Es muss möglich sein,
die Realität als die geschichtliche Fiktion,
die sie ist, auch darzustellen.
Alexander Kluge
Vier Weltkriegsjahre, dargestellt in Form einer Chronik. Sie kreist um die kriegerischen und politischen Ereignisse, die heute von der Geschichtsschreibung hervorgehoben werden. In ihrer Ausgestaltung orientiert sich die Verborgene Chronik 1915–1918 aber vor allem an den festgehaltenen persönlichen Erfahrungen damals Lebender. Denn zugrunde liegen ihr rund zweihundert bislang völlig unbekannte, samt und sonders unveröffentlichte, private Tagebücher aus dieser Zeit, handschriftliche Aufzeichnungen, die unbeachtet ein Jahrhundert überdauerten.
Wer sich diese Lektüre vornimmt und sich in dieses Material vergräbt, der mag – so ging es uns zumindest – feststellen, dass dieser Stoff jeden vorstellbaren Rahmen zu sprengen droht. Es ist ein Erzählfluss ohne Ufer.
Die verschiedenartigen Lebenssituationen und Sichtweisen, die teils von Propaganda beeinflussten Reflexionen, die zivilen und militärischen Alltagsschilderungen, kurzum die Selbstzeugnisse Einzelner in ihrer Fülle, wie können sie in eine Form gebracht werden, die den spezifischen und individuellen Stoffen angemessen ist? In einem »kollektiven Tagebuch«? Ein nicht ganz unproblematischer Begriff, wie wir finden. Er suggeriert die lebendige Beteiligung vieler an einem gemeinsamen Werk. Doch tatsächlich basiert diese Publikation auf individuellen Hinterlassenschaften, auf Nachlässen von Tagebuchautorinnen und -autoren, die ihre Niederschriften nicht als Beiträge für eine hundert Jahre später erscheinende Textmontage abfassten. Aus diesen subjektiven Quellen, genauer aus einem Bruchteil des gesamten Materials, schöpfen und destillieren wir – dialogisch arbeitend, aber auch wiederum subjektiv – eine vielstimmige Chronik globalen Kriegsgeschehens, das ein ganzes Jahrhundert prägte und in seiner Wirkung bis in die unmittelbare Gegenwart reicht.
Mit dem 1. August 1914 begann das Zeitalter der Massenvernichtung, wobei es bis heute keinen Konsens über die Opferzahlen des Ersten Weltkrieges gibt. Während des Krieges verschleierten die Staaten eigene Verluste und potenzierten die feindlichen. Aber noch in der jüngsten Vergangenheit lassen sich trotz der historischen Distanz bei Angaben zu größeren Schlachten mitunter mystisch überhöhte Zahlen zu Toten und Verwundeten finden. Nachweise zu Verlusten unter den Zivilisten einzelner Länder stellen ein Problem dar, Angaben zu den in Gefangenschaft und Deportation gestorbenen Soldaten sind unsicher, und zudem ist die Frage nicht geklärt, ob die Opfer der Grippeepidemie von 1918 zu den Kriegsverlusten gezählt werden sollen.
»Die erste Explosion« nannte Hannah Arendt einmal den Ersten Weltkrieg, und sie verglich diese mit dem »Starter einer Kettenreaktion, die bis heute nicht zum Halten gebracht werden konnte«. Gegenüber der traditionellen Historiografie mit der Besichtigung der Ereignisse »von oben« entwickelte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein neuer, zusätzlicher Ansatz, dieses Zeitalter der Massen und der Massenvernichtung stärker aus den Perspektiven derer zu zeigen, die Geschichte erlebten und erlitten. Biografien im Kontext der Geschichte und der Literatur: »Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht«, bemerkte der Autor und Filmemacher Alexander Kluge: »Alle Lebensläufe gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift.«
In der 2014 erschienenen Verborgenen Chronik 1914 veröffentlichten wir Aufzeichnungen zur Mobilmachung, zu den ersten Kampfwochen im Sommer und Herbst sowie zum Beginn des Stellungskrieges gegen Jahresende, gestützt auf die Notizen von 37 Tagebuchautorinnen und -autoren.
Die vorliegende Verborgene Chronik 1915–1918 breitet eine Erzählung aus, die sich in ihrem Zeitraum aus tagtäglichen, insgesamt 1519 Einträgen von 111 Verfasserinnen und Verfassern zusammensetzt. Diese skizzieren die politischen Stimmungen, zeigen Nationalismus, Chauvinismus, Verrohung und Antisemitismus, sie dokumentieren die sich verschlechternde Versorgungslage in Deutschland und den Arbeitsalltag der Frauen in der Rüstungsindustrie. Sie berichten aus Einzelperspektiven vom Frontgeschehen, von der Narew-Offensive im Juli und August 1915, mit der die Russen über die lettische Düna aus Polen vertrieben werden, von der Herbstschlacht in der Champagne, in der die deutschen Feuerstellungen beispiellosem französischen Trommelfeuer ausgesetzt sind, von der im Februar 1916 bejubelten, aber dann bald festgefahrenen deutschen Offensive bei Verdun und von der Schlacht an der Somme in der zweiten Jahreshälfte mit letzten, wenige Tage vor dem Tod verfassten Notizen eines Oberleutnants; sie beschreiben das Unternehmen Alberich mit den massenhaften Deportationen französischer Zivilisten und der planmäßigen Zerstörung einer ganzen Region, die im Februar 1917 den deutschen Rückzug in die Siegfriedstellung einleiten; sie schildern die im April und Mai folgenden erfolglosen französischen Offensiven in der Champagne und am Chemin des Dames; sie skizzieren die von Oktober bis Dezember im hochalpinen Karstgelände ausgetragene Isonzo-Schlacht und den euphorisch begrüßten, für den Kriegsverlauf aber unwichtigen Durchbruch der Mittelmächte in Friaul und Venetien bis zum Piave. Andere