Für meine Mutter
und meinen Bruder
Mit dreiundzwanzig ging ich nach Bielefeld an das dortige Stadttheater. Um eine Unterkunft zu finden, hatte ich in der Innenstadt auf Stromkästen, Laternen und Ampelmasten fotokopierte Wohnungsgesuche geklebt, den unteren Rand sorgsam zu Zettelchen mit der Telefonnummer meiner Mutter eingeschnitten. Vierundfünfzig hoffnungsvoll flatternde Zahlenklaviere. Am Abend lief ich eine erste Kontrollrunde, neugierig, ob schon der ein oder andere Papierstreifen abgerissen worden war. Ich hatte mich für den denkbar einfachsten Text entschieden:
Junger Schauspieler sucht ab sofort:
kleine, helle, ruhige Wohnung!
Ewig hatte ich über die Abfolge der Adjektive nachgedacht, sie gedreht und gewendet, als hinge allein davon der Erfolg meiner Suche ab.
Ich wanderte durch die fremde Stadt. Alle Blätter unversehrt. Doch eine Anzeige war durch einen Zusatz ergänzt worden. Mit dickem Filzstift hatte jemand unter meinen Satz geschrieben:
Zum Sterben
Junger Schauspieler sucht ab sofort: kleine, helle, ruhige Wohnung zum Sterben!
Das als ein gutes Vorzeichen zu deuten, gelang selbst mir nicht.
Dann allerdings, kurz bevor ich nach nur zehn bitteren Monaten Bielefeld Richtung Dortmund wieder verließ, lernte ich jemanden kennen.
Die erste große Liebe meines Lebens.
»Willst du dich umbringen?« Das war der erste Satz, den sie zu mir sagte, und ich habe mich später noch oft gefragt, ob mir das eine Warnung hätte sein sollen. Ich hatte sie den ganzen Abend über während der faden Premierenfeier beobachtet, fasziniert von ihrem Aussehen. Zu große Zähne, zu große Augen, zu platte Nase, verdammt kurze Haare. Sie gefiel mir sofort. Immer wieder sahen wir uns an und tatsächlich – sie lächelte ein bisschen. Ihr Kopf bewegte sich seltsam mechanisch, auch die Arme und Hände, alles wie einzeln, unabhängig voneinander, als passe kein Körperteil zum anderen. Dadurch sah ich sie aber umso deutlicher. Elegant, aber doch auch steif, ja fast ein wenig roboterhaft hob sie die Bierflasche zum Mund. Ihr eines Auge wurde je nach Kopfhaltung mal mehr, mal weniger von fallenden Strähnen verdeckt, das Haar im Nacken hingegen war ausrasiert. Sie trug eine weiße Bluse mit eigenwilligem Kragen, einen dunkelblauen Bundfaltenrock, dessen Kanten und Knicke in gut organisierten Wellen hin und her schwangen, eine dunkle Strumpfhose und altmodische Schuhe mit abgerundeten Schuhspitzen. Es kostete mich einige Mühe, sie momentweise aus den Augen zu lassen, sie nicht ununterbrochen anzustarren. Etwas an ihr war komplett eigenartig. Aber was es genau war, konnte ich nicht sagen. War es die von Sommersprossen überstreuselte, wie von einem schweren Boxhieb eingedrückte Nase oder der sehr rot geschminkte, aufgeworfene Mund? Waren es die etwas zu dick gezogenen schwarzen Lidstriche? Seltsam zusammengewürfelt war dieses Gesicht: Mund, Augen, Nase überdimensioniert, und in der Summe hätte diese Anordnung leicht ein grobschlächtiges Gesamtes ergeben können. Tat sie aber nicht. Ich war mir nicht sicher, sah sie fantastisch aus oder grotesk?
