Im Anhang finden Sie sämtliche Begriffe, die im Lauf des ›Menschliche-Regungen‹-Projekts mit Leben gefüllt werden sollen. Alle Begriffe, die in diesem Band und den bisher erschienenen Bänden der Serie bereits eine Geschichte bekamen, wurden gefettet.
Als Paul Lutz die Tür zu seiner neuen Wohnung aufschließen wollte, stellte er fest, dass von innen bereits ein Schlüssel stecken musste. Er sah die vielen Kinderschuhe auf dem Treppenabsatz und vergewisserte sich nochmals, dass auf dem Klingelschild »Dienstwohnung BGT« stand. Er klingelte, und als er in der Wohnung jemanden in einer Sprache schimpfen hörte, die ihm völlig fremd war, schulterte er wieder seine Tasche, die er abgestellt hatte, weil sein Handwerkszeug so schwer war.
»Hier bin ich, Lutz mein Name«, sagte er, als eine Frau mittleren Alters öffnete, reichte ihr die linke Hand, weil die Tasche abzurutschen drohte und er den Riemen halten musste, und schob sich an ihr vorbei. In der Wohnung herrschte gemütliches Chaos, aber die Kinder, die hier getobt haben mussten, waren ausgeflogen.
»Welches ist denn mein Zimmer?«, fragte er, dann fiel ihm ein, dass die Frau vielleicht nicht wusste, wer er war. »Ich bin der neue Hauswart, ich fange morgen an«, erklärte er. »Das ist die Hauswartswohnung. Aber es stört mich nicht, sie mit Ihnen zu teilen, im Gegenteil. Gesellschaft tut mir gut. Zeigen Sie mir nur, wo ich schlafe.«
Die Frau trat stattdessen ins Treppenhaus und schrie: »Efgenia! Adamo!«, und wieder etwas in jener Sprache, deren Klang ihm außerordentlich gefiel.
»Ist das Russisch?«, fragte er, als sie ihre kleine Litanei beendet hatte. Doch bevor sie Antwort geben konnte, rief von oben eine Frau zurück, und nun ging es eine Weile hin und her. Schließlich ließ er die Tasche wieder zu Boden gleiten und gesellte sich zu ihr ins Treppenhaus.
Inzwischen kam ein Mann mit Pferdeschwanz die Treppe herab. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«, fragte er.
»Ich bin der neue Hauswart, ich fange morgen an«, erklärte Paul und gab ihm die Hand. »Lutz.«
Der Mann stutzte, dann ergriff er sie und sagte: »Adamo. Adamo Costa. Uns hat keiner gesagt, dass du kommst.«
»Also dann, Paul«, sagte Paul Lutz, als er hörte, dass der andere ihn duzte. »Das ist doch aber die Dienstwohnung, oder?«
»Ja, nur …«, begann Adamo und brach wieder ab. Mittlerweile war ihm eine zweite Frau die Treppe hinab gefolgt, die der ersten glich, sie sah nur älter aus. Sie hatte beim Gehen Beschwerden. »Das ist Lutz«, sagte Adamo zu ihr, »er ist der neue Hauswart. Er braucht die Wohnung.«
Paul winkte ab: »Nein, nein«, doch bevor er weiterreden konnte, sagte die zweite: »Das ist er also.« Und nach kurzem Zögern gab sie ihm die Hand. »Efgenia.«
»Also Paul«, sagte er. »Paul Lutz. Und es stört mich gar nicht, wenn hier Leute wohnen. Ich brauche nicht viel Platz.«
Efgenia redete in jener schönen Sprache auf die erste Frau ein, dann nahm sie ihn am Handgelenk und sagte: »Gehen wir erst mal zu uns.«
Aufwärts lief sie besser. Er begleitete sie in den dritten Stock, während Adamo und die erste Frau unten blieben. »Was sprecht ihr, Russisch? Oder Polnisch?«, wollte Paul wissen.
»Griechisch«, antwortete sie. »Die ganze Familie ist zu Besuch, meine Eltern oben, die Schwester mit den Kindern unten – dachten wir. Sollen sie meinetwegen hochziehen, jetzt ist es ja endlich Sommer geworden, und Adamo und ich können auf dem Balkon schlafen.«
»Ich will wirklich keine Umstände machen«, sagte Paul abermals. »Ich fühle mich in Gesellschaft sehr wohl.« Doch Efgenia überhörte ihn.
Auch in der oberen Wohnung fühlte er sich gleich zu Hause. Es roch nach ganz vielem, unter anderem nach Essen, Kleider lagen überall, irgendwo lief ein Radio. Efgenia führte ihn auf einen kleinen, hübschen Balkon, auf dem ein Grill, Stühle, ein Hocker und ein Tischlein standen und Geranien blühten. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Efgenia und Adamo hier nachts Platz finden sollten. Aber die Sicht auf die nahe Kirche begeisterte ihn, und dass er mit ausgestrecktem Arm und gerecktem Körper fast in die Krone eines der japanischen Schnurbäume greifen konnte, die die Röntgenstrasse säumten, erinnerte ihn an ein Buch, das ihm vor Langem vorgelesen worden war, die Geschichte eines Barons, der in Baumkronen lebte und nie herabstieg.
