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Georg Fraberger

Wie werde ich Ich

Zwischen Körper, Verstand und Herz

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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© 2017 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin

Umschlagfoto: Aleksandra Pawloff

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Arnold Klaffenböck

ISBN ePub:

978 3 7017 4562 3

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3404 7

Inhalt

Vorwort

Ausgangslage

Wie werde ich Ich?

Ziel ohne Beruf?

Die Erkennungsmerkmale des Ich-bin-Ich

Freiheit – nicht Frechheit

Aha, das bin ich!

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die überarbeitete Juristin

Die Motivation, sich zu entwickeln

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die sensible Frau Ilse F.

Ändern – aber wie?

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Fehlendes Interesse in der Ehe

Die Mechanik der Psyche

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Lilli K. wurde bedrängt

Die Bedeutung für den Alltag

Bin ich etwa schlecht?

Der Seele Ausdruck verleihen

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Der »Außenseiter« Marcel M.

Der Verstand entscheidet

Der Verstand als Sicherheitsfaktor

Wie werde ich nicht Ich?

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Wie geht es dir wirklich?

Ein Beispiel aus meiner Praxis: »Woher kommt die Angst?«, fragt Brigitte C.

Das Gefühl entscheidet

Gefühl als Risikofaktor

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Andrea S. wird von ihrer Mutter kritisiert

Das Leben als Wunschkonzert?

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die gemobbte Sekretärin Sandra R.

Über den Umgang mit Geld

Über den Umgang mit Liebe

Entscheidungshilfe Mensch

Entscheidungshilfe Wissen

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Mutter will entscheiden

Worauf kann ich stolz sein?

Entscheidungshilfe Eltern

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Mutter und Tochter

Das Leben im Spiegel

Entscheidungshilfe Biologie – Embodiment

Gefühle erkennen

Entscheidungshilfe Glaube

Der Wert von Gefühlen

Der Beginn der Erfüllung der Grundbedürfnisse

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Freizeit, PC und Musik

Wieso kann ich nicht denken, was ich fühle? – Oder umgekehrt

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein junges Liebespaar

Entscheidungsbremsen

Schuld

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die Scheidung einer Frau

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die Ehekrise

Was habe ich verdient?

Sexualität – Macht – Sinn

Das Ich im richtigen Körper

Wie kann man sich akzeptieren?

Sexualität und Macht

Sex macht Sinn – Aber verliebe dich nicht in mich

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die amputierte junge Frau

Sich selbst treu bleiben

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Eine alternative Familie

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die Vegetarierin

Das Problem der Sachlichkeit

Nicht krank machen lassen

Erkennungsmerkmale für die richtige Entscheidung

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die Entscheidung für eine Arbeit

Dürfen – Können – Wollen

Das muss so sein

Das darf ich sein

Das kann ich sein

Herz oder Kopf?

Die Konstruktion der eigenen Realität

Wie werde ich nun Ich?

Vorwort

Jeder kennt den Moment, in dem man plötzlich Ja sagt zu etwas, das man eigentlich nicht möchte. Beeinflusst von der Stimmung einer Situation oder dem Charme eines Menschen, kann es schnell passieren, dass man auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche vergisst und sich rasch für etwas verpflichtet, das man innerlich ablehnt. Oder das Gegenteil tritt ein: Man entscheidet sich gegen etwas, das man möchte, gegen etwas, wonach man sich sehnt, wie zum Beispiel eine Beziehung, obwohl das Herz sagt: »Diese Frau / dieser Mann wäre gut für dich.« Wie kann es sein, dass wir uns in Situationen begeben, die wie eine Art Blackout wirken und uns jegliche Entscheidungsfreiheit rauben? Erst im Nachhinein denkt man über solche Situationen nach und fragt sich, weshalb man sich für oder gegen etwas entschieden hat, das man als nüchtern denkender Mensch eigentlich nicht möchte. Wenn man öfter darüber nachdenkt, wird man feststellen, dass einem das nicht nur einmal passiert. Es lohnt sich also, innerhalb einer freien Gesellschaft auch sich selbst eine Freiheit zu schaffen, um sich dem Druck falscher Entscheidungen selbst nicht auszuliefern.

