ich tatsächlich sehr gut kenne, weil ich ihn als Kind endlos oft gesehen habe. Ich setzte mich aufrechter hin. Auf der riesigen Leinwand vor mir tanzte Fred Astaire mit drei Silhouetten. Sie können nicht mit ihm Schritt halten, kommen aus dem Takt. Schließlich werfen sie das Handtuch, drei linke Hände winken mit dieser typisch amerikanischen »Ach, vergiss es«-Geste ab und gehen von der Bühne. Astaire tanzte allein weiter. Und mir wurde klar, dass auch die drei Schatten alle Fred Astaire waren. Hatte ich das als Kind schon gewusst? Keiner sonst greift so in die Luft, kein anderer Tänzer beugt die Knie auf genau diese Weise. Der Regisseur erläuterte unterdessen seine Theorie des »reinen Kinos«, das er als »Interaktion von Licht und Dunkel« definierte, die sich »im Lauf der Zeit zu einer Art Rhythmus« entfalte, doch ich fand diesen Gedankengang langweilig und schwer nachvollziehbar. Hinter ihm lief aus irgendeinem Grund der Filmausschnitt erneut, und meine Füße tappten im Einklang mit der Musik an die Lehne vor mir. Ich spürte eine wunderbare Leichtigkeit im Körper, ein abwegiges Glücksgefühl, es kam einfach so, aus dem Nichts. Ich hatte meinen Job verloren, eine bestimmte Version meines Lebens und meine Privatsphäre, und trotzdem schien mir das alles klein und nichtig neben dem freudigen Gefühl, als ich diese Tanzszene sah und ihrem präzisen Rhythmus mit dem Körper folgte. Ich vergaß alles um mich herum und glaubte, mich aus meinem Körper zu erheben, mir mein Leben aus großer Entfernung anzusehen, darüber zu schweben. Ein bisschen war es so, wie manche Menschen ihre Erfahrungen mit halluzinogenen Drogen schildern. Ich sah all meine Lebensjahre auf einmal, allerdings nicht ordentlich gestapelt, Erfahrung auf Erfahrung, sodass ein tragfähiges Etwas daraus erstand – im Gegenteil. Mir wurde eine Wahrheit offenbar: dass ich immer versucht hatte, mich an das Licht anderer anzuschließen, dass ich selbst nie ein Licht in mir gehabt hatte. Ich erlebte mich als eine Art Schatten.
Als die Veranstaltung zu Ende war, lief ich durch die Stadt zurück zur Wohnung, rief Lamin an, der in einem Café in der Nähe wartete, und sagte ihm, die Luft sei rein. Auch er war gefeuert worden, doch anstatt ihn nach Hause in den Senegal zurückkehren zu lassen, hatte ich ihn hierher nach London geschleppt. Gegen elf kam er vorbei, im Kapuzenshirt, für alle Fotografen-Fälle. Die Lobby war leer. Mit der Kapuze sah er sogar noch jünger aus und noch viel schöner, und mir kam es regelrecht skandalös vor, dass ich keine echten Gefühle für ihn hegte. Hinterher lagen wir nebeneinander mit unseren Laptops im Bett, und um nicht in meine Mails zu schauen, googelte ich erst ziellos herum und dann doch mit einem Ziel: Ich suchte nach dem Ausschnitt aus Swing Time. Ich wollte ihn Lamin zeigen, war neugierig, was er davon halten würde, jetzt, wo er selbst Tänzer war, doch er meinte, er habe nie etwas von Astaire gesehen oder gehört, und als der Filmausschnitt lief, setzte er sich im Bett auf und runzelte die Stirn. Ich begriff gar nicht richtig, was wir da sahen: einen Fred Astaire mit schwarz geschminktem Gesicht. In der Royal Festival Hall hatte ich ganz oben auf der Galerie gesessen, ohne Brille, und die Szene zeigt Astaire anfangs nur in der Totalen. Das erklärte aber noch nicht, wie es mir gelungen war, dieses Kindheitsbild so komplett aus dem Gedächtnis zu verbannen: das Augenrollen, die weißen Handschuhe, das Bojangles-Grinsen. Ich kam mir ausgesprochen blöd vor, klappte den Rechner zu und legte mich schlafen. Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, ließ Lamin im Bett zurück, stürzte in die Küche und schaltete mein Handy ein. Ich hatte mit Hunderten, Tausenden von Nachrichten gerechnet. Es waren etwa dreißig. Die mehreren Hundert Nachrichten am Tag hatte mir früher Aimee geschickt, und jetzt endlich begriff ich, dass Aimee mir nie wieder auch nur eine Nachricht schicken würde. Warum ich etwas so Offensichtliches erst so spät begriff, weiß ich nicht. Ich scrollte die deprimierende Liste durch: eine entfernte Cousine, ein paar Freunde, etliche Journalisten. Eine Betreffzeile sprang mir ins Auge: HURE. Die Absenderadresse war eine unsinnige Aneinanderreihung von Zahlen und Buchstaben, und an der Mail hing ein Video, das sich nicht öffnen ließ. Der eigentliche Text war nur ein einziger Satz: Jetzt weiß endlich jeder, wer du wirklich bist. Eine Nachricht, wie man sie von einer gehässigen Siebenjährigen mit einer klaren Vorstellung von Gerechtigkeit bekommt. Und wenn man einmal ausblendet, wie viel Zeit dazwischen lag, dann war es ja auch genau das.
