Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
«In altre parole» 2015 by Guanda, Milano.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2017
Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«In altre parole» Copyright © 2015 by Jhumpa Lahiri
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ISBN Printausgabe 978-3-498-03945-5
(1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-04961-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-04961-1
Für Paola Basirico, Angelo De Gennaro und Alice Peretti
«… ich verspürte die Notwendigkeit einer anderen Sprache: einer Sprache, die ein Ort der Zuneigung und der Reflexion wäre.»
Antonio Tabucchi
Ich will einen kleinen See durchschwimmen. Er ist wirklich klein, trotzdem erscheint mir das andere Ufer zu weit entfernt, außerhalb meiner Möglichkeiten. Ich weiß, dass der See in der Mitte sehr tief ist, und obwohl ich schwimmen kann, habe ich, ohne Rückhalt allein im Wasser, Angst.
Der See, von dem ich spreche, liegt isoliert an einem abgelegenen Ort. Um ihn zu erreichen, muss man ein gutes Stück zu Fuß durch einen stillen Wald gehen. Man sieht ein kleines Haus auf der anderen Seite, das einzige Gebäude am Ufer. Der See ist nach der letzten Eiszeit entstanden, vor Jahrtausenden. Das Wasser ist sauber, aber dunkel, ohne jede Strömung, schwerer als Salzwasser.
Wenn man in den See steigt, kann man wenige Meter vom Ufer entfernt schon nicht mehr auf den Grund sehen.
Am Morgen beobachte ich die Leute, die, wie ich, zum See kommen. Ich sehe zu, wie sie ihn auf eine gelassene und ungezwungene Weise durchqueren, sich ein paar Minuten vor dem Haus aufhalten und dann zurückkommen. Ich zähle ihre Schwimmstöße. Ich beneide sie.
Einen Monat lang schwimme ich im Kreis um den See, ohne mich weit hineinzuwagen. Die Kreislinie ist eine viel bedeutendere Wegstrecke als die gerade Linie. Für meine Runde brauche ich über eine halbe Stunde. Aber ich bin immer in der Nähe des Ufers. Ich kann unterbrechen, kann mich auf den Grund stellen, wenn ich müde werde. Eine gute Übung, doch gewiss nicht aufregend.
Dann, an einem Morgen gegen Ende des Sommers, treffe ich mich mit zwei Freunden am See. Ich habe beschlossen, ihn mit ihnen zusammen zu durchqueren, um endlich direkt zu dem kleinen Haus auf der anderen Seite zu gelangen. Ich bin es leid, mich immer nur am Ufer entlangzubewegen.
Ich zähle die Schwimmzüge. Ich weiß, dass meine Freunde bei mir im Wasser sind, aber ich weiß auch, dass wir allein sind, jeder für sich. Nach ungefähr hundertfünfzig Zügen bin ich schon in der Mitte, im tiefsten Teil. Ich mache weiter. Nach weiteren hundert kann ich wieder auf den Grund schauen.
Ich komme auf der anderen Seite an, habe es problemlos geschafft. Ich sehe das kleine Haus, das bislang weit weg war, zwei Schritte vor mir. Ich sehe die fernen Schemen meines Mannes und meiner Kinder. Sie scheinen unerreichbar, aber ich weiß, dass sie es nicht sind. Nach einer Durchquerung wird das bekannte Ufer zur Seite gegenüber, das Hier zum Dort. Voller Energie schwimme ich durch den See zurück. Jubilierend.
Zwanzig Jahre lang habe ich die italienische Sprache gelernt, als würde ich am Ufer entlang durch diesen See schwimmen. Immer neben meiner überwiegend gebrauchten Sprache, dem Englischen. Immer schön am Ufer entlang. Das war eine gute Übung. Es hat den Muskeln gutgetan, dem Hirn, war jedoch gewiss nicht aufregend. Wenn man eine Fremdsprache auf diese Weise lernt, kann man nicht untergehen. Stets ist die andere Sprache zur Stelle, um einen zu stützen, einen zu retten. Doch man kann nicht einfach nur auf dem Wasser treiben, ohne die Möglichkeit unterzugehen, zu versinken. Um eine neue Sprache kennenzulernen, um darin einzutauchen, muss man sich vom Ufer entfernen. Ohne Schwimmweste. Ohne mit festem Grund rechnen zu können.