Tagebuchaufzeichnungen halten Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft in Japan, in Deutsch-Südwestafrika, in Deutsch-Ostafrika, in Frankreich, Schottland und England fest. Über die Wirren der Russischen Revolution berichten deutsche Gefangene aus Sibirien und der heutigen Ostukraine. Würde der Krieg nun ein Ende nehmen? Friedenshoffnung kommt auf, aber auch die Sehnsucht nach einem starken Führer. Hungerdemonstrationen und bäuerlicher Widerstand gegen staatliche Kontrollen und Verordnungen zeugen von den immer dramatischer werdenden Lebensverhältnissen. Dass nicht einmal mehr ein Jahr vergehen würde bis zu der militärischen Niederlage und dem Umsturz in Deutschland, dies ist für die Autorinnen und Autoren der Tagebücher Ende 1917 nicht abzusehen. Doch schon kurz nach dem Jahreswechsel zeugen Notizen zu Munitionsarbeiterstreiks und Unruhen in Berlin oder Jena von der endlichen Geduld einer Not leidenden Bevölkerung. Die an verschiedenen Frontabschnitten in Frankreich und Belgien mehrfach ansetzende deutsche Frühjahrsoffensive kann nur für wenige Wochen Siegeshoffnungen wecken, da sie nicht über die Rückeroberung des ein Jahr zuvor aufgegebenen Gebietes hinauskommt. Nach der über hundert Tage anhaltenden, erfolgreichen Gegenoffensive der Alliierten und angesichts der generell katastrophalen Versorgungslage schlagen sich ab dem Sommer 1918 in den Tagebüchern immer deutlicher Stimmungen der Verzweiflung, der Angst und der Empörung nieder. Die allgemein wachsende Erkenntnis, dass der Krieg nicht gewonnen werden könne, geht häufig einher mit reflexhaften, unzulänglichen Schuldzuweisungen, Fehlschlüssen, die schließlich die Propaganda künftiger Vernichtungsfeldzüge und Massenmorde vorbereiten. Für die Darstellung dieses Kriegsjahres, an dessen Ausgang der Zusammenbruch des Deutschen Reichs und die Novemberrevolution stehen, entdeckte Wolfgang Hörner eine besondere zusätzliche Quelle: die Tagebuchaufzeichnungen eines ranghohen Offiziers, der u.a. als Armeenachrichtenkommandeur an der Westfront Zugang zu geheimen Informationen der deutschen Militärführung hatte und der sich dennoch – oder gerade deswegen – von der Kapitulation und den revolutionären Entwicklungen, die vom Kieler Matrosenaufstand ausgingen und als Rätebewegung bald das ganze Reich erfassten, überrumpelt zeigte.
Lisbeth Exner, Herbert Kapfer
Nie war eine riesenhaftere Winzigkeit das Format der Welt.
Die Tat hat nur das Ausmaß des Berichts,
der mit nachkeuchender Deutlichkeit sie zu erreichen sucht.
Karl Kraus, 1915
FREITAG, 1. JANUAR. Die Sonne leuchtet über dem leicht gefrorenen Boden. Ich fahre nach Selens, wie ein kleines deutsches Dorf schmiegt sich der Flecken mit seiner langen Dorfstraße in das enge Tal. Die Kirche reicht gerade für die Mannschaften aus. Die Sonne blinkt und blitzt auf dem Gold der Marienfiguren, auf dem Boden leuchten rote Flecken von den Kirchenfenstern her. Das war der Ton, der durch meine Ansprache hindurchklang: Viel Schweres liegt hinter uns, aber das Neue, Unbekannte schreckt uns nicht. Die Erfolge von 14 geben uns die Zuversicht für einen baldigen Sieg. Wir leben hier alle von der Zukunft. Was unsere Operationen hier aufhält, ist der milde, nasse Winter. Auch haben wir ganz wenig Munition! Aber mit dem Frühjahr wird es wohl dem Ende zugehen, auf das alle lauern. Jeder will durchhalten bis aufs Letzte und fragt deshalb nicht nach sich. Aber der Landmann denkt an seine bestellten Felder, der Kaufmann an sein Frühjahrsgeschäft und alle an ihre Frauen. Ostern, spätestens Pfingsten werden wir daheim sein. Dieses stete Nur-Mann-zu-Mann-sein-Dürfen ist manchmal schwer. Man weiß ja, man hat noch etwas anderes in sich, das auch leben will, aber wann darf man darüber sprechen? Wir fühlen es wohl einer am anderen ab: Nun denkt er an daheim und wünscht sich Frauenarme um seinen Hals, aber es kommt doch niemals zu einem anderen Ausdruck als: Die daheim haben es schwer, und manch einer, der recht forsch sein will, macht dann eine rohe Bemerkung.
SAMSTAG, 2. JANUAR. Auf den beiden Kriegsfronten geht es überall langsam vorwärts, der entsetzliche Schmutz, der herrscht, und der fortwährende Regen erschweren das Vorwärtskommen sehr. In Polen stehen unsere Truppen kurz vor Warschau. Im Westen wird jetzt etwas mehr als bisher gekämpft. Zu Weihnachten wollten die Franzosen unsere Reihen durchbrechen, es ist ihnen aber nicht gelungen, im Gegenteil, wir gehen immer stückweise vorwärts. Die Zukunft liegt so dunkel vor uns, doch an Vertrauen und Mut fehlt es nicht.
SONNTAG, 3. JANUAR. Einen schweren Schlag erlitt ich gestern durch die Nachricht, dass die Pension, die mir zusteht, nur 800 M beträgt und nicht 1600, wie mir mein Lieb bei seinem letzten Hiersein sagte. So bin ich nun auf einen Erwerb angewiesen, um mich und die Kinder durchzubringen.
MONTAG, 4. JANUAR. Heftig anhaltender Regen. Geben den Infanteristen Brot und Schmalz, da diese nichts haben.
DIENSTAG, 5. JANUAR. Es liegt eine ganz dünne Schneeschicht, sodass es auf den Feldern weiß ist. Stets bedeckter Himmel, wenig Wind. Möge es in Russland bei unseren Lieben auch so sein. Der liebe Gott stehe uns bei und gebe einen milden Winter auch dort. Für Frankreich würde es umgekehrt besser sein, damit die Schwarzen und die Lumpen Inder erfrieren.
