cover

15

Inzwischen hatte Sandra Christas Schränke fast leergeräumt. Die Kleider, das Geschirr, den ganzen Nippes, alles hatte sie eingepackt und abtransportieren lassen. Auch Christas persönliche Dinge, ihr Poesiealbum, die alten Briefe und Fotoalben, sogar ihr Tarotbüchlein. Nichts davon wollte Sandra behalten. Seit ihrem letzten Besuch bei Irene Lazar hatte sie keine Lust mehr, in fremden Leben herumzustochern. Sie wollte sich nicht mehr einmischen, wollte nichts mehr aufdecken. Die Vergangenheit sollte ruhen, ein für allemal. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern

Die Möbel würde der Trödler zwischen Weihnachten und Neujahr abholen. Nur die Küche hielt Sandra in Betrieb, solange sie hier noch zu räumen hatte, damit sie jederzeit in der Wohnung übernachten konnte. Und ab Februar würde die Wohnung vermietet werden, so war es mit Ruth abgesprochen.

In einer der großen Rollschubladen im Wohnzimmer hatte Christa Hunderte von Tischdecken gehortet, die teilweise noch von ihrer eigenen Großmutter stammten. Zwei Plastiksäcke hatte Sandra damit schon gefüllt, jetzt brauchte sie einen weiteren. Wo hatte sie nur die Rolle gelassen? Vielleicht im Flur?

Aus dem Treppenhaus hörte sie Kinderstimmen. Da wurde gesungen: »Vom Himmel hoch, da komm ich her ...« Sandra lauschte. Standen die etwa direkt vor ihrer Tür? Sie beschloss nachzusehen.

»Billa? Thorben? Ja, warum klingelt ihr denn nicht?«

Die beiden sangen unbeirrt weiter, nicht besonders schön, dafür aber ziemlich laut. Jeder trug eine rote Stofftasche bei sich, die mit gelben Sternen und grünen Tannenbäumen bestickt war.

»Na, da habt ihr aber Glück, dass meine Mutter so viele Süßigkeiten vorrätig hatte«, sagte Sandra. »Kommt schnell rein, es zieht.«

Sie hielt die Tür auf, und die Kinder gingen zielstrebig in die Küche. Sandra schloss zuerst das Fenster und öffnete dann den Schrank. »Hier, das könnt ihr alles haben.« Sie nahm den Naschkorb und verteilte sämtliche Duplos, Kinderriegel, Hanutas und Haribos gleichmäßig auf die beiden Beutel, die Billa und Thorben für sie aufhielten.

»Vorsicht, die Kekse müssen oben drauf, sonst gehen sie kaputt«, warnte Billa.

Der Vorgang hatte etwas sehr Routiniertes. »Ich glaube, das ganze Zeug hier war sowieso für euch bestimmt, oder?«, fragte Sandra. »Habt ihr meine Mutter oft besucht?«

Thorben nickte. »Verdammt oft!«

»Er redet jetzt immer so«, erklärte Billa. »Er findet das cool.«

»Verdammt cool!«

»Aber die Mama hat’s verboten!«, hielt Billa dagegen.

»Is mir egal.« Thorben fixierte mit großen Augen die Marzipankartoffeln, die noch im Schrank standen.

»Hättest du die gerne?« fragte Sandra.

Er nickte heftig.

»Für Marzipankartoffeln macht er alles«, erklärte Billa. »Damit hab ich ihn immer bestochen. Er hat mich nie verpetzt.«

»Ach ja?« Sandra reichte ihm schmunzelnd die Zellophantüte. »Was hat er denn nicht verpetzt?«

Billa tätschelte ihrem Bruder den Igelschnitt. »Ich hab sie manchmal abends noch besucht.«

»Wen? Meine Mutter?«, fragte Sandra ungläubig.

Billa nickte. »Wenn Mama uns schon ins Bett gebracht hatte. Dann bin ich rausgeschlichen.«

»Wow!«

»Aber vorher hat sie geschmult«, sagte Thorben.

Sandra runzelte die Stirn. »Sie hat ... was?«

»Ich hab durch den Briefschlitz geguckt, ob die Luft rein ist.«

»Ach? Und so habt ihr heute auch mitbekommen, dass ich hier bin?«

»Och, da muss ich gar nicht gucken«, sagte Billa. »Ich erkenne ja alle, die hier wohnen, schon an ihrem Treppensteigen.«

»Echt?« Sandra wurde neugierig.

»Klar«, nickte Billa. »Am einfachsten ist der dicke Hausmeister.«

Sandra lachte. »Ja, das glaub ich. Und bei wem ist es schwierig?«

»Tante Finck ist schwierig. Wenn Paisy nicht dabei ist. An dem Abend, wo Tante Christa gestorben ist, hätt ich sie fast nicht erkannt. Weil sie auch so geschlichen ist.«

»Du sollst nicht Tante sagen«, wandte Thorben ein. »Die Mama will das nicht.«

»An dem Abend war die Frau Finck vorher bei meiner Mutter?«, fragte Sandra überrascht.

»Klar«, nickte Billa. »Kurz bevor der Hausmeister raufging, kam sie runter. Ich hab’s gesehen. Durch den Briefschlitz.«

»Sie hat geschmult«, grinste Thorben.

»Aber sie war ohne Paisy«, fuhr Billa unbeirrt fort. »Sonst hätt ich sie gleich erkannt.«

Sandra hielt inne. Wie passte das alles zusammen?