Egal, wo ich mich während der Feier aufhielt, ich wusste immer, wo sie war. Eine innere Magnetnadel zeigte stur in ihre Richtung. Drehte ich mich ab, musste ich das gegen einen Widerstand tun, so als würde ich versuchen, mich aus einem Kraftfeld herauszuarbeiten. Drehte ich mich wieder zu ihr, wirbelte es mich regelrecht herum. Im Laufe des Abends wuchs ihre Gravitation auf mich. Meine Füße wollten zu ihr, einfach losmarschieren und sich vor sie stellen. Doch völlig ohne Plan, ohne wohlüberlegte Sätze schien mir das eine zu waghalsige Annäherung zu sein, und erst als ich mich mit dem Arm in ein Geländer einhakte, eine der Streben fest umfasst hatte, fühlte ich mich sicher, nicht gegen meinen Willen ihrer Anziehungskraft zu erliegen. Ich unterhielt mich mit einem Kollegen über die Aufführung, ob sie ein Erfolg gewesen war oder nicht, ob die verhaltene Reaktion des Publikums Ergriffenheit oder doch eher Langeweile bedeutet hatte. Während des Gespräches sah ich ihr auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes ohne meinen Satz zu unterbrechen direkt in die Augen. Das war von einer betörenden Beiläufigkeit und Intensität. Immer und immer wieder trafen sich unsere Blicke.
Ich schlenderte ihr hinterher zur Tanzfläche. Noch nie hatte ich jemanden so tanzen gesehen. So ungelenk. Die Hände zu Fäusten geballt, sah es aus, als würde sie mit unsichtbaren Skistöcken herumhantieren, dazu stapfte sie unrhythmisch auf der Stelle herum. So, dachte ich, präparieren Camper welliges Gelände, bevor sie ihre Zelte aufbauen. War das ihr Ernst? Machte sie sich über sich selbst lustig? Oder war das wirklich ihre Art zu tanzen? Mit ironisch verführerischem Blick sah sie zu mir herüber, warf sich mit einem kurzen Kopfwischer lässig die hellblonden Haare aus der Stirn, beugte und streckte die Arme, als teste sie neue Gelenke, und machte große Augen. Ich musste lachen. Augenblicklich verfinsterte sich ihr Ausdruck und sie drehte mir den Rücken zu. Ich erschrak, hatte ich sie gekränkt?
Da ich vor der Premiere sehr aufgeregt gewesen war, hatte ich zu essen vergessen. Mein vernachlässigter Magen knurrte mich an, und ich ging in den Nebenraum, wo das Buffet zwar noch aufgebaut, aber bereits von einer Horde hungriger Hunnen überfallen worden war. Auf den leer gefressenen Tabletts lagen nur noch die zerfetzten Salatblätter der Dekoration, zerrissen und zermatscht, wie die noch nicht abtransportierten Schwerverwundeten nach einer brutal gekämpften Buffetschlacht. In einem der Zinksärge litten ein paar panierte Hähnchenschnitzel vor sich hin, die letzte Reserve, knapp der Meute entronnen, ganz bisschen warm noch, aber kurz vor dem Labbrigkeitstod. Während ich mir das dritte Hähnchenschnitzel auf den Pappteller stapelte, war ich mir plötzlich sicher, dass sie in meiner Nähe war. Aber ich drehte mich nicht um, war gebannt von einer Kraft in meinem Rücken, einer wohltuenden Gefahr. Es war, als wäre ich rückwärts an eine Schlucht herangetreten, oder richtiger, als wäre der Abgrund zu mir gekommen. Direkt hinter meinen Fersen schien ein Krater zu klaffen.
»Willst du dich umbringen?« Ihr Satz riss mich herum. Ihr Blick war klar und angriffslustig wie nach einem heftigen Streit und traf mich voll. Ich schmeckte, was ich nicht begriff: Rauch. In meinem Rachen kratzte es. Beißender Qualm wie von einem Lagerfeuer, geschichtet aus nassem, zu jungem Holz. Ich räusperte mich mehrmals. Woher kam nur dieser Aschegeschmack? »He, ich hab dir eine Frage gestellt. Willst du dich umbringen?« »Nein, eigentlich nicht, sollte ich?« »Vielleicht.« »Warum?« Sie zuckte mit den ohnehin schon ein wenig hochgezogenen Schultern und antwortete: »Erfahrungen sammeln.« Da ich größer war als sie, sah ich auf sie hinab. Gleich oberhalb der Nase war ihre Stirn hart und eben, eine kreisrunde Fläche. Eine bockige, ja störrische kleine Platte. Da, dachte ich, wäre genau die richtige Stelle für ein Horn, genau so sähe es aus, hätte man ihr das Horn präzise über der Stirn abgesägt und dann die Schnittstelle mit Stirnschleifpapier glatt geschmirgelt.