Als Efgenia mit einem Krug Eistee und Gläsern wiederkam, hatte er sich auf den Hocker gesetzt und sagte: »Richtig lauschig ist es hier bei euch.« Sie goss ihm nur ein und ging wieder – wenn er recht verstanden hatte, war sie durch seine Ankunft beim Bügeln gestört worden. Kurz darauf zeigte sich Adamo in der Balkontür, er hatte zwei Koffer ins Wohnzimmer gestellt und erkundigte sich, ob er gut versorgt sei.
»Ich habe es hier herrlich«, sagte Paul, dann war er wieder allein. Doch nun hörte er unten auf der Straße abermals Griechisch sprechen, er beugte sich übers Geländer und sah Kinder, dahinter zwei Erwachsene mit Strohhüten. Kurz darauf betraten sie die Wohnung, die Erwachsenen – dem Aussehen nach Efgenias Eltern – hängten im Wohnzimmer Badekleidung und Tücher über die Stühle und setzten sich zu ihm auf den Balkon. Sie mussten sich alle etwas quetschen, denn der Grill stand wirklich unglücklich.
»Kalispera«, sagten sie und schenkten sich Eistee ein, dann bot der Mann ihm eine Zigarette an (Paul rauchte aber nicht). Er zündete sich selber eine an und wollte wissen, ob er ein Freund von Adamo sei. Er sprach mit Akzent, aber fließend Deutsch.
»Nein, ich bin der neue Hauswart«, sagte Paul. »Sie sind Efgenias Eltern, richtig?«
»Richtig«, bestätigte er und übersetzte für seine Frau. Die schlug ihn freundlich vor die Stirn und sagte zwei, drei Worte.
»Meine Frau hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Efgenia uns gerade eben von Ihnen erzählt hat«, erklärte er. »Sie benötigen die Wohnung, deshalb muss Eleni mit den Kindern hochziehen.«
»Nein, das wäre mir nicht recht«, widersprach Paul, »und es ist auch nicht nötig. Ich brauche nicht viel Platz.«
Efgenias Vater übersetzte wieder, und die Mutter gab Antwort, dann ging sie hinein.
»Ich habe sie doch nicht vertrieben?«, fragte Paul. »Ich möchte niemanden vertreiben.«
»Sie geht nur kochen«, sagte der Vater. »Für Sie.«
»Für mich?«, rief Paul, »warum für mich?«
Er antwortete: »Ich hatte ihr übersetzt, dass Sie die Wohnung mit Eleni teilen möchten, und sie meinte, es wäre nicht das Schlechteste, wenn Sie Eleni schwängern. Dass Sie bestimmt der bessere Mann wären als der, mit dem Eleni zusammenlebt, und sie außerdem dann mit den Kindern hierbleiben könnte.«
»Oh«, sagte Paul und wurde rot, »so weit hatte ich gar nicht gedacht.«
Damit endete das Gespräch, denn die drei Kinder drängten gleichzeitig auf den Balkon und stritten sich um den Eistee. Dabei gingen zwei Gläser zu Bruch, und Adamo musste hinunter zu den Nachbarn, weil auf deren Balkon Scherben lagen. Dort war allerdings keiner zu Hause.
»Bestimmt sind sie in diesem Schwimmbad vorn am Fluss, wie heißt es noch gleich?«, sagte Efgenias Vater, den sie im Übrigen Babas nannten, und nachdem Paul gestanden hatte, dass er sich in Zürich noch nicht auskannte, schwärmte Babas lange von jenem Bad gleich um die Ecke, von halb nackten Teenagern, schön wie der Tag, und davon, wie wenig Immigranten es gab. Paul hörte ihm sehr gern zu, obwohl er nicht in allem mit ihm einigging.
Schließlich kam Efgenias Mutter wieder, die sie Mana nannten, und wollte, dass er mit ihr in die Küche kam. Dort war alles voller Dampf und Rauch, denn sie kochte und briet bei geschlossenem Fenster, und auf allen Platten, ebenso im Backofen. »Sonntags macht sie immer großes Familienessen«, erklärte Babas, der ihnen gefolgt war, und schob ihm einen Stuhl in die Kniekehlen. Mana redete nun mehr, als Babas übersetzen mochte. »Sie findet, Sie sind zu mager, und will Sie mästen«, sagte er nur, und so saß Paul die ganze Zeit über neben dem Herd, während Efgenia und Adamo den Tisch auszogen und deckten, Mana ihre Rezepte erläuterte, Babas bei Ouzo auf Eis seine Sehnsucht nach einem Großgriechenland im Geiste Alexanders des Großen ausbreitete, das die Welt wieder an die alten hellenischen Werte heranführen und vor der zionistischen Weltverschwörung retten sollte, Eleni im Wohnzimmer schimpfend Koffer auspackte und den Kindern Notbetten herrichtete, das kleine Mädchen sich erbrach, weil es von den Büschen am Weg gegessen haben musste, was es angeblich dauernd und überall tat – »die reinste Ziege«, sagte Babas –, und die beiden Buben sich schlugen. Paul kam sich vor wie ein König, vor ihm tobte die Welt, und er brauchte nur gelegentlich den Mund zu öffnen, damit Mana ihm die Kochkelle hineinschieben und ihn mit einer weiteren Delikatesse ihrer Familie vertraut machen konnte, die, wenn er recht begriff, aus einer Vorstadt von Athen stammte.