»Und wo war Paisy?«, fragte sie schließlich. »Weißt du das?«

»Die war hier in der Wohnung und hat gejault.«

»Bist du dir sicher?«

»Klar«, nickte Billa.

»Verdammt sicher«, sagte Thorben.

»Geht ihr jetzt gleich noch singen bei der Frau Finck?«

»Klar ...«

»Wisst ihr was, ich komme mit.«

 

Sandra folgte den Kindern die Treppe hinunter. Von hinten schaute sie zu, wie die beiden die Köpfe zusammensteckten und ein neues Lied absprachen. Da war die Wohnungstür von Marthe Finck.

»Kling, Glöckchen, klingelingeling, kling, Glöckchen, kling ...«

Paisy fing sofort an zu bellen, aber es waren helle, beinahe melodische Töne. Es hörte sich an, als wolle sie in den Singsang einstimmen.

Sandra ballte so heftig die Fäuste, dass sie ihre Fingernägel in den Handflächen spürte. Da wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Unten schoss Paisy heraus. Oben erschien eine Hand, die mit einer bunten Weihnachtstüte wackelte. »Hohoho!«, ertönte eine verstellte Stimme. Die Tür wurde weit geöffnet, und das lachende Gesicht von Marthe erschien. »Ach, ihr Süßen ...«

Jetzt entdeckte sie Sandra, und ihre Blicke trafen sich.

Und Sandra wusste, was in diesem Moment in Marthes Kopf vorging. Sie erkannte es an ihrer Miene, an der Art, wie sich ihre Schultern nach vorne neigten. Es sah so aus, als duckte sie sich. Als hätte sie Angst vor Schlägen.

»Frau Finck ...« Sie musste laut sprechen, weil die Kinder immer noch mit Begeisterung sangen. »Billa hat mir da was erzählt ...« Sie räusperte sich. »Also, von dem Abend, als meine Mutter ...«

Die Finck wurde bleich und ließ die Weihnachtstüte fallen. Der Gesang brach ab. Man hörte, wie die Tüte aufschlug und platzte. Die Kinder fielen sofort auf die Knie, um von den Pfefferkuchen und Schokoladenkringeln zu retten, was zu retten war. Der Hund schnappte sich ein Schokoherz und floh damit die Treppe hinunter.

Marthe Finck stand da wie erfroren. »Billa?«, stieß sie hervor. »Was hat Billa denn ...?«

Das Mädchen schaute zu ihr auf. Sandra sah, dass sie nicht begriff, worum es hier ging. Nur, dass sie irgendetwas falsch gemacht hatte, wurde ihr klar. Billa packte Thorben am Arm und zerrte ihn die Treppe hinunter. »Aber die Kekse!«, rief er.

Danach kam ein Moment, der sich anfühlte, als hätte jemand den Ton ausgeschaltet. Sandra schaute auf ihre Fäuste, öffnete dann die Hände und ließ sie baumeln.

»Ich wollte das nicht, Sandra.« Die Finck rang mühsam um Worte. »Wirklich nicht.«

»Was ist passiert?«, fragte Sandra tonlos.

»Deine Mutter, sie hatte keine Schmerztabletten mehr an diesem Abend. Sie wollte zur Apotheke, aber ohne Paisy, ich weiß nicht warum.« Sie zuckte hilflos mit den Achseln. »Die Kleine hat so entsetzlich gefiept, es hat mir fast das Herz zerrissen. Ich glaube, sie musste mal. Also bin ich hoch und hab deiner Mutter gesagt, sie soll sie mitnehmen. Oder lassen Sie sie bei mir. Oder ich nehme sie mit und gehe für Sie zur Apotheke. Die süße Kleine hat doch Angst, so ganz allein.«

»Aber Christa wollte nicht«, sagte Sandra. »Ja, das kenne ich. Sie war manchmal stur wie ein Esel.«

»Das war sie«, nickte die Finck. Sie machte einen unsicheren Schritt in Sandras Richtung. Doch die wich zurück.

»Deine Mutter stand da mit ihrem Gehstock in der Hand wie ein Feldherr vor der Schlacht. Sie hat damit an die Wohnungstür gehämmert und gerufen: Ruhe da drinnen! Und es wurde still. In dem Moment hab ich gedacht, die arme kleine Paisy hat sich zu Tode erschreckt.« Tränen der Empörung rannen ihr über die Wangen. Sie nestelte ein Spitzentaschentuch aus ihrer Strickjacke und putzte sich umständlich die Nase. »Das hat mich so wütend gemacht«, fuhr sie mit brüchiger Stimme fort. »Ich habe deine Mutter beleidigt, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste. Du kannst doch kaum noch krauchen, habe ich sie angeschnauzt – obwohl wir uns ja eigentlich gesiezt haben. Ich bin ziemlich laut geworden, aber Sascha hatte ja seine Musik an. Du brichst doch zusammen, ehe du die erste Treppe runter bist, habe ich sie angeschrien. Warum lässt du dir nicht helfen, du störrische alte Frau? Und der Hund hat wieder gejault und gefiept und an der Tür gekratzt. Es war so gemein von ihr!« Die Finck wischte sie sich die Tränen vom Gesicht, aber die Augen wurden immer röter. »Da wurde sie auch laut und wütend: Du wirst schon sehen, wie weit ich komme, Marthe Finck! Ich bin auf deine Hilfe nicht angewiesen!«

»Das hat sie zu mir auch oft gesagt.« Sandra spürte, dass ihr jetzt selbst die Tränen kamen.

