Am 12. Juni 2016 in Orlando/USA: Ein Attentäter betritt den queeren Club Pulse und erschießt 49 Menschen, 53 werden verletzt. Der Anschlag gilt einem Ort, an dem sie sich unter ihresgleichen wähnen und sicher fühlen. Hierzulande organisieren «Besorgte Eltern» «Demos für Alle» gegen emanzipatorische Lehrpläne, macht die AfD Stimmung gegen ein «versifftes links-rot-grünes 68er-Deutschland», wachsen Vorbehalte gegen Muslime, Flüchtlinge, Lesben, Schwule und Trans*-Menschen. Fortschritte bei der rechtlichen Gleichstellung scheitern an Merkels «Bauchgefühl». Vor diesem Hintergrund wirkt der Anschlag von Orlando wie ein Menetekel: Es muss nicht so weitergehen mit Toleranz und Akzeptanz. Fühlt euch nicht zu sicher!
Die homopolitische Situation 2016 / 2017, die gesellschaftlichen Bedingungen wachsender Homophobie sowie die Strategien, mit denen wir den Herausforderungen begegnen können, sind Thema dieses Buchs. Mit Beiträgen von Muriel Aichberger, Joachim Bartholomae, Birgit Bosold, Ansgar Drücker, Gert Hekma, Werner Hinzpeter, Dirk Ludigs, Bodo Niendel, Peter Rehberg, Kriss Rudolph, Jan Schnorrenberg, Gabriel Wolkenfeld und Volker Woltersdorff.
Herausgeber Detlef Grumbach, geb. 1955, ist einer der Verleger des Männerschwarm-Verlags und freier Journalist.
DEMO. FÜR. ALLE.
HOMOPHOBIE ALS HERAUSFORDERUNG
Herausgegeben von
Detlef Grumbach
Männerschwarm Verlag
Hamburg 2017
Detlef Grumbach
Orlando …
Orlando, 12. Juni 2016: Ein Attentäter betritt den queeren Club Pulse. Dort feieren Latinos eine Party, die meisten Besucher sind schwul, lesbisch, bisexuell oder transgender. Er tötet 49 Besucher*Innen und verletzt 53 weitere. Der Anschlag auf das Pulse hat ungewöhnlich starke Reaktionen hervorgerufen. Spontan brachten Schwule, Lesben, Trans* und andere weltweit ihre Trauer um die Opfer zum Ausdruck, auf vielen CSD-Paraden des Sommers 2016 trugen Teilnehmer ein riesiges Trauerband, jedes einzelne der Opfer wurde mit Name, Gesicht und wichtigen Lebensdaten gezeigt.
Der Anschlag hatte sich gezielt gegen einen Ort gerichtet, an dem queere Menschen oder Queers – so will ich sie mal nennen, um die unübersichtliche Buchstabenkette LSBQTI* in Zukunft zu vermeiden – unter ihresgleichen waren und sich sicher fühlten. Er wirkte wie ein Menetekel: Ihr alle seit gemeint. In den USA wurde dies von einem großen Teil der Öffentlichkeit verstanden. Der Präsident, sein Vize und auch die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Barack Obama, Joe Biden und Hillary Clinton, solidarisierten sich ausdrücklich mit den queeren Opfern. Doch «hierzulande ist die sexuelle Orientierung der Opfer Angela Merkel keine Erwähnung wert […], ist der Kanzlerin die Besonderheit dieses Anschlages offenbar gleichgültig», schrieb der Vorsitzende des Vereins Hamburg Pride, Stefan Mielchen, an prominenter Stelle auf der Website des Stern. «Diese Ignoranz ist erbärmlich. Und sie tut weh.» Er fuhr fort:
«Eine Geste, ein Zeichen der Empathie in Richtung der Homosexuellen ist offenbar zu viel für eine christliche Politikerin. Das ist ein Schlag in das Gesicht all derer, die in Deutschland nicht der heterosexuellen Norm entsprechen und der Kanzlerin ein ungutes Bauchgefühl bescheren mit ihrer Forderung nach vollständiger Gleichberechtigung. Denn darum geht es immer noch im Deutschland des Jahres 2016: Dass Schwule und Lesben sich abfinden müssen, ungleich behandelt zu werden – vor dem Gesetz und in ihrem Alltag. Angela Merkel könnte das ändern. Sie will es nicht» (Mielchen 2016).