Die Frage, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat oder nicht, fällt unmittelbar oft gar nicht auf. Es ist sehr verführerisch, eigene Entscheidungen auf andere Menschen zu übertragen. Dann denken wir: »Der ist schuld daran, dass es mir so schlecht geht.« Oder: »Schon wieder gerate ich an einen Menschen, der mir nicht guttut.« Manchmal schmerzt es, sich selbst die Schuld zu geben und sich eingestehen zu müssen, die eigene Freiheit aufgegeben zu haben. Der emotionale Schmerz der Schuld oder das Gefühl des Ärgers darüber, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, deutet darauf hin, dass Gefühle offenbar eine wesentliche Rolle dabei spielen, Ja oder Nein zu sagen. Trotz der offensichtlichen Macht der Gefühle werden diese oft unterschätzt, als lächerlich empfunden, abgewehrt oder gänzlich ignoriert.

Seit dem Jahr 2000 arbeite ich als Psychologe hauptsächlich mit Menschen, die im Leben mit ihren Gefühlen nicht zurechtkommen. Die meisten, die meine Praxis betreten, betonen, dass sie nicht verrückt sind. Sie wundern sich, weshalb der Körper bestimmte Reaktionen und Gefühle liefert, die auf Enttäuschungen, Schwäche und Verzweiflung hindeuten, gleichzeitig aber der Verstand keinerlei Schwächen aufweist. Wie das sein könne, fragen sie mich. Entweder werden sie von positiven Gefühlen überwältigt, müssen zu rasch weinen und mitfühlen, oder sie werden von negativen Gefühlen wie Angst, Ärger und Schüchternheit beherrscht. Solche Gefühle, die einen Menschen dazu bringen, einen Psychologen aufzusuchen, werden vom Verstand als lästig, störend, dem Erfolg im Weg stehend, eine Beziehung zerstörend oder auch als sinnlos betrachtet. Als Psychologe freilich betrachtet man Gefühle neutral. Es gibt somit keine (ver)störenden, falschen oder lästigen Gefühle. Jedes Gefühl ist gleich viel wert und jedes will und muss beachtet werden. Wird ein Gefühl als störend empfunden, so gilt es herauszufinden, weshalb gerade dieses Gefühl in jenem Moment auftaucht. Ein Gefühl ist eine Ausdrucksweise des Körpers, ob etwas als angenehm oder unangenehm empfunden wird. Ein Gefühl kann nicht zwischen Richtig und Falsch, zwischen Wahr oder Unwahr unterscheiden, sondern lediglich erkennen, ob man sich in einer Situation wohl- oder gestresst fühlt.

Die Aufgabe von Gefühlen besteht darin, anzuzeigen, ob sich ein Mensch in die richtige Richtung entwickelt oder eben nicht. Doch was ist diese »richtige Richtung«? Hier gibt es neben dem verstandesmäßigen Richtigsein und dem guten Gefühl noch eine weitere Ebene – die Sinnebene. Diese erahnen wir mit dem Herzen.

