Wachtraum
Roman
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Salzburg – Wien
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Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com
Umschlagfoto: Plainpicture / donkey soho / Baptiste Sibé
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books
eISBN 978 3 7017 1681 4
1 Lea
2 Fritzi
3 Malvine
4 Leas Traum
5 Simon
6 Hanna
7 Leas zweiter Traum
8 Mimi
9 Harry
10 Leas Traum
11 Lea
Lea und Wien.
Eine Hassliebe.
Zuerst die Liebe, dann der Hass.
Als Kind lebt es sich gut in Wien.
Die Volksschule liegt gleich am Ende der Straße. Man muss sie nicht überqueren, diese Straße am vornehmeren Ende des Praters, auf der in Leas Kindheit ohnehin so wenige Autos fahren. Lea geht brav mit ihrer Tasche den Gehsteig entlang bis zur Schule, auch wenn sie die Schule nicht mag.
Am ersten Schultag – so erzählt Fritzi, Leas Mutter, später gerne –, am ersten Schultag hat Lea der Mutter erklärt, sie wisse nicht, ob sie am nächsten Tag noch einmal hingehen werde. Lea, das Kind, hat das ganz ernst gemeint, aber Fritzi erzählt es, als sei das ein besonders witziger Augenblick im Leben des Kindes gewesen.
Die Schule macht Lea Angst. Die Schule lässt sie spüren, dass sie anders ist. Lea versucht, sich anzupassen. In der Schule muss man sich ducken. Lea will sich nicht ducken.
In der Früh wird gebetet. »Vater unser, der du bist …«
Lea betet brav mit, tut sich sogar hervor, weil sie sich das Gebet merkt, so wie sie sich auch Gedichte und Lieder merkt. Also gehört sie dazu, weil sie mitbetet.
Zu Mittag steht die Mutter mit einem Säckchen Kirschen vor dem Schultor. Lea hängt sich zwei Kirschenpärchen auf die Ohren und Fritzi, deren Ohrringe auch wie Kirschen geformt sind, lacht.
Fritzi ist eine schöne, lustige Frau. Vollbusig und rund und manchmal zu viel für Lea. Vor allem, wenn sie nicht ganz so lustig ist. Manchmal, wenn sie alleine sind. Mutter und Tochter. Aufeinander angewiesen, weil der Vater, der Ehemann, wieder einmal unterwegs ist. Zu einem Vortrag, wie er sagt.
Einmal hat Fritzi für Lea und sich die gleichen Kleider nähen lassen. Aus grün-weiß gestreiftem Vorhangstoff. Lea war damals vielleicht vier Jahre alt, und wenn Fritzi ihre Freundinnen in der Konditorei traf und Lea mitnahm, weil die noch nicht in die Schule und nie in den Kindergarten ging, zog sie ihr und sich die grün-weiß gestreiften Kleider an, und Lea fühlte sich genauso schön wie die Mutter. Und weil man sie dann in der Konditorei mit kleinen Köstlichkeiten fütterte und sie dafür lobte, dass sie Fritzi so ähnlich sehe, war sie ganz und gar zufrieden.
Damals war es noch Liebe.
Lea und Fritzi, wie sie bei der »Nordsee« gebackenen Fisch und Erdäpfelsalat essen.
Lea und Fritzi, wie sie nebeneinander beim Friseur sitzen, der ihre dichten, schwarzen Locken so großzügig abschneidet, dass Lea sich danach ganz hässlich findet. Aber Fritzi erklärt, das müsse einfach sein, damit ihre Haare schön und fest und gesund blieben. Ihr habe man als Kind auch immer die Haare kurz geschnitten.
Lea hätte gern lange Zöpfe, wie einige Mädchen in ihrer Klasse – aber ihre dunkelbraunen Locken wären dazu ohnehin nicht geeignet. Und eigentlich wünscht sie sich ja blonde Zöpfe, wie die, um die die feinen, fast durchsichtigen Härchen ihrer Schulkolleginnen im Sonnenlicht flimmern und tanzen. Sie ist die einzige Dunkelhaarige in der Klasse, die Einzige mit kurzen Haaren.
Fritzi auf einem kleinen Schwarzweißfoto mit Mutter, Vater und Schwestern. Mit vier Jahren, die Haare so kurz geschnitten wie ein Bub, aber in einem zu langen, wahrscheinlich von der nächstälteren Schwester geerbten Kleidchen und mit einem großen, offensichtlich selbst gepflückten Strauß von Feldblumen im Arm. Leas Lieblingsfoto von ihrer Mutter.
Leas Großvater steht da, als könnte er Bäume ausreißen, die Großmutter lehnt an ihm, als würde sie ihn mögen. Dabei behauptet Fritzi immer, sie habe ihn gehasst, den Haustyrannen. Lea mag das nicht hören. Sie hat ihn ja nicht gekannt, den Großvater, der da auf dem Foto so steht, als könne ihm nichts geschehen auf der Welt. Wo doch sogar Lea schon weiß, dass jedem alles geschehen kann.