… Besorgte Eltern, Demo für alle
Der Anschlag und die unterschiedlichen Reaktionen haben etwas ausgelöst. Es brach etwas hervor, das lange im Untergrund rumort hatte: das Bewusstsein dafür, dass es mit wachsender Akzeptanz und den Schritten zur rechtlichen Gleichstellung nicht automatisch immer so weiter gehen muss, dass ein Rollback möglich ist. Die ökonomischen und politischen Transformationen nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent und in Osteuropa haben neue Nationalismen hervorgebracht, die zunehmend autoritär organisierte, patriarchale und damit auch frauenfeindliche und homophobe Herrschaftssysteme etablieren.
«Es muss etwas mit den historischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen sowie der Form der politischen Herrschaft zu tun haben, wenn aus dem homophoben Ressentiment einzelner Menschen kollektives Handeln in Form von Drohungen, Übergriffen und physischer Gewalt gegen sexuelle Minderheiten wird. Eine andere Qualität gewinnt Homophobie dann, wenn sie zu einer politischen Haltung oder gar zu einem Bestandteil staatlicher Politik wird» (DGO 2013: 3).
Diese These wird im Editorial der Zeitschrift Osteuropa formuliert, anhand Russlands, Polens und Tschechiens wird sie im Heft belegt. Während hierzulande mit den CSD-Paraden schon länger überwiegend Feierlaune demonstriert wird, wurden in osteuropäischen Metropolen wie Moskau, Prag, Warschau, Belgrad selbst kleine Demonstrationen verboten, behindert und endeten teilweise mit massiven Polizeieinsätzen. Die Demonstrationen gegen die Homo-Ehe in Frankreich 2013, organisiert von der Bewegung Manif-pour-tous (Demo für alle), unterstützt von der konservativen Union pour un mouvement populaire (UMP) und dem rechtsnationalen Front National (FN), haben viele nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, genauso wie den Volksentscheid gegen die Homo-Ehe in Kroatien im selben Jahr. Solidarität war eine Sache von wenigen Aktivist_innen, die Empörung dauerte nicht lang, der Sachverhalt betraf nicht uns. Nervös wurden die deutschen queeren Bewegungen und ihre Medien erst, als sich so etwas wie «Demo für alle» auch in Deutschland organisierte.
Demo für alle? Der Name führt bewusst in die Irre. «Alle» meint hier eine Mehrheit, die sich in aggressiver Weise zum Maß aller Dinge stilisiert und jeden, der nicht so ist wie sie oder sich ihr nicht beugt, zum Feind erklärt. Unter Parolen wie «Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder» organisieren «Besorgte Eltern» seit dem Frühjahr 2014 zunächst in Baden-Württemberg, dann auch in Bayern und weiteren Bundesländern InfoStände und Demonstrationen gegen emanzipatorische Bildungspläne und Unterrichtsinhalte, die auch andere Lebensformen als die der heterosexuellen Ehe als möglich und respektabel behandeln. Wie in Frankreich der FN sprang hier die Alternative für Deutschland (AfD) auf den fahrenden Zug und ergänzte die Propaganda um Sprüche gegen ein «versifftes links-rot-grünes 68er-Deutschland».
Baute sich hier eine Bewegung auf, die auch in vielen Ländern virulente Stimmungen im Lande gegenüber sexuellen und anderen Minderheiten aufgreifen und das liberale Klima ernsthaft vergiften könnte? Erste Anzeichen wurden verstärkt, als sich im (Vor-) Wahlkampf um die US-Präsidentschaft frauen-, fremden- und homofeindliche Positionen als salonfähig und erfolgsförderlich erwiesen und solche Tendenzen auch in der Auseinandersetzung um den Brexit in Großbritannien sichtbar wurden. «Homophobe Angriffe seit Brexit verdoppelt» – unter dieser Überschrift bestätigte Die Zeit (unter Berufung auf Berichte in The Guardian und einer Bilanz des National Police Chief’s Council) im Oktober den sich schon seit Beginn der Brexit-Debatte abzeichnenden Trend (Zeiher 2016).
Es reicht!
