Die Zweisamkeit der Einzelgänger

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Inhaltsverzeichnis

und meinen Bruder

Junger Schauspieler sucht ab sofort:

kleine, helle, ruhige Wohnung!

Ewig hatte ich über die Abfolge der Adjektive nachgedacht, sie gedreht und gewendet, als hinge allein davon der Erfolg meiner Suche ab.

Ich wanderte durch die fremde Stadt. Alle Blätter unversehrt. Doch eine Anzeige war durch einen Zusatz ergänzt worden. Mit dickem Filzstift hatte jemand unter meinen Satz geschrieben:

Zum Sterben

Junger Schauspieler sucht ab sofort: kleine, helle, ruhige Wohnung zum Sterben!

Das als ein gutes Vorzeichen zu deuten, gelang selbst mir nicht.

Dann allerdings, kurz bevor ich nach nur zehn bitteren Monaten Bielefeld Richtung Dortmund wieder verließ, lernte ich jemanden kennen.

Die erste große Liebe meines Lebens.

»Willst du dich umbringen?« Das war der erste Satz, den sie zu mir sagte, und ich habe mich später noch oft gefragt, ob mir das eine Warnung hätte sein sollen. Ich hatte sie den ganzen Abend über während der faden Premierenfeier beobachtet, fasziniert von ihrem Aussehen. Zu große Zähne, zu große Augen, zu platte Nase, verdammt kurze Haare. Sie gefiel mir sofort. Immer wieder sahen wir uns an und tatsächlich – sie lächelte ein bisschen. Ihr Kopf bewegte sich seltsam mechanisch, auch die Arme und Hände, alles wie einzeln, unabhängig voneinander, als passe kein Körperteil zum anderen. Dadurch sah ich sie aber umso deutlicher. Elegant, aber doch auch steif, ja fast ein wenig roboterhaft hob sie die Bierflasche zum Mund. Ihr eines Auge wurde je nach Kopfhaltung mal mehr, mal weniger von fallenden Strähnen verdeckt, das Haar im Nacken hingegen war ausrasiert. Sie trug eine weiße Bluse mit eigenwilligem Kragen, einen dunkelblauen Bundfaltenrock, dessen Kanten und Knicke in gut organisierten Wellen hin und her schwangen, eine dunkle Strumpfhose und altmodische Schuhe mit abgerundeten Schuhspitzen. Es kostete mich einige Mühe, sie momentweise aus den Augen zu lassen, sie nicht ununterbrochen anzustarren. Etwas an ihr war komplett eigenartig. Aber was es genau war, konnte ich nicht sagen. War es die von Sommersprossen überstreuselte,

Egal, wo ich mich während der Feier aufhielt, ich wusste immer, wo sie war. Eine innere Magnetnadel zeigte stur in ihre Richtung. Drehte ich mich ab, musste ich das gegen einen Widerstand tun, so als würde ich versuchen, mich aus einem Kraftfeld herauszuarbeiten. Drehte ich mich wieder zu ihr, wirbelte es mich regelrecht herum. Im Laufe des Abends wuchs ihre Gravitation auf mich. Meine Füße wollten zu ihr, einfach losmarschieren und sich vor sie stellen. Doch völlig ohne Plan, ohne wohlüberlegte Sätze schien mir das eine zu waghalsige Annäherung zu sein, und erst als ich mich mit dem Arm in ein Geländer einhakte, eine der Streben fest umfasst hatte, fühlte ich mich sicher, nicht gegen meinen Willen ihrer Anziehungskraft zu erliegen. Ich unterhielt mich mit einem Kollegen über die Aufführung, ob sie ein Erfolg gewesen war oder nicht, ob die verhaltene Reaktion des Publikums Ergriffenheit oder doch eher Langeweile bedeutet hatte. Während des Gespräches sah ich ihr auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes ohne meinen Satz zu unterbrechen direkt in die Augen. Das war von einer betörenden Beiläufigkeit und Intensität. Immer und immer wieder trafen sich unsere Blicke.