Zum eigentlichen Essen war er leider nicht mehr eingeladen. Kurz bevor es losging, kam Adamo, der für eine Weile verschwunden war, und sagte: »Auf geht’s, Lutz, deine Wohnung ist geräumt und geputzt. Willst du noch ein Bier mit nach unten nehmen?«
»Nein, ich bin schon reich beschenkt«, sagte er, und nachdem Mana ihm noch schnell einen Löffel von etwas in den Mund geschoben hatte, das laut Babas das Gelbe eines hart gekochten Eis an selbst fermentierter Fischsauce war, reichte er allen reihum die Hand (die Kinderhände waren klebrig) und ging hinunter.
Seine Wohnung lag schon im Schatten, und sie sah jetzt sehr karg aus. Aber er konnte noch die Kinder riechen, und als er das Bettsofa von der Wand schob, weil ihm schien, dass eine Schraube lose war, fand er eine unanständige Zeichnung auf die Tapete gekritzelt. Mit einer Mischung aus Wehmut und Befremden dachte er an seine eigenen ersten Fantasien und nahm sich vor, am nächsten Tag die Stelle neu zu streichen.
Kurz experimentierte er damit, seine Kleider in der Wohnung zu verstreuen wie die Costas, doch er merkte schnell, dass es nicht dasselbe war, sammelte sie wieder ein und legte sie gefaltet in den Schrank. Danach machte er einen Spaziergang zum Letten, sah den Jugendlichen zu, wie sie vom Brückengeländer in den Fluss sprangen, und genoss die Sonne, die hier noch überhaupt nicht an Abend und Alleinsein denken ließ.
Abends nach zehn, als endlich die Dämmerung hereinbrach, hatte Paul Lutz noch alle Gebäude der Kolonie Röntgen abgeschritten und sich notiert, wo in den Treppenhäusern Glühbirnen zu ersetzen waren. Danach hatte er sich schlafen gelegt. Doch er verbrachte eine sehr unruhige Nacht, denn vor Aufregung über den Stellenbeginn hatte er Bauchkrämpfe, und schon vor sechs Uhr erhob er sich, um seine Arbeit anzutreten.
Als Erstes sichtete er im Hof die Werkstatteinrichtung und das Materiallager, dann studierte er die Manuale einiger Maschinen und vereinbarte Termine mit der Sanitärfirma, um sich die Technik und den Wartungsstand von Heizungen, Wasserleitungen und Waschküchentechnik erklären zu lassen. Um neun Uhr ging er kurz zu Coop, um das Nötigste einzukaufen und im Stehen zu frühstücken, dann erst wagte er, des Schepperns der Leiter wegen, in den Treppenhäusern die defekten Glühbirnen zu ersetzen und die Schließer mancher Haustüren zu justieren, damit sie sanfter schlossen.
Als Genossenschaftssekretär Dr. Häberli und Koloniechef Läubli kamen, um ihn zu begrüßen und durch seine neue Wirkungsstätte zu führen, war ihm das meiste daher schon vertraut, und er fand Gelegenheit, sein Fachwissen unter Beweis zu stellen. So teilte er ihnen mit, dass es für die Treppenhausbeleuchtung Glühbirnen einer anderen Marke gebe, die weit weniger empfindlich auf Erschütterung reagierten und zudem leicht günstiger seien. Für die Türschließer reiche einfacher Gummi, um witterungsbedingte Spannungen auszugleichen und zu verhindern, dass die Tür bei nassem Wetter überhaupt nicht schließe, bei trockenem hingegen fast ungebremst ins Futter falle (und dabei ebenjene heiklen Birnen verschleiße).
Er fühlte sich auf gutem Wege, als er seine Chefs verabschiedete, und erlaubte sich, früh Mittagspause zu machen, denn er wollte sich so bald als möglich seinen neuen Nachbarn vorstellen.
Er begann oben links, bei Frau May. Als er klingelte, rief sie: »Nur herein, es ist offen.« Also trat er ein und sah sie am Küchentisch sitzen und stopfen. Der Anblick war so herzerwärmend, dass er kurz ins Stottern geriet.
»Lutz, also Paul«, sagte er, »ich bin der neue Hauswart, aber deswegen bin ich gar nicht hier. Ich bin nämlich zugleich Ihr neuer Nachbar, und als der wollte ich mich vorstellen.«
»Wer ist denn ausgezogen?«, fragte sie verwundert.
»Niemand«, sagte er, »ich habe die Dienstwohnung bezogen. Also doch, das Ehepaar Costa hatte darin Gäste untergebracht.«
Inzwischen hatte sie das Loch im Wollrock geflickt und gab ihm die Hand, dann rieb sie mit einem Silberlöffel über die Stelle. »Ein Hausfrauentrick, um das neue Garn speckig wirken zu lassen«, verriet sie. »Sehen Sie, jetzt fällt die Flickstelle kaum auf.«
»Sind Sie Schneiderin oder so?«, fragte er.