In diese Gemengelage hinein platzte die Nachricht vom Anschlag in Orlando, die kühle Reaktion der Kanzlerin und der kalkulierte Wutausbruch Stefan Mielchens. Mielchen war mit einem Schlag bundesweit in den Medien – im Deutschlandfunk, in der Süddeutschen Zeitung, in den Tagesthemen der ARD. Auch anderen klugen Köpfen kam die Galle hoch. Adriano Sack, Redakteur der Tageszeitung Die Welt, outete sich mit einem ganzseitigen Artikel:
«Als Journalist hege ich eine Abneigung gegenüber Texten, in denen Menschen Katastrophen persönlich nehmen. In diesem Fall fällt es mir schwer, das nicht zu tun. Denn egal, was meine wohlmeinenden Kollegen nun denken, äußern und schreiben. Es ist nicht unsere gemeinsame Welt, die da mit Maschinengewehrsalven zerschossen wurde. Sondern es ist meine» (Sack 2016).
Sack macht in seinem Artikel auf berührende Weise deutlich, dassbei aller Liberalität im Land und auch in seiner Redaktion – geschützte Räume nötig sind, dass es auch hierzulande Gewalt, Diskriminierung und kleine Nadelstiche von Kollegen gibt, die diese wahrscheinlich gar nicht mal als solche wahrnehmen. Der Schluss seines Artikels:
«Ein schwuler Freund von mir postete einige Stunden nach dem Massaker auf Facebook: ‹Unser Kampf hört nie auf.› Leider hat er Recht.»
In der Süddeutschen Zeitung nahm Carolin Emcke «Orlando» zum Gegenstand ihrer Kolumne und kam, wie Adriano Sack, aus diesem fernen Anlass sehr schnell zur Situation in Deutschland:
«Wie immer einzigartig und singulär als Individuen, das, was queere Menschen kollektiv verbindet, ist nicht zuletzt dieses Gefühl der Verletzbarkeit: immer noch mit herablassenden Blicken betrachtet zu werden, wenn wir auf der Straße Hand in Hand laufen oder uns küssen, immer noch mit Schimpfwörtern bedacht und bedroht zu werden auf dem Schulhof oder in der U-Bahn oder im Netz, immer noch gegen Gesetze ankämpfen zu müssen, die uns als ‹krank› kategorisieren oder kriminalisieren, immer noch begründen zu müssen, warum wir vielleicht nicht gleichartig, aber doch gleichwertig sind, warum wir Kinder lieben und fördern können wie andere Familien auch, immer noch Gefahr zu laufen, am helllichten Tag oder des Nachts angegriffen und zusammengeschlagen zu werden. ‹Schwule Orte werden immer wieder von der Geschichte dieser Gewalt heimgesucht›, schreibt der französische Philosoph Didier Eribon in seinem jüngsten Buch ‹Rückkehr nach Reims›. ‹Jede Allee, jede Parkbank, jeder blickgeschützte Winkel trägt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft solcher Attacken in sich.› Das alles nur, weil es diesen Hass gibt auf die Art wie wir lieben oder leben. Weil es diesen Hass gibt auf unser Glück, für das wir uns nicht schämen wollen. Daran hat sich nichts geändert, nur weil manche von uns Bürgermeister oder Umweltministerin oder Popstars werden können» (Emcke 2016a).
Im Oktober erschien ihr Essay «Gegen den Hass (2016b), in dem sie sich damit auseinandersetzt, wie dieser Hass entsteht, wie er gemacht wird. In ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels führte sie aus:
«Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit: dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen. […] Zur Zeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom ‹homogenen Volk›, von einer ‹wahren› Religion, einer ‹ursprünglichen› Tradition, einer ‹natürlichen› Familie und einer ‹authentischen› Nation. Sie ziehen Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht» (Emcke 2016c).
Brüchige Akzeptanz?
Im Windschatten der alles bestimmenden politischen Themen des Sommers und Herbstes 2016, der sogenannten «Flüchtlingskrise» und der Debatte, wie die deutsche Gesellschaft es mit dem Fremden, dem ethnisch, religiös, kulturell Anderen halten soll, entwickelte sich so auf einem Nebenschauplatz eine Diskussion darüber, wie es um die Bewusstseinslage gegenüber den sexuell Anderen steht. Beflügelt wurde sie noch durch die im Juni publizierte «Mitte-Studien» der Universität Leipzig (in Verbindung mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung, zitiert als Decker / Kiess / Brähler 2016). In diesen regelmäßig durchgeführten Studien wird die gesellschaftliche Mitte nach ihren politischen Einstellungen befragt – unter anderem auch zum Themenbereich «Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit». Die Befragten sollen angeben, ob sie einer bestimmten Aussage voll und ganz, eher, eher nicht oder ganz und gar nicht zustimmen.