Ich schlenderte ihr hinterher zur Tanzfläche. Noch nie hatte ich jemanden so tanzen gesehen. So ungelenk. Die Hände zu Fäusten geballt, sah es aus, als würde sie mit unsichtbaren Skistöcken herumhantieren, dazu stapfte sie

Da ich vor der Premiere sehr aufgeregt gewesen war, hatte ich zu essen vergessen. Mein vernachlässigter Magen knurrte mich an, und ich ging in den Nebenraum, wo das Buffet zwar noch aufgebaut, aber bereits von einer Horde hungriger Hunnen überfallen worden war. Auf den leer gefressenen Tabletts lagen nur noch die zerfetzten Salatblätter der Dekoration, zerrissen und zermatscht, wie die noch nicht abtransportierten Schwerverwundeten nach einer brutal gekämpften Buffetschlacht. In einem der Zinksärge litten ein paar panierte Hähnchenschnitzel vor sich hin, die letzte Reserve, knapp der Meute entronnen, ganz bisschen warm noch, aber kurz vor dem Labbrigkeitstod. Während ich mir das dritte Hähnchenschnitzel auf den Pappteller stapelte, war ich mir plötzlich sicher, dass sie in meiner Nähe war. Aber ich drehte mich nicht um, war gebannt von einer Kraft in meinem Rücken, einer wohltuenden Gefahr. Es war, als wäre ich rückwärts an eine Schlucht herangetreten, oder richtiger, als wäre der Abgrund zu mir gekommen. Direkt hinter meinen Fersen schien ein Krater zu klaffen.

»Willst du dich umbringen?« Ihr Satz riss mich herum. Ihr Blick war klar und angriffslustig wie nach einem heftigen Streit und traf mich voll. Ich schmeckte, was ich nicht begriff: Rauch. In meinem Rachen kratzte es. Beißender Qualm

»Willst du wirklich drei von diesen ekelhaften Hühnerschnitzeln essen? Das ist doch Selbstmord. Da gibt es doch elegantere Möglichkeiten. Oder hast du Kopfschmerzen?« »Was bitte?« »Na, ob du Kopfschmerzen hast!« Ich zögerte. Da legte sie los: »In der Massentierhaltung werden die Hühner so eng zusammengepfercht, dass sie sich gegenseitig wund scheuern und offene Stellen an den Flügeln bekommen. Der Schmerz macht sie aggressiv, und deswegen hacken sie sich gegenseitig die Augen aus oder töten sich. Also bekommen sie Schmerzmittel ins Futter gemengt. Dann spüren sie wenigstens ihre Verletzungen nicht mehr und halten still. Von den Wachstumshormonen werden sie so fett, dass sich ihre Gelenke entzünden. Da bekommen sie auch noch Antibiotika. Zur Massenexekution humpeln sie ahnungslos durch dunkle Gänge und gackern leise miteinander. Würde irgendjemand ihre Sprache sprechen, könnte man Sätze aufschnappen wie ›Mir haben sie gesagt, sie bringen uns auf eine herrlich grüne Wiese‹ oder ›Macht euch keine Sorgen, jeder wird sein eigenes Nest bekommen‹. Lieb wie sie sind, trippeln sie gutgläubig ihrem neuen Leben entgegen, immer

Sie tippte mit ihrem lackierten Fingernagel auf die Panade meines Hühnerschnitzels. »Das ganze Zeug lagert sich im Fleisch ab. Also genau genommen hilft schon ein winziger Happs dieser gefolterten Schuhsohlen nicht nur gegen Kopfweh, sondern auch gegen Husten und Fieber. Eigentlich dürfte es die nur in der Apotheke auf Rezept geben. Von den Hormonen kann es sein, dass du Brüste bekommst, dir die Haare ausfallen und wichtige Körperteile verschrumpeln. Also ich an deiner Stelle würde mir das gut überlegen. Guten Appetit.«

Ich kam mir vor, als wäre ich in ein hochprofessionelles Spiel eingewechselt worden, dessen Regeln ich nicht kannte. Kein Mensch konnte so viele Bälle auf einmal fangen, geschweige denn zurückspielen. »Nein, es gibt …«, ich suchte nach Worten, blätterte hektisch in meinem Gehirnduden, aber alle Seiten verklebt, »eigentlich hab ich einfach nur …« Doch bevor ich meinen Satz zu Ende sprechen konnte, rief sie: »Sag bitte nicht: Hunger. Bitte, bitte, nicht. Das wäre so langweilig. Du wolltest nicht sagen, dass du Hunger hast, oder?« So ging das nicht weiter. Ich musste jetzt langsam mal aufwachen, irgendeinen Motor anwerfen, von dem ich noch gar nicht wusste, dass ich ihn überhaupt hatte. Doch die