Wenn man sämtliche Samstage des Jahres 1982 als einen denkt, dann traf ich Tracey an diesem Samstag, morgens um zehn, als wir durch den sandigen Kies des Kirchhofs stapften, jede an der Hand ihrer Mutter. Es waren noch viele andere kleine Mädchen dort, aber aus naheliegenden Gründen, den Ähnlichkeiten wie den Unterschieden, nahmen wir Notiz voneinander, wie das bei Mädchen so ist. Wir hatten beide den identischen Braunton, als hätte man ein Stück hellbraunen Stoff durchgeschnitten, um uns beide daraus zu machen, unsere Sommersprossen sammelten sich an den gleichen Stellen, wir waren gleich groß. Doch mein Gesicht war grüblerisch und melancholisch, mit einer langen, ernsthaften Nase und Augenwinkeln, die wie die Mundwinkel nach unten zeigten. Tracey hatte ein vorwitziges, rundes Gesicht, sie sah aus wie eine dunklere Shirley Temple, nur ihre Nase war genauso problematisch wie meine, das sah ich sofort, eine lächerliche Nase – sie wies direkt nach oben, wie bei einem kleinen Schweinchen. Süß, aber auch obszön: Die Nasenlöcher wurden ständig zur Schau gestellt. Nasentechnisch konnte man also von Gleichstand sprechen. Haartechnisch gewann sie haushoch. Ihre Korkenzieherlocken reichten bis zum Po und waren zu zwei langen, von irgendeinem Öl glänzenden Zöpfen geflochten und unten mit gelben Satinschleifchen zusammengebunden. Gelbe Satinschleifchen waren meiner Mutter völlig fremd. Sie nahm meine dicke Krause hinten zu einer großen Wolke zusammen und band sie mit einem schwarzen Haargummi fest. Meine Mutter war Feministin. Sie trug einen raspelkurzen Afro, besaß einen wohlgeformten Schädel, war immer ungeschminkt und kleidete sich und mich so schlicht wie möglich. Wenn man aussieht wie Nofretete, spielen Haare keine große Rolle. Sie brauchte weder Make-up noch Kosmetik, weder Schmuck noch teure Kleider, und so fügten sich ihre finanziellen Verhältnisse, ihre politischen und ihre ästhetischen Ansichten zu einem perfekten – und günstigen – Ganzen. Accessoires schränkten ihren Stil nur ein, das galt auch – zumindest empfand ich das damals so – für die Siebenjährige mit dem Pferdegesicht an ihrer Hand. Bei Tracey diagnostizierte ich das umgekehrte Problem: Ihre Mutter war weiß, übergewichtig, aknegeplagt. Sie trug das dünne blonde Haar in einem übertrieben straffen Pferdeschwanz, den meine Mutter garantiert als »Kilburn-Lifting« bezeichnet hätte. Doch in Traceys ganz persönlichem Glanz lag die Lösung: Sie war das auffälligste Accessoire ihrer Mutter. Der Familien-Look der beiden entsprach zwar nicht dem Geschmack meiner Mutter, fesselte mich aber: Markenlogos, dünne Armreifen und Kreolen, überall Pailletten, teure Turnschuhe von der Sorte, die meine Mutter sich weigerte, als Lebensrealität anzuerkennen: »Das sind doch keine Schuhe.« Allem Anschein zum Trotz nahmen sich unsere Familien allerdings nicht viel. Wir wohnten beide in Sozialwohnungen, bezogen beide keine Leistungen (für meine Mutter eine Frage des Stolzes, für Traceys Mutter ein Skandal: Sie hatte mehrfach – und vergeblich – versucht, »auf Behindertenrente zu kommen«). Aus Sicht meiner Mutter gaben gerade die äußerlichen Ähnlichkeiten der Stilfrage so viel Gewicht. Sie kleidete sich für eine Zukunft, die noch nicht eingetreten war, mit der sie aber fest rechnete. Dazu dienten die schlichte weiße Leinenhose, das blau-weiß geringelte »französische« T-Shirt, die ausgefransten Espadrilles, ihr strenger und schöner afrikanischer Kopf – alles so schlicht, so zurückgenommen, so ganz gegen den Zeitgeist und die Umgebung. Eines Tages würden wir »hier rauskommen«, sie würde ihr Studium beenden, zum wahren radikalen Schick finden, vielleicht sogar in einem Atemzug mit Angela Davis und Gloria Steinem genannt werden … Die Schuhe mit den Flachssohlen waren Teil dieser waghalsigen Vision, verwiesen ganz dezent auf Höheres. Ich war nur insofern ein Accessoire, als ich durch meine ureigene Schlichtheit die bewundernswerte mütterliche Zurückhaltung unterstrich, denn es galt als Zeichen schlechten Geschmacks – zumindest in den Kreisen, nach denen meine Mutter strebte –, die eigene Tochter wie eine kleine Hure anzuziehen. Tracey aber war ganz ungeniert Ehrgeiz und Ebenbild ihrer Mutter, deren einzige Freude, mit diesen betörenden gelben Schleifchen, einem raschelnden Rock voller Rüschen und einem kurzen Oberteil, das ein paar Zentimeter nussbraunen Kinderbauch freilegte, und während wir uns in dem Knäuel aus Müttern und Töchtern, die alle das Nadelöhr der Kirchentür passieren wollten, dicht an die beiden drängten, beobachtete ich interessiert, wie Traceys Mutter ihre Tochter vor sich – und uns – schob, sich selbst dabei als Schranke einsetzte und uns mit wabernden Oberarmen zurückdrängte, bis sie es schließlich, die Miene voller Stolz und Sorge, in Miss Isabels Ballettstunde geschafft hatte, bereit, ihre kostbare Fracht vorübergehend in fremde Hände zu geben. Im Gegensatz dazu legte meine Mutter eine müde, halb ironische Unterwürfigkeit an den Tag, sie fand die Ballettstunden albern, hatte Besseres zu tun, und nach ein paar weiteren Samstagen – die sie hingelümmelt auf einem Plastikstuhl an der linken Wand verbracht hatte, kaum fähig, ihre Geringschätzung für den ganzen Vorgang zu verbergen – gab es eine Änderung, und mein Vater übernahm. Ich wartete darauf, dass auch Traceys Vater übernehmen würde, aber das blieb aus. Stattdessen stellte sich heraus, was meine Mutter von Anfang an vermutet hatte, dass es Traceys Vater nämlich gar nicht gab, zumindest nicht im herkömmlichen Ehepartnersinn. Auch das war ein Zeichen schlechten Geschmacks.