Vor der Schule steht Fritzi mit den Kirschen. Neben ihr die Großmütter der anderen Kinder. Fritzi holt Lea jeden Tag ab, und die anderen Kinder werden jeden Tag von ihren Großeltern abgeholt, mit denen sich Fritzi gerne unterhält, während sie auf Lea wartet. Ganz freundlich und lachend, wie Fritzi eben ist. Offen und fröhlich. Wenn sie unter Menschen ist. Eine Zirkusprinzessin, wie Lea sie später nennen wird.
Zu Hause ist Fritzi anders.
Zu Hause lacht sie nur selten.
In der Früh, wenn Lea in die Schule geht, schläft die Mutter noch. Oder sie liest im Bett. Sie steht nie auf, um Lea ein Schulbrot zu streichen. Das macht Theo, Leas Vater. Er weckt sie und stellt ihr eine Schale mit Kakao hin. Lea sieht sie nie in der Früh. Aber zu Mittag steht sie vor der Schule und lächelt alle an. Auch die, die Lea nie anlächeln würde. Die Großmütter mit dem bitteren Zug um den Mund und den kalten Augen. Aber Fritzi tut so, als bemerkte sie das gar nicht.
Theo ist eines Tages nicht mehr da – als Lea schon groß genug ist, um sich ihr Schulbrot selbst zu streichen.
Nachdem Theo sie verlassen hat, steht Fritzi in der Früh noch viel schwerer auf. Aber da geht Lea schon ins Gymnasium und Fritzi holt sie nicht mehr ab. Das würde sich Lea auch verbitten. Mit 12, 13 oder 14 Jahren.
Fritzi bleibt jetzt manchmal so lange im Bett, bis Lea aus der Schule nach Hause kommt. Was bei Lea Zornausbrüche auslöst. Die sie sich verkneift, weil Fritzi sagt, es sei Theos Schuld, dass sie in der Früh nicht aufstehen kann.
Theo war Soldat und Fritzi ist mit ihm zurück nach Wien gekommen.
Sie wisse gar nicht, wieso sie sich mit ihm eingelassen habe, sagt Fritzi jetzt oft, aber Lea glaubt ihr das nicht.
Solange Theo Lea in der Früh den Kakao hingestellt hat, war Fritzi glücklich.
Dann hat Theo diese Neue kennengelernt – »den Schlampen« nennt Fritzi sie.
Lea verbringt jetzt jedes zweite Wochenende bei Theo und »dem Schlampen«, der mit bürgerlichem Namen ausgerechnet Erika heißt.
»Erika ist ein Nazi-Name«, sagt Fritzi, und Lea gibt ihr heimlich recht, weil sie in der Volksschule neben einer Erika gesessen ist, die doppelt so groß und dick war wie sie und ihr jeden zweiten Tag das Pausenbrot gestohlen hat, weil ihre eigenen Eltern ihr nie etwas zu essen mitgaben.
Theos Erika ist aber gar nicht so, wie Lea sich einen »Nazi-Schlampen« vorstellt. Sie hat lange dunkle Haare und ist ziemlich dünn – die Hälfte von Fritzi, denkt Lea. Sie ist nett zu Lea und macht ihr Geschenke, die diese vor Fritzi versteckt, weil sie die Mutter nicht kränken will.
Theo ruft Lea fast jeden Tag an.
Er hat Fritzi nicht mehr ausgehalten, sagt er, aber er liebt Lea.
Lea hat damit kein Problem. Sie liebt Fritzi und Theo. Und sie will sich nicht entscheiden müssen.
Theo hat eine Wohnung ganz in der Nähe gemietet, sodass Lea zu Fuß zu ihm gehen kann. Wenn sie ihn besucht, gibt es immer Schaumrollen. Lea liebt Schaumrollen, aber Fritzi kauft keine. Sie will abnehmen, sagt sie.
Wenn Fritzi eine Diät macht, würde Lea am liebsten die ganze Zeit bei Theo wohnen. Dann ist Fritzi den ganzen Tag schlecht gelaunt. Lea findet die Mutter schön, so rund wie sie ist, aber Fritzi sagt, sie muss unbedingt abnehmen. Theo hat sich »den Schlampen« nur gesucht, weil sie selbst zu dick geworden ist mit den Jahren. Weil er sie nicht mehr schön gefunden hat. Lea kann sich Fritzi nicht dünn vorstellen. Fritzi ist gemütlich mit ihren Fettpölsterchen rundherum, findet Lea, und tröstlich, wenn sie nicht gerade traurig ist. Und sie hat Verehrer. Die bringen Lea Schokolade oder Süßigkeiten mit und tun so, als würden sie sie mögen. Dann sagt Lea manchmal, dass sie schon einen Papa hat und keinen zweiten braucht, und Fritzi lacht, und der Verehrer ist meistens beleidigt und kommt nicht mehr so oft zu ihnen.
Nur Karl ist anders. Der lacht mit und sagt, dass er gar nicht vorhat, ihr zweiter Papa zu werden. Darauf weiß Lea keine Antwort.
Karl bleibt.
Fritzi steht jetzt in der Früh wieder leichter auf. Karl ist Anwalt und hat eine eigene Kanzlei. Er vertritt Fritzis Freunde, die aus der Emigration zurückgekommen sind und ihr gestohlenes Eigentum zurückhaben wollen.
Fritzi macht sich über Karls Klienten lustig. »Wir haben nichts gehabt und haben jetzt nichts, was wir zurückfordern könnten«, sagt sie. Karl nimmt es ihr aber nicht übel.