»Willst du wirklich drei von diesen ekelhaften Hühnerschnitzeln essen? Das ist doch Selbstmord. Da gibt es doch elegantere Möglichkeiten. Oder hast du Kopfschmerzen?« »Was bitte?« »Na, ob du Kopfschmerzen hast!« Ich zögerte. Da legte sie los: »In der Massentierhaltung werden die Hühner so eng zusammengepfercht, dass sie sich gegenseitig wund scheuern und offene Stellen an den Flügeln bekommen. Der Schmerz macht sie aggressiv, und deswegen hacken sie sich gegenseitig die Augen aus oder töten sich. Also bekommen sie Schmerzmittel ins Futter gemengt. Dann spüren sie wenigstens ihre Verletzungen nicht mehr und halten still. Von den Wachstumshormonen werden sie so fett, dass sich ihre Gelenke entzünden. Da bekommen sie auch noch Antibiotika. Zur Massenexekution humpeln sie ahnungslos durch dunkle Gänge und gackern leise miteinander. Würde irgendjemand ihre Sprache sprechen, könnte man Sätze aufschnappen wie ›Mir haben sie gesagt, sie bringen uns auf eine herrlich grüne Wiese‹ oder ›Macht euch keine Sorgen, jeder wird sein eigenes Nest bekommen‹. Lieb wie sie sind, trippeln sie gutgläubig ihrem neuen Leben entgegen, immer weiter. Dann aber fallen sie durch Löcher auf Förderbänder, werden fixiert, maschinell geköpft, überbrüht, gerupft, aufgeschlitzt und ausgeweidet. Zu Tausenden auf Haken gespießt. Splitterfasernackt, kopfüber, kopflos ruckeln sie im Todeskarussell aus der Todesfabrik in den Verpackungstrakt. Noch in derselben Nacht werden die zerteilten Körper, die amputierten Schenkel und Flügel auf Styroporbettchen aufgebahrt, in Folie eingeschweißt und von Tiefkühllastern im Morgengrauen über menschenleere Autobahnen ins ganze Land ausgeliefert. Frisch aus dem Regal auf deinen Tisch. Vollgepumpt mit Medikamenten!«
Sie tippte mit ihrem lackierten Fingernagel auf die Panade meines Hühnerschnitzels. »Das ganze Zeug lagert sich im Fleisch ab. Also genau genommen hilft schon ein winziger Happs dieser gefolterten Schuhsohlen nicht nur gegen Kopfweh, sondern auch gegen Husten und Fieber. Eigentlich dürfte es die nur in der Apotheke auf Rezept geben. Von den Hormonen kann es sein, dass du Brüste bekommst, dir die Haare ausfallen und wichtige Körperteile verschrumpeln. Also ich an deiner Stelle würde mir das gut überlegen. Guten Appetit.«
Ich kam mir vor, als wäre ich in ein hochprofessionelles Spiel eingewechselt worden, dessen Regeln ich nicht kannte. Kein Mensch konnte so viele Bälle auf einmal fangen, geschweige denn zurückspielen. »Nein, es gibt …«, ich suchte nach Worten, blätterte hektisch in meinem Gehirnduden, aber alle Seiten verklebt, »eigentlich hab ich einfach nur …« Doch bevor ich meinen Satz zu Ende sprechen konnte, rief sie: »Sag bitte nicht: Hunger. Bitte, bitte, nicht. Das wäre so langweilig. Du wolltest nicht sagen, dass du Hunger hast, oder?