Einige Wochen, nachdem ich den abgelegenen kleinen See zum ersten Mal durchquert habe, unternehme ich eine zweite derartige Reise. Viel länger, aber ungleich weniger anstrengend. Es wird der erste richtige Aufbruch in meinem Leben. Diesmal überquere ich mit einem Schiff den Atlantik, um in Italien zu leben.
Das erste italienische Buch, das ich mir kaufe, ist ein kleines zweisprachiges Wörterbuch. Ich bereite meine erste Reise nach Florenz vor, 1994. In Boston gehe ich in eine Buchhandlung mit einem italienischen Namen: Rizzoli. Eine schöne, erlesene Buchhandlung, die es nicht mehr gibt. Ich kaufe keinen Touristenführer, obwohl es mein erster Besuch in Italien ist und ich Florenz noch nicht kenne. Dank eines Freundes habe ich schon eine Hoteladresse. Ich bin Studentin, habe wenig Geld. Und ich glaube, dass ein Wörterbuch wichtiger ist.
Dasjenige, das ich aussuche, hat einen Plastikeinband, grün, unzerstörbar, wasserabweisend. Es ist leicht und kleiner als meine Hand. Es hat mehr oder weniger die Maße eines Seifenstücks. Auf der Rückseite steht, dass es circa 40000 italienische Wörter enthält.
Als meine Schwester, während wir durch die fast leeren Uffizien streifen, feststellt, dass sie ihren Hut verloren hat, schlage ich mein Wörterbuch auf. Ich blättere im englischen Teil, um nachzusehen, was Hut auf Italienisch heißt. Irgendwie, sicher falsch, sage ich zu einem Museumswärter, dass wir einen Hut verloren haben. Wie durch ein Wunder versteht er mich, und binnen kurzem ist der Hut gefunden.
Seitdem, seit vielen Jahren, nehme ich dieses Wörterbuch mit, wenn ich nach Italien fahre. Ich stecke es mir immer in die Tasche. Ich schlage auf der Straße Wörter nach, im Hotel nach einem Ausflug oder wenn ich einen Zeitungsartikel zu lesen versuche. Es führt mich, es schützt mich, es erklärt mir alles.
Es wird zu einer Landkarte oder zu einem Kompass, ohne den ich das Gefühl habe, verloren zu sein. Es wird mir zu einer Art verlässlichem Elternteil, ohne den ich nicht ausgehen kann. Ich betrachte es als einen heiligen Text, voller Geheimnisse und Offenbarungen.
Irgendwann schreibe ich auf die erste Seite: provare a = cercare di (versuchen zu = sich bemühen zu).
Dieses zufällige Fragment, diese grammatikalische Gleichung, kann als Metapher für meine Liebe zum Italienischen gelten. Am Ende ist es nichts anderes als der hartnäckige Versuch, mich ständig auf die Probe zu stellen.
Zwanzig Jahre, nachdem ich das erste Wörterbuch gekauft habe, entscheide ich mich dazu, für längere Zeit nach Rom zu ziehen. Vor der Abreise frage ich einen Freund, der einige Jahre in Rom gelebt hat, ob mir ein Online-Wörterbuch auf Italienisch nützen würde, etwa eine App fürs Handy, um jederzeit ein Wort suchen zu können.
Er lacht und sagt: «Bald wirst du in einem italienischen Wörterbuch wohnen.»
Er hat recht. Nach einigen Monaten in Rom fällt mir auf, dass ich das Wörterbuch nicht allzu häufig benutze. Wenn ich weggehe, bleibt es oft ungeöffnet in der Tasche. Folglich beginne ich, es zu Hause zu lassen. Ich bemerke eine Wende. Ein Freiheitsgefühl und gleichzeitig einen Verlust. Ich bin erwachsener geworden, wenigstens ein bisschen.