Theo, der ein erfolgreicher Unternehmer ist und recht gut verdient, hat sich über Fritzis Witze immer geärgert. Denn natürlich hat sie sich auch über ihn lustig gemacht. Später wird Lea verstehen, dass Fritzis Witze ihre Art waren, nicht über anderes zu reden. Über Schmerzhaftes. Sehr viel später. Als es schon nicht mehr reine Liebe ist.
Lea, Fritzi und Karl im Kino. Karl kauft Süßigkeiten und Limonade und Fritzi stiehlt sich im Dunkeln einige Zuckerl von Lea – weil sie natürlich schon wieder abnehmen will und standhaft geblieben ist, als Karl ihr auch »was Süßes« kaufen wollte.
Lea, Fritzi und Karl in der Liliputbahn. Fritzi liebt den Prater, und seit Lea auf der Welt ist, gehört die Liliputbahn zu den festen Institutionen in ihrem Leben.
So wie die Kirschen nach der Schule und die Leberkäsesemmel zu besonderen Gelegenheiten.
Weshalb die Lilliputbahn auch noch attraktiv bleibt, als Leas Alter schon keine Entschuldigung mehr ist.
Lea und Fritzi in der Küche. Fritzi ist eine wunderbare Köchin. Hat sogar Theo gesagt, und Karl ist ohnehin verliebt. Was Lea manchmal schon direkt peinlich ist. Theo ist mit seiner Erika viel diskreter. Karl tanzt dauernd um Fritzi herum und küsst sie bei jeder Gelegenheit, und manchmal wünscht sich Lea, er wäre weniger anhänglich.
Lea und Fritzi in der Küche. Weihnachtskekse backen.
Als Kind hat Lea es geliebt, mit Fritzi zu backen.
Vor allem, weil sie den rohen Teig fast noch lieber gegessen hat als die fertigen Vanillekipferl oder Pariser Stangerl. Vor Weihnachten wurde Fritzi immer ganz hektisch. Die Butterkekse, die sie bäckt, hat sie mit süßem Eischnee zu kleinen Weihnachtsbäumen zusammengeklebt, die sie in Zellophanpapier gepackt und mit rosa Maschen versehen hat. Lea musste sie dann in der ganzen Umgebung austragen – was sie gehasst hat. Meistens stellte sie die Päckchen auf den Fußabstreifer vor der Türe, läutete einmal und rannte dann die Stiegen schnell hinunter, weil es ihr peinlich war, mit Leuten zu reden, die sie nicht so gut kannte. Aber Fritzi war da gnadenlos.
Später, als Lea schon ins Gymnasium geht, hört Fritzi auf, Weihnachtsbäume zu produzieren und die Tochter damit herumzuschicken. Lea glaubt, dass das Karls Verdienst ist, dem der ganze Weihnachtstrubel ohnehin auf die Nerven geht – wie er immer wieder sagt. Fritzi ärgert das, aber sie hält sich ein bisschen zurück, seit Karl bei ihnen eingezogen ist.
Unterm Weihnachtsbaum singt Fritzi gern kommunistische Kampflieder. Das mag Lea. Sie mag auch den Weihnachtsbaum und die Aufregung. Als Theo noch da war und Lea noch nicht in der Schule, war der 24. Dezember der aufregendste Tag des Jahres. Und Fritzi hat so getan, als wäre es selbstverständlich, dass sie Weihnachten feiern, so wie alle anderen rundherum auch. Theo hat am Weihnachtsabend immer erzählt, wie er Fritzi in England kennengelernt hat und wie sie aus Brot und Stanniolpapier Weihnachtsschmuck gebastelt haben – in Leeds, wo sie gewohnt haben.
Lea ist erst in Wien geboren.
In Leeds haben sie noch keine Kinder gehabt. »Es war Krieg und wir haben nicht einmal gewusst, wo unsere Eltern sind«, hat Fritzi gesagt. Und dass sie ein paar Mal abgetrieben hat, damals in England. Weil man doch mitten im Krieg keine Kinder kriegen konnte. Das hat sie Lea aber erst erzählt, als die schon groß war und einmal gefragt hat, warum sie eigentlich keine Geschwister hat.
Karl hat zwei Söhne aus erster Ehe. Jakob und Paul. Paul ist so alt wie Lea und sie mag ihn nicht. Jakob ist fünf Jahre jünger, und Lea spielt sich auf, als wäre sie seine Mutter, das macht ihr Spaß. Manchmal ist es schwierig mit Jakob und Paul, und dann schreit Fritzi, dass es ihr reicht und sie schon gewusst hat, warum sie nur ein Kind gekriegt hat, und dass sie nicht davon geträumt hat, Kindergärtnerin zu werden, und Karl seine Fratzen gefälligst besser zu seiner Ex zurückschicken soll, der Gojte, die sie so schlecht erzogen hat. Karl wird dann ganz weiß im Gesicht und knallt die Wohnungstüre zu, Fritzi wirft sich auf das Sofa und isst eine ganze Packung Mannerschnitten auf, und Lea verzieht sich in ihr Zimmer und ist ganz leise.