Die Zustimmung (‹voll und ganz› und ‹eher›) dazu, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden müsse, wuchs nach Ergebnissen der Leipziger Studie von 21,4 % im Jahr 2009 auf 41,4 % im Jahr 2016; die Zustimmung dazu, dass man sich durch die vielen Muslime fremd im eigenen Land fühle, im selben Zeitraum von 32,2 % auf 50 %; dazu, dass der Staat bei Asylanträgen nicht so großzügig sein soll, von 25,8 % auf 80,9 %. Dass es ekelhaft sei, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen, empfinden 40,1 % im Jahr 2016 gegenüber 27,8 % im Jahr 2009, dass Homosexualität unmoralisch sei, 24,8 % gegenüber 15,7 %, und dass die Ehe zwischen zwei Männern oder zwischen zwei Frauen nicht erlaubt sein sollten, 36,2 % gegenüber 29,4 % (Decker / Kiess / Bähler 2016: 50 f.). 1
Der hier festgestellte Trend wurde als Alarmsignal und als Folge der stärker werdenden rechtspopulistischen Bewegungen gewertet. Und wie die etablierte Politik gegenüber diesen Bewegungen in der Flüchtlingsfrage Schrittchen für Schrittchen zurückweicht, angeblich, um sie klein zu halten, so tut sie dies – zumindest partiell – auch in der «Homo-Frage».
Es war Winfried Kretschmann, der aus dem Stammland der «Besorgten Eltern» heraus den Aufstieg der AfD im Oktober 2016 zum Anlass nahm, «Selbstkritik» zu üben. Angesichts der Erfolge einer modernen, grünen Gesellschaftspolitik, so der Ministerpräsident, «sollten wir uns selbstkritisch fragen: Haben wir vielleicht auch etwas falsch gemacht? Wie verhält es sich mit dem Vorwurf, wir hätten es mit dem Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen übertrieben?» Und als ob die Kritik der Besorgten Eltern und der AfD einen wahren Kern treffen würde, redet er einer Art Obergrenze bei der Erziehung des Menschengeschlechts das Wort, fährt fort und stellt auch noch das legendäre Wowereit-Zitat in seiner Intention auf den Kopf:
«Es geht darum, dass jeder nach seiner Fasson leben kann, und nicht darum, traditionelle Lebensformen abzuwerten oder die Individualisierung ins Extrem zu treiben. Individualismus darf nicht zum Egoismus werden, sonst wird gesellschaftlicher Zusammenhalt unmöglich. So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so» (Kretschmann 2016).
Nach Protesten auch aus der eigenen Partei bekannte sich Kretschmann zur Forderung, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, doch das Zitat war in der Welt und wurde von anderen Grünen, wie dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, vehement verteidigt (Schulze 2016). Dahinter steckt bei den Grünen, so darf man vermuten, die Einschätzung, dass Besorgte Eltern und AfD auch in der «Homo-Frage» einen Nerv der WählerInnen treffen. Dahinter steckt auch die Unsicherheit, wie weit die Akzeptanz oder auch nur die Toleranz gegenüber Queers wirklich trägt, ob ein relevanter Teil des Wahlvolks die Grünen unter anderem auch deshalb wählt, weil sie für die Akzeptanz von Queers einstehen, oder doch eher, obwohl sie dies tun. Auch wir Queers müssen uns wohl dieser Frage stellen – mit dem Unterschied, dass wir keinen Spielraum für taktische Manöver haben.
Wir müssen uns heute die Frage stellen, ob wir Akzeptanz und rechtliche Gleichstellung bis zu dem heutigen Stand erreicht haben,
–weil sie einmal zum Kern eines rot-grünen Reformprojekts gehört hat und danach von der Mehrheit der Gesellschaft trotz einer Kanzlerin mit ihrem «Bauchgefühl» gegen die Homo-Ehe so gewollt war, oder
–obwohl sie schon unter der rot-grünen Bundesregierung eher im Windschatten anderer Projekte vorankam und deshalb im Bewusstseinsstand der Bevölkerung nicht gerade fest verankert ist oder sogar abgelehnt wird.