»Ich frag dich jetzt noch ein allerletztes Mal«, ihre Stimme war ernst, ohne Betonungen flog der Satz heraus, »hast du diese drei Hähnchenschnitzel wirklich, also ich meine wirklich, für mich geholt?« Bei dem Wort wirklich hatte sie sich

»Gut«, sagte ich, »wenn du wirklich, also ich meine wirklich die Wahrheit wissen willst …« Ich imitierte sie, biss ebenfalls mit den Zähnen in das W der Wirklichkeit. »Sie sind«, ich holte theatralisch Luft, »für mich. Alle drei! Denn ich habe unglaublichen Hunger.« Ich nahm mir das oberste Hähnchenschnitzel und biss hinein wie ein kerniger Landwirt aus der Geflügelwerbung.

Sie strahlte mich an, strahlte und zuckte zusammen. »Autsch, immer wenn ich zu dolle grinse, reißen mir die Mundwinkel ein. So ein Mist. Ich bin eine Fehlkonstruktion. Ich kann nicht mal richtig lachen, wenn mich mal was freut. Aber du hast es geschafft mit deiner grandiosen Hähnchenschnitzelnummer. Danke für den Schmerz.« Tatsächlich sammelte sich in ihrem Mundwinkel ein bisschen Blut. Mit breitem Vampirgrinsen sah sie mich an. Ich gab ihr eine Serviette vom Buffettisch. Sie tupfte sich die pralle Blutperle aus dem Mundwinkel heraus. Auf dem Weiß des saugstarken Papiers breitete sich zeitrafferrasant ein kreisrunder Fleck aus. Triumphal schwenkte sie das blutige Fähnlein in meine Richtung. So einfach also, dachte ich, bastelt man sich eine japanische Flagge. »Wusstest du, dass in der russischen Sprache das Wort Blut auch Schönheit bedeutet? Wenn man also sagt ›Ich liebe deine Schönheit‹, sagt man auch ›Ich liebe dein

Da krallte sie sich plötzlich in meinen Unterarm, schloss die Augen, stand reglos da und wurde kreideweiß. »Mist. Warte, warte kurz.« Nach einer Weile, während der sie behutsam ein- und ausgeatmet hatte, flüsterte sie: »Oh je, oh je. Mir ist schlecht. Ist das okay, wenn wir hier einen Moment so stehen? Geht gleich wieder. Mon dieu. Ich hab überhaupt nichts gegessen.« Sie hatte ihren festen Griff gelöst, locker lag ihre Hand auf meinem Arm, als warte sie darauf, von mir zu einem höfischen Tanz geführt zu werden. Sie hatte kurze, kräftige Finger, alle Nägel abgekaut, bis tief hinein in das nicht für die Luft bestimmte hellrosa Nagelfleisch.

»Kann ich irgendwas tun? Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«, fragte ich besorgt. »Nur noch einen Augenblick. Mir ist total schummerig.« Ich wollte etwas sagen, doch sie hörte mich einatmen und machte sogleich: »Psssst.« Und hauchte:

»Wenn das so weitergeht, muss ich noch zum Mundwinkelchirurgen, meine große Klappe zunähen lassen.«

»Hast du vielleicht Lust, spazieren zu gehen?«

Ich war genauso fassungslos über den Satz wie sie. Meine Frage war ohne Ausweispapiere an allen Kontrollpunkten und Sicherheitsschleusen vorbei dreist von meiner Zunge aus ins Freie gesprungen. Kein Gedanke war diesem Satz vorausgegangen.

Vielleicht, dachte ich später, trägt jeder Mensch so ein paar Sätze in sich, von denen er gar nichts weiß, die unbemerkt in ihm schlummern und das ganze Leben verändern können. So einen kleinen handlichen Trommelwortrevolver, dessen Kugeln sich unerwartet lösen und unleugbar, unumstößlich ins Dasein knallen. Natürlich kann man auch nach monatelangen Qualen und Hunderten heimlich absolvierter Therapiesitzungen sagen: ›Ich kann nicht mehr mit dir leben.‹ Aber es kann eben auch passieren, dass sich solch ein Satz wie ein Schuss löst, eine unbekannte tiefer gelegene Macht den Hahn spannt und ansatzlos die Worte beim Abwaschen abfeuert. ›Ich verlasse dich‹ oder ›Ich hasse euch‹. ›Was bitte?‹ ›Ja, ich kündige. Ich pack jetzt meine Sachen und komme nie wieder.‹ Diese Vorstellung ist gleichermaßen erschreckend wie befreiend, da diese Sätze hinterrücks ein ganzes Leben zunichtemachen, aber auch etwas in