Später hört sie Fritzi weinen, und manchmal geht sie dann zu ihr, umarmt sie und legt sich neben sie auf das Sofa. Und dann wischt Fritzi sich übers Gesicht und sagt: »Ich bin eine böse Hexe«, und Lea muss lachen und sagt: »Dann musst du mir jetzt Lebkuchen backen!«, und Fritzi verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und tut, als hätte sie einen Buckel. Sie humpelt bucklig in die Küche und bringt Lea Butterbrote mit Honig und für sich noch eine Packung Mannerschnitten.
Und irgendwann am nächsten oder übernächsten Tag ist Karl auch wieder da, und Lea denkt, dass er Fritzi eben doch sehr lieben muss, wenn er nach so einem Streit wiederkommt.
Manchmal erzählt Fritzi von ihrem Onkel und ihrem Bruder. Die beiden waren fast gleich alt und haben viel Unfug angestellt. Sagt Fritzi. Ihre Schwestern nicht, die hat der Vater, der Haustyrann, sehr streng gehalten. Bei ihr war das anders, weil sie die Jüngste war und sich nichts hat gefallen lassen. Sagt Fritzi. »Lea«, meint sie, »Lea-Maus, lass dir ja nie was gefallen!«
Und Lea nickt brav und weiß nicht so recht, wie sie das anfangen soll. Wenn Fritzi über den Onkel und den Bruder spricht, wird es Lea immer ein bisschen kalt, auch mitten im Sommer. Fritzi erwähnt die beiden eigentlich immer nur nebenbei. So zwischendurch. »Der Richard hat auch immer so gern Würstel mit Saft gegessen, und die Mutter hat immer gesagt, er sei ein richtiger Goj«, sagt sie, wenn Karl sich im Jägerhaus im Prater wieder einmal Würstel mit Saft bestellt. Richard war Fritzis Onkel. Der jüngste Bruder ihrer Mutter. Der, den sie in Auschwitz umgebracht haben. So wie Theos Eltern. Später wird Lea herausfinden, dass die drei fast zur gleichen Zeit verschleppt und umgebracht worden sind. Später, als sie schon erwachsen ist und die Liebe und der Hass sich die Waage halten.
Oder Fritzi sagt: »Der Simon hat sich nie die Schuhe richtig zubinden können, das hast du von ihm geerbt«, wenn sie Lea nach der Schule abholt und die Schuhbänder wieder einmal einen wirren Knoten auf Leas Halbschuhen bilden.
Simon war Fritzis älterer Bruder. Was aus dem geworden ist, weiß keiner. Er ist vor den Nazis nach Frankreich geflüchtet, da waren Fritzi und ihre Schwestern noch in Wien. Und irgendwann hat Fritzi einen Brief von ihm bekommen, in dem er geschrieben hat, dass er nicht mehr weiterweiß. Und Fritzi hat ihm Geld geschickt, aber er blieb verschollen. »Verschollen«, sagt Fritzi, nicht »umgekommen, ermordet worden, tot.« Verschollen klingt besser als tot. So, als ob es noch Hoffnung gäbe.
Aber Lea weiß schon als Kind, dass es keine Hoffnung gibt. Simon und Richard, die vier Großeltern, die Tanten und Onkel, so viele aus Theos und Fritzis Familien – alle sind tot. Stattdessen gibt es die, die irgendwie, irgendwo überlebt haben. Fritzis Freundinnen aus England, ihre Schwester Lollo und Theos Arbeitskollegen und später Karls Freunde oder Klienten. Karl war im Krieg in Amerika. Und manchmal streiten sich Karl und Fritzi zum Spaß darüber, wer es in der Emigration schwerer gehabt hat, »die Engländer« gegen »die Amerikaner«.
Als Kind klingt das alles für Lea, als erzählten sie sich Geschichten aus dem Mittelalter. Gruselgeschichten. Wenn Erna zu Besuch ist zum Beispiel – Fritzis allerbeste Freundin –, mit der sie so oft streitet und auf die sie trotzdem nie was kommen ließe. Erna war in Auschwitz, und auf ihrem Unterarm ist eine Nummer eintätowiert. Wenn Erna erzählt, hört Lea atemlos zu. Und einmal, als sie noch sehr klein war, hat sie zu Erna gesagt, ob sie ihr nicht noch so eine Gruselgeschichte erzählen könnte. Und Erna und Fritzi haben gelacht, als hätte sie etwas richtig Witziges gesagt.
Für Lea waren die alten Geschichten unheimliche Märchen. Das war ja alles lange vor ihrer Geburt, ihr würde so etwas ja nie passieren, davon war sie als Kind überzeugt.
Und dann war Lea erwachsen geworden und hat selbst Kinder bekommen. Kinder, für die das alles noch viel weiter weg sein sollte.
Lea und Fritzi und das erste Enkelkind. Simon. Nach Fritzis verschollenem Bruder. Lea hat darauf bestanden, aber Fritzi war unzufrieden. Unglück bringe das, hat sie gesagt, aber Lea hat sie ausgelacht. Simon ist einer, der herumgetragen werden will. Bald nach Simons Geburt wird Karl krank und Fritzi nimmt ihm das übel.
»Er lässt mich im Stich«, sagt sie wütend, und Lea weiß nicht, wem sie ihr Mitleid schenken soll – Karl oder Fritzi.