Heute habe ich viele andere Wörterbücher auf meinem Schreibtisch, größere, dickere. Zwei davon sind einsprachig, kommen ohne einen einzigen englischen Begriff aus. Der Einband jenes kleinen Wörterbuchs wirkt inzwischen ein wenig verblichen, schmutzig. Die Seiten sind gelblich geworden. Einige haben sich vom Buchrücken gelöst.
Normalerweise liegt es auf dem Nachttisch, so kann ich beim Lesen leicht ein unbekanntes Wort nachschlagen. Dieses Buch erlaubt es mir, andere Bücher zu lesen, die Tür zu einer neuen Sprache zu öffnen. Es begleitet mich, auch heute noch, wenn ich in Urlaub fahre, auf Reisen gehe. Es ist zu einer Notwendigkeit geworden. Wenn ich bei der Abreise zufällig vergesse, es mitzunehmen, fühle ich mich leicht unwohl, genauso, wie ich mich fühlen würde, wenn ich die Zahnbürste oder ein Paar Strümpfe zum Wechseln vergessen hätte.
Inzwischen scheint das kleine Wörterbuch mehr ein Bruder als ein Elternteil geworden zu sein. Und doch nützt es mir, führt mich auch heute noch. Es bleibt voller Geheimnisse. Dieses kleine Buch wird immer größer sein als ich.
Als meine Schwester und ich 1994 beschließen, uns eine Italienreise zu schenken, wählen wir Florenz. Ich studiere in Boston die Architektur der Renaissance: die Pazzi-Kapelle von Brunelleschi, die Laurentianische Bibliothek von Michelangelo. Wir kommen gegen Abend in Florenz an, ein paar Tage vor Weihnachten. Meinen ersten Spaziergang mache ich im Dunkeln. Ich befinde mich an einem vertrauten, einfachen, fröhlichen Ort. Die Geschäfte sind der Jahreszeit entsprechend geschmückt. Enge Gassen, gedrängt voll mit Menschen. Manche ähneln mehr einem Gang als einer Straße. Es gibt einige Touristen, wie meine Schwester und mich, aber nicht viele. Ich sehe vor allem Leute, die hier immer schon wohnen. Sie gehen schnell, unbeeindruckt von den Palazzi, und sie überqueren die Plätze, ohne stehen zu bleiben.
Ich bin für eine Woche hierhergekommen, um die Palazzi zu sehen, die Plätze zu bewundern, die Kirchen. Aber von Beginn an ist meine Beziehung zu Italien in gleichem Maße vom Hören wie vom Sehen geprägt. Obwohl nur wenige Autos fahren, summt die Stadt. Mir wird ein ständiges Geräusch bewusst, das mir gefällt, es besteht aus Gesprächen, Sätzen, Wörtern, die ich höre, wohin auch immer ich gehe. Als wäre die ganze Stadt ein Theater, in dem ein etwas unruhiges Publikum plaudernd auf den Beginn der Vorstellung wartet.
Ich spüre die Aufregung der Kinder, die sich auf der Straße buon natale wünschen. Ich höre die Zärtlichkeit in der Stimme des Zimmermädchens, das sich morgens im Hotel bei mir erkundigt: «Avete dormito bene?» (Haben Sie gut geschlafen?) Wenn ein Mann auf dem Bürgersteig an mir vorbeigehen will, merke ich die leichte Ungeduld, mit der er fragt: «Permesso?» (Darf ich?)
Es gelingt mir nicht zu antworten. Ich bin unfähig, einen Dialog zu führen. Ich höre zu. Und das, was ich in den Geschäften und Restaurants höre, ruft eine plötzliche, intensive und paradoxe Reaktion in mir hervor. Das Italienische scheint schon in mir zu sein, und gleichzeitig ist es ganz außerhalb. Es wirkt nicht wie eine Fremdsprache, obwohl ich weiß, dass es eine ist. Es wirkt, so seltsam das klingen mag, vertraut. Ich erkenne etwas, auch wenn ich fast nichts verstehe.