Die meisten Menschen, die meine Praxis aufsuchen, kommen zu mir, weil unangenehme Gefühle so mächtig sind, dass sie die Betroffenen unfrei machen. Einige von ihnen konzentrieren sich auf einen Sinn im Leben oder auf den Weg des Herzens, jedoch hindern unangenehme Gefühle sie daran, ihr Ziel konsequent zu verfolgen. Andere leben ein solides, ordentliches Dasein und können sich nicht erklären, wieso sie sich nicht überglücklich fühlen. Analysiert man Lebenssituationen und betrachtet Schicksale logisch, so zeigt sich, dass der Umstand, Gefühle als angenehm oder unangenehm zu erleben, nicht der störende Faktor ist. Man kann lernen, unangenehme Gefühle auszuhalten. Es geht darum, selbstständig etwas entscheiden zu können und nicht Sklave seiner Gefühle zu sein. Die Macht der Gefühle zeigt aber nicht nur, wie wichtig die Auseinandersetzung mit sich selbst ist, um ein angenehmes, ruhiges Leben führen zu können. Die Macht der Gefühle zeigt vor allem, wie bedeutsam es ist, auf uns selbst zu achten. Jedes Zurücknehmen von Bedürfnissen, jeder Versuch, sich anderen Menschen gegenüber zu verstellen oder ihnen etwas vorzuspielen – ob bewusst oder unbewusst –, wird von Gefühlen gezeigt. Letztere machen uns bewusst, dass alles seinen Preis hat: Viel arbeiten, viel Geld verdienen … oder das Gegenteil, nichts arbeiten und wenig Geld verdienen … all das wird vom Gefühl bewertet. Das Gefühl erkennt, ob sich etwas lohnt. Das Gefühl zeigt, was es heißt, lebendig zu sein, Freude, Respekt, Achtung und Sinn zu erleben. Das Gefühl zeigt auch, wie hilfreich Frust, Unverschämtheit, Frechheit und Aggression sein können. Doch auf diese Aspekte von Gefühlen wird oft nicht geachtet. Vielmehr konzentrieren wir uns darauf, was angenehm ist. Wird auf die Aufgabe von Gefühlen vergessen, so fragt man sich: »Weshalb kommt jetzt ein schlechtes Gefühl?« – und nicht: »Vielleicht sollte ich etwas anderes tun?« Als Psychologe ist man genau solchen Fragen auf der Spur, Fragen und Antworten, die dazu verhelfen, frei zu machen: Frei, indem man lernt, darauf zu achten, was der eigenen Natur entspricht. Darauf zu achten, sein Gefühl zu kontrollieren, wäre der falsche Ansatz, denn jedes Gefühl ist richtig.

Das Dilemma ist altbekannt: Wenn ich mich nur gut fühle, weil ich brav bin, bin ich nicht Ich, denn ich vergesse oder unterdrücke meine eigenen Bedürfnisse, meine Wünsche sowie meinen Sinn einem anderen Menschen zuliebe. Orientiert man sich bloß an seinen Gefühlen und fühlt sich lediglich wohl, indem man der Meinung anderer entspricht, so ist man manipulierbar. Denn eine Meinung ändert sich und hängt stark von individuellen Bedürfnissen ab. Umgekehrt verhält es sich genauso: Wenn ich lediglich tue, worauf ich gerade Lust verspüre, bin ich auch nicht Ich. So kann es passieren, dass ich zum Egoisten werde, unangepasst, andere verletzend und einsam. Auch so werden Wünsche und der eigene Sinn nicht erfüllt.

Seine eigenen Entscheidungen zu treffen, die sich von jenen der anderen unterscheiden, kann zu Unsicherheit führen. Diese zeigt sich in den Banalitäten des Alltags. Beispielsweise beginnt man zu flüstern, wenn man sieht, alle anderen flüstern auch. Oder ein schlechtes Gewissen befällt mich, sobald ich Pause mache, während ich sehe, dass alle anderen durcharbeiten. Wir lernen, die eigenen Gefühle hintanzustellen und Harmonie in uns zu erzeugen, indem wir tun, was innerhalb einer Gruppe von Menschen als passend eingeschätzt wird.

Die Frage »Wie werde ich Ich?« betrifft aber nicht nur den Umgang mit Entscheidungen, sondern vor allem auch den Umgang mit falsch getroffenen Entscheidungen. Absichtlich wird hier betont, dass das Gefühl, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, das Problem darstellt. Haben wir tatsächlich bewusst eine falsche Entscheidung getroffen, oder war diese Entscheidung notwendig, um Bewusstsein darüber zu erlangen, was nicht erwünscht ist? Wie gehen wir mit dem Gefühl um, ungeschickt zu sein, ein Verlierer oder ein Versager? Besonders in dieser Problematik ist es entscheidend, die Frage »Wie werde ich Ich?« als Entwicklungsprozess zu betrachten. Der wird von momentan empfundenen Gefühlen oft ausgeschlossen oder übersehen. Es ist wichtig, sich selbst eine Entwicklungschance zu geben, um aus einer falschen Entscheidung lernen zu können.