»Nein, Schauspielerin«, antwortete sie und nahm das nächste Loch in Angriff. »Ich werde die Mutter Courage spielen. Sie ist Händlerin an der Front im Dreißigjährigen Krieg. Ich stelle mir vor, dass sie viele Kleider von Gefallenen flickt und weiterverkauft – woher sonst sollte sie sie auch haben. Und wenn es nach mir geht, sogar die von ihrem eigenen Sohn, der im Stück vor ihren Augen erschossen wird.«
»Wie furchtbar«, sagte er und wagte es, ungefragt auf einem Schemel Platz zu nehmen. »Aber würde eine Mutter das tun?«
»Oh, die schon«, sagte sie. »Der geht der Handel über alles, sie ist da ganz konsequent. Erzählen Sie aber von sich, Herr Paul, wann haben Sie hier angefangen?«
»Heute früh um sechs«, sagte er und kam gar nicht dazu, das Missverständnis um seinen Namen zu klären.
Denn sie rief schon aus: »Da sind Sie ja einer von der schnellen Sorte! Und etwas altmodisch, nicht? Ist es heutzutage noch üblich, sich den Nachbarn vorzustellen?«
»Ich weiß es nicht, ich zwinge mich dazu«, sagte er ehrlich. »Sie müssen wissen, ich bin ein Mensch, der zur Vereinsamung neigt. Deshalb hat meine Mutter mir ein Gespräch mit einem ihrer Bekannten vermittelt, einem Seelsorger. Ich hatte nicht darum gebeten und wollte erst gar nicht hin, aber ich muss sagen, es hat sich gelohnt. Er hat mir nur zwei Fragen gestellt. Die erste: ›Was ist Ihr Ziel im Leben, oder Ihre größte Sehnsucht?‹ Gesellig zu sein, sagte ich. ›Und was ist Ihre größte Furcht?‹ Meine größte Furcht, Frau May, ist, den Menschen zur Last zu fallen, und das habe ich ihm auch gesagt. Danach sah er mich nur an und bemerkte: ›Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben.‹ ›Moment, Sie fragen gar nicht nach dem Grund für diese Furcht, ich habe nämlich gute Gründe‹, sagte ich. Doch er antwortete – und das war überhaupt das Entscheidende: ›Ihre Gründe interessieren mich kein bisschen, Herr Lutz. Wenn Ihr Wunsch so groß ist, werden Sie die Furcht besiegen, ganz egal, wie begründet sie ist. Denn es gibt keinen anderen Weg.‹«
Mit diesen Worten wollte Paul Lutz sich zurücklehnen, weil er ganz vergessen hatte, dass er auf einem Hocker saß, und konnte sich im letzten Augenblick an der Tischkante festhalten.
Frau May überspielte die Panne, indem sie bat: »Mir verraten Sie aber, was die Gründe für Ihre Furcht sind, oder?«
»Gern«, sagte er. »Meine Mutter hatte meinetwegen schwere Zeiten. Ich bin unehelich geboren, mein Vater gilt als unbekannt. Tatsächlich ist er ein überaus bedeutender Mann in unserer Gemeinde. Meine Mutter hatte als Sekretärin für ihn gearbeitet. Er ist verheiratet und hat drei Kinder, und dummerweise bin ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. – Ha, ich weiß, was Sie jetzt denken!«
»Nein, das wissen Sie nicht«, entgegnete sie. »Woher sollten Sie?«
»Weil das alle denken«, sagte er. »›Wie kann einer, der aussieht wie der Lutz, ein bedeutender Mann sein?‹«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte sie. »Offen gestanden habe ich überlegt, ob ich Ihre Geschichte irgendwie für meine Rolle nutzen kann. Mutter Courage hat drei Kinder von drei verschiedenen Vätern. Allerdings sind die Väter in diesem Stück nicht wichtig. Ich glaube also nicht, dass mir das etwas nützt.«
Er begann zu strahlen. »So wie Sie will ich auch werden. Alles einem Gedanken unterordnen. Das ist toll. Deshalb habe ich mir nach dem Gespräch mit dem Seelsorger auch vorgenommen, mutiger zu sein und auf die Menschen zuzugehen. Um die Stelle als Koloniewart habe ich mich nur deshalb beworben. Ich war Schulabwart in Rapperswil – glauben Sie mir, das ist ein ganz schön einsamer Beruf. Davor habe ich das Areal einer stillgelegten Fabrik in Uster gewartet, Sie verstehen schon. Hier werde ich erstmals wirklich mit Menschen zu tun haben, mit Menschen in ihrem privaten Umfeld. Gestern war ich schon bei Familie Costa zum Essen eingeladen, sozusagen jedenfalls.«
»Das kann ich Ihnen leider nicht bieten«, sagte Frau May offen. »Ich reise viel, und bin ich zu Hause, möchte ich in Ruhe gelassen werden.« Bei diesen Worten hatte sie auch die zweite Flickstelle mit dem Löffel abgerieben und stand auf, um sich den Wollrock vor den Schoß zu halten. »Sieht man noch etwas?«, fragte sie.
»Vom Geflickten nicht, aber da ist noch ein Loch«, sagte er und zeigte es ihr.
»Motten«, seufzte sie, setzte sich wieder und zog weiteres Garn in die Nadel ein.