« So ging das nicht weiter. Ich musste jetzt langsam mal aufwachen, irgendeinen Motor anwerfen, von dem ich noch gar nicht wusste, dass ich ihn überhaupt hatte. Doch die einzige Antwort, die mir einfiel, war mir nicht ganz geheuer. Egal. »Ehrlich gesagt«, ich zögerte, sorgte ein wenig für Spannung, »hab ich die Hähnchenschnitzel für dich geholt, da ich dachte, du könntest vielleicht hungrig vom Tanzen sein!« Sie kniff die Augen zusammen, blitzartig, taxierte mich mit grünem Klapperschlangenblick, was ihr für einen Moment eine Madame-Tussaud-artige Maskenhaftigkeit verlieh. Sie hob den Kopf, die flache Stirn spannte sich, die Stelle, wo sie ihr das Horn abgesägt hatten, zielte zwischen meine Augen. Es sah tatsächlich so aus, als würde sie mir gleich den finalen Kopfstoß verpassen, mich mit etwas Unsichtbarem durchbohren. »Ist das die Wahrheit?« Ich nickte. »Du wolltest mir diese drei Hähnchenschnitzel zur Tanzfläche bringen?« »Klar, magst du eines?« »Du lügst! Ich sehe es dir an.« »Warum sollte ich lügen? Hier, greif zu.« Ich hielt ihr den Teller hin. So war ich noch nie angesehen worden. Selbst Zwinkern schien ein Zeichen von Schwäche zu sein, das mich in die Defensive bringen könnte. Eigentlich hätte ich sie einfach nur gerne kennengelernt und das ein oder andere süffige Bonmot wie einen Ballon elegant mit dem Finger durch die Luft zu ihr hinübergestupst. Doch bereits nach den ersten fünf gemeinsam verbrachten Minuten ging es um nichts anderes mehr, als ihr standzuhalten, ihr gewachsen zu sein, sich nicht zum Idioten zu machen. Sie war schlagfertig und ich hatte Schlagseite. Ihr Atem ging schnell, und ich fragte mich, ob sie ihre Bluse bewusst oder fahrlässig den einen entscheidenden Knopf zu weit aufgeknöpft trug. Unsere Blicke waren kollidiert und hatten sich unlösbar ineinander verkeilt. Wer sollte die je wieder trennen?
»Ich frag dich jetzt noch ein allerletztes Mal«, ihre Stimme war ernst, ohne Betonungen flog der Satz heraus, »hast du diese drei Hähnchenschnitzel wirklich, also ich meine wirklich, für mich geholt?« Bei dem Wort wirklich hatte sie sich beim W so überdeutlich mit den hasengroßen Schneidezähnen in die Unterlippe gebissen, dass die Zahnkanten nun wie die Feuerkuppen von Streichhölzern ein klein wenig vom Lippenstift rot gefärbt worden waren. Plötzlich schien es hier um so viel mehr als die drei mittlerweile erkalteten und von mir immer noch wie von einem fossilen, aus dem Fels herausgeklopften Steinzeitkellner dargebotenen Hähnchenschnitzelleichen zu gehen. Ihre Augen hatten sich verändert. Unsicher und gespannt sah sie mich an. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Was war die richtige Antwort?
»Gut«, sagte ich, »wenn du wirklich, also ich meine wirklich die Wahrheit wissen willst …« Ich imitierte sie, biss ebenfalls mit den Zähnen in das W der Wirklichkeit. »Sie sind«, ich holte theatralisch Luft, »für mich. Alle drei! Denn ich habe unglaublichen Hunger.« Ich nahm mir das oberste Hähnchenschnitzel und biss hinein wie ein kerniger Landwirt aus der Geflügelwerbung.