»Hast du vielleicht Lust, spazieren zu gehen?«

Sie riss die Augen auf, sah aus wie ein fassungsloser Kobold, vor dessen Höhle jemand nach Jahrhunderten den Stein weggerollt hatte. Sie wandte sich ein wenig von mir ab und begann zu sprechen, führte ein Selbstgespräch, in rasendem Tempo ging es mit verstellter Stimme hin und her. »Du, ich bin gerade gefragt worden, ob ich einen Spaziergang machen möchte.« »Wie, einfach so?« »Ja, stell dir vor. Oh mein Gott!« »Mensch, sei bloß vorsichtig, du kennst den doch gar nicht! Es ist mitten in der Nacht.« »Glaubst du, der ist gefährlich?« »Man weiß ja nie.« »Also, er macht auf mich einen extrem harmlosen Eindruck.« »Harmlos oder eher langweilig?« »Ich bin mir nicht ganz sicher.« »Sieht er denn wenigstens gut aus?« Sie sah prüfend an mir hoch und runter: »Na ja, geht so.« »Also dann, klares Nein.« »Immerhin, er hat mich zum Lachen gebracht.« »Na dann, wenn du unbedingt willst, mach es halt!« Sie nickte mir zu und sagte betont nüchtern: »Ich darf.«

»Freut mich.« »Sind da noch welche von den Schnitzeln in der Wanne? Die sind lecker.« Ungeschickt klapperte sie den Deckel herunter und griff sich mit jeder Hand zwei weitere Stücke Fleisch. »Proviant!«, rief sie. »Guck mal, das eine sieht aus wie Korsika und das andere wie Sri Lanka. Obwohl …«,

Ich ging zur Bar und war unsicher, wie viele Flaschen ich kaufen sollte. Plötzlich schien die Anzahl der Bierflaschen der Gradmesser meiner Erwartungen für den noch ausstehenden Abend zu sein. Zwei Flaschen sahen schwer nach Halbe-Stunde-noch-dann-geh-ich aus. Zwei für jeden ist vernünftig, dachte ich, aber was, wenn sie noch gerne eine dritte hätte, und alleine trinken lassen wollte ich sie auch nicht. »Sechs Flaschen Bier, bitte.« Ich war schon immer jemand, der durch seine vorauspreschenden Vorstellungen Situationen in Sekundenschnelle ins Irrationale zu potenzieren verstand. Zwei Gedanken, vier Gedanken, acht Gedanken, sechzehn, zweiunddreißig. Jetzt geriet ich zum Beispiel in Sorge darüber, wie ich im Fall der Fälle ihre Hand halten oder sie gar umarmen sollte, wenn ich sechs verdammte Bierflaschen durch die Nacht schaukeln musste. Während ich wartete, geriet ich tiefer und tiefer in Gedankenspannungen, die mit Wechselstrom betrieben wurden. Minus: Ihre französischen Satzhäppchen ärgerten mich. Plus: Ihre Gedankenschnelle begeisterte mich. Minus: Ihr permanentes Hakenschlagen machte mich nervös. Plus: Ihre aufgerissenen Augen platzten fast vor Ungestüm. Minus: Fand sie mich wirklich hässlich? Plus: Ich hatte sie zum Lachen gebracht. Minus: Sie würde die sechs Bierflaschen sehen und denken, ich würde etwas im Schilde führen.

Jemand versetzte mir einen Hieb auf die Schulter: »Schönen guten Abend. Ich glaub, wir sind verabredet!« Sie sah die Bierflaschen. »Ich hatte eigentlich eine Nachtwanderung gebucht und kein Besäufnis. Los, komm.« Ohne uns

Sie stieg die Stufen auffallend unbeholfen hinunter. Jeden Schritt setzte sie einzeln und hielt sich dabei am Geländer fest. Als sie meinen fragenden Blick sah, sagte sie: »Treppen und ich, das ist eine traurige Geschichte. Wir stehen auf Kriegsfuß.« »Kann ich was tun?« »Wenn dir was Gutes einfällt, gerne.« Ich wurschtelte mit den Flaschen herum und stützte sie. Stufe für Stufe half ich ihr hinab.