Was erkenne ich? Die Sprache ist schön, gewiss, aber die Schönheit allein ist es nicht. Es scheint, als hätte ich eine Beziehung mit der Sprache. Wie mit einem Menschen, den man eines Tages zufällig trifft und zu dem man sich sofort hingezogen fühlt. Als würde ich sie seit Jahren kennen, dabei ist noch alles zu entdecken. Ich weiß, dass ich unzufrieden, ja unvollständig wäre, wenn ich sie nicht lernen würde. Mir wird klar, dass es in mir einen Raum gibt, in den sie eintreten und in dem sie sich wohl fühlen soll.
Ich fühle gleichzeitig Verbundenheit und Distanz. Nähe und Entfernung. Was ich spüre, ist etwas Physisches, Unerklärliches. Eine unbesonnene, absurde Erregung. Eine angenehme Spannung. Ein Blitzschlag. Liebe auf den ersten Blick.
Ich verbringe meine Woche in Florenz in der Nähe des Hauses von Dante. Eines Tages besichtige ich die kleine Kirche Santa Margherita dei Cerchi, in der sich das Grab von Beatrice befindet. Die Geliebte, die Inspiration des Poeten, immer unerreichbar. Eine unerfüllte Liebe, geprägt von Ferne und Schweigen.
Eigentlich habe ich keinen triftigen Grund, diese Sprache zu lernen. Ich lebe nicht in Italien, ich habe keine italienischen Freunde. Ich habe nur das Verlangen. Doch ein Verlangen ist am Ende nichts anderes als eine maßlose Notwendigkeit. Wie in so vielen leidenschaftlichen Beziehungen wird auch meine Schwärmerei zu einer Hingabe werden, einer Obsession. Und sie wird immer irgendwie im Ungleichgewicht sein, unerwidert. Ich habe mich verliebt, aber das, was ich liebe, bleibt mir gegenüber gleichgültig. Nie wird mich die Sprache brauchen.
Am Ende der Woche, nachdem ich viele Palazzi, viele Fresken gesehen habe, kehre ich nach Amerika zurück. Ich bringe Ansichtskarten und kleine Geschenke mit, die mich an die Reise erinnern sollen. Aber meine klarste und lebendigste Erinnerung ist gegenstandslos. Wenn ich an Italien denke, höre ich plötzlich wieder gewisse Wörter und Sätze. Sie fehlen mir. Dieser Mangel treibt mich auf eine sanfte Weise dazu, die Sprache zu lernen. Ich fühle mich vom Verlangen bedrängt, und doch zögere ich. Mit leichter Ungeduld bitte ich das Italienische: Permesso? – Darf ich?
Meine Beziehung zum Italienischen entwickelt sich im Exil, in einem Zustand der Trennung.
Jede Sprache gehört zu einem bestimmten Ort. Sie kann umherziehen, sich verbreiten. Für gewöhnlich jedoch ist sie an eine gewisse geographische Region gebunden, an ein Land. Das Italienische gehört vor allem zu Italien, während ich auf einem anderen Kontinent lebe, wo es nicht leicht anzutreffen ist.
Ich denke an Dante, der neun Jahre lang gewartet hat, bevor er mit Beatrice sprach. Ich denke an Ovid, verbannt aus Rom, an einen fernen Ort, an einen sprachlichen Vorposten, von fremden Lauten umgeben.
Ich denke an meine Mutter, die in Amerika Gedichte auf Bengalisch verfasst. Auch nach fast fünfzig Jahren im Ausland ist es für sie noch unmöglich, ein Buch zu finden, das in ihrer Sprache geschrieben ist.
In gewissem Sinn habe ich mich an so etwas Ähnliches wie ein sprachliches Exil gewöhnt. Meine Muttersprache Bengalisch ist fremd in Amerika. Wenn man in einem Land lebt, in dem die eigene Sprache als fremd gilt, spürt man diese Entfremdung ständig. Man spricht eine geheime, unbekannte Sprache, die nicht mit der Umgebung korrespondiert. Ein Mangel, der eine Distanz schafft.