»Das erinnert mich an einen Witz«, sagte Paul Lutz, »ich weiß nur nicht, ob er gut ist.«
»Zu spät«, rief sie, »raus damit!«
»Also gut, ich habe Sie gewarnt«, sagte er. »Ein Mann sieht im Restaurant, dass alle Kellner einen Löffel in der Hosentasche tragen. Er fragt, warum. Der Kellner sagt: ›So will es der Chef. Wir sparen damit Zeit, und Zeit ist Geld. Jeden Tag fallen hier etwa vierzig Löffel zu Boden. Müssten wir jedes Mal einen in der Küche holen, würde das pro Schicht eine Stunde Arbeitszeit verschlingen.‹ Das leuchtet dem Gast ein. Er hat aber außerdem bemerkt, dass allen Kellnern ein schwarzer Faden aus dem Hosenlatz hängt. ›Wozu ist der gut?‹, fragt er. Der Kellner wird rot und raunt ihm zu: ›Daran ist unser Johnny befestigt, wenn Sie wissen, was ich meine. So müssen wir ihn auf dem Klo nicht anfassen, brauchen die Hände nicht zu waschen und sparen damit nochmals eine Stunde Arbeitszeit.‹ Der Gast stutzt und fragt: ›Wie bringen Sie ihn danach wieder in den Schlitz?‹ ›Ich weiß nicht, wie die anderen das machen‹, sagt der Kellner, ›aber ich benutze dazu den Löffel.‹«
»Autsch, der ist wirklich mehr als schlecht«, beschwerte sich Frau May.
»Tut mir leid, ich hatte Sie gewarnt«, sagte er und stand gleich auf.
Sie legte das Nähzeug zur Seite und führte ihn zur Tür. »Sie sehen gar nicht aus wie jemand, der Witze erzählt«, stellte sie fest.
»Den und fünf andere habe ich extra auswendig gelernt«, gestand er. »Ich hatte gelesen, dass Frauen Männer mögen, die sie zum Lachen bringen. Das Lachen stimuliert ihren Beckenboden, das soll lustvoll sein.«
Jetzt lachte sie wirklich. »Das hat was, machen Sie so weiter«, sagte sie, und er hörte sie noch lachen, als die Tür schon zu war.
Beflügelt klingelte er gleich bei »Sommer«, und als dort niemand öffnete, einen Stock tiefer, wo auch die Costas wohnten, bei »Wyss«.
Herr Wyss musste wohl achtzig sein und hielt eine Kochkelle in der Hand. »Was gibt’s, wer sind Sie?«, fragte er gereizt.
»Paul Lutz, der neue Hauswart«, sagte er. »Doch vor allem bin ich Ihr …«
Weiter kam er nicht, denn dieser Herr Wyss machte sofort seinem Ärger Luft. »Sehen Sie das?«, fragte er und zeigte mit der Kelle auf die Schuhe der Costas. »Elf Paar habe ich heute früh gezählt, elf«, erklärte er. »Bis gestern waren es vier, das ist schlimm genug. Die Hausordnung verbietet das ganz klar. Und fragen Sie mich nicht, was die da drinnen treiben, in unserer Küche können wir uns zu gewissen Zeiten nicht mehr verständigen, so groß ist der Lärm. Und erst der Gestank. Ich habe denen schon vor zwei Wochen verboten, bei offenem Fenster zu kochen, und sie halten sich daran, will ich meinen. Der Gestank dringt aber durch die Mauern – weiß der Geier, was die da verkochen, Leichen oder Schlimmeres.«
Paul sah seine nächtlichen Bauchschmerzen in neuem Licht. Trotzdem sah er sich gedrängt, die Costas zu verteidigen. »Ich bin nicht unschuldig am Rummel hier oben«, begann er, »aber der ist auch nur vorübergehend.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, rief Herr Wyss und fuchtelte immer heftiger mit der Kelle. »Sie haben dafür zu sorgen, dass die Hausordnung befolgt wird, dafür sind Sie eingestellt. Haben Sie sie überhaupt gelesen?«
»Das habe ich«, versicherte Paul, »und ich meinte nur, dass die Schwester mit den Kindern …«
»Ich habe keine Zeit für Geschichten, ich muss kochen«, unterbrach Herr Wyss ihn wieder. »Aber ich sage Ihnen, wenn Sie den Laden nicht innerhalb Ihrer Probezeit auf Vordermann bringen, sorge ich dafür, dass Sie fliegen. Ein so durchmischtes Haus wie dieses – und darin steckt keine Wertung, ich wähle SP, wenn Sie es genau wissen wollen – braucht eine starke Hand. Wussten Sie, dass auf dem Estrich wild kampiert wird? Und die Schlösser sind kaputt, ich will nicht wissen, wer hier unbehelligt ein- und ausgeht. Doch als Erstes räumen Sie gefälligst diese Wohnung.« Damit schwang er nochmals heftig die Kelle, dann schlug er ihm die Tür vor der Nase zu.
Die Szene machte Paul Lutz betroffen, und er bekam wieder Bauchkrämpfe. Deshalb wollte er vor dem Mittagessen noch einen Versuch wagen, in der Hoffnung, versöhnt zum Essen gehen zu können. Im zweiten Stock öffnete wieder keiner, und damit war er schon bei seinem direkten Nachbarn. Er klingelte, obwohl er hörte, dass in der Wohnung musiziert wurde.