Sie strahlte mich an, strahlte und zuckte zusammen. »Autsch, immer wenn ich zu dolle grinse, reißen mir die Mundwinkel ein. So ein Mist. Ich bin eine Fehlkonstruktion. Ich kann nicht mal richtig lachen, wenn mich mal was freut. Aber du hast es geschafft mit deiner grandiosen Hähnchenschnitzelnummer. Danke für den Schmerz.« Tatsächlich sammelte sich in ihrem Mundwinkel ein bisschen Blut. Mit breitem Vampirgrinsen sah sie mich an. Ich gab ihr eine Serviette vom Buffettisch. Sie tupfte sich die pralle Blutperle aus dem Mundwinkel heraus. Auf dem Weiß des saugstarken Papiers breitete sich zeitrafferrasant ein kreisrunder Fleck aus. Triumphal schwenkte sie das blutige Fähnlein in meine Richtung. So einfach also, dachte ich, bastelt man sich eine japanische Flagge. »Wusstest du, dass in der russischen Sprache das Wort Blut auch Schönheit bedeutet? Wenn man also sagt ›Ich liebe deine Schönheit‹, sagt man auch ›Ich liebe dein Blut‹. Oder wenn sich jemand die Pulsadern aufschneidet. Die russische Mutter tritt die Badezimmertür ein, findet ihre Tochter und schreit los: ›Oh mein Kind! Mein über alles geliebtes Kind. Überall Blut!‹ Dann heißt das eben auch: ›Oh mein Kind! Mein über alles geliebtes Kind. Überall Schönheit!‹« Wieder machte sie ihre großen Augen. Das schien ihr Gesichtsfavorit zu sein, diese abenteuerlichen Glupschaugen, dieser Milchglasmurmelblick mit viel makellosem Weiß um die Iris. Abermals wischte sie sich den Mundwinkel sauber: »Mein Gott, ich kann kein Blut sehen, ich glaub ich werd ohnmächtig!« Katastrophal schlecht, aber dadurch umso bezaubernder, spielte sie die drohende Ohnmacht. Wie eine Volltrunkene ließ sie den Kopf nach hinten wegsacken und schwankte mit dem Oberkörper hin und her. Ihre Haarsträhne, von der ich mich fragte, ob sie blondiert sei, so unnatürlich hell war sie, fiel ihr über die Augen. »Hilfe, zu Hilfe. Ich verblute!«
Da krallte sie sich plötzlich in meinen Unterarm, schloss die Augen, stand reglos da und wurde kreideweiß. »Mist. Warte, warte kurz.« Nach einer Weile, während der sie behutsam ein- und ausgeatmet hatte, flüsterte sie: »Oh je, oh je. Mir ist schlecht. Ist das okay, wenn wir hier einen Moment so stehen? Geht gleich wieder. Mon dieu. Ich hab überhaupt nichts gegessen.« Sie hatte ihren festen Griff gelöst, locker lag ihre Hand auf meinem Arm, als warte sie darauf, von mir zu einem höfischen Tanz geführt zu werden. Sie hatte kurze, kräftige Finger, alle Nägel abgekaut, bis tief hinein in das nicht für die Luft bestimmte hellrosa Nagelfleisch.
»Kann ich irgendwas tun? Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«, fragte ich besorgt. »Nur noch einen Augenblick. Mir ist total schummerig.« Ich wollte etwas sagen, doch sie hörte mich einatmen und machte sogleich: »Psssst.« Und hauchte: »Nous nous arrêtons et la terre continue à tourner.« Ich verstand kein Wort. Und so standen wir da, ein Marmorpaar im Gewirr der Gäste. Ein paarmal presste sie ihren Daumen in meinen Unterarm, sehr sachlich, eher so wie man eine Avocado prüft. Mir war rätselhaft, was das sollte. War es eine Zärtlichkeit oder ein Test? Die Minuten vergingen, und wenn ich auch nur das Gewicht verlagerte, zischelte sie: »Pss-pss-pss …« Wie eine desorientierte Blinde tastete sie mit der Hand in der Luft herum, stieß gegen den Pappteller, nahm sich ein Schnitzel und schlenkerte es vor ihrem Gesicht hin und her, schwenkte den Fächer aus Fleisch. »Luft, Luft. Ich brauche Luft!« Sie schlug die Augen auf, wobei es mehr war als nur ein bloßes Augenöffnen, es war, als ob etwas aus ihr heraussprang. Sie schaute nicht nur, ihr Blick schoss wie durch brennende Reifen ins Freie. Sie lachte los. »Haaaa, haaaa, haaaa!«, und klang dabei wirr, wie ein durchgeknallter Diktator im Schundfilm. »Hast du es etwa geglaubt?« Ich war ratlos und auch müde geworden vom langen Herumstehen. »Du hast es geglaubt!« Ihre sehr helle, eindeutig empfindliche Haut verfärbte sich triumphrosa. »Gut gespielt, oder?« Ich nickte. »Absolut, bin voll drauf reingefallen.« »Komm, jetzt guck nicht so geknickt. War doch ’ne nette Pause.« Sie sperrte den Mund auf, stieß ihre kerngesunden Schneidezähne in mein Schnitzel, zerrte ausgehungert daran herum, bis sie gut die Hälfte abgerissen hatte. Kauend, kaum verständlich, fragte sie mich: »Darf ich eventuell von deinem Hähnchenschnitzel abbeißen?« Überdeutlich antwortete ich: »NEIN!«, und dann »Du hast doch nicht etwa Hunger?«. Ohne auch nur einen Moment überlegen zu müssen, schmatzte sie die Antwort wie in einer gut geölten Komödie heraus. »Ach Quatsch, ich hab total Kopfschmerzen.« Wir lachten beide, und es geschah etwas höchst Befremdliches. Ich sah sie zwar lachen, hörte es aber nicht, mein eigenes Lachen hingegen schien sehr laut und kräftig zu sein. Die einzige Erklärung für dieses wiehernde Klangwellenwunder konnte nur sein, dass sie exakt auf meiner Frequenz gelacht hatte. Dass wir wie zwei perfekt gestimmte Instrumente denselben Ton angeschlagen hatten und zu einem einzigen Lachton verschmolzen waren. Da sie ihren eingerissenen Mundwinkel schonen wollte, versuchte sie nur halbseitig zu lachen. Das verlieh ihr einen irren Gesichtsausdruck und ließ sie wie eine extrem gut gelaunte Hexe aussehen.