Jetzt möchte ich die Kirche beschreiben und Miss Isabel. Ein bescheidener Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einer Fassade aus großen sandgelben Steinen, die – obwohl das natürlich nicht sein konnte – eine gewisse Ähnlichkeit mit der billigen Verschalung der besonders heruntergekommenen Wohnblocks aufwies, und einem angemessen spitzen Kirchturm über einem schlichten, scheunenhaften Innenraum. Die Kirche hieß St.Christopher’s. Sie sah genauso aus wie die Kirchen, die wir mit den Fingern formten und dazu sangen:
Das ist die Kirche,
Der Turm lädt uns ein.
Geht die Tür auf,
Treten alle herein.
Die bunten Glasfenster erzählten die Geschichte vom heiligen Christophorus, der das Jesuskind auf den Schultern über den Fluss trug. Sie waren nicht besonders gut gemacht: Der Heilige wirkte verstümmelt, wie ein Einarmiger. Die Originalfenster waren im Krieg zerbombt worden. Gegenüber von St.Christopher’s lag eine übel beleumundete Hochhausanlage, dort wohnte Tracey. (Ich wohnte in einer hübscheren, niedrigeren Anlage eine Straße weiter.) Das Hochhaus stammte aus den Sechzigern und war an die Stelle der viktorianischen Reihenhäuser getreten, die demselben Bombenangriff wie die Kirche zum Opfer gefallen waren. Damit waren die Beziehungen zwischen den beiden Bauwerken aber auch schon erschöpft. Nachdem es der Kirche allein mit Gott nicht gelungen war, die Anwohner über die Straße zu locken, kam sie zu der pragmatischen Entscheidung, sich andere Bereiche zu erschließen: eine Krabbelgruppe, Englischkurse für Ausländer, theoretische Fahrstunden. Das alles war fest etabliert und wurde gut angenommen, doch die Ballettstunden am Samstagmorgen waren neu, und keiner wusste so recht, was davon zu halten war. Der Kurs selbst kostete zwei Pfund fünfzig, doch unter den Müttern kursierten wilde Gerüchte über den aktuellen Preis von Ballettschläppchen, eine Frau hatte etwas von drei Pfund gehört, eine andere von sieben, irgendwer wollte beschwören, man könne sie ausschließlich bei Freed in Covent Garden bekommen, wo sie einem ohne Weiteres zehn Pfund dafür abknöpften – und was war mit »Steppen« und mit »Modern«? Konnte man die Schläppchen auch für »Modern« tragen? Und was war das überhaupt, »Modern«? Es gab niemanden, den man hätte fragen können, niemanden, der da schon Erfahrung hatte, man stand auf dem Schlauch. Nur wenige Mütter ließen sich von der Neugier so weit treiben, tatsächlich die Telefonnummer auf den handgeschriebenen Flyern anzurufen, die an den umliegenden Bäumen hingen. Viele Mädchen, aus denen vielleicht gute Tänzerinnen geworden wären, schafften es gar nicht erst über die Straße, aus Angst vor einem handgeschriebenen Flyer.
Meine Mutter war eine der Wenigen: Sie ließ sich nicht von handgeschriebenen Flyern einschüchtern. Sie hatte einen unfehlbaren Instinkt für die Sitten und Gebräuche der Mittelschicht. Beispielsweise wusste sie, dass man auf Flohmärkten – trotz des wenig ansprechenden Namens – die besseren Menschen traf, samt ihren alten Penguin-Taschenbüchern, die häufig von Orwell waren, ihren alten Pillendöschen aus Porzellan, ihrem angestoßenen Steingutgeschirr aus Cornwall, ihren ausrangierten Töpferscheiben. Unsere Wohnung war voll mit solchen Sachen. Plastikblumen, auf denen künstliche Tautropfen glitzerten, und Kristallfigürchen kamen uns nicht ins Haus. Es war alles Teil des Plans. Selbst die Dinge, die ich scheußlich fand – wie die Espadrilles meiner Mutter –, wirkten in aller Regel anziehend auf genau die Leute, die wir anziehen wollten, und ich lernte, die mütterlichen Methoden nicht infrage zu stellen, sosehr ich mich auch dafür schämte. Eine Woche vor Beginn der Ballettstunden hörte ich sie in der Einbauküche mit ihrer schnöseligen Stimme reden, doch als sie aufgelegt hatte, wusste sie die Antwort auf alle Fragen: Die Ballettschläppchen kosteten fünf Pfund, wenn man sie im Einkaufszentrum nebenan besorgte anstatt in der Innenstadt, und die Steppschuhe konnten noch warten. Die Schläppchen trug man auch für Modern. Und was war Modern? Das hatte sie nicht gefragt. Die besorgte Mutter gab sie jederzeit gern, die uninformierte aber keinesfalls.