MITTWOCH, 6. JANUAR. Nördlich Arras 300 m Schützengraben genommen. Hochwasser überall im besetzten Gebiet. Das regnerische Wetter wirkt sehr deprimierend auf die Etappenstellen, besonders das in aufreibenden Diensten stehende Bahnpersonal.
DONNERSTAG, 7. JANUAR. Tag und Nacht im Schützengraben. Wir suchen Unterkunft in den verlassenen Häusern. Im Gebirge vor uns französische Esel-Batterien, beschießen das Dorf. Schwerer Artilleriekampf. Sennheim und Uffholtz brennen.
FREITAG, 8. JANUAR. Leuchtraketen werden von beiden Seiten abgeschossen und erhellen das Gelände taghell. Schön machen sich die französischen, dieselben sind mit einem Fallschirm versehen und halten sich bis zum Verlöschen in der Luft, haben aber den Nachteil, dass sie nicht sofort beim Abschießen leuchten. Links von uns ist schwerer Geschützkampf, vermischt mit Gewehr- und Maschinengewehrfeuer. Auch wir werden stark unter Feuer genommen.
SAMSTAG, 9. JANUAR. In der Schule sind hundert Zivilgefangene untergebracht. Den armen Kerls geht es schlimm, sie haben direkt eine preußische Rekrutenzeit mitzumachen: nachts revidiert Antreten im Hof, morgens Üben im Bettenbau, mittags großes Reinemachen, Umstellen der Betten, heute in die Ecke, morgen in die andere, alles unter Aufsicht des Oberleutnants.
SONNTAG, 10. JANUAR. Verabschiedung unseres guten unvergesslichen Herrn Hauptmann. Jedem drückte er die Hand, und fast jeder weinte, er selbst auch, und das letzte »Ade, Kameraden!« konnte er nur mehr mit tränenerstickter Stimme hervorbringen. Wir haben ihn nun verloren, er ist fort. Ob nicht mit ihm auch unser Glück?
MONTAG, 11. JANUAR. Am Mittage wegen Beerdigung im Krankenauto nach Nouvron. Endlich lerne ich nun die Kriegswüste kennen. Es ist nicht nur Öde, Leere, Zerstörung in der Stadt, sondern dort herrscht das Grauen. In die halb zerfallenen und zerschossenen Häuser fallen die Gewehrgeschosse und prallen, einen frischen hellen Fleck im dunklen Sandstein zurücklassend, wieder ab. An der Kirche vorbei – es ragt nur noch der Turm empor, und an der einen Wand hängt allen Zerstörungen zum Trotz noch ein Kruzifix – liegt der kleine Friedhof mit den neuen Steinen, aber er muss wohl aufgegeben werden. In einer Scheune mit zerfetztem Dach liegt auf dem halb verfaulten Heu die Leiche, man hat ihr die Stiefel ausgezogen und eine Zeltplane darum gelegt. Zwei Gruppen von Kameraden kamen aus dem Graben, nass und lehmbespritzt. Im halbdunklen Raum stehen wir, die Kugeln schwirren über uns hinweg, ab und zu schlägt eine Granate schwer ins Tal. Was soll man sagen, wenn man selbst ganz erschüttert unter all der Trostlosigkeit steht?! Was helfen da Worte von Ehre und Vaterland? Vielleicht war das Beste der Händedruck, den ich allen am Grabe gab, weil mir nichts Besseres einfiel!
DIENSTAG, 12. JANUAR. Unser Liebling, der so pflichtgetreue, zärtliche Dolli ist uns entrissen, in Erfüllung seiner Soldatenpflicht gefallen!
MITTWOCH, 13. JANUAR. Mein Herz ist oft so schwer, dass ich unzufrieden und missmutig bin. Und dann möchte ich jubeln, dass das Glück doch mein ist. Ich bin ja noch jung. Ich muss nur Geduld haben und warten, bis es kommt und ich den hellen Schein, der in mir brennt, nicht mehr verbergen muss.
DONNERSTAG, 14. JANUAR. Großes Artillerieduell. Ich hatte für den Materialtransport zu sorgen, da die neuen Feldwachen mit Unterständen versehen werden sollten. Der Transport war sehr schwierig, da das Holz 14 km rückwärts der neuen Stellung vom Hautonnerie-Wald auf klapprigen Wagen auf grundlosen Wegen herangefahren werden musste. Als die Feldwachen, die 2 bis 4 km von Éply entfernt lagen, in unserem unumstrittenen Besitz waren, setzte die Tätigkeit der Pioniere ein. Ich brachte das Material mit 160 Infanteristen tunlichst lautlos vor, teils auf Wagen, teils auf den Schultern. Das Material bestand aus 4,5 m langen Balken, hölzernen 1 qm großen Holzblenden, Dachpappe, Brettern, Pfählen zu Drahthindernissen, Stacheldraht, stählernen Kopfblenden. Um unseren Holzbestand zu erhöhen, sägten unsere Pioniere unter Techniker Krohn die 10 m langen Masten der elektrischen Überlandzentrale um.
FREITAG, 15. JANUAR. Bei der Leichenhalle versammelt. Ein Leichenwagen mit weißem Behang führt den Sarg zu dem eine halbe Stunde südlich der Kaserne, am Fuße eines Berges gelegenen Grabe. Die Offiziere und ein Zug russischer Infanterie folgen dem Wagen. Vier Kameraden senken den Sarg ins Grab, die Infanterie gibt drei Salven ab. Der Feldkurat Dr. Dresel widmet in schlichten Worten dem Verblichenen einen warmen Nachruf. Mit dem Vortrage des Liedes ›Es ist bestimmt in Gottes Rat‹ schließt die ergreifende Feier. – Russische Telegramme: Deutsche Flieger versuchten Paris anzugreifen, wurden aber von französischen Fliegern daran gehindert. Gnadiev ist nach zweitägigem Aufenthalte in Rom in Bukarest eingetroffen. Der Kreuzer ›Midilli‹, der einen Transport nach Trapezunt begleitet, wurde von den Russen angegriffen, der Kreuzer entkam, der Transport wurde versenkt. Die Kreuzer ›Breslau‹ und ›Hamidiye‹ griffen ein russisches Geschwader ohne Erfolg an.