Sollte die erste Möglichkeit zutreffen, könnte man die bedrohlichen Tendenzen als vorübergehende Symptome des Erfolgs werten. «Je mehr wir unsere Rechte durchsetzen, je mehr wir die Herzen und Köpfe der Menschen erreichen», erklärte die amerikanische lesbische Schauspielerin und Sängerin Lea DeLaria nach dem Anschlag von Orlando im Spiegel, «desto heftiger werden uns jene bekämpfen, die uns wegen unserer Andersartigkeit hassen» (DeLaria 2016). Sollte die zweite Möglichkeit zutreffen, müssten wir uns auf länger andauernde Auseinandersetzungen um ein gesellschaftspolitisches Rollback einstellen.
«Unser Kampf hört nie auf» – die Antworten der Bewegung
«Unser Kampf hört nie auf» – so zitiert Adriano Sack einen Freund. Gegen welche Gegner dieser Kampf wieder aufgenommen und weitergeführt werden muss, wer überhaupt seine Bündnispartner und was seine Ziele sind, wie die Bewegung darauf vorbereitet ist und wie die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen einzuschätzen sind, sind Themen dieses Sammelbands.
Dazu gehören eine Bestandsaufnahme der homopolitischen Standpunkte der AfD, aber auch die Veränderungen des Selbstbilds vor allem von Schwulen, die nicht mehr schwul, sondern ‹richtige Männer› sein wollen. Zu den Rahmenanalysen gehören Fragen nach den tieferen Wurzeln der Homophobie und nach den seit den 1990er Jahren stark gewandelten, neo-liberalen gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen beides seinen Platz hat: queere Menschen, die anpassungsfähig und flexibel in ihre Rolle finden ebenso wie auch wachsende Homophobie.
Hinter all diesen Fragen steht die große Frage nach dem «Wir», nach den Subjekten, die den Kampf aufnehmen, gemeinsam im Bündnis oder getrennt gegen denselben Gegner.
Als in den 1970er Jahren die Lesbenbewegung vorsichtig aus dem Windschatten der Frauenbewegung trat und sich die Schwulenbewegung formierte, war dieses «Wir» politisch meist links und der Studentenbewegung verbunden. Es definierte sich politisch, vom Lebensgefühl her und sexuell in der Differenz zur Mehrheitsgesellschaft, wollte diese verändern und stieß mit ihrem provokanten Auftreten der großen schweigenden Mehrheit vor den Kopf. Es war eine kleine Minderheit der ansonsten unsichtbaren «Betroffenen».
Dieses «Wir» hat aber einen entscheidenden Teil dazu beigetragen, dass die Gesellschaft sich verändert hat, dass immer größere Teile der Schwulen und Lesben sich zeigen konnten, dass sich Sportvereine, Wandergruppen, Gruppen in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden gründeten, bis hin zu den schwulen Managern im Völklinger Kreis und den lesbischen Wirtschaftsweibern. Statt die Differenz zu betonen, hieß die Losung jetzt «Eine Liebe wie jede andere», Normalität war Trumpf, es ging nicht um Veränderung der Gesellschaft, sondern um Teilhabe. Das alte «Wir» blieb zwar bestehen, jedoch als eine marginalisierte Minderheit; ein neues, größeres «Wir» von selbstbewussten Schwulen und Lesben in allen gesellschaftlichen Bereichen trat in der öffentlichen Wahrnehmung an seine Stelle. Und jetzt kommen die «Homosexuellen in der AfD» und erklären selbst dieses große, anpassungswillige «Wir» zu einer «linksgrün versifften» Minderheit und erheben den Anspruch, dass nur sie wirklich für eine Mehrheit der Homosexuellen sprechen.
Es gibt also kein homogenes «Wir», weder politisch noch hinsichtlich der Buchstabenkette LSBTQI*. Denn die erfolgreiche Konzentration der Klientelpolitik von Rot-grün auf Bürgerrechte und die zunehmende rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben mit Heterosexuellen hatte auch dazu geführt, dass sich die Fragen von Akzeptanz und Emanzipation auf die einer Akzeptanz der Ehe und des Adoptionsrechts verkürzt hatten – unter Ausschluss all derer, für die dies keine Option war. Denn es gibt zahlreiche Queers, die die Ehe mit ihren sozial- und steuerrechtlichen Implikationen für ein Ordnungsinstrument einer patriarchalen Gesellschaft halten, und es machen sich zunehmend auch jene «Betroffenen» bemerkbar, die aus der heteronormativen Dichotomie Mann-Frau herausfallen und schon deshalb nicht von Verbesserungen der Lebenssituation gleichgeschlechtlich liebender Menschen profitieren.