Mein Vater wurde losgeschickt, um die Schläppchen zu besorgen. Das rosa Leder war heller, als ich gehofft hatte, es sah aus wie der Bauch eines Kätzchens, die Sohle war eine schmutzig graue Katzenzunge, und von langen rosa Satinbändern, die man über Kreuz um die Knöchel schlingen konnte, war auch nichts zu sehen, nein, da war nur ein armseliges kleines Gummiband, das mein Vater eigenhändig angenäht hatte. Das verbitterte mich zutiefst. Aber vielleicht waren sie ja bewusst »schlicht«, so wie die Espadrilles, als Zeichen guten Geschmacks? An diesem Gedanken ließ sich exakt so lange festhalten, bis wir in der Kirche waren und uns bei den Plastikstühlen unsere Ballettsachen anziehen sollten, um uns dann auf der anderen Seite des Raumes an die Stange zu stellen. Fast alle hatten Schläppchen aus rosa Satin, nicht aus hellrosa Schweinchenleder wie ich, und ein paar Mädchen, von denen ich wusste, dass sie Sozialleistungen bekamen oder keinen Vater hatten oder beides, hatten Schuhe mit langen Satinbändern, über Kreuz um die Knöchel geschlungen. Tracey, die neben mir stand, den linken Fuß in der Hand ihrer Mutter, hatte sogar beides, tiefrosa Satin und überkreuzte Bänder und außerdem ein komplettes Tutu, was sonst niemand auch nur in Erwägung gezogen hatte, weil man ja auch nicht im Taucheranzug zur ersten Schwimmstunde ging. Miss Isabel ihrerseits war reizend und freundlich, aber alt, womöglich schon fünfundvierzig. Eine Enttäuschung. Mit ihrer kompakten Figur sah sie eher nach Bauersfrau aus als nach Ballerina, und sie war von Kopf bis Fuß rosa, gelb, rosa, gelb. Ihre Haare waren gelb – nicht blond, sondern gelb wie ein Kanarienvogel. Die Haut war rosa, rosa und wund, wenn ich jetzt darüber nachdenke, litt sie wahrscheinlich unter Rosazea. Ihr Trikot war rosa, die Jogginghose rosa, die Ballettjacke aus rosa Mohair – doch ihre Schläppchen waren seidig gelb, vom gleichen Farbton wie ihre Haare. Auch das verbitterte mich. Von Gelb war nie die Rede gewesen! In der Ecke neben ihr saß ein steinalter Weißer mit einem Filzhut auf dem Kopf am Klavier und spielte »Night and Day«, ein Lied, das ich liebte und voller Stolz erkannte. Die alten Lieder lernte ich von meinem Vater, dessen Vater wiederum ein eifriger Pub-Sänger gewesen war, einer dieser Männer, deren Kleinkriminalität sich zumindest teilweise auf ein nicht genutztes kreatives Potenzial zurückführen ließ – das glaubte zumindest mein Vater. Der Pianist hieß Mr Booth. Während er spielte, summte ich laut mit, in der Hoffnung, dass man mich hörte, und legte viel Vibrato in mein Summen. Ich konnte besser singen als tanzen – tanzen konnte ich eigentlich überhaupt nicht –, war aber etwas zu stolz auf diese Fähigkeit und wusste, dass meine Mutter das unausstehlich fand. Beim Singen war ich ein Naturtalent, aber weibliche Naturtalente beeindruckten meine Mutter kein bisschen. Da hätte man aus ihrer Sicht auch stolz darauf sein können, zu atmen, zu laufen oder Kinder zu gebären.
Unsere Mütter dienten uns als Stützen, als Fußhalter. Wir legten ihnen eine Hand auf die Schulter, stellten ihnen einen Fuß aufs gebeugte Knie. Mein Körper befand sich also gegenwärtig in den Händen meiner Mutter, wurde hochgezogen und niedergedrückt, festgezurrt und aufgerichtet, glatt gestrichen – doch meine Gedanken waren bei Tracey und bei den Sohlen ihrer Ballettschläppchen, auf denen ich jetzt ganz deutlich den ins Leder geprägten Schriftzug ›Freed‹ lesen konnte. Ihre Füße mit dem von Natur aus hohen Spann wölbten sich wie zwei Kolibris im Flug. Meine Füße waren platt und quadratisch, sie ackerten sich förmlich durch die Positionen. Ich kam mir vor wie ein Kleinkind, das seine Bauklötze in lauter rechten Winkeln zueinander legt. Flattern, flattern, flattern, sagte Miss Isabel, ja, sehr schön, Tracey. Lob veranlasste Tracey, den Kopf zurückzuwerfen und die kleine Schweinchennase zu blähen. Davon abgesehen war sie aber vollkommen, und ich war hingerissen. Ihre Mutter wirkte ebenso vernarrt, und ihr Engagement für die Ballettstunden erwies sich als einzig verlässlicher Bestandteil ihrer »mütterlichen Kompetenz«, wie wir das heute wohl nennen würden. Sie kam viel öfter zu den Stunden als jede andere Mutter und wandte währenddessen keinen Blick von den Füßen ihrer Tochter. Die Aufmerksamkeit meiner Mutter war immer anderswo. Sie konnte nicht einfach dasitzen und Zeit verstreichen lassen, sie musste immer irgendetwas lernen. Manchmal hatte sie zu Beginn der Stunde beispielsweise Die schwarzen Jakobiner dabei, und wenn ich danach zu ihr kam und sie bat, mir die Ballettschläppchen aus- und die Steppschuhe anzuziehen, hatte sie bereits hundert Seiten gelesen. Als später mein Vater übernahm, machte er entweder ein Nickerchen oder einen »Spaziergang«, der elterliche Euphemismus für eine Zigarette draußen vor der Kirche.
Zu diesem frühen Zeitpunkt waren Tracey und ich weder befreundet noch verfeindet, kannten uns nicht einmal näher: Wir sprachen kaum ein Wort miteinander. Trotzdem war da immer ein gegenseitiges Wahrnehmen, ein unsichtbares Band zwischen uns, das uns zusammenhielt und daran hinderte, engere Beziehungen zu anderen zu knüpfen. Streng genommen redete ich viel mehr mit Lily Bingham, mit der ich zur Schule ging, und Traceys Ausweichlösung war die arme Danika Babič mit der kaputten Strumpfhose und dem schweren Akzent, die auf Traceys Etage wohnte. Doch obwohl wir während der Stunde mit diesen beiden weißen Mädchen kicherten und herumalberten, die mit Fug und Recht davon ausgehen konnten, dass wir ganz auf sie konzentriert waren und es uns nur um sie ging – dass wir ihnen tatsächlich die guten Freundinnen waren, als die wir uns ausgaben –, stellten Tracey und ich uns jedes Mal, wenn Pause war und es Saft und Kekse gab, nebeneinander in die Schlange, es war ein fast unbewusster Ablauf, zwei Eisenspäne, die vom selben Magneten angezogen wurden.