»Sie wollte unbedingt ganz allein die Treppe runter«, ereiferte sich die Finck. »Und da hab ich sie angefasst. An der Schulter. Nicht, dass ich sie davon abhalten wollte, sich da runterzuquälen.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das war mir in dem Moment völlig egal. Ich wollte bloß, dass sie das Paisylein mitnimmt, damit es mal rauskommt und sein Puscherchen machen kann. Und sie hat geschrien, ich soll sie in Ruhe lassen. Sie könne mit ihrem Hund schließlich machen, was sie für richtig halte. Ich hätte ihr da nicht reinzureden! Dabei hat das arme Hundchen so gelitten. Das hat mich erst recht wütend gemacht!«

»Und dann?«, fragte Sandra atemlos.

»Dann hab ich deiner Mutter mit der Faust gedroht«, gab die Finck zu und biss sich auf die Lippe. »Für sie sah das wohl so aus, als wollte ich sie schlagen. Jedenfalls hat sie ihren Arm hochgerissen – und dann ist sie hintenübergekippt. Ich hab noch versucht, sie festzuhalten, aber da war nichts zu machen.« Sie hielt erschöpft inne und starrte mit rotgeweinten Augen auf die Schokoherzen am Fußboden.

»Und dann?«, flüsterte Sandra.

»Dann habe ich fürchterliche Angst bekommen und bin schnell in meine Wohnung gelaufen.«

»Sie haben ihr nicht geholfen, sondern sie einfach so auf der Treppe liegenlassen?«

»Da kam jede Hilfe zu spät.« Sehr leise.

Sandra versagten die Knie. Sie tastete nach dem Treppengeländer, ließ sich auf die unterste Stufe sinken. Paisy kam eilig die Treppe herauf und kletterte ihr auf den Schoß. Sandra saß wie erstarrt, ihre Hände lagen wie Fremdkörper auf der Treppenstufe. Paisy leckte ihr das Kinn ab.

»Ach, das liebe Hundchen«, sagte die Finck, die reflexartig begonnen hatte, die verstreuten Weihnachtsplätzchen vom Boden aufzusammeln. Plötzlich hielt sie inne.

»Fräulein Sandra?« In ihrer hohlen Hand türmten sich die Zimtsterne und Lebkuchen.

Sandra zog kräftig die Nase hoch. »Was denn?«

Die Finck straffte sich, stand ganz gerade da. »Ich gehe zur Polizei. Ich werde denen alles erzählen.«

Sandra blickte mit ungläubiger Miene zu ihr auf.

»Ja, das mache ich«, bekräftigte die Finck. »All die schlaflosen Nächte, die ich seitdem hatte – ich bin froh, dass das ein Ende hat. Wollen Sie nicht mitkommen zur Polizei? Es würde mich freuen.«

Sandra bemerkte, dass sie jetzt wieder gesiezt wurde. »Ich? Aber warum denn?«

»Weil ich finde, dass Sie ein Recht darauf haben.«

»Muss ich das verstehen?«, murmelte Sandra.

»Und wenn ich im Gefängnis bin, müssen Sie gut auf mein Baby aufpassen«, fuhr die Finck fort. »Paisy ist doch so zart und empfindlich. Versprechen Sie mir, dass Sie sich um sie kümmern? Dann bin ich beruhigt.«

Hertha Heuer hatte schon gehört, dass die Weihnachtssänger durch das Haus zogen. Jetzt standen sie vor ihrer Tür.

»Schneheeflöcken, Weißröckchen, wahann kommst du geschneit? Duhu kommst aus den Wolken, dahein Weg ist so weit.«

Hertha musste lächeln. »Frohe Weihnachten, ihr beiden.« Sie nahm ein Päckchen von der Garderobe. »Hier, das hat der Weihnachtsmann für euch abgegeben. Wart ihr denn auch immer schön brav?«

»Fast immer«, nickte Billa und guckte ein bisschen ängstlich.

Hertha musste lächeln. Diese Kinder waren so unbeschwert. Sie struwwelte ihnen durch die Haare und sagte, »Ich wünsche euch einen schönen Tag und viele tolle Geschenke.«

»Wir fahren mit der Mama gleich zu Oma und Opa.«, erklärte Thorben. »Der Papa kommt später nach.«

»Weißt du, bei der Oma hat der Weihnachtsmann immer Opas Filzschlappen an«, fügte Billa hinzu.

»Ja, das kann ich gut verstehen«, nickte Hertha. »Die sind ja auch schön warm.« Sie mochte die beiden, besonders Billa.

Aber heute sah sie vor ihrem inneren Auge noch ein anderes Mädchen: die kleine Laura. Das Bild wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Laura war tot, schon seit langem. Aber Hertha wurde den Gedanken nicht los, dass sie vielleicht noch leben könnte.

 

Das Display zeigte Anruf anonym, aber Florian wusste, wer dran war. »Ja?«

»Florian Bessert? Hier ist dein bester Freund.«

Die Stimme bohrte sich tief und unangenehm in Florians Magengrube. Er spürte ein Stechen in seinem amputierten Finger.

»Flori? Warum antwortest du nicht?«

»Ja, Herr Gnatzow«, stieß er hervor. »Bitte entschuldigen Sie.«

»Ach, Flori, ich entschuldige alles – wenn du mein Geld hast.« Er räusperte sich umständlich. »Hast du mein Geld, Flori?«

Der Stechen im Finger steigerte sich schlagartig. Er musste das Handy in die andere Hand nehmen, sonst hätte er es fallenlassen.