Hinzu kommt, dass die Institutionalisierung der Bewegung seit den 1990er Jahren, mit ihren öffentlichen und halböffentlichen Einrichtungen und den Möglichkeiten öffentlicher Förderung unter dem Diktat der Förderrichtlinien usw., dazu geführt hat, dass sich ein großer Teil der politischen Interessenvertretung immer weiter von der Straße in die Parlamente und parteipolitischen Räume verlagert hat (vgl. Bartholomae /Grumbach 2017). So verlässt sich heute ein Teil der potenziellen Basis einer queeren Bewegung je nach politischer Couleurs auf ihre «FachpolitikerInnen» in Parteigremien und Parlamenten, auf ihre Leute, die als GleichstellungsreferentInnen oder auf ähnlichen Positionen in den Verwaltungen tätig sind. Das Politikum der CSD-Paraden besteht in erster Linie noch darin, dass sie für massenhafte Sichtbarkeit der Queers sorgen – auch jener, die sich nicht durch die Forderung der rechtlichen Gleichstellung repräsentiert fühlen.
Wenn wir den Satz vom nicht endenden Kampf ernst nehmen, müssen wir uns neu sortieren, über das «Wir», über das «Wer gegen wen?» streiten, über die Qualität unserer Ziele und unsere Beziehungen zu anderen Feldern der politischen Auseinandersetzung. Unser Band soll einen Beitrag dazu leisten, so wie schon Patsy l’Amour laLoves «Selbsthass und Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität» (2016) den Aufschlag zur Wiederaufnahme einer wichtigen theoretischen Diskussion geliefert hat. Unser Band folgt keiner These, läuft nicht auf einen einheitlichen Standpunkt hinaus. Er sammelt Standpunkte ein, ist dabei schwulen-lastig, was gar nicht beabsichtigt war. Wir hatten auch Lesben und Trans* angesprochen, es gab mehrere Zusagen, doch nicht alles, was möglich ist, geschieht auch. Das muss aber kein Wermutstropfen sein. Stephanie Kuhnen hat auf Facebook einen lesbenpolitischen Sammelband angekündigt, von Patsy l’Amour laLove wird ein weiterer Band erscheinen. Die Zeichen der Zeit sind erkannt. Die Diskussionen kommt in Gang.
Nachweise
Bartholomae, Joachim / Grumbach, Detlef (2017): Der kurze Sommer der Anarchie. vom politischen Aufbruch zur Institutionalisierung der Schwulenbewegung. In: Pretzel, Andreas / Weiß, Volker (Hg.): Politiken in Bewegung. Die Emanzipation der Homosexuellen im 20. Jahrhundert. Hamburg, S. 273-292.
Decker, Oliver / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Gießen.
DeLaria, Lea (2016): Ich habe 48 Stunden lang geweint. Ein Interview von Philipp Oehmke. In: Der Spiegel, Heft 25, 27.6.2017.
DGO Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (Hg.) (2013): Osteuropa Heft 10: Spektralanalyse. Homosexualität und ihre Feinde. Berlin.
Emcke, Carolin (2016 a): Orlando. In: Süddeutsche Zeitung, 18.6.2016. http://www.sueddeutsche.de/politik/kolumne-orlando-1.3038967 [15.2.2017].
Emcke, Carolin (2016 b): Gegen den Hass. Frankfurt a.M.
Emcke, Carolin (2016 c): «Anfangen!» Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M., 23.10.2016. http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/1244997/ [15.2.2017].
Kretschmann, Winfied (2016): Schluss mit dem Moralisieren. Die Zeit, 6.10.2016. http://www.zeit.de/2016/42/die-gruenen-kritik-winfried-kretschmann-afd-aufstieg [15.2.2017].
l’Amour laLoves, Patsy (Hg.) (2016): Selbsthass und Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität. Berlin.