Tracey, stellte sich heraus, war ebenso neugierig auf meine Familie wie ich auf ihre und behauptete mit einiger Überzeugung, bei uns sei es »falsch rum«. Ich hörte mir ihre Theorie eines Tages in der Pause an, während ich beklommen meinen Keks in den Orangensaft tunkte. »Bei allen anderen ist es der Vater«, erklärte sie, und ich konnte nichts darauf erwidern, weil ich wusste, dass das im Großen und Ganzen stimmte. »Wenn der Vater weiß ist, dann heißt das …«, fuhr Tracey fort, doch in dem Moment kam Lily Bingham und stellte sich neben uns, und ich sollte nie erfahren, was es hieß, wenn der Vater weiß war. Lily war schlaksig und einen halben Kopf größer als alle anderen. Sie hatte lange, völlig glatte blonde Haare, rote Wangen und ein fröhliches, offenes Wesen, das sowohl Tracey als auch ich direkt auf die Exeter Road 29 zurückführten, ein Einfamilienhaus, in dem ich vor Kurzem zu Besuch gewesen war. Hinterher hatte ich Tracey, die es nicht von innen kannte, aufgeregt von dem Garten berichtet, dem riesigen Marmeladenglas voller »Notgroschen« und der Swatch-Uhr von der Größe eines ausgewachsenen Mannes, die in Lilys Zimmer an der Wand hing. Folglich gab es Dinge, über die man vor Lily Bingham nicht reden konnte, und deshalb klappte Tracey jetzt den Mund zu, reckte die Nase in die Luft und ging zu ihrer Mutter, um sich ihre Ballettschläppchen anziehen zu lassen.
Was wollen wir als Kind von unserer Mutter? Die völlige Unterwerfung.
Oh, natürlich ist es ganz wunderbar, vernünftig und anständig zu behaupten, dass jede Frau ein Recht auf ihr eigenes Leben hat, auf ihre Ziele, ihre Wünsche und all das – schließlich habe ich das selbst immer für mich eingefordert –, aber als Kind, nein, da ist es in Wahrheit ein reiner Zermürbungskrieg, da spielt Vernunft überhaupt keine Rolle, nicht die geringste, das Kind will von der Mutter nur das endgültige Eingeständnis, dass sie seine Mutter ist, nichts als seine Mutter, und dass der Kampf mit dem restlichen Leben hinter ihr liegt. Sie muss die Waffen strecken und sich dem Kind ergeben. Tut sie das nicht, dann herrscht wirklich Krieg, und ein solcher Krieg tobte zwischen meiner Mutter und mir. Erst als Erwachsene, vor allem in den letzten, schmerzerfüllten Jahren ihres Lebens, schaffte ich es, sie ehrlich dafür zu bewundern, was sie alles tat, um der Welt ein klein wenig Raum für sich abzuringen. Als ich klein war, verwirrte und verletzte mich ihre Weigerung, sich mir zu unterwerfen, nur umso mehr, als aus meiner Sicht keiner der gängigen Gründe für eine solche Weigerung vorlag. Ich war ihr einziges Kind, sie arbeitete damals noch nicht und hatte kaum Kontakt zum Rest ihrer Familie. Aus meiner Sicht hatte sie also eine Unmenge Zeit. Und trotzdem bekam ich keine völlige Unterwerfung von ihr! Mein frühester Eindruck war der einer Frau, die ihre Flucht plant, vor mir, ja, sogar vor der Mutterrolle insgesamt. Mein Vater tat mir leid. Er war noch einigermaßen jung, er liebte sie, er wollte weitere Kinder – darüber stritten sie sich täglich –, doch in dieser Frage war meine Mutter, wie auch in allen anderen Dingen, nicht umzustimmen. Ihre Mutter hatte sieben Kinder geboren, ihre Großmutter elf. Dahin wollte sie auf keinen Fall zurück. Sie glaubte, mein Vater wolle noch mehr Kinder, um sie einzusperren, und damit hatte sie grundsätzlich auch recht, obwohl Einsperren in diesem Fall nur ein anderes Wort für Liebe war. Wie sehr er sie liebte! Mehr, als sie ahnte oder auch nur ahnen wollte, sie lebte ganz in ihrer eigenen Traumwelt, ging immer davon aus, dass sich alle in ihrem Umfeld jederzeit genauso fühlten wie sie. Und als sie anfing, erst langsam und dann immer schneller über meinen Vater hinauszuwachsen, auf intellektueller wie persönlicher Ebene, da ging sie ganz selbstverständlich davon aus, dass er zeitgleich mit ihr denselben Prozess durchlief. Aber er machte so weiter wie bisher. Er kümmerte sich um mich, liebte sie, versuchte, mit ihr Schritt zu halten, las langsam und gewissenhaft, wie es seine Art war, das Kommunistische Manifest. »Manche Menschen haben immer die Bibel bei sich«, erklärte er mir stolz. »Das hier ist meine Bibel.« Das klang eindrucksvoll – es sollte vor allem meine Mutter beeindrucken –, mir war aber bereits aufgefallen, dass er immer nur dieses eine Buch las und sonst nichts, er hatte es bei jeder Ballettstunde dabei und kam doch nie über die ersten zwanzig Seiten hinaus. Im Kontext ihrer Ehe war das eine romantische Geste: Sie waren sich auf einer Versammlung der Socialist Workers Party in Dollis Hill begegnet – doch schon das war in gewisser Weise ein Missverständnis, denn mein Vater war dort, um nette, linksradikale Mädchen mit kurzen Röcken und keinerlei religiöser Überzeugung kennenzulernen, während es meiner Mutter wirklich um Karl Marx ging. In der stetig wachsenden Lücke zwischen ihnen spielte sich meine Kindheit ab. Ich sah zu, wie meine Mutter, die Autodidaktin, meinen Vater rasch und mühelos überrundete. Die Bücherregale bei uns im Wohnzimmer – die er gebaut hatte – füllten sich mit gebraucht gekauften Büchern, mit Lehrbüchern der Fernuni, mit politischen und historischen Werken, Werken zu Rassenfragen, Werken zur Geschlechterdifferenz. »Die ganzen Ismen«, meinte mein Vater immer, wenn Nachbarn vorbeikamen und die sonderbare Sammlung begutachteten.