SAMSTAG, 16. JANUAR. Traf in Comines bei der Sanitätskompanie ein. Belgisch-Comines selbst, das durch die Lys und einen Nebenarm von Französisch-Comines getrennt ist, zeigte an manchen Häusern Spuren der Granatbeschießung. Im Übrigen bot die von Soldaten wimmelnde Stadt ein friedliches Bild. In einem Laden drängten sich die Soldaten, weil Pommes frites gebacken wurden. Militärmusik spielte gerade vor der neuen großen Kirche, in der der Pionierpark untergebracht ist. Als ich mich auf dem Hauptverbandplatz der 4. Division in der Rue de Wervicq meldete, traf ich meinen neuen Chef, Oberstabsarzt Schmidt, gerade beim Feuerschüren. Bei dem Divisionsarzt, der augenblicklich den beurlaubten Korpsarzt vertritt, musste ich mich auch melden. Er ist sehr gefürchtet wegen seiner kleinlichen Gamaschenknöpferei. Die dauernde Angst vor dem Vorgesetzten, die dem Kriegslazarett fremd war, beherrscht den ganzen Betrieb. Die Sanitätskompanie hat schon viele schwere, gefährliche Zeiten hinter sich. Jetzt hat sie im Verhältnis dazu einen Ruheposten. Nachts holt die Kompanie die Verwundeten von den Truppenverbandplätzen mit ihren Krankenwägen und einem Auto herein. Der Truppenarzt der Sanitätskompanie fährt regelmäßig mit hinaus. Unsere Aufgabe ist es, die ankommenden Verwundeten zu versorgen, sie nachts auf unseren Strohsäcken gegenüber unserem Wachlokal zu lagern und sie anderen Morgens zu verteilen, die Marschfähigen zur Leichtverwundeten-Sammelstelle, die Transportfähigen mit Auto nach dem Feldlazarett 5 in Tourcoing, die Nichttransportfähigen, vor allem Kopf-, Brust- und Bauchschüsse, in eins der fünf Feldlazarette. Unter den Verhältnissen des Positionskrieges haben wir aber nur nachts zu tun. Die Verluste sind jetzt gering. Durchschnittlich hat die Division sechs Verwundete nachts.
SONNTAG, 17. JANUAR. Ich bin ruhiger geworden als im Anfang. Macht es die Gewohnheit oder der Umstand, dass das Regiment verhältnismäßig sicher liegt, oder die Zuversicht von Siegfried? Ich weise jeden Gedanken an ein schlechtes Ende von mir, man müsste ja sonst wahnsinnig werden. Dass ich das kann, wundert mich selbst. Ich komme ja kaum zur Besinnung den ganzen Tag und bin abends todmüde. Du heiß geliebter Mann, das Gefühl der zärtlichsten Liebe für dich verlässt mich keinen Augenblick, immer ist ein weicher, ein besorgter, glücklicher Gedanke um mich, das bist du.
MONTAG, 18. JANUAR. In Terny-Sorny, wo wir bei einer Landwehr-Munitionskolonne unsere Pferde ließen, bekamen wir vom Führer Bericht über die heftige Beschießung, die dieser Ort durch die Franzosen erlitten hatte. Ausgebrannte Ställe, von oben bis unten durchgeschlagene Häuser und der abgedeckte Kirchturm, den die Franzosen als Richtpunkt gewählt, bis man ihn beseitigte, waren der Auftakt zum kommenden Eindruck, den eroberte französische Feldgeschütze mit ihrem eigentümlich langen Rohr wirkungsvoll unterstützten. Aber all das war nun nichts gegen die sich immer mehr steigernden Eindrücke des eigentlichen Schlachtfeldes. Mächtige Granattrichter links und rechts von der Straße, Berge von länglichen großen Geschosskörben, eine Unzahl von französischen Blindgängern führten bis zu einem kleinen Gehölz, hinter dem unsere Artillerie wohl offen aufgefahren war. Wie mit einem Messer hatten hier die Granatsplitter die Bäumchen zerbrochen, zerschnitten, zerritzt und zerspeilt. Über die stellenweise tief zerwühlte Chaussee geht es weiter nach unserer Stellung zu, die auf dem Höhenzuge der langsam ansteigenden Chaussee sich hinzieht. Wir waten durch tiefen Schlamm zu einem Zug Feldartillerie, der hier noch liegt. Wir nehmen einen Kanonier als Führer mit. Das heutige Schlachtfeld hat nichts Theatralisches mehr an sich. Kein Feldherrnhügel, keine Windmühle. Es ist überhaupt im Ganzen nicht mehr zu malen. Der moderne Maler wird Einzelausschnitte geben müssen, denn der moderne Kampf spielt sich zum größten Teil im und am Boden ab. Die Granattrichter bis zum Umfang von 2 bis 3 m häufen sich, die Bäume der Chaussee liegen mit ihren 30 cm dicken Stämmen zerknickt über der Straße, in einem Stamm steckt ein nicht krepiertes Geschoss. Hart am zweiten Reservegraben liegt ein verbranntes Flugzeug. Es wurde von den Franzosen heruntergeholt, konnte aber noch in unseren Linien landen, Führer und Begleiter konnten sich noch retten. Im wirren Durcheinander liegen Drähte, Motor, Kühlrippen und verbogene Metallteile, alles andere ist verbrannt. Heftiger haben die Franzosen mit ihren Geschossen den zweiten Schützengraben bedacht, aber die Wohnunterstände für die Reservekompanien haben gehalten, bei einigen sind allerdings die Wände eingedrückt. In der Sohle des Grabens steht fast knietiefer Schlamm, aber alles sieht ordentlich aus. Munitionslöcher sind reichlich vorhanden, Holz ist wenig verwandt, nur starke Bohlen zum Schutz in den Schlafräumen. Die Gräben sind sauber. Aber Unrat, Kartons, Blechbüchsen, zerbrochene Flaschen usw. liegen auf den Böschungen feindwärts. Während wir weiter auf der Chaussee gehen, hat der Himmel sich bezogen, es fängt an zu schneien. Im Tal bei Clamecy suchen die Franzosen mit ihren Granaten die Gegend ab, man hört nach kurzem hohlem Pfeifen den krachenden Einschlag. 