Mielchen, Stefan (2016): Merkels Ignoranz gegenüber Schwulen und Lesben ist erbärmlich. stern.de, 15.6.2016. http://www.stern.de/politik/orlando-kommentar--merkels-ignoranz-gegenueber-schwulen-und-lesben-ist-er-baermlich-6901282.html [15.2.2017].
Sack, Adriano (2016): Es ist nicht eure Welt, die hier zerschossen wurde. In: Die Welt, 13. 6.2016. https://www.welt.de/politik/ausland/article156196248/Es-ist-nicht-eure-Welt-die-hier-zerschossen-wurde.html [15.2.2017].
Schulze, Micha (2016): An diesen Sätzen erkennt man einen homophoben Menschen – wie Boris Palmer. queer.de, 11.10.2016. http://www.queer.de/detail.php?article_id=27254 [15.2.2017].
Zeiher, Christoph: (2016): Homophobe Angriffe seit Brexit verdoppelt. In: Zeit-online, http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-10/grossbritannien-an-griffe-homophobie-brexit-hassverbrechen-anstieg [15.2.2017].
Zick, Andreas / Küpper, Beate / Krause, Daniela (2016): Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer. Bonn.
Gabriel Wolkenfeld
Menschen, heulend, kreischend, liegen sich in den Armen. Die Kamera hält drauf. Sie absorbiert den Schmerz, ohne ihn in etwas zu verwandeln, das ihm auch nur im Entferntesten gleich käme. Ich sehe Rauch, wo keiner ist. Ich höre Schüsse. Eine Häuserwand stürzt ein. Die Detonation erschüttert meinen Schreibtisch. Kaffee schwappt über. Ein vertrautes Setting, nur die Akteure wurden ausgetauscht. Ein Mann um die Zwanzig berichtet, dass einer seiner Freunde in diesem Club gestorben sei. Dass dieser Club ihnen eine Familie gewesen sei. Ich klicke auf das kleine X in der rechten, oberen Bildschirmecke. Nein, sage ich mir, das ist nicht passiert. Mal wieder ist nichts passiert, auch nicht in Orlando. Ich schalte alles aus. Laptop, Fernseher, Kopf. Ich vergesse Orlando erst einmal wieder, ignoriere, dass mich das, was woanders passiert, doch etwas angeht. Und schließe für mich aus, dass ich irgendetwas mit einer Welt zu tun haben könnte, deren Spielregeln mir missfallen.
In der Mittagspause behauptet ein Kollege, er möchte am liebsten in ein tiefes Koma fallen. Angesichts allen Übels dort draußen. Alle nicken verständnisvoll. Auch ich stimme meinem Kollegen, obgleich wenig enthusiastisch, zu. Woran er genau denkt, traue ich mich nicht zu fragen. Der IS schlachtet in Ländern, die kaum mehr existieren, Menschen ab. Das Minsker Abkommen wurde so oft gebrochen, dass man behaupten möchte, es sei mit Geheimtinte geschrieben. Hierzulande nimmt man sich der Sorgen von Menschen an, die sich von der Politik alleingelassen fühlen und sich nicht anders zu helfen wissen, als Flüchtlingsheime in Brand zu stecken. Als sichere Herkunftsländer sollen nun Staaten in Frage kommen, in denen Menschen aufgrund ihrer Homosexualität regelmäßig zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden.
Erst zu Hause, spät am Abend, verstehe ich, worauf seine Bemerkung abgezielt hat. Ich setze mich den Fakten aus, den Bildern und Geschichten. Ich lese Chroniken des Attentats. Ich schaue mir Fotos des Attentäters an, Omar Mateen mit geschürzten Lippen, in die Kamera seines Handys lächelnd, mal fesch im Anzug, mit lila Krawatte, mal mit kurzrasiertem Haar, auffälligen Augenringen, dumpf dreinblickend. Die Schnipsel seiner Biografie, in welcher Journalisten übereifrig die Motive für sein Handeln suchen, fügen sich zu dem Bild eines Mannes zusammen, der für die Rolle eines Attentäters sorgfältig gecastet scheint. Wieder klicke ich das kleine X in der rechten, oberen Bildschirmecke. Ich möchte meine Zeit nicht diesem Menschen widmen. Wer auch immer er war, solch ein Verbrechen verübt kein gesunder Geist. Mehr noch als die grausame Tat schockiert mich an diesem Abend, dass ich ihr allein rational begegne. Dass das Leben unschuldiger Menschen auf brutalste Weise ausgelöscht wurde, macht mich betroffen, ich finde es schlimm, aber es stürzt mich in keine tiefe Trauer, wirklich ins Koma fallen möchte ich nicht.