Karl vergisst. Sich selbst. Seine Arbeit, sein Leben, Fritzi. Manchmal wird er zornig, weil ihm sogar die Worte abhandenkommen. Ihm, der doch immer mit Worten jonglieren konnte wie kein anderer.
Fritzi macht es wahnsinnig, dass er nicht mehr der Karl ist, der sie auf Händen getragen hat. Sie trifft sich jetzt manchmal wieder mit Theo, dem sie ihr Leid klagt.
Lea ist ja beschäftigt. Mit Albert und neuerdings auch mit Simon.
Albert ist Lea passiert. Sie hat ihn auf einem Fest kennengelernt und eigentlich nicht weiter beachtet. Dann hat sie ihn wieder getroffen und dann noch einmal und dann wieder, und irgendwann ist sie neben ihm aufgewacht und hat festgestellt, dass er im Gegensatz zu anderen Männern keinen Fluchtreflex in ihr auslöst.
Albert gefällt Fritzi. Er ist groß und kräftig, überragt sie und Lea wie ein großer Baum und bewundert Fritzis Charme. Lea findet, dass er es manchmal übertreibt. Aber Albert lacht nur und sagt, dass er Fritzi lustig und interessant findet.
Manchmal bleibt Albert jetzt auch bei Karl, wenn Fritzi etwas Zeit für sich braucht. Lea glaubt, dass ihre Mutter diese Zeit mit ihrem Vater verbringt, fragt aber nicht nach. Sie ist mit Simon beschäftigt, der zu Koliken neigt und oft weint. Lea versucht, nebenbei weiterzustudieren.
Sie hat nie Zweifel daran gehabt, dass sie Geschichte studieren würde. Schon wegen Ernas Erzählungen. Lea will wissen, wer die waren, die ihre Großeltern umgebracht haben.
Später, als sich schon so einiger Hass in die Liebe mischt.
Aber mit 12, 13, 14 ist es noch richtige Liebe. Die man manchmal auch so gewaltig spürt, dass man gar nicht anders kann, als zu provozieren.
Leas beste Freundin hieß Martina, und Lea beneidete sie um ihre immer grantige, aber dann doch auch wieder liebevolle Großmutter. Martina wiederum neidete Lea Fritzi mit ihren Witzen und ihren Kochkünsten, trotz ihrer seltsamen Gewohnheit, Leas Freunde und Freundinnen bei der Begrüßung immer in die Wangen zu beißen.
In der Schule stand Martina im Vordergrund. Lea war schüchtern und ließ sich von Martina herumkommandieren. Martina war voller Ideen und das bewunderte Lea, die oft das Gefühl hatte, dass ihr Kopf leer sei. Martina war die Anstifterin. Einmal wanderten die beiden voll bekleidet mit Jeans und Jacken, aber ohne Schuhe durch die ganze Wiener Innenstadt und freuten sich diebisch über die empörten Blicke der Menschen, die ihnen begegneten. Später wird sich Lea wundern, wie revolutionär sie sich damals vorgekommen ist.
Und die Sommer im Gänsehäufel, die hat Lea auch geliebt. Wenn es Ende Mai heiß wurde, überkam Fritzi diese Sonnenraserei. Sie fuhr dann schon vormittags ins Bad an die Alte Donau, und Lea kam mit der Straßenbahn direkt von der Schule dorthin. Wo Fritzi ihr kaltes Huhn und harte Eier, Paradeiser und Gurken zu essen gab und sie später auf einen großen Eisbecher einlud.
Wenn Martina Lea begleitete, mussten sie unbedingt ins Wellenbad, das Lea hasste, weil ihr die Leute in den Wellen immer auf die Füße sprangen oder sie mit den Ellenbogen in die Seiten boxten, und sie nie sicher sein konnte, nicht plötzlich von einer Welle umgerissen zu werden. Aber Martina liebte das Wellenbad, und Lea tat, was Martina wollte. Auf dem Heimweg kauften sie vor dem Bad Salzgurken. Die wurden aus einem großen Holzfass gefischt und schmeckten köstlich. Damals. Später, als Lea schon erwachsen war und versuchte, Simon zu erklären, was es für ein Genuss war, nach einem Tag in der Sonne und im Wasser in eine dicke, frische Salzgurke zu beißen, stellte sie fest, dass ihr der Geschmack abhandengekommen war. Und Simon mochte die salzigen Ungeheuer von allem Anfang an nicht.
Die Sommer, in denen Fritzi am liebsten im Dirndl herumlief. Und Lea das irgendwie komisch fand, obwohl sie nicht sagen konnte, warum. Theo mochte Fritzis Dirndl, kam selbst auch gerne in Lederhosen daher. Karl dagegen fand Tracht irgendwie widersinnig. »Das bist doch nicht du …«, sagte er zu Fritzi, wenn sie in ihrem neuesten Dirndl auftauchte, und auch: »Du schaust aus wie eine Japanerin, die sich verkleidet hat!« Lea musste darüber immer lachen, weil Fritzi so gar nichts Japanisches an sich hatte, aber sie verstand ganz gut, was Karl meinte. Der hätte auch nie im Leben eine Lederhose angezogen, was Theo wiederum zu der Bemerkung veranlasste, der neue Mann ihrer Mutter sei ein Snob, und sie, Lea, solle sich von ihm ja nicht anstecken lassen.