Am Samstag hatte sie ›frei‹. Wovon? Von uns. Sie widmete sich ihren Ismen. Wenn mein Vater mit mir von der Ballettstunde kam, mussten wir irgendwie weitermachen, uns eine Beschäftigung suchen, die uns von der Wohnung fernhielt, bis es Zeit zum Abendessen war. Es wurde unser Ritual, mit einer Reihe von Bussen nach Süden zu fahren, weit südlich vom Fluss, wo Onkel Lambert wohnte, der Bruder meiner Mutter und Vertraute meines Vaters. Von den Geschwistern meiner Mutter war er der Älteste und der Einzige aus ihrer Familie, den ich je zu Gesicht bekam. Damals, auf der Insel, nachdem seine Mutter nach England gegangen war, um als Putzfrau in einem Seniorenheim zu arbeiten, hatte er meine Mutter und die anderen Geschwister großgezogen. Er wusste, was mein Vater durchmachte.
»Ich mache einen Schritt auf sie zu«, hörte ich meinen Vater eines Tages im Hochsommer klagen, »und sie macht einen zurück!«
»Da kannste nix machen. So war sie schon immer.«
Ich stand im Garten, zwischen den Tomatenpflanzen. Im Grunde war es ein reiner Nutzgarten, nichts spross zur Zierde oder zum bloßen Bewundertwerden, alles war zum Essen da und wuchs, an Bambusstäbe gebunden, in langen, ordentlichen Reihen. Ganz hinten stand ein Klohäuschen, das einzige, das ich jemals in England gesehen habe. Onkel Lambert und mein Vater saßen in Liegestühlen vor der Hintertür und rauchten Marihuana. Sie waren alte Freunde – auf dem Hochzeitsfoto meiner Eltern ist außer ihnen nur noch Lambert zu sehen – und Arbeitskollegen: Lambert war Postbote, mein Vater Zustellbeamter bei der Royal Mail. Sie hatten den gleichen trockenen Humor und den gleichen Mangel an Ehrgeiz, in beiden Fällen sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Und während sie rauchten und über all die Dinge klagten, die mit meiner Mutter nicht zu machen waren, fuhr ich mit den Armen in die Tomatenranken, ließ sie sich um meine Handgelenke kringeln. Die meisten von Lamberts Pflanzen wirkten bedrohlich auf mich, sie waren doppelt so groß wie ich, und alles, was er pflanzte, wucherte wie wild: ein wahres Dickicht aus Weinreben, hohem Gras und obszön großen, kalebassenhaften Flaschenkürbissen. Im Süden von London ist die Bodenqualität besser – bei uns im Norden gibt es zu viel Lehm –, doch das wusste ich damals noch nicht, und meine Vorstellungen waren recht verworren: Wenn ich bei Lambert war, glaubte ich, auf Jamaika zu sein, für mich war Lamberts Garten Jamaika, er roch nach Jamaika, man kriegte dort Kokoseis, und bis heute ist es in meiner Erinnerung immer heiß dort, und ich bin durstig und habe Angst vor Insekten. Es war ein langer, schmaler Garten mit Südlage, das Klohäuschen schloss rechts mit dem Zaun ab, und man konnte zusehen, wie die Sonne dahinter versank und im Untergehen die Luft zum Flimmern brachte. Ich musste dringend auf die Toilette, hatte aber beschlossen, einzuhalten, bis wir wieder in Nordlondon waren – das Klohäuschen machte mir Angst. Es hatte einen Holzboden, und zwischen den Bohlen wuchs alles Mögliche, Grashalme, Disteln und Pusteblumen, die einem die Knie bestäubten, wenn man auf den Sitz kletterte. Spinnweben verbanden die Ecken miteinander. Es war ein Garten voller Überfluss und Verfall: Die Tomaten waren überreif, das Marihuana zu stark, und überall versteckten sich Kellerasseln. Lambert lebte allein dort, und mir kam es vor, als läge der ganze Ort im Sterben. Schon damals fand ich es merkwürdig, dass mein Vater mehr als zwölf Kilometer zurücklegte, um bei Lambert Trost zu suchen, wo Lambert doch den Verlust, den mein Vater so fürchtete, offenbar längst erlitten hatte.
Ich hatte genug davon, zwischen den Gemüsereihen herumzulaufen, ging langsam durch den Garten zurück und sah mir an, wie die beiden Männer ihre Joints notdürftig in der Faust verbargen.
»Ist dir langweilig?«, fragte Lambert. Ich bekannte mich schuldig.
»Früher hat’s hier von euch Kurzen gewimmelt«, sagte Lambert. »Aber die Kinder haben jetzt selber alle Kinder.«
Mir stand das Bild von Kindern in meinem Alter vor Augen, die Babys auf dem Arm hielten: ein Schicksal, das ich mit Südlondon verband. Ich wusste, dass meine Mutter von zu Hause fortgegangen war, um genau dem zu entkommen, damit ihre Tochter einmal nicht als Kind mit Kind endete, denn ihre Tochter sollte nicht einfach nur über die Runden kommen, wie meine Mutter es getan hatte – sie sollte wachsen und gedeihen und möglichst viele unnötige Fähigkeiten erwerben, Steppen beispielsweise. Mein Vater streckte mir die Arme entgegen, und ich kletterte auf seinen Schoß, legte die Hand auf seine beginnende Glatze und spürte die dünnen, feuchten Haarsträhnen, die er immer darüberkämmte.