Was geht es mich an? Warum sollte dieses Attentat mich mehr berühren als andere Verbrechen, die tagtäglich an den unterschiedlichsten Orten der Welt begangen werden? Eine Freundin schlägt vor: Weil seine Opfer Angehörige der Community sind. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, denke ich, ein Nenner, der größer wird, bedenkt man, wie sich die Minuten addieren, die man als schwuler Mann damit verbringt, sich im Schwimmbad oder der Diskothek, im Stadtpark oder in der U- Bahn den Hals nach einem attraktiven Typen zu verrenken; bedenkt man den Schmerz, den man erfahren hat, als man auf dem Schulhof als Schwuchtel bezeichnet wurde oder als Arschficker. Dennoch: Es gelingt mir nicht, das Attentat als Angriff auf meine Person zu verstehen. Ich bin schwul, gut, aber nicht zuvörderst oder ausschließlich. Ich fühle mich nicht angegriffen. Ich bin kein Amerikaner, bin nie dort gewesen. Ich bin nicht schwarz, kein Latino, mein Name lässt sich nur zur Hälfte spanisch aussprechen. Ich habe keine Freunde verloren durch dieses Attentat. Ich werde, wie gehabt, zur Arbeit gehen und meine unversehrten Kollegen sehen.
Nicht um Trost zu finden, sondern aus Solidarität mit den Opfern nehme ich am Samstag nach dem Anschlag an der Mahnwache vor dem Brandenburger Tor teil. Umso mehr Menschen kommen, desto besser, denke ich. Denn: Erzähle ich, ich sei neulich mal wieder beleidigt worden, bekomme ich häufig als Reaktion: «In Berlin? Kann nicht sein!» Menschen, die von Homophobie nicht betroffen sind, halten Homophobie hierzulande gern für überwunden. Und tun meine Einwände mit dem Verweis auf schlimmere Probleme ab. Auf den CSD gehen oder eine Mahnmache besuchen verstehe ich als Minimalaktivismus, den es sich abzuringen gilt, auch wenn das Wetter gerade schlecht ist. Man ist sich selbst etwas wert. Oder die Mitmenschen, jene, die auch betroffenen sind oder jene, die verstehen könnten, wären sie bereit, sich für die Probleme ihrer Nachbarn zu öffnen.
Vor der Bühne werden Plakate verteilt. Die Gesichter der Opfer sollen hochgehalten werden, während eine der Initiator_innen Namen und Biografien vorträgt. Ob ich auch eins hochhalten würde? Lieber nicht. Ich kann es nachvollziehen, dass man nicht zulassen will, dass diese Menschen getötet und nun nichts mehr als Opfer sind. Dennoch: Weil ich keinen dieser Menschen persönlich kannte, kann ich nicht wissen, ob es ihnen recht gewesen wäre, dass ihr Porträt hier, in einem fremden Land, zu gegebenem Anlass in die Luft gehalten wird. Diese Entscheidung hätten sie selbst treffen müssen. Vielleicht hätten sie nicht gewollt, dass man sich ihrer als Opfer eines Attentats erinnert. Denn berühmt wurden sie nun einmal als das, nicht als Sohn oder Tochter, nicht als Vater, Bruder, als Liebender, als bester heterosexueller Freund, nicht als jemand, der zielstrebig ein Lebensziel verfolgt, sein Studium abbricht oder sich sozial engagiert, als Tänzer, Techniker, Animateur. Jedes einzelne dieser Leben war es wert, gelebt zu werden. Jedes einzelne Opfer hatte noch Jahre vor sich. Das kann sich jeder denken, der sich die in Klammern gesetzten Jahreszahlen anschaut. Indem jedes Opfer nun anhand einiger Fakten vorgestellt wird, erhebt sich der Einzelne aus der Masse der Ermordeten. Die Opfer, eben noch Zahlen, erhalten ein Gesicht, und zwar das eigne, vergrößert und auf bestem Papier gedruckt. Um eine Zahl lässt es sich schwer trauern, ein schönes Gesicht, ein attraktiver Mann, mit dem man in jener Nacht und gern immer wieder getanzt hätte, das tut weh.