Das vorliegende Buch befasst sich mit meinen Erfahrungen als Mensch und als Psychologe. Oftmals werden Fallbeispiele erwähnt, die aufzeigen sollen, wie mit unangenehmen Situationen und falschen Entscheidungen am besten umzugehen ist. Sämtliche Schilderungen wurden aus Datenschutzgründen derart verändert, dass die Identität und Anonymität der Betroffenen gewahrt bleiben, aber die dahintersteckenden allgemeingültigen Probleme exemplarisch vorgestellt und gedeutet werden können.

Ausgangslage

Jeder sieht, was du scheinst.
Nur wenige fühlen, wie du bist
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NICCOLÒ MACCHIAVELLI

Bestenfalls werden wir zu freien Menschen erzogen, die lernen müssen, Entscheidungen zu treffen, um Ziele zu erreichen. »Folge deinem Herzen« – »Nutze dein Talent« – »Tue, was dich interessiert, aber tue es rasch«: All das soll uns motivieren, den richtigen Job, den passenden Partner beziehungsweise die Partnerin, das geeignete Hobby zu finden, um glücklich zu leben. Mit dem Ziel vor Augen, was ich werden möchte, ist es verlockend, in eine Rolle hineinzuschlüpfen und endlich zu leben.

Als Psychologe treffe ich jedoch auch Menschen, die nicht so erzogen worden sind. Vielen haben ihre Eltern weniger Beachtung geschenkt. Hauptsächlich hat man ihnen beigebracht, etwas zu lernen und arbeiten zu gehen. Ob die Arbeit interessant sei oder nicht, danach hat niemand gefragt. Hauptsache, die Kinder würden später einmal selbstständig leben und finanziell niemandem zur Last fallen.

Meiner Erfahrung nach steht jeder vor derselben Problematik, seine eigenen Entscheidungen treffen zu müssen, unabhängig vom jeweiligen Erziehungsstil. Entzieht man sich dieser Aufgabe, so spielt man nur eine Rolle und versucht, hierdurch seinen Traum zu leben und es allen Menschen recht zu machen. Man läuft Gefahr, in Stress zu geraten und an seinen eigenen Aufgaben zu scheitern. Deshalb ist es notwendig zu wissen, wie die menschliche Psyche funktioniert. So denke ich beispielsweise, dass ich genau weiß, was ich will und wie ich mich benehmen muss, um etwas zu erreichen. Ich habe eine Idee, wie ich Ziele erreichen kann, und der Körper muss machen, was ich will. »Laufen ist gesund!«, sagt der Verstand, und daher geht der Körper laufen. »Pünktlich zu sein ist ein Gebot der Höflichkeit!«, wird uns von Kindesbeinen an beigebracht, und darum stresse ich mich von Termin zu Termin. »Liebe deinen Nächsten!«, wissen wir aus der Bibel, und gleichzeitig sind wir neidisch, gewalttätig oder betreiben stummes Mobbing.

Warum ist das so? Wie kann es sein, dass wir all die guten Dinge im Leben anstreben, die der Körper dann irgendwie nicht aushält und sich dagegen wehrt? Liegt das Problem darin, dass der Körper nicht alles mitmacht, was der Verstand für gut hält, oder daran, dass Letzterer nicht weiß, was für Ersteren wirklich gut ist? »Rauchen ist ungesund«, gibt der Verstand der Hand zu verstehen, die eine Zigarette anzündet. Und plötzlich, aus irgendeinem Grund streikt der Körper. Er wird müde, droht zusammenzubrechen oder fühlt in bestimmten Situationen etwas völlig Unpassendes, als habe er ein eigenes Wissen, das dem des Kopfes widerspricht.