Der Mann hieß Hubert Brechbühl und war im besten Alter oder knapp darüber. »Ist schon Mittag?«, fragte er. »Ich spiele nur den Marsch zu Ende.«
»Nein, nein«, rief Paul, als Herr Brechbühl die Tür schon wieder schließen wollte, »ich bin gekommen, um mich vorzustellen. Ich bin Ihr neuer Nachbar, Lutz, Paul Lutz, und außerdem der neue Hauswart.«
»Schön, Herr Lutz, willkommen«, sagte Herr Brechbühl, »ich will aber wirklich noch den Marsch beenden, ehe es zwölf Uhr schlägt.«
Das verstand er. »Spielen Sie etwa Waldhorn?«, fragte er nur noch schnell. »Ich wollte auch immer Waldhorn lernen. Stattdessen wurde es Klavier, aber auch nur kurz, bis mich ein Barpianist warnte, dass Pianospieler der einsamste Beruf überhaupt sei. Und mein Lehrer fand, bei meiner Musikalität empfehle er mir eine Drehorgel. Als sei man als Drehorgelspieler nicht einsam.«
»Ich spiele Tuba«, sagte Hubert Brechbühl, und dann schlug es schon zwölf. »Nun bitte ich Sie sehr, mich zu entschuldigen.«
»Tuba, wirklich? Bringen Sie mir ein paar Töne bei?«, fragte Paul noch, als die Tür zuging. Sie blieb auch zu, obwohl Herr Brechbühl gar nicht mehr spielte.
Der dicke Brief, den Moritz Schneuwly in seiner Post fand – fast schon ein Päckchen –, verwirrte ihn zuerst, denn der Briefumschlag war von einer Qualität, die ihn an Ostblock denken ließ. Er war zudem speckig und an den Ecken eingerissen, allerdings klebten darauf die neuen A-Post-Marken der Schweizer Post, und abgestempelt war er in Zürich. »M.-C. Arden«, stand als Absender ganz klein an den linken Rand geschmiegt, und das Y in seinem Nachnamen war mädchenhaft zu einer Girlande oder Ranke ausgezogen, die die ganze Adresse einfasste.
Im Umschlag fand er ein vollgeschriebenes Heft in derselben wunderbar schäbigen Papierqualität, in das auch einige Fotos geklebt waren, außerdem einen kleinen, vergilbten Sprachführer aus dem Jahr 1961, der ihm endlich auf die Sprünge half:
Language Guide
(Fante Version)
Bureau of Ghana Languages, Accr.
Bevor ihm Marys Name wieder einfiel, sah er ihr dichtes, offensichtlich gestrecktes Haar vor sich und fragte sich, ob sie wohl in Ghana wieder Locken trug. Das Heft beantwortete diese Frage – wie überhaupt alle nur denkbaren Fragen.
Es begann mit den Zeilen: »Lieber Moritz, es fiel mir nicht leicht, dich zu verlassen. Nun bin ich seit zehn Tagen in Accra, und irgendwie bist du immer noch bei mir. Unser Gespräch hörte, nachdem ich damals aus deiner Wohnung gegangen war, einfach nicht auf, und hier brauche ich dringend jemanden wie dich, mit dem ich mich so blendend unterhalten kann. Auch wenn wir uns nur flüchtig begegnet sind, bist du mir hier, in dieser Situation, doch sonderbarerweise der Mensch, dem ich mich am allernächsten fühle. Und so esse ich mit dir jeden Morgen Rührei mit Tomate in Weißbrot und trinke eine halbe Plastiktasse Milo, die die mollige Ashante-Frau am Ende der Straße auf offenem Feuer zubereitet. Ich hörte dich schallend lachen, als ich weinend am Flughafen auf meinem Koffer saß und vergeblich darauf wartete, dass mich jemand abholt. Onkel Jeremy habe ich bis heute nicht gefunden, sein Auffanglager scheint eine Erfindung zu sein, mit der er Geld gescheffelt hat. Am Strand von Accra lernte ich Deutsche und Holländer kennen, die ihn einen guten Bekannten nennen, aber das sind Leute, die vor allem Karten spielen und trinken, und keiner von ihnen konnte mir sagen, was er eigentlich arbeitet. Es scheint ihn übrigens auch niemand zu vermissen. Egal, Ghana ist ein großes Abenteuer, und es wäre zum Lachen, wenn ich mich hier nicht durchschlüge. Automechaniker sind jedenfalls Mangelware, fast jedes Auto, das vorbeifährt, hat einen hörbaren Schaden. Ab morgen bin ich aber erst einmal Ko-Chauffeurin für eine schwedische Forschergruppe, die unheimlich witzig drauf ist. Also auf nach Kumasi!«
Danach hatte sie ihm alle paar Tage geschrieben und von Reisen auf dem Dach eines Saurer-Busses aus den 40ern zwischen Käfigen mit Hühnern erzählt, von einer Schiffsreise den Voltasee empor – inklusive Foto, das ein versunkenes Dorf zeigte – und von ihrem ersten Malariaanfall. Sie schilderte den Besuch der Krokodile von Paga und die Audienz beim König, dem das Dorf und der Teich gehörten: »Er war sehr charmant (er oder der Dolmetscher), und hätte ich gewollt, wäre ich jetzt Königin. Und wer weiß, ob ich nicht Ja gesagt hätte, hätte ich nicht deinen festen Griff am Handgelenk gespürt und wäre wieder in den Bus gestiegen. Es war übrigens nicht mein erster Heiratsantrag hier. Doch ebenso häufig ruft man mir ›Nutte‹ nach. Die traurige Wahrheit ist, ich lebe so keusch wie Sylvaine, die Nonne, von der ich dir erzählt hatte und die übrigens meine zweite Begleitung ist.« Interessanterweise hatte sie von ihrem zweiten Malariaanfall ein Foto eingeklebt, das ihre schmalen, sehr schönen Füße auf einer abgewetzten Matratze mit verrutschtem Laken zeigte, und zwar neben einem zweiten Paar Füße, einem dunkelhäutigen und ziemlich sicher männlichen. Das ganze Heft war voller solcher Rätsel.