»Hast du mein Geld?«

»Ich habe es.« Tonlos.

»Gut gemacht«, lobte Gnatzow. »Dann treffen wir uns in zwanzig Minuten, Parkhaus Altstädter Ring.«

»Und wo dort?«, wollte Florian wissen, aber Gnatzow hatte schon aufgelegt.

Florian stöhnte. Sie würden ihn schon finden, daran hatte er keinen Zweifel. Er zog seinen Mantel über, nahm sein Diplomatencase und machte sich auf den Weg. Es war nicht weit.

Im Parkhaus wurden seine Knie immer weicher. Der Wind pfiff eisig durch die Reihen der Fahrzeuge. Es war ziemlich dunkel hier drinnen, das fiel ihm heute ganz besonders auf. Er hatte dieses Parkhaus nie gemocht. Jetzt schlug er den Mantelkragen hoch. Hoffentlich würden sie ihn nicht wieder verschleppen. Noch einmal würde er das nicht durchstehen.

Sie erwarteten ihn bei seinem Auto, Gnatzow und der Fingerschneider. Florian wäre am liebsten einfach weggerannt.

Gnatzow lächelte. »Also, Flori?«

Als Florian die beiden Geldscheinbündel aus dem Koffer nahm, kamen sie ihm unendlich dünn vor. Es war das Geld von Heuer und alles, was er selbst noch auf dem Konto gehabt hatte. Er reichte es Gnatzow. Der ließ die Scheine mit ungläubiger Miene unter seinem Daumen wegflippen. »Wie viel ist das?«

»Zwölftausend«, sagte Florian. »Mehr habe ich im Moment nicht, aber sobald die Feiertage vorbei sind ...«

Gnatzows Miene verfinsterte sich. »Willst du mich verarschen, Flori?« Seine Stimme wurde immer leiser. »Ich gebe dir 400.000 Euro, und du gibst mir das? Obwohl du gerade einen Finger verloren hast?!« Die letzten Worte waren nur ein Flüstern.

Florian zog heftig die Nase hoch. »Aber ich ...«

»Ich gebe dir zwei Stunden!«, brüllte Gnatzow unvermittelt. »In zwei Stunden gibst du mir, was mir gehört! Sonst hole ich mir deine Frau und ficke deine Kinder. Hast du mich verstanden?!«

Florian wimmerte vor Entsetzen.

Gnatzow legte ihm den Arm um die Schultern. »Ob du verstanden hast, will ich wissen«, wiederholte er leise.

Florian fühlte die Berührung der fremden Lippen an seinem Ohr. Er nickte verzweifelt. »Ja. Verstanden.«

»Dann lauf. Du hast keine Zeit zu verlieren.«

Marthe war vom schnellen Gehen schon ganz außer Atem. Trotzdem kam es ihr vor, als würde Sandra ihretwegen trödeln. So unterschiedlich waren die Konditionen. Aber das ist auch kein Wunder, dachte Marthe. Für sie war es der schwerste Gang ihres Lebens, und Sandra wollte den Besuch bei der Polizei einfach nur hinter sich bringen. Sie tat Marthe einen Gefallen, mehr nicht.

Paisy hatten sie zuhause gelassen. Es wäre Marthe zu schwergefallen, sich vor den strengen Blicken der Beamten von ihrem Liebling zu verabschieden. Allein bei der Vorstellung, sie würde, womöglich schon in Handschellen, ein letztes Mal das niedliche Köpfchen kraulen, waren ihr wieder die Tränen gekommen. Sandra hatte Marthe versprechen müssen, ihr Fotos von Paisy in die Haftanstalt zu schicken. Das war hoffentlich nicht verboten.

Da die Geschäfte Heiligabend bereits mittags schlossen, war es leer auf den Straßen. Vor den Stufen des Polizeireviers hielt Marthe inne. »Einen Moment, Sandra.« Sie schaute zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Wann würde sie den wiedersehen?

Aus dem Inneren der Dienststelle schlug ihnen verbrauchte Luft entgegen. Die Neonleuchten an der Decke gaben grelles Licht ab. Der Eingangsraum vor dem Schalter war leer. Dahinter sah Marthe drei uniformierte Beamte, die sich unterhielten. Sie wartete. Warf einen Blick auf die Uhr über der Tür, die Schreibtische, die Computer, die Aktenstapel und die blauen Uniformen. Dann nahm sie sich ein Herz und räusperte sich lautstark.

Einer der Polizisten kam an den Schalter. »Und?« Es klang gelangweilt.

»Ich bin hier, weil ich ein Geständnis machen möchte.«

»Ach?« Er musterte sie prüfend, ließ seinen Blick kurz zu Sandra schweifen, und schmunzelte dann. »Worum geht’s denn? Diebstahl von Weihnachtsplätzchen auf der Seniorenfeier?«

»Mord«, sagte Marthe.

»Nein«, widersprach Sandra schnell. »Sie haben das doch nicht mit Absicht gemacht, Frau Finck.«

»Das ist egal!«, widersprach Marthe. »Ich bin schuld daran, dass deine Mutter tot ist.« Und zu dem Polizisten: »Aber es stimmt, ich habe das wirklich nicht gewollt.«

»Soso. Wer ist denn tot?«, fragte er, immer noch schmunzelnd.