»Wenn das so weitergeht, muss ich noch zum Mundwinkelchirurgen, meine große Klappe zunähen lassen.«
»Hast du vielleicht Lust, spazieren zu gehen?«
Ich war genauso fassungslos über den Satz wie sie. Meine Frage war ohne Ausweispapiere an allen Kontrollpunkten und Sicherheitsschleusen vorbei dreist von meiner Zunge aus ins Freie gesprungen. Kein Gedanke war diesem Satz vorausgegangen.
Vielleicht, dachte ich später, trägt jeder Mensch so ein paar Sätze in sich, von denen er gar nichts weiß, die unbemerkt in ihm schlummern und das ganze Leben verändern können. So einen kleinen handlichen Trommelwortrevolver, dessen Kugeln sich unerwartet lösen und unleugbar, unumstößlich ins Dasein knallen. Natürlich kann man auch nach monatelangen Qualen und Hunderten heimlich absolvierter Therapiesitzungen sagen: ›Ich kann nicht mehr mit dir leben.‹ Aber es kann eben auch passieren, dass sich solch ein Satz wie ein Schuss löst, eine unbekannte tiefer gelegene Macht den Hahn spannt und ansatzlos die Worte beim Abwaschen abfeuert. ›Ich verlasse dich‹ oder ›Ich hasse euch‹. ›Was bitte?‹ ›Ja, ich kündige. Ich pack jetzt meine Sachen und komme nie wieder.‹ Diese Vorstellung ist gleichermaßen erschreckend wie befreiend, da diese Sätze hinterrücks ein ganzes Leben zunichtemachen, aber auch etwas in Bewegung setzen können, was desillusioniert, außerhalb der eigenen Möglichkeiten zu liegen schien. Nun klingt die Frage ›Hast du vielleicht Lust, spazieren zu gehen?‹ nicht gerade nach einer Lebenswendemarke. Aber für mich war es eine, denn ich war in diesen Dingen alles andere als mutig. Geplant und im Hirn zurechtgeschliffen, hätte solch ein Satz mit absoluter Sicherheit niemals meinen Mund verlassen, wäre vielmehr herabgesunken, am Herz vorbei, tiefer und tiefer ins Dunkle, auf den bereits gut belegten Friedhof der verpassten Möglichkeiten.