Doch wie kann das sein? Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, wie man seine Persönlichkeit entwickelt, wie man all das, was man gelernt und erfahren hat, sinnvoll einsetzen kann. Das negative Gefühl ist die einzige Instanz, die den Verstand darauf hinweist, dass etwas nicht passt und dass man im Leben etwas ändern muss. Unsere Gefühle bringen uns zum Nachdenken. Das Erste, worüber wir nachdenken, sind die Gefühle selbst. Sie sind es auch, die einen Menschen zum Arzt oder zum Psychologen bringen. Und sie sind es auch, die man geändert haben möchte. Über die Ziele, die man im Leben erreicht hat, und über das, was man im Alltag tut, wird für gewöhnlich weniger nachgedacht. Denn der Verstand argumentiert: Ich muss ja arbeiten, ich kann ja meinen Kindern eine Scheidung nicht antun, ich kann ja nicht unhöflich sein etc. Oft befinden sich Menschen in Situationen, in denen sie ihre Lebensziele bereits erreicht haben. Viele haben sich eine Existenz aufgebaut, die von Arbeit und Beziehungen geprägt ist. Doch anscheinend zeigt das Gefühl an, dass weder die Arbeit noch die Beziehungen so verlaufen, wie man es gerne hätte. Kaum hat man seine Ziele erreicht, so der Eindruck, steht man scheinbar vor dem Nichts. Unbewusst hat man das Ziel mit einem Gefühl verknüpft. Man wundert sich, dass das tolle Gefühl, welches so sehnlich erwartet wurde, sich nicht einstellt und dass sich gefühlsmäßig eigentlich nichts zum Positiven verändert, obwohl doch das angestrebte Ziel erreicht worden ist. Jeder steht vor der Entscheidung, sein Verhalten an die Bedürfnisse anderer anzupassen und so liebenswert zu sein, oder aber sein Verhalten an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Beide Male kann man somit für seine Taten geliebt werden, jedoch weiß man bei dem, der auch seine eigenen Bedürfnisse achtet, dass er / sie es aus reinem Herzen macht.

Jemand, der stark übergewichtig gewesen ist und durch langwierige Operationen sein Wunschgewicht erreicht hat, denkt sich vielleicht: »Aha, das also ist Attraktivität.« Dann erst kann mit diesem Gedanken das Bewusstsein kommen, wie wichtig die Körperhaltung ist und all das, was man ausstrahlt. Denn ohne dieses Bewusstsein würde eine Ernüchterung eintreten und der Betroffene enttäuscht feststellen: »Ich bin doch gar nicht so schön wie erhofft.«

Wir erleben, dass Menschen, die im Leben offenbar alles haben, sich vollkommen wertlos fühlen, ja sogar an Zuständen leiden können, die wir als Erschöpfungssyndrom, Burnout, Depression, Angst und Panikstörungen bezeichnen. Wir begegnen hier einer Art Widerspruch unserem logischen Verständnis zufolge: So zeigen eben Menschen trotz hoher Bildung und großer materieller Fülle einen Zustand absoluter Leere und beschreiben ein Gefühl völliger Erschöpfung und Wertlosigkeit. Dieser Widerspruch wirft Fragen auf: Worauf lohnt es sich, im Leben zu achten? Sind es wirklich jene Ziele, auf die wir uns konzentrieren möchten, oder geht es eher darum, was wir erleben wollen? Ist es etwa wichtig, einen Job im Spital als Ziel zu haben, oder aber zu lernen, sich mit Medizin zu beschäftigen, neugierig und interessiert zu sein? Denn aus Interesse und Neugierde kann eine Identität als Arzt entstehen. Die Rolle als Arzt wird nicht abgelegt, wenn der weiße Kittel fällt. Auch im Alltag und in der Freizeit bleiben das Interesse und die Neugierde an der Medizin bestehen.