»Frau Kerner«, sagte Marthe.

»Meine Mutter, Christa Kerner«, erklärte Sandra fast gleichzeitig. »Sie wohnte hier um die Ecke, in der Kladowstraße 5.«

»Kerner?«, wiederholte der Polizist. »Ach ja, Kerner. Ich erinnere mich. Lag tot im Treppenhaus. Und Sie sind also daran schuld?«

»Jawohl. Ich habe mich mit ihr gestritten. Es ging um den Hund.«

Der Polizist nickte verständnisvoll. »Um den Hund also.«

»Aber sie ist doch von alleine gestürzt«, wandte Sandra mit müder Stimme ein. »Es war ein Unfall.«

»Sie ist tot«, rief Marthe. »Und ich gehöre bestraft!«

Der Polizist ließ seinen Blick zwischen Marthe und Sandra wandern. »Tja, diese Feiertage«, brummte er dann. »Da drehen viele Leute ein bisschen durch, ganz besonders am Heiligabend. Am besten, Sie gehen wieder nach Hause.«

Aber Marthe wollte nicht klein beigeben. »Sie werden jetzt ein Blatt Papier nehmen und aufschreiben, was ich zu sagen habe!«, verlangte sie. »Anschließend können Sie mich festnehmen.«

Der Polizist seufzte. »Na, dann kommen Sie mal.« Er deutete auf einen Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, dann kann’s losgehen. Wir machen das inzwischen nämlich mit dem PC.«

 

Aus der Wohnstube schallte die alte Platte von Freddy. La Paloma sang er mit seiner warmen, tiefen Stimme und Junge, komm bald wieder. Hertha Heuer schwelgte in Erinnerungen. Sie waren damals frisch verliebt, und es war eine schöne Zeit gewesen, obwohl Wilhelm nie zum Rosenkavalier getaugt hatte. Er fuhr damals Motorrad, und Hertha fuhr Beiwagen, ihr blieb gar nichts anderes übrig. Sie begleitete ihn zu jedem seiner Boxkämpfe, Wilhelm brauchte die Bestätigung. Er war kein Draufgänger, sondern ein Durchbeißer. Sehr penibel, manchmal ein bisschen penetrant, aber immer moralisch korrekt. Vor allem das hatte ihr an ihm so gut gefallen.

Sie begann, die Schlaftabletten im Mörser zu zerreiben. Es war ein hartes Mittel, der Arzt hatte sie bei jedem Rezept, das er ihr verschrieb, gewarnt. »Bloß nicht zu viel davon, Frau Heuer. Sonst wachen Sie nicht mehr auf.« Nun pulverisierte sie fünfunddreißig Stück auf einmal, würzte damit den Lebkuchenteig, den Wein und auch die Klöße. Die Gänsekeulen schmorten bereits im Ofen. Den Rotkohl würde sie kurz vor dem Servieren aufwärmen.

Jetzt musste sie noch ein bisschen aufräumen. Niemand sollte sie für schlampig halten. Sie wollte einen perfekten Haushalt hinterlassen. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Und dann würde sie sich schön machen für den letzten Abend.

 

Vierhunderttausend Euro. Florian saß an seinem Schreibtisch, ganz allein in der menschenleeren Bank, und spürte dem eigenen Herzschlag nach. Wo sollte er so schnell so viel Geld hernehmen? Noch dazu an Heiligabend? Und in bar! Denn das war Gnatzows letzte Bedingung gewesen. »Ich traue dir nicht mehr, Flori«, hatte er gesagt. »Es reicht mir nicht, wenn du mir einen Kontoauszug zeigst. Ich will mehr von diesen Scheinen.« Damit hatte er die zwölftausend in seiner Jackentasche versenkt. »Enttäusch mich nicht, Jungchen.«

Florian stand auf, lockerte seine Krawatte. Im Fenster sah er sein Spiegelbild. Die Augen stachen groß und dunkel aus dem blassen Gesicht hervor. Sie wirkten fiebrig. Unwillkürlich musste er an Julia und die Kinder denken. Sie waren sicher längst zu den Großeltern gefahren. Aber wenn ich nicht zahle, ergeht es uns allen schlecht! Florian presste die Handteller gegen die Schläfen. Übelkeit stieg ihm in die Kehle. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Gnatzow seine Drohung wahr machen würde. »Was soll ich nur tun?! Was kann ich denn noch tun?« Er legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke.

Natürlich! Die Geldbomben! Warum waren ihm die nicht gleich eingefallen! Das Geld, das heute nach dem Vormittagsgeschäft noch hereingekommen war, reichte sicher locker, um Gnatzows Forderung zu erfüllen. Von dem Rest konnte er sich ein Flugticket nach Südamerika kaufen. Vielleicht sogar mehrere. Er konnte mit Julia und den Kindern zusammen flüchten. Wenn sie das wollten. In diesem Punkt war er sich nicht ganz sicher.

Ein Griff, und er hatte seinen Mantel von Haken genommen. Ein zweiter Griff in den Tresor, und er hielt den Schlüssel für den Geldkeller in der Hand. Hastig verließ er sein Büro und lief die Treppe ins Kellergeschoss hinunter. Den Raum, in dem die Tageseinnahmen gelagert wurden, hatte er schnell aufgeschlossen. Mit dem Spezialschlüssel öffnete er die Geldbomben und stopfte die Banknoten in einen Geldsack. Die Münzen nahm er nicht, sie waren ihm zu schwer. Der Sack hatte jetzt schon ein ziemliches Gewicht.