Oder die Ausflüge in den Wienerwald. Sie marschierten immer in größeren Gruppen. Erna war fast jedes Mal dabei, aber auch Rosi mit ihren Söhnen Willy und vor allem Peter, der stets viel Unfug im Kopf hatte, was Lea nicht unbeeindruckt ließ. Peter war ein Jahr älter als sie und hatte nichts gegen Ausflüge. Vor allem, wenn sie nicht allzulange dauerten und sie bald das Ziel erreichten. Es ging immer zu der einen oder anderen Wienerwaldhütte, meistens gab es dann eine große Wiese dahinter, auf der man Fußball spielen konnte. Peters Leidenschaft. Einmal lag das Ziel auch an einem kleinen See, in den Peter seinen Ball natürlich sofort hineinschoss. Es war früher Frühling und noch nicht besonders warm. Lea hatte sich deshalb zu den Erwachsenen in die Gaststube geflüchtet und tat, was sie ohnehin am liebsten tat – sie ließ sich Geschichten erzählen. Später, als sie erwachsen war, musste sie immer noch lachen, wenn sie daran dachte, wie Peter klatschnass, aber mit seinem Ball unter dem Arm vor der versammelten Gesellschaft in der Gaststube stand und sagte, er sei nicht schuld, der blöde Ball sei ihm einfach weggerutscht. Rosi bekam einen hysterischen Anfall, Willy versuchte vergeblich, ernst zu bleiben, und der Rest der Gruppe lachte so lange, bis Peter beleidigt in Tränen ausbrach.
Oder die Winterferien im Schnee mit Erna, die mit Lea Schlitten fuhr und einen Schneemann baute, während Fritzi mit Theo stritt.
Rodeln auf der Jesuitenwiese, auch das liebte Lea. Und nach Hause kommen in die warme Wohnung, wo Fritzi sofort heißen Kakao machte und Kekse aus der großen Schublade im Wohnzimmer holte.
Am Fenster sitzen und dem Schnee zuschauen. Oder an einem Winterabend durch den Schnee wandern und unter den Straßenlampen stehen bleiben, um den Flocken beim Fallen zuzusehen. Dazu gehörte auch, jeden Winter die warmen Handschuhe zu verlieren und es Fritzi erst zu sagen, wenn es schon Frühling war und warm genug, um ohne Handschuhe auszukommen. Und jedes Mal schrie Fritzi dann und warf Lea vor, unverantwortlich zu sein. »Wir haben keine Handschuhe gehabt und uns die Finger abgefroren, und du schmeißt deine jedes Jahr weg!«, rief Fritzi, und Lea fühlte sich entsprechend schuldig.
Und schließlich die erste unschuldige Liebe. Er hieß Franz. »Ausgerechnet Franz«, sagte Fritzi, als sie Lea das Geheimnis entlockt hatte. »Auch so ein deutscher Name«, sagte Fritzi und sprach das Wort deutsch wie toitsch aus, um Lea zu ärgern.
Zu Fritzis Glück interessierte sich dieser Franz nicht besonders für Lea. Er war ein paar Jahre älter und spielte Eishockey. Ihm zuliebe ging Lea mit 15 jeden Winterabend eislaufen. Auf dem Eislaufverein mitten in der Stadt. Jeden Winterabend, an dem Fritzi sie gehen ließ. Aber eigentlich interessierte sie weniger der Sport als der Franz, und wenn der auf der Bank saß und Pause machte, schaute sie lieber als den klobigen Hockeyspielern den Eistänzern zu, die sich in der Mitte zur Musik drehten, und dachte, dass sie das nie können würde. Sich mit solcher Leichtigkeit zur Musik im Kreis drehen, vorwärts und rückwärts auf den scharfgeschliffenen Kufen. Dabei waren das in Leas Augen alte Leute, die da vor sich hinglitten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Alte Leute in merkwürdigen Kleidern, die sie, die 15-Jährige natürlich nie im Leben anziehen würde. Aber wie sie sich so zur Musik im Kreis drehten, das würde sie gerne lernen, dachte Lea.
Dann aber kam Martin, der nicht Franz war, an diesen auch nicht heranreichte, aber Leas treuer Vasall wurde und die Aufgabe hatte, sie abends, wenn der Eislaufverein seine Pforten schloss, nach Hause zu begleiten. In den zweiten Bezirk. Obwohl er selbst im 18. wohnte. Und natürlich begleitete er mit Freuden zuerst Lea in den zweiten und ging dann alleine nächtens nach Hause. Zu Fuß, weil um diese Uhrzeit keine Straßenbahnen mehr fuhren und keiner Geld fürs Taxi hatte. Denn Lea himmelte Franz an, aber Martin himmelte Lea an. Martin, der auch aus einer jüdischen Familie kam und Fritzi viel besser gefiel als der »gojsche Franz«.
Liebesgeschichten einer 15-Jährigen. Sich unter einer Straßenlaterne im Schnee zu küssen wie in Watte eingepackt.