»Hast du vielleicht Lust, spazieren zu gehen?«
Sie riss die Augen auf, sah aus wie ein fassungsloser Kobold, vor dessen Höhle jemand nach Jahrhunderten den Stein weggerollt hatte. Sie wandte sich ein wenig von mir ab und begann zu sprechen, führte ein Selbstgespräch, in rasendem Tempo ging es mit verstellter Stimme hin und her. »Du, ich bin gerade gefragt worden, ob ich einen Spaziergang machen möchte.« »Wie, einfach so?« »Ja, stell dir vor. Oh mein Gott!« »Mensch, sei bloß vorsichtig, du kennst den doch gar nicht! Es ist mitten in der Nacht.« »Glaubst du, der ist gefährlich?« »Man weiß ja nie.« »Also, er macht auf mich einen extrem harmlosen Eindruck.« »Harmlos oder eher langweilig?« »Ich bin mir nicht ganz sicher.« »Sieht er denn wenigstens gut aus?« Sie sah prüfend an mir hoch und runter: »Na ja, geht so.« »Also dann, klares Nein.« »Immerhin, er hat mich zum Lachen gebracht.« »Na dann, wenn du unbedingt willst, mach es halt!« Sie nickte mir zu und sagte betont nüchtern: »Ich darf.«
»Freut mich.« »Sind da noch welche von den Schnitzeln in der Wanne? Die sind lecker.« Ungeschickt klapperte sie den Deckel herunter und griff sich mit jeder Hand zwei weitere Stücke Fleisch. »Proviant!«, rief sie. »Guck mal, das eine sieht aus wie Korsika und das andere wie Sri Lanka. Obwohl …«, sie knabberte am Fleisch herum, »die Landzunge muss noch weg. Oh Mist. Zu viel. Jetzt sieht es aus wie Ungarn. Wir brauchen auch noch was zu trinken. Geh du mal Bier klauen und ich besorg Zigaretten. Les cigarettes transforment les pensées en rêves. Ich hol meinen Mantel.«
Ich ging zur Bar und war unsicher, wie viele Flaschen ich kaufen sollte. Plötzlich schien die Anzahl der Bierflaschen der Gradmesser meiner Erwartungen für den noch ausstehenden Abend zu sein. Zwei Flaschen sahen schwer nach Halbe-Stunde-noch-dann-geh-ich aus. Zwei für jeden ist vernünftig, dachte ich, aber was, wenn sie noch gerne eine dritte hätte, und alleine trinken lassen wollte ich sie auch nicht. »Sechs Flaschen Bier, bitte.« Ich war schon immer jemand, der durch seine vorauspreschenden Vorstellungen Situationen in Sekundenschnelle ins Irrationale zu potenzieren verstand. Zwei Gedanken, vier Gedanken, acht Gedanken, sechzehn, zweiunddreißig. Jetzt geriet ich zum Beispiel in Sorge darüber, wie ich im Fall der Fälle ihre Hand halten oder sie gar umarmen sollte, wenn ich sechs verdammte Bierflaschen durch die Nacht schaukeln musste. Während ich wartete, geriet ich tiefer und tiefer in Gedankenspannungen, die mit Wechselstrom betrieben wurden. Minus: Ihre französischen Satzhäppchen ärgerten mich. Plus: Ihre Gedankenschnelle begeisterte mich. Minus: Ihr permanentes Hakenschlagen machte mich nervös. Plus: Ihre aufgerissenen Augen platzten fast vor Ungestüm. Minus: Fand sie mich wirklich hässlich? Plus: Ich hatte sie zum Lachen gebracht. Minus: Sie würde die sechs Bierflaschen sehen und denken, ich würde etwas im Schilde führen.
Jemand versetzte mir einen Hieb auf die Schulter: »Schönen guten Abend. Ich glaub, wir sind verabredet!« Sie sah die Bierflaschen. »Ich hatte eigentlich eine Nachtwanderung gebucht und kein Besäufnis. Los, komm.« Ohne uns von irgendjemandem zu verabschieden, verließen wir das Theater. Sie schien tatsächlich allein auf der Premierenfeier gewesen zu sein. Sie kommt mir vor, dachte ich beim Treppenhinabsteigen, wie jemand, den zu Hause die Einsamkeit übermannt haben könnte, und der sich in einem Kraftakt aufgerafft und sich schön gemacht hatte, um so auf andere Gedanken zu kommen. Um mit dem Zuschlagen der Wohnungstür auch in sich selbst etwas für einige Stunden zu verschließen.
Sie stieg die Stufen auffallend unbeholfen hinunter. Jeden Schritt setzte sie einzeln und hielt sich dabei am Geländer fest. Als sie meinen fragenden Blick sah, sagte sie: »Treppen und ich, das ist eine traurige Geschichte. Wir stehen auf Kriegsfuß.« »Kann ich was tun?« »Wenn dir was Gutes einfällt, gerne.« Ich wurschtelte mit den Flaschen herum und stützte sie. Stufe für Stufe half ich ihr hinab.