»Hohoho, ich bin der Weihnachtsmann.« Er wuchtete sich den Sack über die Schulter und verließ eiligen Schrittes das Gebäude. Die Türen ließ er hinter sich offen, und auch alles andere ließ er hinter sich. Diese Bank kümmerte ihn nicht mehr. Er hatte ein Leben vor sich, um das seine Kollegen ihn beneiden würden. Ja, dachte Florian, vielleicht schicke ich ihnen bald eine Postkarte von der Copacabana.

 

Marthe berichtete dem Polizisten alles, was sie bereits Sandra gesagt hatte. Auch von Paisy erzählte sie ihm. Das war für Sandra neu.

»Wissen Sie, ich hab doch nie Kinder bekommen können, obwohl ich mir so sehr welche gewünscht habe. Es hat nicht geklappt. Und mein Lothar ist tot. Jetzt hab ich nur noch das Hundchen.« Sie beugte sich vor und zwinkerte dem Polizisten vertraulich zu. »Sie hat so liebe Augen, meine Paisy. Um so ein Schätzchen muss man sich doch kümmern! Ein Leckerli hier, ein Küsschen da. Tiere sind einfach die besseren Menschen, Herr Wachtmeister.« Jetzt richtete sie sich ganz gerade auf. »So. Und nun stecken Sie mich ins Gefängnis!«

Der Polizist schaute irritiert. »Ins Gefängnis soll ich Sie stecken? Aber warum denn? Ich werde Ihre Aussage weiterleiten. Wahrscheinlich wird man sie an anderer Stelle noch einmal befragen, das ja. Aber ins Gefängnis müssen Sie deswegen nicht. Soweit ich das beurteilen kann, war das ein Unfall.«

Marthe sah ihn erstaunt an. »Ich darf gehen?«

»Ja, natürlich. Gehen Sie nach Hause zu Ihrem Hund.«

Marthe starrte ihn an.

»Gehen Sie nach Hause«, wiederholte er. »Frau Kerner hier wird Ihnen bestimmt Gesellschaft leisten, bis Sie sich beruhigt haben.«

»Ich muss nicht ins Gefängnis?«, fragte Marthe noch einmal.

»Irgendjemand muss sich doch um Paisy kümmern«, sagte Sandra, und der Polizist nickte: »Im Gefängnis ist Hundehaltung strengstens verboten.«

Sandra strich Marthe über den Arm.

Die hatte schon wieder zu weinen begonnen. »Ich bin so erleichtert«, schluchzte sie.

 

Florian lief durch die kalten, leeren Straßen. Er kam sich komisch vor mit seinem Geldsack auf der Schulter. Das Ding wurde jede Minute ein bisschen schwerer, weil er nur mit einer Hand zupacken konnte. Außerdem war es ziemlich glatt. Nachdem der Schnee gestern kräftig angetaut war, hatten der Nachtfrost und die Minusgrade heute die Matschpfützen in Eis verwandelt.

Ob Gnatzow ihn beobachten ließ? In der Umgebung war nichts Verdächtiges zu entdecken. Aber das musste nichts heißen. Gnatzows Leute waren Profis, die sah man nur, wenn sie gesehen werden wollten.

Da war schon der Taxistand. Einige Fahrer standen neben dem vordersten Mercedes und hielten rauchend ein Schwätzchen. Florian frohlockte. Erst mal weg hier, nach Hause, Pass holen, Koffer packen. Dann Geldübergabe. Und dann: Copacabana, ich komme!

Er kam sich völlig überdreht vor, wie auf Speed, aber gleichzeitig war er in Hochstimmung. Das war immer so gewesen, wenn er einen Plan verfolgte. Und je aberwitziger der Coup, den er plante, desto geiler fühlte es sich an. Florian grinste euphorisch.

»Hohoho!«, rief er den rauchenden Taxifahrern zu. »Ist einer dieser Schlitten zu mieten?« Im selben Moment rutschte er mit seinen Ledersohlen auf einer gefrorenen Pfütze aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Der Sack wurde vornübergeschleudert, prallte gegen einen der Taxifahrer und öffnete sich. Geldscheine wirbelten durch die Winterluft. Fünfer, Zehner, Zwanziger, Fünfziger. Florian sah das Geldscheingestöber mit Entsetzen. »Fassen Sie nichts an!«, brüllte er und rappelte sich auf.

»Wat is’n ditte?«, staunte der Taxifahrer, packte Florian am Kragen und zog ihn auf die Füße. »Mit dem vielen Jeld kann ick ja jetzt Feierabend machen.« Er dreht sich zu seinen Kollegen. »Ruft mal die Bullen! Da stimmt doch was nicht.«

Florian trat ihm vors Schienbein. »Lassen Sie mich gefälligst los!«

Ein anderer Taxifahrer kam seinem Kollegen zu Hilfe. »Na warte, Bürschchen! Hiergeblieben!«

Aber Florian verpasste ihm einen Faustschlag auf die Nase und riss sich los. Er packte seinen Geldsack und stürmte davon. Viel zu spät bemerkte er, dass er den Sack am falschen Ende hielt. Die flatternde Geldspur wies seinen Verfolgern den Weg. Florian rannte in blinder Panik weiter. Da war die Treppe zur U-Bahn. Er stürmte die Stufen hinunter. Eine Truppe Weihnachtsmänner kam ihm entgegen, und es wurden immer mehr. Er sah Hunderte von Weihnachtsmännern, begleitet von etlichen Weihnachtsengeln. Sie kamen die Treppe hoch, versperrten ihm den Weg.