Generell zeigte sie auf den Fotos nur Fragmente von sich: einmal einen Haufen frisch geschnittener Haare auf den Fliesen (Locken), einmal einen Kratzer an der Wade, daneben eine erschlagene Kobra. »Lucky me«, stand darunter. Und sehr humorvoll schilderte sie ihre Odyssee durch Krankenzimmer voller Blutlachen und Spitäler ohne fließend Wasser, ihren desaströsen Durchfall und Fieberattacken alle 48 Stunden.
Er las das Heft in einem durch. Es schloss mit drei kürzeren Episoden: »Heute im Trotro zum Arzt der Reichen, eingeklemmt zwischen zwei Soldaten mit Maschinenpistole, Ashantes, die mir in freundlichem Ton mitteilten, dass der Tag nicht fern sei, an dem sie Afrika endgültig von den Weißen befreien würden. Ich fragte, warum das nötig sei, die Staaten seien doch in ihrer Hand. Sie sagten, das sei eine philosophische Frage, damit würden sie sich nicht auskennen, aber Afrika sei nicht frei, solange ein Weißer darin lebe. ›Und wie werdet ihr es anstellen?‹, fragte ich. ›Mit der Machete‹, war die Antwort.«
Dann: »Habe dem Arzt, einem steinalten Deutschen, von den Soldaten im Trotro erzählt. Er konterte mit einer Geschichte von 1957: ›Das erste Schiff, dessen Fracht nach Inkrafttreten der Unabhängigkeit im Hafen von Accra gelöscht wurde, sank auch gleich. Die Hafenarbeiter hatten es von vorn nach hinten gelöscht statt von der Mitte nach den Rändern hin, wie es die Vernunft verlangt. Es waren dieselben Arbeiter, die all die Jahre über die Schiffe gelöscht hatten. Doch nachdem sie den weißen Vorarbeiter zum Teufel gejagt hatten, wussten sie nicht, wie es geht. Sie hatten sich nie überlegt, was sie da eigentlich tun. Das ist Afrika.‹ Dabei fiel mir die Geschichte eines Jungen aus Accra ein, Jimmy, etwa 16. Er war überzeugt, wir Weißen fliegen wie Superman durch die Lüfte. Dabei fliegen jeden Tag die Passagierjets über die Stadt. Immerhin glaubte er nicht, die Weißen seien verhext, sondern bildete sich ein, er könne selbst auch so fliegen, wenn er erst in Amerika lebe. Dieses Land ist so kindlich, Moritz, du würdest es lieben! Ich wurde noch nie so viel betrogen wie hier, aber auf welch herzliche Art!«
Der letzte Eintrag war: »Shirley nimmt mich mit nach New York! Sie ist Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Internationales Handelsrecht. Ich glaube, sie ist in mich verliebt, aber das soll nicht mein Problem sein. Sie sagt, ich sei Gold wert in ihrem Büro, weil ich so leicht Sprachen lerne, inzwischen kann ich auch schon recht gut Fante. Und rate, Moritz, wo sie ihr Büro hat: Im World Trade Center – wohoo! Gibt es einen radikaleren Gegensatz? Komm mich dort besuchen, ja? Oder lerne etwas Fante, und wir treffen uns am Flughafen in Accra – damit ich dort doch noch einmal glücklich von meinem Köfferchen aufspringen und jemandem um den Hals fallen kann. Dieses Heft gebe ich einer Freundin aus Zürich mit, die gerade hier ist, meine liebe, gute Bäckermeisterin Gisela, sie wird es dir bringen oder schicken. Und du, in jener Nacht, in der nichts geschah und die nun so unwirklich weit weg ist, konnte ich danach nicht schlafen und habe dir in der Gästewohnung etwas hinterlassen. Ich schäme mich ein bisschen dafür, aber du könntest dich freuen.«
Gleich ging Moritz einen Stock tiefer und klingelte, wo sie damals gewohnt hatte. Dass die Wohnung wieder belegt war, hatte er natürlich mitbekommen. Doch nicht die Griechin oder eines ihrer wilden Kinder öffnete, sondern ein blasser Enddreißiger mit hochgeschlossenem Karohemd, der gerade telefonierte.
»Moritz Schneuwly, von oben«, sagte er, als der Mann kurz den Hörer sinken ließ.
»Ich komme gleich hoch«, versprach der Mann und telefonierte weiter. Als er kam, hatte Moritz gerade die wenigen mit Bleistift unterstrichenen Sätze im Sprachführer auf ein Blatt geschrieben, weil er irgendwie erwartete, darin einen verborgenen Sinn zu finden. Doch mehr als Poesie entdeckte er nicht:
He likes arithmetic
Yes, I am waiting for him
You can buy herrings under those trees
The lighthouse is near the Fort, and you can get there by canoe
Show me the new knives, please
»Ich wollte mich Ihnen schon heute Mittag vorstellen«, erzählte der Mann, der Paul Lutz hieß. »Ich bin Ihr neuer Nachbar und der neue Koloniewart.«
»Und ich würde gern kurz in Ihre Wohnung gehen«, sagte Moritz offen. »Eine Freundin hat mir darin etwas hinterlassen. Ich weiß nicht, was und wo, aber ich bin sehr gespannt.«
»Oh, da war nichts, als ich einzog«, entgegnete Paul Lutz, »fragen Sie die Costas, die haben geputzt.«
»Es könnte sehr verborgen sein«, sagte Moritz.