200 m vor dem zweiten Graben liegt der heiß umkämpfte erste Graben. Hier wurde seit Weihnachten sehr schwer gekämpft. Jeder Tag kostete eine große Zahl Toter. Was nachts gebaut war, zerstörte am Tage die Artillerie, oft wechselte der Besitzer. Es waren Zustände, welche auf die Dauer zu kostspielig wurden, daher wurde nach mehrstündiger Artillerievorbereitung der Sturm auf der ganzen Linie befohlen. Was unsere Artillerie an Wirkung erreichte, zeigte der französische Graben, der nur einer flachen Mulde glich, aus dessen schlammigem Grunde Köpfe und Arme der Verschütteten sahen. Die französischen Verluste müssen gewaltig gewesen sein. Lange Reihengräber liegen an den Gräben. Viele noch nicht Beerdigte liegen in den Stellungen, wie sie die Kugeln trafen: im Anschlag, sich vorstreckend, laufend zusammengesunken. Aber auch manch Einzelgrab der Unsrigen ließ auf zahlreiche Verluste schließen, und an einer Stelle hatte man zwölf nebeneinandergelegt, damit sie ein schon gegrabenes Grab aufnähme. In wilder Flucht hatten die Franzosen hier den Graben verlassen. Tornister, Gewehre, Feldflaschen, Patronen, Wäsche, Konservenbüchsen, Mützen, Uniformen, Minenwerfer, Handgranaten, all das lag auf und neben der Straße, die sich in Windungen dem Aisne-Tal zusenkte. Wieder hatte unsere Artillerie in dem Waldgehölz stark gewirkt, auch hier lag noch mancher Tote. In den Gebüschen lagen die verlassenen Unterkünfte der französischen Reserven. Eine größere Anzahl Geschütze, die sie nicht mehr aus den engen Geschützständen herausbekamen, standen da noch samt ihrer Munition. Hier mussten früher schwarze Truppen gelegen haben, ihre kleinen, niedrigen Reisighütten atmeten noch den scharfen Geruch ihrer Anwesenheit. Die ganze Umgebung sehr unsauber! Mitten zwischen den Hütten niedrige Gräber, ungepflegte kleine Erdhügel, an der einen Seite auf einer Stange eine Glasflasche mit dem hineingesteckten Soldbuch, das sind die einzigen Kennzeichen. Einmal hing eine kleine Tafel an einem Baum. Durch das Gehölz sahen wir 300 m vor uns am Aisne-Ufer die neuen Schützengräben. Die Aisne ist ziemlich hoch, ihr schmutzig gelbes Wasser steht auf den breiten Wiesen. Deutlich liegen vor uns die Häuser von Soissons. In der Ferne sieht die Stadt wie unbeschädigt aus. Aber totenstill liegen die Straßen. Ich bücke mich nach einigen französischen Briefen und Postkarten. Bonne Année steht auf den meisten. Eine Schwester wünscht ihrem Bruder ein frohes Jahr und eine gute Aussicht auf baldige Wiederkehr. Ob der Bruder noch am Leben ist? Eine andere Karte zeigt ein zerstörtes Schloss, darunter »l’invasion allemande«, doch unten steht: Engländer haben es am 8. und 9. September zerschossen, um die Deutschen daraus zu vertreiben. Ironie des Schicksals! Ein Tagebuch geführt vom 4. August bis 22. Dezember fällt noch in meine Hände. Ob in arabischer Schrift oder im Stenogramm geschrieben, kann ich nicht erkennen. Auf der Höhe der französischen Stellung grüßt ein frisches Grab mit Stein, 3m davon hat sich vorhin eine Granate ihr Loch gewühlt. Ist es Zufall oder lockt die Franzosen der Stein? Wir wundern uns noch, dass die Gefallenen zum Teil mit Schnürschuhen, zum Teil in Strümpfen liegen, aber der Schmutz war so groß, dass ihnen beim Sturm die Stiefel stecken blieben und sie in Strümpfen weiterstürmten. Jetzt schießen die Franzosen die Chaussee entlang. Man hört deutlich den fernen Abschuss, dann das Sausen des Geschosses, ein paar Mal schlägt’s dicht bei uns ein, und wir müssen uns in Gräben verstecken, springen. Unsere Pferde stehen weit hinten, der Bursche ist mit ihnen fortgelaufen, als ihm die Sache brenzlig wurde. Als wir nach Hause reiten, streifen Sanitäter mit Bahren und Hunden quer durch die Felder. In der Abenddämmerung liegt verdüstert das nun ganz stumme Schlachtfeld. »Bei Soissons machten wir 5200 Gefangene«, sagt der Heeresbericht, was steht an Furchtbarem dahinter!
DIENSTAG, 19. JANUAR. In der alten Stellung. Die Infanterieregimenter sind jetzt mit Rekruten aufgefüllt. Auf verschiedenen Feldern sieht man noch Weizenmandl stehen, jetzt ist aber schon Januar. Die Zuckerrüben, die es hier fast ausschließlich gibt, müssen von der Zivilbevölkerung eingebracht werden und werden von der deutschen Industrie verarbeitet. Ebenso werden die Einwohner zum Instandsetzen der Wege herangezogen.