»Hohoho!«, rief einer und breitete die Arme aus.

Florian bremste abrupt, warf einen Blick über die Schulter und entdeckte die Taxifahrer, die ihn verfolgten.

»Hohoho!«, drohte ein zweiter Weihnachtsmann.

»Hohoho!« Ein dritter.

Ein Taxifahrer packte Florian an der Schulter, der nächste griff seine linke Hand. Florian brüllte vor Schmerz.

»Süßer die Glocken nie klingen«, sangen die Engel.

In der Ferne hörte man schon Polizeisirenen.

 

Wilhelm hatte die Weihnachtsplatte von Peter Alexander aufgelegt und die Kerzen angezündet. »Komm, Hertha. Lass dich mal drücken.« Er hatte sich extra für sie in Schale geworfen, sich gebadet, rasiert und das Herrenparfüm benutzt.

»Siehst gut aus, Wilhelm.«

»Du auch.«

Sie umarmte ihn, strich ihm übers frisch gewaschene Haar. Dann küsste sie ihn. Das hatte sie lange nicht mehr gemacht. Er war kein großer Küsser. Sie hatte das immer schade gefunden. Jetzt spürte sie seine Lippen, die sich vor Überraschung öffneten, und ihre Zunge stahl sich in seinen Mund. Er zog den Kopf zurück.

»Na, Hertha, was machst du denn da?« Verlegen.

Aber sie hatte der Kuss erregt. »Hat’s dir nicht gefallen?« Sie schaute ihm in die Augen und lächelte traurig.

Sie musste auf der Hut sein, er hatte bereits Verdacht geschöpft. Wehmütig dachte sie daran, wie dieser Tag enden würde. Warum hatten sie beide so früh schon aufgehört zu leben? Schon vor zwanzig Jahren. Warum fiel ihr heute erst ein, dass es noch etwas anderes gab als Pflichterfüllung?

»Setz dich schon mal an den Tisch. Ich hol uns das Essen.«

Sie stießen mit Wein an. »Auf uns«, sagte Wilhelm, und Hertha nickte ihm zu. »Auf uns, Wilhelm. Lass es dir schmecken.«

Sie aßen die Gänsekeulen mit Rotkohl und Klößen.

Zum Nachtisch gab es Lebkuchenherzen mit heißen Kirschen und Sahne. Jetzt ist es vollbracht, dachte Hertha.

 

Wirkten die Tabletten? Sie schaute zur Uhr. Schon eine halbe Stunde, und sie merkte nichts. Da! Hatte Wilhelm nicht gerade gegähnt? Ja. Er gähnte schon wieder. Jetzt spürte sie es auch.

»Hertha, sei mir nicht böse, aber ich brauche meine fünf Minuten. Nur ein kleines Nickerchen.« Er gähnte herzzerreißend.

Sie lächelte. »Schlaf gut«, seufzte sie. »Und träum was Schönes.« Sie sah zu, wie er die Augen schloss. »Verzeih mir, mein Schatz.«

Sie überlegte, ob sie beten sollte. Die Müdigkeit nebelte ihr die Sinne ein. Eigentlich waren sie doch gar nicht besonders gläubig. Aber es konnte nicht schaden, oder? Ungelenk faltete sie die Hände, wie sie es früher als Kind getan hatte, und bat Gott, dass er sie beide in sein Reich aufnehmen solle. »In Ewigkeit. Amen.«

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Es kam von Wilhelm. Sie sah, wie er, offenbar völlig kraftlos, in seinem Sessel zur Seite rutschte. Sein Oberkörper kippte über die Armlehne in die Zweige des Weihnachtsbaums. Es gab einen Ruck. Der Baum schwankte, und alle zwanzig brennenden Kerzen schwankten mit ihm.

Du musst aufstehen, Hertha! Du musst das Schlimmste verhindern! Aber sie konnte nicht mehr aufstehen, die Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Mit letzter Kraft mühte sie sich aus dem Sessel und streckte die Arme aus. Aber sie bekam die Zweige nicht mehr zu fassen. Der Baum fiel um. Funken stoben durch den Raum. Hertha knickten die Beine ein, sie sank in den Sessel zurück. Zu spät, dachte sie.

Zuerst fing der Teppich Feuer, dann auch die Gardinen.

 

Pasow schreckte hoch. Er war im Fernsehsessel eingeschlafen, doch ein Knall hatte ihn wieder geweckt. »Wat war ’n ditte?« Er hievte sich aus dem Sessel. »Gertrud? Wo biste? Kriegt mal wieder nüscht mit, die Olle.« Sein Blick fiel auf den Rückspiegel, den er an seine Fensterbank montiert hatte. Irgendetwas flackerte da draußen. Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus. »Det riecht doch hier nach Feuer!«

»Erwin! Mach det Fenster zu.« Gertrud war unbemerkt in die Stube gekommen. »Wird doch kalt hier drinne.«

»Sei doch still!«, blaffte er sie an. »Riechste det nich wenigstens, wenn de schon Tomaten uff de Augen hast? Wir haben Feuer im Haus!«

»Ach, du lieber Himmel!«

»Pack sofort die nötigsten Sachen! Kleidung, Papiere, Geld. Und denn nüscht wie raus hier!«

»Aber wir müssen doch Hilfe ...«

»Keine Widerworte! Ick rufe die Feuerwehr«, fiel er ihr ins Wort und griff zum Telefonhörer. Gertrud zog den Kopf ein und eilte zur Schrankwand. Sie begann offenbar wirklich zu packen.