Martina ist eifersüchtig. Franz hat sich dazu herbeigelassen, Lea zu beachten. Und sie unter der Straßenlaterne im Schnee zu küssen. Auf dem Heimweg vom Eislaufverein, zu dem er sie jetzt begleitet. Was er Martin ohne viele Umstände klargemacht hat. Was Martin wie einen traurigen Clown davonschleichen lässt. Und Lea für ganz kurze Zeit ganz glücklich macht. Bis dieser Franz, der Goj, wie Fritzi ihn giftig nennt, an einem Abend beim Eislaufen eine Bemerkung macht.
»Ich hab einen Jud«, sagt er und zeigt Lea seine halb angezündete Zigarette. Und Lea holt aus und gibt ihm eine schallende Ohrfeige. Danach geht sie nicht mehr so gerne eislaufen und Franz aus dem Weg. Und Martina ist froh, Lea wieder für sich zu haben. Ihr hat Franz auch nicht gefallen, den sie verdächtigt hat, es mit Lea nicht ernst zu meinen. Dann gibt es später noch Boris, den Lea in London kennenlernen würde.
Und dann wird Lea erwachsen. Und Ernas Gruselgeschichten werden zu ihrer täglichen Lektüre während des Studiums.
Albert ist Lehrer für Mathematik und Physik. Und Lea bewundert ihn, weil sie von beidem so rein gar nichts versteht.
Albert ist einer, der nie so eine Bemerkung machen würde wie der Franz.
Albert liebt Lea mit all ihren Verrücktheiten – und sie hat viele.
Albert, den Lea traf, als sie gerade begann, darüber nachzudenken, was sie jetzt mit ihrem Leben anfangen sollte. Albert, der kein Jude war und aus einer nicht sehr religiösen, aber doch sehr entschieden katholischen Familie kam. Aus einer Großfamilie sogar. Er hatte vier Schwestern und liebte sie alle sehr. Später allerdings sollte er Lea gestehen, dass sie ihm zuzeiten durchaus auch eine Last sein konnten.
Lea betrachtete ihn, als komme er aus einem fernen Land. Mit Neugier, aber auch viel Unverständnis. Sie konnte sich sein Leben umringt von dieser Menschenmenge einfach nicht vorstellen. Zumal Albert nicht in Wien, sondern in einem abgelegenen Vorarlberger Tal aufgewachsen war. Was für Lea fast so unvorstellbar war, als wenn er aus China oder Südafrika zu ihr gefunden hätte.
Sie lernten sich bei einem Studentenfest kennen, bei dem die Joints die Runde machten und man zumindest Cola-Rum trinken musste, wenn man nicht ausgelacht werden wollte. Albert saß ein bisschen abseits und hielt sich an einem Glas fest, in dem offensichtlich nur Cola war. Lea war mit zwei Freundinnen gekommen, und da sie lauthals darüber jammerte, dass sie nicht wisse, was sie mit sich anfangen solle, hatte man ihr sehr schnell ein Glas mit sehr viel Rum und sehr wenig Cola in die Hand gedrückt. Sie trank und fühlte sich leicht und gedankenlos und genosses. Als ihr schlecht wurde – und es wurde ihr immer schlecht auf Cola-Rum –, ließ sie sich neben Albert auf das Sofa fallen. Fast wäre sie eingeschlafen, wenn Albert mit seinem singenden Vorarlbergerisch nicht gefragt hätte, warum sie trank, wenn sie es nicht vertrug.
Lea schnauzte ihn wütend an, stand schwankend auf und wankte zum gegenüberliegenden Sofa, auf dem ihre beiden Freundinnen kichernd lungerten. Den Rest des Abends sah Albert sie unverwandt an, und als sie gehen wollte, stand er wortlos auf, nahm sie am Arm und brachte sie zu einem Taxi. Lea war verwundert und gleichzeitig irgendwie fasziniert von dieser Fürsorglichkeit, die sie nicht gewohnt war.
Sie dachte an ihn, aber nicht ständig und ohne die berühmten Schmetterlinge, die ihren Bauch füllen sollten. (Eine Vorstellung, die ihr immer immenses Unbehagen verursacht hatte … ) Er war nett, ganz anders als jener Boris, der ihr ihre erste sexuelle Erfahrung gründlich verdorben hatte. Einer, der nicht nur an sich dachte, fand Lea und musste über sich selbst lachen, weil auch sie vor allem über sich selbst und das, was ihr geschah oder auch nicht geschah, nachdachte.
Einige Wochen später traf sie Albert bei einer der vielen Demonstrationen, an denen sie schon deshalb teilnahm, weil alle ihre Freundinnen hinzugehen pflegten und weil man sich trotz der politischen Ernsthaftigkeit, die erwartet wurde, dabei ganz hervorragend unterhalten konnte. Und weil Fritzi sie immer ein bisschen verspottete, wenn sie die aufgeschnappten Parolen mit Todesernst herunterleierte.
Es war Winter. Schneeregen trommelte auf die unerschrockenen Demonstranten nieder und schien die Aufgeregtheit im Wasser ertränken zu wollen. Lea fror, weil sie sich natürlich »fesch« gemacht hatte, ohne Rücksicht auf die herrschenden Wetterbedingungen. Als ihre Lippen blau zu werden begannen, zog Albert, der sich irgendwie neben ihr eingefunden hatte, sie in ein kleines Kaffeehaus, an dem der Demonstrationszug gerade vorbeimarschierte.