»Scheu ist sie, was? Du musst doch bei deinem Onkel Lambert nicht scheu sein!«
Lamberts Augen waren von roten Äderchen durchzogen, und er hatte Sommersprossen wie ich, doch seine standen hervor; er hatte ein rundes, freundliches Gesicht und hellbraune Augen, die angeblich für chinesisches Blut im Familienstammbaum sprachen. Trotzdem schüchterte er mich ein. Meine Mutter, die Lambert, außer an Weihnachten, selbst nie besuchte, beharrte merkwürdigerweise sehr darauf, dass mein Vater und ich es taten, wenn auch mit der ewigen Einschränkung, wir sollten wachsam bleiben, uns nicht »wieder reinziehen« lassen. In was? Ich kringelte mich um meinen Vater herum, bis ich hinter ihm war und die Haare sah, die er sich am Nacken lang stehen ließ und entschlossen verteidigte. Obwohl er erst Mitte dreißig war, kannte ich ihn nicht mit vollem Haar, hatte ihn nie blond erlebt und würde ihn auch nie grau erleben. Ich kannte nur dieses künstliche Nussbraun, das einem an den Fingern kleben blieb, wenn man daran fasste, und dessen wahre Quelle ich längst ausgemacht hatte: eine runde, flache Blechdose, die immer offen auf dem Rand der Badewanne stand, darin ein Ring aus öligem Braun mit einer kahlen Stelle in der Mitte, so wie bei meinem Vater.
»Sie braucht Gesellschaft«, grämte er sich. »Bücher bringen doch nichts. Filme bringen nichts. Das ist alles kein Ersatz.«
»Bei der Frau kannste nix machen. Das hab ich schon gewusst, als sie noch klein war. Die hat einen eisernen Willen.«
Das stimmte. Bei ihr war nichts zu machen. Als wir nach Hause kamen, schaute sie gerade eine Vorlesung der Fernuni, Block und Bleistift auf dem Schoß, schön und heiter, zusammengerollt auf dem Sofa, die nackten Füße an den Po gezogen, doch als sie sich zu uns umdrehte, sah ich, dass sie verärgert war, wir waren zu früh zurückgekommen, sie brauchte noch mehr Zeit, mehr Frieden, mehr Ruhe zum Studieren. Wir waren die Vandalen im Tempel. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaft. Warum, wussten wir nicht.
Fred Astaire repräsentiert die Aristokratie, und ich bin das Proletariat: So sagte es Gene Kelly, und nach dieser Logik hätte eigentlich Bill ›Bojangles‹ Robinson mein Lieblingstänzer sein müssen, denn Bojangles tanzte für den Harlem-Dandy, für die Ghetto-Jugend, für den Sharecropper – für alle, die von Sklaven abstammten. Doch für mich war ein Tänzer ein Mensch, der nirgendwo herkam, der keine Eltern und Geschwister hatte, keine Nation und kein Volk, keinerlei Verpflichtungen, genau diese Eigenschaft war es, die mir so gefiel. Alles andere, die ganzen Einzelheiten, verschwanden dahinter. Die alberne Handlung der Filme war mir egal: die opernhaften Auftritte und Abgänge, die schicksalhaften Wenden, die hanebüchen zauberhaften Begegnungen und Zufälle, die Minstrel-Sänger, Zimmermädchen und Diener. Für mich führte das alles immer nur zur nächsten Tanzszene. Die Handlung war der Preis, den man für den Rhythmus zahlte. Pardon me, boy? Is that the Chattanooga choo choo? Jede Silbe fand ihre Entsprechung in einer Bewegung der Beine, des Bauchs, des Pos, der Füße. In der Ballettstunde dagegen tanzten wir zu Klassikaufnahmen – »weißer Musik«, wie Tracey es sehr direkt formulierte –, die Miss Isabel vom Radio auf verschiedene Kassetten überspielte. Für mich war das kaum als Musik erkennbar, ich nahm kein Zeitmaß darin wahr, und obwohl Miss Isabel uns zu helfen versuchte und jeden Takt laut für uns auszählte, schaffte ich es doch nie, diese Zahlen mit dem Meer aus Melodien zusammenzubringen, das die Geigen oder die donnernd einsetzenden Blechbläser über mich hinwegrauschen ließen. Dabei wusste ich aber immer noch mehr als Tracey: Mir war klar, dass mit ihren strengen Kategorien – schwarze Musik, weiße Musik – etwas nicht stimmen konnte, dass es irgendwo eine Welt geben musste, in der beide zusammenkamen. In Filmen und auf Fotos sah ich weiße Männer am Klavier sitzen, während eine schwarze Frau neben ihnen stand und sang. Ach, ich wollte so sehr wie diese Frauen sein!