»Ist Ihr Kühlschrank eigentlich in Ordnung?«, fragte der Hauswart völlig unvermittelt, »er klingt fast etwas aggressiv.« Damit schob er sich in die Wohnung, und kaum war er drin und sah das Labor, rief er: »Oh, wie wunderbar! Sind Sie Physiker?« Er klatschte wie ein Kind in die Hände und fasste alles an. »Donnerwetter, das sind noch Magnetspulen«, sagte er. »Ich habe ja eine Leidenschaft für so was. Woran forschen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Momentan im Bereich der Motorik«, antwortete Moritz pauschal.
Doch der Hauswart ließ nicht locker, und er schien auch etwas technisches Wissen zu haben. »Magnetfelder und Bewegung, das klingt nach Schwebebahn, tippe ich richtig?«, fragte er und strahlte.
»So halb, ich bin nicht praxisorientiert«, sagte Moritz. »Ich habe einfach gern Spaß. Zurzeit würde ich gern ein Perpetuum mobile bauen, ein ganz simples: einen Kreisel, der sich ewig dreht. Natürlich ist mir klar, dass das ohne Energiezufuhr nicht möglich ist, aber die bloße Illusion wäre schon aufregend genug. Ich denke, wenn man etwas Licht oder Wärme umwandeln könnte, ginge es. Es braucht ja verschwindend wenig Energie, um einen schwebenden Kreisel in Schwung zu halten.«
»Das ist großartig«, rief Paul Lutz wieder. »Lassen Sie mich raten, hat es mit der Lorentzkraft zu tun?« Er untersuchte einen der kleinen Kreisel, die herumlagen, und versuchte, ihn auf dem Magnetfeld zu halten.
»Die Lorentzkraft ist nur eine der Kräfte«, sagte Moritz. »Doch wenn Sie mögen, vergnügen Sie sich hier etwas, und ich gehe so lange in Ihre Wohnung.«
»Ja, aber kommen Sie schnell wieder, zu zweit macht es doppelt so viel Spaß«, sagte Paul Lutz. »Und Achtung, schieben Sie das Bettsofa noch nicht zur Wand, ich habe dort etwas überstrichen.«
»Was haben Sie überstrichen?«, wollte Moritz wissen.
Der Hauswart sagte: »Nur eine kleine Schweinigelei der Costa-Buben, denke ich.«
Moritz nahm Lappen und Eimer mit, ging hinunter und wusch die neue Farbe von der Wand. Leider fand er keine Zeichnung mehr. Doch als er die anderen Möbel von den Wänden rückte, entdeckte er hinter dem Bett, dem Schrank und einem Sessel kleine Kohle- oder Bleistiftzeichnungen von kopulierenden Paaren, und sie taten es an Orten, die mit ihrem damaligen Gespräch zu tun hatten, einmal mitten im Nudelauflauf, einmal im Beichtstuhl, einmal auf dem Rücken eines Flugzeugs. Er holte den Fotoapparat.
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte Paul Lutz, als Moritz ins Zimmer kam. Offenbar war er an den Kreiseln gescheitert.
»Legen Sie die Plexiglasplatte auf den Magneten, bringen Sie darauf den Kreisel in Schwung und heben Sie die Platte langsam hoch, dann schwebt er«, sagte Moritz, um Zeit zu gewinnen, lief wieder hinunter und schoss eine ganze Reihe Fotos, ehe Paul Lutz nachkam.
»Ja, so ein Bildchen war das auch«, sagte der Hauswart.
»Was war denn drauf?«, fragte Moritz.
»Eine Art Kreuzgang und ein Paar, das es trieb«, sagte Paul. »Nichts für die Ewigkeit, wenn Sie mich fragen.«
Moritz lachte. »Was ist schon für die Ewigkeit, außer mein Kreisel.«
»Dann darf ich überstreichen?«, fragte Paul Lutz.
Moritz nickte und sagte: »Mary hatte ihren Spaß, und ich auch. Und was ist mit dem Kühlschrank?«
»Den hatte ich ganz vergessen«, gestand Paul Lutz. »Aber morgen ist ein Sibir-Techniker im Haus.«
»Tut mir leid, ich verreise morgen früh, ich muss Geld verdienen«, sagte Moritz. »Ach, noch für den Fall, dass Herr Wyss sich über mich beschweren sollte: Wir haben im Estrich ein Zelt aufgebaut. Das ist aber ganz harmlos, ein kleines Mädchen aus dem vierten Stock spielt dort vielleicht mal.«
»Ich glaube nicht, dass mich das etwas angeht«, sagte Paul Lutz. »Allerdings habe ich das Schloss repariert. Wie lange verreisen Sie denn? Ich sah mich schon mit Ihnen experimentieren.«
»Den ganzen Sommer über«, antwortete Moritz. »Mein Vater führt in Biel einen Eisenwarenladen, den hüte ich. Damit ich im Herbst nach New York kann.«