Letztlich dreht sich alles um die Frage: Wie werde ich Ich? Wie lerne ich, auf mein Herz und gleichzeitig auf den Verstand zu hören? Wie schaffe ich es, innerhalb bestehender, fester Strukturen Freiheit zu schaffen, die mir ein sinnvolles Leben erlaubt? Dieser Gedanke konzentriert sich heutzutage viel weniger auf das Materielle (Wie erarbeite ich mir, was ich gar nicht so dringend brauche?), sondern vielmehr auf das Beziehungsmäßige. Denn absolute Freiheit wird mit absoluter Einsamkeit gleichgesetzt. Wie schafft man es also, eine sinnvolle Tätigkeit frei ausüben zu können, ohne die Liebe und Beziehungen zu anderen Menschen zu zerstören?

Bedürfnisse, Wünsche, Forderungen und Ideen hängen stark mit der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zusammen. Je gefestigter ein Mensch ist, desto geringer die Abhängigkeit von der Zustimmung anderer Menschen, und umso freier werden Entscheidungen getroffen. Der Prozess der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit berührt sämtliche Entscheidungen, die man im Leben trifft. Entscheiden ist somit etwas Grundsätzliches und umfasst damit jeden Lebensbereich.

Jeder, der eine Beziehung führen, einen Beruf ausüben, als Künstler, Musiker, Sportler einer Leidenschaft nachgehen möchte, muss lernen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Man muss sich entscheiden, was man mag und was nicht, ob man spricht oder schweigt, ob man gesund oder riskant, ob man Liebe oder Freiheit leben will. Man muss lernen, sich für sich zu entscheiden und gleichzeitig niemand anderem zu schaden. Entscheidungen treffen wir bewusst und unbewusst, und sie betreffen sowohl das Gefühl als auch den Verstand. Sie können für uns Gegensätze bedeuten, die schwer kompatibel sind. Damit stellt sich die Frage: Wem traue ich – dem Herzen oder dem Kopf?

Der Mensch ist ein soziales Wesen und somit von anderen Menschen abhängig. Das führt dazu, dass jeder sein Verhalten an seinen Mitmenschen ausrichtet. Wir entscheiden uns: Zu wem bin ich nett, zu wem ehrlich? Von wem erwarte ich mir Liebe und Zuneigung? Wen meide ich, wem schließe ich mich an? Im Leben geht es also um Beziehungen, um Attraktivität und darum, dass ich mich nicht verstellen muss. Was aber muss ich tun, um so attraktiv zu sein, dass jemand mit mir eine Beziehung eingehen möchte? Und wie müssen sich andere verhalten, anziehen, aussehen, um mir zu gefallen?

So beginnt man zu überlegen, wie man sein, was man tun und haben muss: Beruf, Auto, Muskeln, Höflichkeit, Intelligenz – all das verbinden wir damit, um attraktiv zu sein. Ganz automatisch beginnt man seinen Tag so zu gestalten, damit diese Ziele auch erreicht werden. Im Erreichen des Zieles wird der Sinn eines Jobs gesehen, zum Beispiel: »Wenn ich viel arbeite, verdiene ich so viel, wie ich brauche.« Das bedeutet, dass erst ein bestimmtes Ziel dem menschlichen Verhalten Sinn gibt.

Als Psychologe erlebe ich oftmals, dass Frauen wie Männer versuchen, alles zu tun, um ein Ziel zu erreichen und sich hierdurch einen Sinn zu schaffen. Viele geben für dieses Ziel ihre eigene Meinung, eigene, private Bedürfnisse auf. Doch Sinn und Glück sind unabhängig von Zielen. Aufgrund dieser Zielorientierung vergessen nicht wenige zu fragen: Wie entscheiden wir uns für das Glück im Leben? Wie kann ich das, was mir sinnvoll erscheint, leben?