Lea trank heiße Schokolade, er Tee mit Rum – und schon mussten sie beide lachen, weil sie an ihr erstes Treffen dachten. Und dann redeten sie. Bis das Kaffeehaus schloss und sie weiterziehen mussten. Zuerst in ein Wirtshaus, wo es Gulaschsuppe und Würstel gab, und als sie dort ebenfalls hinausgeworfen wurden, gingen sie schließlich wie selbstverständlich in Alberts Studentenwohnung, wo sie miteinander schliefen. Und als Lea am nächsten Tag aufwachte, entdeckte sie, dass sie kein Bedürfnis hatte, die Flucht zu ergreifen.
Alberts vier Schwestern und seine verständnisvollen Eltern liebten ihn abgöttisch und hatten es ihm ein bisschen übel genommen, dass er das enge Vorarlberger Tal verlassen hatte, um Lehrer in Wien zu werden. Drei seiner Schwestern hatten sich rund um das Elternhaus im Dorf niedergelassen und eine Schar von Enkelkindern geboren. Nur die jüngste hatte das Tal ebenfalls verlassen, war aber nicht weiter gekommen als bis in die nächste Kleinstadt, wo sie als Zahnarzthelferin arbeitete – und ihren Chef heiratete.
Albert aber hatte es in der Enge des Tals und umgeben von der erdrückenden Liebe seiner Familie nicht ausgehalten. Und jetzt saß er mit Lea an einem Tisch und fand sie geheimnisvoll und exotisch. Was Lea schmeichelte. Und ihr ein Gefühl gab, das sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie fühlte sich nämlich plötzlich so stark, dass sie dachte, die ihr scheinbar angeborene Angst besiegt zu haben. Erst viel später erkannte sie ihren Irrtum. Aber jetzt vor der dampfenden, heißen Schokolade und in Alberts neugierige, offene graue Augen schauend, schien es ihr, als wachse sie. Bis in den Himmel!
Sie fühlte sich sicher. Zum ersten Mal seit Langem. Und als sie an jenem Morgen neben Albert aufwachte, stellte sie fest, dass sie zum ersten Mal seit Jahren nicht von jenem Albtraum heimgesucht worden war, der sie seit ihrer Kindheit begleitete. Albert lag neben ihr und schlief mit leicht geöffnetem Mund. Und sah aus wie ein Kind, so weich flossen seine Gesichtszüge ineinander, so leicht ging sein Atem. Später sollte sie diese Fähigkeit, sich im Schlaf vollkommen zu verlieren, bei ihren Kindern wiederfinden und sie und ihren Vater darum beneiden. Sie selbst, so dachte sie, hatte es nie fertiggebracht, sich im Schlaf so ganz und gar gehen zu lassen.
Als sie später zusammenleben, muss sie immer noch mit dem Gesicht zur Türe schlafen, damit sie nicht überrascht werden kann. Albert macht das nichts aus. Sie erträgt keine geschlossenen Türen in der Wohnung, und auch das macht Albert nichts aus.
Manchmal verbringt sie wochenlang jeden Abend auf dem Sofa und schaut sich alte Filme im Fernsehen an. Albert sitzt dann daneben und liest, oder er spielt mit den Kindern.
Manchmal fehlt ihr die Kraft für den Alltag, und dann erledigt Albert, was zu tun ist. Dafür liebt Lea ihn, dafür dass er ihr nicht böse ist, wenn sie wieder einmal kaum die Kraft findet, in der Früh aus dem Bett zu steigen. Und sich um Simon zu kümmern. Als sie später mit Mimi schwanger ist, fragt Fritzi sie, ob sie im Ernst noch ein zweites Kind will. Und Lea sagt trotzig Ja, obwohl ihr in dieser Schwangerschaft jeden Abend speiübel ist. Karl ist inzwischen im Pflegeheim, weil Fritzi es nicht mehr schafft, sich um ihn zu kümmern.
Lea hat ihr Geschichtsstudium abgeschlossen und unterrichtet jetzt auch, so wie Albert. Der freut sich auf das zweite Kind und sagt, sie werden das schon hinkriegen. Lea weiß nicht genau, ob sie ihm das glauben soll, aber eine Abtreibung kommt nicht infrage. Sie ist schließlich anders als ihre Mutter. Fritzi schüttelt missbilligend den Kopf und trifft sich mit Theo, um sich Unterstützung zu holen. Aber Theo sagt, es sei doch fein, noch ein Enkelkind zu bekommen, und Fritzi habe doch jetzt Zeit und könne Lea helfen. Und Albert sei doch wirklich der beste Vater, den man sich wünschen könne.
»Na, wenn das wieder so ein Plagegeist wird wie der Simon, dann gute Nacht«, meint Fritzi daraufhin.
Und dann kommt Mimi. Und Fritzi verliebt sich auf der Stelle und für immer in das kleine Persönchen. Und Lea findet, dass es ganz anders ist, eine Tochter zu haben.
Sie bekommt Kindergeld und jede Art von Unterstützung, und Fritzi und Erna verhätscheln Simon und Mimi auf jede nur mögliche Art.
Lea sieht keine Nachrichten und liest keine Zeitung mehr und hat das Gefühl, außerhalb der Welt zu leben, in einer Art Blase, in der alles gut ist.