MITTWOCH, 20. JANUAR. Es ist bitter für uns, nicht dabei sein zu dürfen, nicht mithalten zu können bei dem großen Werk, sondern zu Schmach und Schande verurteilt zu sein, ein Spielball in den Händen der französischen Regierung und ihrer launischen Unterorgane. Mehr wie einmal wurde die Stunde verflucht, welche uns in die Macht der Franzosen gab. Wir besuchen öfter die Ortschaften auf der Insel, wo wir Fleisch, Gemüse, Kaffee oder Tee einkaufen, welche wir uns auf selbst verfertigten Spirituskochern zurechtmachen. Wenn für uns hundertzehn Mann 36 Pfund Fleisch, 19 Pfund Knochen, 20 kg Kartoffeln, einige Gelbrüben, ein Krautkopf und sechs Zwiebeln zwei Mahlzeiten abgeben müssen, so kann man wohl verstehen, dass wir nicht an Fettsucht leiden. Am Anfang unserer Ausgänge wurden uns noch von den Einwohnern Beschimpfungen nachgerufen, aber als sie mit der Zeit merkten, dass sie an uns Geld verdienten, hörte dies allmählich auf. Hauptsächlich, als ihnen der Pfarrer vom Hafenort Tudy klarmachte, dass wir ebensolche Menschen seien wie sie. Heute kam ein sogenannter amerikanischer Kommissar im Lager an. Auf die Beschwerde, dass die ankommenden Pakete ohne Beisein der Empfänger geöffnet werden und vielfach bestohlen ankommen, versprach er, vorstellig zu werden. Allen anderen Beschwerden gegenüber der Unterbringung im Keller, Arbeitszwang, Essen, Verpflegung erklärte der Amerikaner, dass unser Lager noch eines der besten wäre, im Übrigen aber könne seine Regierung keinen Einfluss auf die französische ausüben. Ich danke schön.
DONNERSTAG, 21. JANUAR. Bin Ersatzgruppenführer, ein feines Leben. Unteroffiziersdienst: keinen Arbeitsdienst, kein Essenholen und bei Nacht nur zweimal zwei Stunden Zugwache, bei welcher ich die Posten kontrollieren muss. Wir haben seit fünfundzwanzig Stunden Regen. Im Graben steht das Wasser bis zu den Schäften, teilweise sind die Wände eingestürzt, und man versinkt im Morast. In den Stiefeln steht das Wasser, bis über die Knie ist alles Schmiere, nur oben bin ich ganz trocken dank meiner Regenhaut. Tagebuch soll nicht mehr mitgeführt werden. Vielleicht kann ich es heimschicken, denn ich möchte das Original nicht gerne verlieren. Nach Dompierre, also gleich neben uns, schießen sie mit Schnellfeuerkanonen hinein, dass alles nur so wackelt. Trotz alledem habe ich in unsere Bude Betrieb hineingebracht. Einer spielt Mundharmonika, dazu wird gesungen, und ich, ich pfeife genau wie sonst. Also unterkriegen lassen wir uns noch lange nicht.
FREITAG, 22. JANUAR. Nachmittag fuhren zu meinem Schrecken zwei Lastautos heraus nach Éply, was nur abends oder nachts geschehen darf. Ich sagte dem Chauffeur und dem Festungsbautechniker Krohn, der mitgefahren war, gleich, dass wir durch diesen unverantwortlichen Leichtsinn Artilleriefeuer nach Éply bekommen würden. Es dauerte auch keine zehn Minuten, dann setzte die Kanonade ein. Erst wurden beide Hauptausgänge des Dorfes befeuert, um den Autos den Weg abzuschneiden, dann ging’s ins Dorf selbst, und zwar hauptsächlich in die Nähe unserer Pionierwohnungen, da vor diesen die Autos hielten. Zu bedenken ist, dass von den nur 1½ km entfernten, vom Feinde besetzten Seille-Höhen viele Straßenteile von Éply eingesehen werden können, weshalb am Tage nur der notwendigste Personenverkehr stattfinden darf. Ich hatte gerade meinen Pionieren befohlen, wegen der Beschießung mit der Abladung des Autos aufzuhören und sich in die Keller zu verziehen, und stand mit Techniker Krohn und meinem Burschen Busch in der Toreinfahrt meines Hauses in Unterhaltung begriffen, als eine Granate in unser Haus sauste und 5 m von uns im Torwege, also im selben Raume, laut krachend platzte. Busch flog hin, ich soll mich nach Aussagen meines Burschen ein paarmal um mich selber gedreht haben, der arme Krohn sank schwer getroffen zu Boden. Der ganze Raum war mit schwarzem giftigem Qualm erfüllt. Busch und ich eilten in den Keller, in dem sich Leutnant Kuhlmann, ein Offizierstellvertreter und ein Infanterist befanden. Wie Espenlaub zitternd, warteten wir dort den weiteren Verlauf ab. Als ich mich etwas erholt hatte, sprang ich noch während der Kanonade über den Hof in die Toreinfahrt und trug mit Leutnant Kuhlmann und Busch den schweren Krohn in den Keller hinab, wo wir den hoffnungslos Verletzten betteten. Nach etwa zwanzig Minuten hörte die Kanonade auf. Nach Feststellungen eines Artillerieoffiziers sind 68 Granaten von 7,7 cm und 12 cm in den Ort geflogen. Niemand verletzt, außer der arme Krohn, von dem ein sofort herbeigerufener Krankenträger nur feststellen konnte, dass er im Sterben liege.
SAMSTAG, 23. JANUAR. An meiner Stelle müsste hier ein Mann stehen, der mehr könnte als ich, von dessen innerlich gefestigtem Leben aus ein Strom von Gottvertrauen und Zuneigung ging. Mich wirft jedes offene Grab um. Ich soll geben, was ich nicht habe: Trost, und ich habe doch nur Trauer und höchstens festes Zusammenbeißen der Zähne. Es wäre alles besser, wenn man sich mal aussprechen könnte. Es ist eigentümlich, dass ich reden muss, wo alles zum Schweigen drängt. Das meiste lässt sich doch am besten schweigend überwinden, wenn es sich um Inneres handelt. Ich aber muss von Amts wegen reden. Das ist der schlimmste Eindruck: Es bricht nicht nur das Morsche zusammen in dieser Weltkatastrophe, sondern das Morsche reißt ungeheuer viel Gesundes mit sich.