Um Viertel nach elf, gleich nach der Ballettstunde, wenn wir unsere erste Pause hatten, kam Mr Booth mit einer großen schwarzen Tasche in der Hand herein, wie sie früher Landärzte verwendeten, und in dieser Tasche steckten die Noten fürs Steppen. Wenn ich Zeit hatte – sprich: wenn ich es schaffte, mich von Tracey loszueisen –, lief ich zu ihm hinüber, folgte ihm, während er langsam auf das Klavier zuhielt, stellte mich dann so hin wie die Frauen, die ich vom Fernsehbildschirm kannte, und bat ihn, »All of You« zu spielen, »Autumn in New York« oder »42nd Street«. Im Steppunterricht musste er immer und immer wieder dieselben sechs Songs spielen, und ich musste dazu tanzen, doch vor der Stunde, während alle anderen im Saal mit Reden, Essen und Trinken beschäftigt waren, hatten wir Zeit für uns, und ich überredete ihn, ein Lied mit mir zusammen durchzugehen, während ich dazu sang, leiser als das Klavier, wenn meine Scheu zu groß war, etwas lauter, wenn nicht. Manchmal kamen die Eltern, die draußen vor der Kirche unter den Kirschbäumen rauchten, wieder herein, wenn ich sang, und hörten mir zu, und die Mädchen, die sich auf ihre nächste Ballettstunde vorbereiteten, Strumpfhosen anzogen und Bänder schnürten, drehten sich zu mir um. Nach und nach merkte ich, dass meine Stimme, wenn ich sie nicht gerade absichtlich in den Klängen des Klaviers versinken ließ, eine Art Charisma besaß, etwas, das die Menschen anzog. Es war keine technische Begabung: Mein Stimmumfang war gering. Es ging ums Gefühl. Ich konnte alles, was ich empfand, sehr klar ausdrücken, es ›rüberbringen‹. Traurige Lieder wurden bei mir noch viel trauriger, fröhliche Lieder noch freudiger. Als unsere ›Examensauftritte‹ anstanden, lernte ich, meine Stimme zur Ablenkung einzusetzen, so wie manche Zauberer einen dazu bringen, auf ihren Mund zu sehen, wenn man ihnen doch eigentlich auf die Hände schauen sollte. Nur Tracey konnte ich nicht täuschen. Als ich von der Bühne kam, sah ich sie in der Kulisse stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Nase in die Luft gereckt. Obwohl sie immer alle ausstach und die Korkpinnwand in der Küche ihrer Mutter bereits unter Goldmedaillen ächzte, war sie doch nie zufrieden, sie wollte auch in ›meiner‹ Kategorie, Musical, Gold gewinnen, dabei traf sie kaum einen Ton. Es war schwer zu begreifen. Ich dachte nämlich eigentlich, dass mir nichts mehr zu wünschen übrig bliebe, wenn ich nur so tanzen könnte wie Tracey. Manche Mädchen hatten Rhythmus in den Gliedern, andere hatten ihn in den Hüften oder in ihrem kleinen Popo, aber sie hatte ihn in jedem einzelnen Gelenk, wahrscheinlich sogar in jeder einzelnen Zelle. Alle ihre Bewegungen waren so klar und präzise, wie ein Kind es sich nur erhoffen konnte, ihr Körper passte sich jeder Taktart an, so kompliziert sie auch sein mochte. Gut, vielleicht konnte man ihr vorwerfen, dass sie manchmal fast zu präzise war und nicht sonderlich kreativ, dass es ihr an Seele fehlte. Aber kein klar denkender Mensch konnte etwas an ihrer Technik aussetzen. Ich hatte – und habe – gewaltigen Respekt vor Traceys Technik. Sie wusste immer für alles genau den richtigen Zeitpunkt.
Ein Sonntag im Spätsommer. Ich stand auf dem Balkon und sah ein paar Mädchen aus unserem Stockwerk beim Seilspringen zu, unten bei den Mülltonnen. Auf einmal hörte ich meine Mutter rufen. Ich schaute hinüber und sah, wie sie, Arm in Arm mit Miss Isabel, den Hof unseres Wohnblocks betrat. Ich winkte, sie warf einen Blick zu mir hoch, lächelte und rief: »Bleib, wo du bist!« Ich hatte meine Mutter und Miss Isabel noch nie außerhalb der Ballettstunden zusammen gesehen, und selbst von hier oben erkannte ich, dass Miss Isabel nicht ganz freiwillig mitging. Gern hätte ich mich mit meinem Vater beraten, der im Wohnzimmer eine Wand strich, doch ich wusste, dass meine Mutter, so reizend sie auch zu Fremden sein konnte, bei ihren Angehörigen einen kurzen Geduldsfaden hatte und es ihr mit dem »Bleib, wo du bist!« sehr ernst gewesen war. Also schaute ich zu, wie das seltsame Paar den Hof überquerte, im Treppenhaus verschwand, als Gemisch aus Rosa, Gelb und Mahagonibraun von der Glasfassade zurückgeworfen wurde. Die Mädchen bei den Mülltonnen schwangen ihr Seil derweil in die andere Richtung, eine neue Springerin wagte sich mutig in den wild klatschenden Bogen und stimmte einen neuen Reim an, den vom Teddybär, der sich krumm machen soll.
Schließlich war meine Mutter bei mir, musterte mich – sie hatte eine verschmitzte Miene aufgesetzt –, und der erste Satz, den sie an mich richtete, lautete: »Zieh die Schuhe aus.«
»Aber das müssen wir doch wirklich nicht jetzt gleich machen«, murmelte Miss Isabel, aber meine Mutter entgegnete: »Je früher wir es wissen, desto besser« und verschwand wieder in der Wohnung, um kurz darauf mit einer großen Packung Mehl zurückzukehren, das sie auf dem Balkon verstreute, bis dort ein dünner weißer Teppich lag, wie nach dem ersten Schnee. Ich sollte barfuß darüberlaufen. Ich musste an Tracey denken. Ob Miss Isabel nacheinander jedes einzelne Mädchen besuchte? Was für eine ungeheure Mehlverschwendung! Miss Isabel ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Meine Mutter lehnte am Balkongitter, die Ellbogen darauf gestützt, und rauchte eine Zigarette. Sie hielt den perfekten Abstand zum Balkongitter, die Zigarette in perfektem Abstand zu ihren Lippen, und sie trug eine Baskenmütze, als wäre es das Normalste von der Welt, eine Baskenmütze zu tragen. Auch zu mir hielt sie Abstand, ironischen Abstand. Ich war am anderen Ende des Balkons angekommen und drehte mich zu meinen Fußabdrücken um.
»Na, da haben wir’s doch«, sagte Miss Isabel. Und was hatten wir? Plattfüße. Meine Ballettlehrerin streifte einen Schuh ab und hinterließ zum Vergleich ihren Fußabdruck: Bei ihr sah man nur Zehen, Ballen und Ferse, bei