Der große Unterschied liegt darin, dass das Ziel automatisch mit Glück verbunden wird. Die Frage nach dem Glück klärt viel klarer und deutlicher, sowohl was angenehm und unangenehm ist, als auch, was richtig und was falsch ist. Denkt man an ein Ziel, so hofft man beispielsweise: »Wenn ich verheiratet bin, fühle ich mich sicher bei ihm.« Oder: »Erst wenn ich einen Job habe, fühle ich mich wertvoll.« Oder: »Wenn ich genügend Likes auf Instagram habe, kann ich beruhigt schlafen.« Erst wenn man sich Zeit nimmt, darauf zu achten, wie sich ein Gedanke anfühlt, kann ein Entscheidungsprozess stattfinden, der nicht bedeutet, mehr von einer Sache ist weniger von der anderen. Beispielsweise heißt sich gesund zu ernähren nicht gleichzeitig, sich quälen zu müssen. Was muss man hierfür tun – lange überlegen, sitzen, meditieren, und das neben dem Stress des Alltags? Aus psychologischer Sicht genügt es, dem Credo des Kirchenlehrers Augustinus zu folgen: »Liebe und tue, was du willst.«

Doch wie erkennt man Liebe? Sowohl die Liebe zu einem Menschen als auch die Liebe für einen Beruf, die Wissenschaft, Kunst, Musik? Können wir sie mit dem Verstand erfassen oder ist sie nur ein Gefühl? Kann man sich bei der Entscheidung für die Liebe auf den Verstand oder auf das Gefühl verlassen? Woher weiß man, welche Entscheidung die richtige ist?

Als Psychologe beschäftigt man sich mit diesen Fragen aus zwei Gründen: Erstens glauben wir, dass die Gedanken frei sind und man über alles philosophieren beziehungsweise hinterfragen kann. Die Gedanken sind vielleicht frei, jedoch sind sie mit Gefühlen verbunden. Diese sind nicht frei. Gefühle erleben wir, selbst wenn wir versuchen, sie zu unterdrücken und zu steuern. Hieraus ergibt sich der zweite Grund: Man ist als Psychologe auf einer medizinischen Ebene mit den Gefühlen beschäftigt, die wie eine Krankheit an einem haften können. Als Psychologe fragt man sich also: Wie können Denken und Fühlen eine Einheit bilden? Und wer hat recht, das Herz oder der Kopf? Das Herz steht für die Gefühlsebene, die unkontrollierbare Seite des Menschen; der Kopf symbolisiert die Gedanken, die steuerbar sind. Wir müssen somit der Frage nachgehen, was in der Natur des Menschen liegt und wie wir das fördern können oder zumindest nicht zerstören. In Sachen Liebe ist es klar: das Herz. Aber in allen anderen Angelegenheiten muss auch entschieden werden: Körper oder Verstand?

Es ist demnach wesentlich, sich zu überlegen, was die richtige Entscheidung ist und für wen, denn niemand kann für sich allein entscheiden. Der Umgang vieler Menschen miteinander lässt uns erkennen, dass man sogar aus Liebe seinem Partner in bester Absicht etwas Negatives antun kann, weil man ja zu wissen glaubt, was gut für ihn oder sie ist. Die Entscheidungsfrage, etwas zu tun oder nicht zu tun, zeigt außerdem auf, dass Beziehungen oder die Hoffnung auf Beziehungen ausschlaggebend für Entscheidungen sind. Jede Handlung und jedes Wort betreffen immer auch zumindest einen anderen Menschen. Sogar der vereinsamte Mensch, der sich selbst umbringt, löst etwas aus bei dem, der ihn findet.

Jeder Mensch ist mit dem Ende der Pubertät frei in seinen Entscheidungen. Das bedeutet, er kann sich theoretisch aussuchen, wie er leben will. Es gibt jedoch die Einschränkung, dass ein Mensch zumindest einen anderen braucht. Diese Angewiesenheit auf Liebe beeinflusst jede Entscheidung. Die Frage »Wie will ich leben?« ist verbunden mit dem Bedürfnis »Wie werde ich geliebt?«. Das Gegenteil »Wie werde ich nicht geliebt?« ist leicht zu beantworten und es eröffnet sich sofort eine Vielzahl von Möglichkeiten. Bei der Frage »Wie werde ich liebenswert?« schränkt sich die Freiheit massiv ein und ist heutzutage durch Gepflegt-, Strebsam-, Einfühlsam- und ausreichend Reichsein zu beantworten. Wir wissen, welchen Lebensstil wir führen müssen, um jene Ziele zu erreichen. Wir wissen außerdem, dass dieser Lebensstil mit viel Arbeit verbunden ist und den menschlichen Körper kaputt machen kann. »Sitzen ist das neue Rauchen«, wird die kommende Generation zu sich sagen müssen. Trotzdem tun wir uns das an.