SONNTAG, 24. JANUAR. Beim Appell erhalte ich die Nachricht, dass Ernst Simmel gefallen ist.
MONTAG, 25. JANUAR. Vorbei am früheren Verbandplatz vom 30. Dezember, wo in unserer Papiernia-Schlacht Hunderte Kameraden verbunden wurden. Vorbei an vielen Gräbern, an unserer früheren Stellung, die zu räumen uns die Russen gezwungen hatten. Da lag unsere Feldwache. Nun sahen wir die Totenwiese, wir sahen ca. 600 m vor uns den Graben, den wir erstürmt hatten, wir sahen das Massengrab, in dem Hunderte Kameraden liegen und manche guten Freunde. Auf einmal etwas links mächtiges russisches Salvenfeuer auf uns. Trotz dem Feuer schlichen wir, um unsere Aufgabe zu erfüllen, zur Feldwache 2. Wir unterhielten uns in Deckung, und der allgemeine Wunsch wurde ausgetauscht, alles, nur nicht einen solchen Angriff über den Sumpf ein zweites Mal. Tagsüber Ruhe im Unterstand. Gedanken vor Gefecht zu Hause bei den Lieben.
DIENSTAG, 26. JANUAR. Grad heute haben wir alle Tagebuchfieber. Ich möchte so gern schreiben und weiß doch nicht, was. Ich bin heute wieder in meiner Stimmung, wie die eigentlich ist, weiß ich gar nicht, fast könnte ich sagen, es ist ein Gefühl wie Wehmut, so eine ganz sonderbare Sehnsucht nach etwas Unfassbarem, nach etwas Idealem, Höherem. Wenn ich so draußen die Schneeflocken wirbeln sehe, dann könnte ich träumen und träumen.
MITTWOCH, 27. JANUAR. Die Tage waren sehr ausgefüllt, da wir zu Kaisers Geburtstag etwas aufführen wollten. Auch vierstimmige Lieder wurden eingeübt. Eine Tribüne wurde gebaut, der Kaiser gemalt. Zum lebenden Bild musste ein Gewehr gemacht werden und auch ein Säbel. Die Bühne wurde aus wollenen Decken angefertigt, desgleichen der Vorhang. Als Hintergrund war ein Wald auf Papier gemalt. Das Ganze machte sich großartig. Um ½6 Uhr sollte die Feier beginnen. Es waren alle vom Lager eingeladen. Sämtliche Offiziere kamen. Der Tempel war gesteckt voll.
DONNERSTAG, 28. JANUAR. Schanzen, es war sehr kalt. Unsere Artillerie begann zu schießen, das Feuer wurde aber von den Franzosen nicht erwidert. Abends bekam ich einen Brief von meinen Kindern, die mir erfreut schrieben, dass sie jetzt ein kleines Brüderchen erhalten hätten. Das Befinden der Mutter ist dem Brief nach noch nicht das beste, was mich mit Besorgnis erfüllt.
FREITAG, 29. JANUAR. Erste Ausfahrt mit den Geschützen seit sechs Monaten. Ich habe mir die Ausbildung bei der Artillerie etwas glanzvoller und zusammenhängender vorgestellt. Alte Zöpfe sind beim Militär. Warum?
SAMSTAG, 30. JANUAR. Man muss seine Mehlvorräte angeben.
SONNTAG, 31. JANUAR. Es darf kein Brot über 100 g aus reinem Weizenmehl verkauft werden.
MONTAG, 1. FEBRUAR. Läuseplage. In den Dörfern hinter uns große Kindersterblichkeit. Endlich kommen Weihnachtspakete.
DIENSTAG, 2. FEBRUAR. Im Essraum einer Mannschaftsküche ist ein neuer Turnsaal eingerichtet. – Russische Telegramme: Die Gefechte bei Dukla werden stärker und enden meist günstig für die Russen. Nach der ›Times‹ verstärken die Deutschen ihre Kräfte in Frankreich, um gegen Paris vorzustoßen, ehe Rumänien eingreift. Goltz Pascha äußert sich zu einem Korrespondenten des ›Berliner Lokalanzeigers‹, dass England an der empfindlichsten Stelle getroffen würde, wenn es den Türken gelingen sollte, in Ägypten vorzudringen. Ein russisches Torpedoboot hat Trapezunt beschossen und viel Schaden angerichtet.
MITTWOCH, 3. FEBRUAR. Nachmittags belegen die Franzosen Saint-Souplet mit schweren Granaten, 100 m von unserem Quartier. Auf den ersten Schuss zwölf Mann tot, zweiunddreißig verwundet.
DONNERSTAG, 4. FEBRUAR. Abends erreichte mich die bedrückende Nachricht, dass am Nachmittag etwa acht französische 15-cm-Granaten nach Louvigny geschossen seien. Eine Granate fiel auf den Dorfplatz vor unsere Pionierküche, wo auch unser Sprengmineurwagen mit zweitausend Sprengkörpern (400 kg) steht. Der Sprengmunition hat es nicht geschadet, wohl aber ist unser Schmied Weber getötet worden.
FREITAG, 5. FEBRUAR. Abmarsch in die vordere Stellung. Unser Kompanieführer hat uns schon von großen Höhlen erzählt, wir können uns aber noch keinen rechten Begriff machen. Der Marsch ist sehr beschwerlich, auf einem schmalen Waldwege geht’s die steile Höhe hinan. Oft ist man in Gefahr, stecken zu bleiben oder die Stiefel zu verlieren. Oben schweißtriefend angekommen, sehen wir, dass der Weg durch ein großes Tor in das Innere des Berges führt. Nun heißt es: Taschenlaterne heraus. Nachdem wir fast eine halbe Stunde in der Höhle entlangmarschiert sind, kommen wir wieder ans Tageslicht. Wir sind dicht bei unserer Hauptstellung angelangt. Unser erster Zug soll auf Feldwache, wir müssen deshalb noch etwa zehn Minuten in der Höhle entlanggehen.