In meinem Fall gibt es noch eine Distanz, noch eine Spaltung. Ich kann nicht perfekt Bengalisch. Ich kann es nicht lesen und auch nicht schreiben. Ich spreche mit Akzent, habe es nicht ganz in der Gewalt, habe immer einen Graben zwischen ihm und mir wahrgenommen. Paradoxerweise ist daher auch meine Muttersprache für mich eine Fremdsprache.
Was das Italienische betrifft, so sieht das Exil anders aus. Denn kaum hatten wir uns kennengelernt, das Italienische und ich, da entfernten wir uns auch schon wieder voneinander. Meine Sehnsucht hat den Anschein von Dummheit. Und doch empfinde ich sie.
Wie kann ich mich von einer Sprache ausgeschlossen fühlen, die gar nicht die meine ist? Die ich nicht beherrsche? Vielleicht, weil ich eine Schriftstellerin bin, die überhaupt keiner Sprache angehört.
Ich kaufe ein Buch. Sein Titel ist Teach Yourself Italian. Ein herausfordernder Titel, voller Hoffnung und Möglichkeiten. Als wäre es möglich, alleine zu lernen.
Da ich viele Jahre lang Latein gehabt habe, finde ich die ersten Kapitel dieses Handbuchs ziemlich einfach. Es gelingt mir, die eine oder andere Konjugation auswendig zu lernen und die Übungen dazu zu machen. Aber die Stille und die Einsamkeit bei dem autodidaktischen Vorgehen gefallen mir nicht. Es fühlt sich falsch an, zu abgelöst von allem. Als würde ich ein Musikinstrument beherrschen lernen wollen, ohne es jemals zu spielen.
Ich beschließe, meine Doktorarbeit über den Einfluss der italienischen Architektur auf englische Dramatiker des 17. Jahrhunderts zu schreiben. Ich will herausfinden, warum manche Dramatiker beschlossen haben, ihre auf Englisch geschriebenen Tragödien in italienischen Palazzi anzusiedeln. Die Doktorarbeit wird einen weiteren Graben zwischen Sprache und Umgebung zum Thema haben. Und sie gibt mir einen zweiten Anlass, Italienisch zu lernen.
Ich besuche Grundkurse. Meine erste Lehrerin ist eine Signora aus Mailand, die in Boston lebt. Ich mache meine Hausaufgaben, bestehe die Prüfungen. Doch als ich nach zwei Jahren versuche, La Ciociara von Moravia zu lesen, verstehe ich kaum etwas. Ich unterstreiche fast jedes Wort auf der Seite. Ich muss ständig im Wörterbuch nachschauen.
Im Frühjahr 2000, sieben Jahre nach meiner Florenz-Reise, fahre ich nach Venedig. Ich nehme, außer dem Wörterbuch, ein Heft mit, in das ich mir auf der letzten Seite Sätze schreibe, die mir nützlich sein könnten: Saprebbe dirmi? (Können Sie mir sagen?), Dove si trova? (Wo ist?), Come si fa per andare? (Wie kommt man dorthin?). Ich vermerke den Unterschied zwischen buono (gut) und bello (schön). Ich finde mich gut vorbereitet. In Wirklichkeit gelingt es mir in Venedig kaum, auf der Straße nach dem Weg zu fragen oder im Hotel einen Weckruf zu erbitten. Aber ich schaffe es, in einem Restaurant zu bestellen und ein paar Worte mit einer Verkäuferin zu wechseln. Nicht mehr. Obwohl ich nach Italien zurückgekehrt bin, fühle ich mich immer noch von der Sprache ausgeschlossen.
Ein paar Monate später bekomme ich eine Einladung zum Literaturfestival in Mantua. Dort treffe ich meine beiden italienischen Verleger. Der Verlag hat einen spanischen Namen, Marcos y Marcos. Aber sie sind Italiener, sie heißen Marco und Claudia. Die Frau ist außerdem meine Übersetzerin.