Unterschiedliche Sozialsysteme zeigen alle dieselbe Problematik, nämlich jene, einen Lebensstil zu finden, der als lebenswert bezeichnet werden kann, einen Lebensstil, der nicht auf Kosten eines anderen Menschen geht.

Wie werde ich Ich?

Sich selbst treu zu bleiben, sich nicht verstellen zu müssen, um etwas zu erreichen, heißt, sich für die anderen und für sich entscheiden zu müssen. Doch was bedeutet »für sich«? Goethe beschreibt in seinem Drama »Faust« die Qual der Wahl mit den berühmten Worten: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.«

Aus psychologischer Sicht gibt es nur eine Seele, und dieses Dilemma der zwei Seelen kann als Kampf der Vernunft mit dem starken Gefühl des Herzens interpretiert werden. Es ist jedoch die Frage, ob tatsächlich die Entscheidung für einen der beiden Bereiche bedeutet, sich nicht verstellen zu müssen.

Die Überlegung »Wie werde ich Ich?« orientiert sich an einer Ahnung, die ein Gefühl und einen Gedanken miteinander vereint. Das Dilemma der zwei Seelen orientiert sich an zwei Gegensätzen, die beide nicht zum Ziel führen werden oder müssen.

Das eigentliche Problem beginnt mit dem Bedürfnis, gemocht zu werden beziehungsweise etwas und jemanden zu mögen. Der Verstand kann mir helfen, mich anzupassen oder mich zu verstellen. Ob es mir aber gelingt, durch mein Verhalten auch tatsächlich gemocht (oder gefürchtet) zu werden, kann ich nur durch ein Gefühl bestätigen lassen. Der Verstand hängt vom Gefühl ab, zumindest in Bezug auf die Bestätigung, ob etwas gut und / oder richtig ist. Gemocht und bestätigt zu werden ist prinzipiell ein angenehmes Gefühl, jedoch muss jeder für sich abklären: Was bin ich bereit, für dieses angenehme Gefühl zu tun oder zu unterlassen? Wenn es um Entscheidungen geht (»Was soll ich tun?«), muss das Gefühl ebenfalls signalisieren, was sich richtig anfühlt, und nicht nur, was angenehm ist. Besonders in einer Beziehung ist es wichtig, hin und wieder das Richtige zu tun, auch wenn es nicht unbedingt angenehm sein sollte.

Entscheide ich mich dafür, Ich zu werden, bedeutet es, etwas zu tun oder zu lassen, das entweder neu oder, wenn es von einem Vorbild abgeschaut und nachgemacht ist, anders im Sinne von individuell und eigen ist. Die Bedeutung dieses Satzes liegt auf der Gefühlsebene: Für etwas noch nie Dagewesenes gibt es auch noch keine gefühlsmäßige Erwartung. Man kann sich also nicht für oder gegen etwas entscheiden, das mit der Erwartung, gemocht zu werden, zusammenhängt.

Die Problematik, worauf man hören soll, ist also unmittelbar mit der Entwicklung der eigenen Person verbunden. Sie betrifft nicht nur das Wohl anderer oder die Frage: »Wofür habe ich Verantwortung, woran trage ich Schuld?« Menschen, die es geschafft haben, ganz sie selbst zu werden, erlangen Bewunderung. Doch wofür? Nicht weil sie etwas tun, was andere nicht verstehen, sondern vor allem, weil sie bereits etwas sehen, was andere noch nicht erkennen können. Erst im Nachhinein können Freunde und Bekannte zustimmend erkennen: »Das musste so kommen« oder »Das war gut so«.

»Wie werde ich IchIch