SAMSTAG, 6. FEBRUAR. Es sind uralte Sandsteinbrüche, die kilometerweit durch das Gebirge gehen. Die Höhlen haben meist die Form von nebeneinanderlaufenden und sich kreuzenden Gängen, diese sind 2,50 bis 5 m hoch und etwa 4 bis 6 m breit. Es gibt aber auch große freie Plätze, wo auf 10 bis 20 m im Umkreis keine Säule oder Wand steht. In den Gängen, die wir benutzen müssen, sind Bindfäden und Papierschnitzel befestigt. Lässt man diese aus dem Auge, so verläuft man sich sofort. Umherlaufen in den Höhlen ist verboten. In der dienstfreien Zeit machen wir aber doch mal einen kleinen Streifzug. Hierbei finden wir große Champignonbeete, nehmen Pilze mit und braten uns eine Pfanne voll. Von der Höhle aus gelangen wir über eine Treppe in unsern Schützengraben. Dieser ist sehr gut ausgebaut, mit Schießscharten und Schrapnellschutz versehen. Die feindliche Stellung ist fast 1000 m entfernt, eine vorgeschobene Feldwache liegt jedoch 150 bis 200 m vor uns.
SONNTAG, 7. FEBRUAR. Das war wieder ein Tag! Artilleriefeuer ins Dorf. Direkt an unserem Kellerfenster bleibt ein Blindgänger liegen. Scheinen es auf unsere Zentrale abgesehen zu haben. Keine Verluste! Gott sei’s gedankt.
MONTAG, 8. FEBRUAR. Gestern fuhren wir von Baroncourt ab und luden unsere ersten Verwundeten in Conflans ein, dann in Mars-la-Tour und Chambley und noch zuletzt in Metz. Es waren sehr viele Kranke (Magen, Rheumatismus und Influenza, auch Lunge und erfrorene Zehen), einige Verwundete von den feindlichen Fliegern. Der Transport ging durch die Pfalz nach Mannheim, wo ausgeladen wurde. Leider ging’s gleich wieder zurück nach Karlsruhe, wo wir im Mutterhaus einquartiert wurden.
DIENSTAG, 9. FEBRUAR. Begräbnis eines Infanteristen, der am Eingang von Éply durch Granatschuss getötet war. Nachher lief die Hiobsbotschaft ein, dass die Moince-Mühle durch einen Volltreffer erwischt sei, hierbei elf Verwundete. Während meiner dreitägigen Abwesenheit von Éply war dieses mehrfach beschossen worden, eine ganze Anzahl Häuser niedergebrannt. Eine Granate war ausgerechnet in dem Zimmer explodiert, in dem Busse und ich in den ersten acht Tagen wohnten. Ein unglückseliges Haus. In ihm sitzen nun bereits vier Granaten, die eine, ein Blindgänger, ist im Giebel stecken geblieben und schaut etwa 15 cm heraus. Außerdem hatten in dem Haus der arme Techniker Krohn durch Granatschuss und der Bursche von Busse durch Kohlengasvergiftung ihren Tod gefunden.
MITTWOCH, 10. FEBRUAR. Rittmeister lässt mich rufen, soll dem Maire verdolmetschen, dass er den gefundenen Hafer und das Mehl an seine Einwohner verteilen soll. Die tagsüber angestellten Haussuchungen förderten ca. 67 Zentner verborgen gehaltenen Weizen an den Tag.
DONNERSTAG, 11. FEBRUAR. Über die russische Grenze marschiert. Schirwindt ist von den Russen ganz niedergebrannt, die Russen gehen fluchtartig zurück. Anstrengende Märsche bei Eis und Schnee.
FREITAG, 12. FEBRUAR. Der Krieg zieht sich in schreckliche Länge. Es ist noch gar keine Aussicht auf Friedensschluss! Doch wir Deutsche wollen tapfer sein! Amerika hintergeht uns schrecklich, heuchelt »Neutralität« und liefert für viele Millionen Mark Waffen an unsere Feinde. Pfui, welche Schmach! Zahlreiche Proteste deutscherseits blieben erfolglos. Wir greifen eben jetzt zu den strengsten Maßregeln! Ab 18. Februar soll eine Blockade das schändliche Handeln vereiteln.
SAMSTAG, 13. FEBRUAR. Der Zwiespalt, der einen immer quält, macht mir viel zu schaffen. Siegfried schrieb, dass es so betrüblich wäre, wenn er später als einer von wenigen ohne das Eiserne Kreuz in Erfurt einziehen würde. Dazu gehört aber wieder die furchtbare Lebensgefahr eines Gefechts. Bis jetzt ist er in keins gekommen. Gestern schrieb er, dass eine Granate fünfzig Schritt vor ihm explodiert wäre, neulich, dass ihnen die Granaten über die Köpfe pfiffen, ein anderes Mal hatte er sich nachts verirrt und hätte leicht in den französischen Schützengräben landen können. Wie würde ich selig sein, wenn er das Kreuz hätte, aber es ärgert mich, dass ich daran überhaupt so oft denken muss, wo mir doch sein Wiederkommen das höchste, liebste, herrlichste Ziel ist.
SONNTAG, 14. FEBRUAR. Französische Patrouille vor Drahtverhau angeschossen.
MONTAG, 15. FEBRUAR. Stand am Samstag morgens Posten im Schützengraben. Da ich Zeit und auch lange nicht geschrieben hatte, holte ich mein Tagebuch hervor und machte einige Notizen. Zufällig hatte mich unser Kommandeur dabei gesehen. Auf seinen Befehl musste mich unser Kompanieführer mit drei Tagen Arrest bestrafen. Ich verbüßte dieselben, indem ich vorgestern, gestern und heute je zwei Stunden an einen Pfahl gebunden wurde. Meine Kameraden waren empört über diese unwürdige Behandlung, selbst die Vorgesetzten sprachen ihr Mitleid über mein Pech aus.
DIENSTAG, 16. FEBRUAR.