»Hallo? Ist da 112?« Pasow warf sich in Positur. »Sie müssen sofort kommen! Bei Heuers brennt’s. Die wern noch det janze Haus abfackeln ...« Jetzt kniff er die Augen zusammen, lauschte angespannt in den Hörer. »Wat denn noch? Fahrn Se los mit de Spritze! Ach so. Nee, nee. Det is hier Kladowstraße 5. Noch wat? Na, wat denn noch? Ach so. Ick heiße Erwin. Wat? Nee, nich mit Nachnamen. Ick heiße Erwin Pasow.«

Als er aufgelegt hatte, lief er zur Wohnungstür. Der Hausflur war voller Rauch. Pasow fluchte. Ob die Heuers nicht zu Hause waren? Er klingelte mehrmals, bekam Qualm in den Hals und begann zu husten. Jetzt bummerte er mit der Faust gegen die Tür. »Mensch, Heuer! Sind Se da drin? Hallo!« Er musste schon wieder husten. Die Tür war kochend heiß. Da war bestimmt der Weihnachtsbaum in Brand geraten. Aber wo waren die Heuers? Die hatten sich doch nicht etwa rausgeschlichen, ohne die Feuerwehr zu rufen?

»Ach, du Scheiße, und wer ist sonst noch im Haus?«, überlegte Pasow laut. Doch der Qualm wurde unerträglich. Das Feuer breitete sich viel schneller aus, als er gedacht hatte.

Er rannte in die eigene Wohnung zurück. »Gertrud, biste fertig?« Wo war sie bloß? »Wo bleibste denn? Wir müssen hier raus!«

»Ich packe«, hörte er sie aus dem Schlafzimmer.

Pasow packte die Taschen, die sie aufs Bett gestellt hatte, rannte ins Wohnzimmer und warf sie durch das Fenster hinaus auf die Straße. Dann schnappte er sich seinen Weihnachtsvorrat an Bier und deponierte ihn neben der Tür. Das Atmen wurde immer schwieriger.

»Gertrud! Wintermantel, Mütze, Handschuhe! Mach hinne!« Er nahm noch den Generalschlüsselbund und den Werkzeugkasten. Mit dem Bierkasten in der anderen Hand eilte er auf die Straße.

Gertrud folgte ihm in Pantoffeln.

 

Die Polizei, ein Krankenwagen und drei Feuerwehrfahrzeuge trafen fast gleichzeitig ein. Pasow fixierte die Haustür mit dem neuen Stopper, den er vor wenigen Tagen angebaut hatte.

»Gertrud! Unsere Sachen müssen auf die andere Straßenseite!«

Sie packte die Taschen und schleppte los. Als nächstes holte sie den Bierkasten.

Pasow hatte Wichtigeres zu tun. Mit gestraffter Brust trat er dem Brandmeister entgegen. »Herr Hauptmann, ick bin hier der Hausmeister. Pasow mein Name.« Um ihn herum waren Feuerwehrleute in Schutzkleidung damit beschäftigt, Schläuche auszurollen. »Ick habe die Haustür geöffnet, um Ihnen freien Zutritt zu gewährleisten.«

»Ein hervorragender Gedanke«, nickte der Brandmeister. »Wissen Sie, wie viele Leute noch im Haus sind?«

»Nur die Heuers«, sagte Pasow. »Det is da, wo’s zuerst jebrannt hat. Inzwischen ist det Feuer ja schon fast im zweeten Stock.«

»Und die anderen Hausbewohner?«

»Alle ausjeflogen. Bis uff die Fincken, die müsste noch kommen.« Er blickte zur Haustür, aus der zwei Feuerwehrmänner gerannt kamen, um dem Brandmeister Bericht zu erstatten. Pasow verstand nur Wortfetzen: »Zwei Tote ... durchs Treppenhaus kommen wir nicht durch.«

Dann waren die Heuers also tot? Pasow fuhr sich mit der Hand ins Gesicht. Er musste sich auf den Bierkasten setzen, weil seine Beine ihm den Dienst versagten. Was war da vorgefallen, dass nun auch noch die Heuers tot waren?

Benommen sah er zu, wie der Brandmeister seine Befehle gab. Die Feuerwehrleitern wurden ausgefahren und ausgerichtet. Offenbar wollte man sich dem Brand im Treppenhaus über die Wohnungen nähern. Doch das Feuer breitete sich immer weiter aus. Dicke Qualmwolken erschwerten die Sicht.

Plötzlich entdeckte er Marthe Finck. Sie kam auf ihn zugelaufen. »Herr Pasow! Wo ist meine Paisy? Ist sie bei Ihnen?«

Er zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf. Sein Blick schweifte die Fassade hinauf und blieb am Finckschen Wohnzimmerfenster hängen. Bewegte sich da nicht etwas? Schnell sah er wieder weg.

Aber die Finck hatte den Hund auch entdeckt. »Paisy!«, kreischte sie, dass es Pasow fast das Trommelfell zerriss. »Mein Paisylein!«

Jetzt sahen es alle. Immer wieder sprang Paisy in wilder Angst gegen die Scheibe. Die große, rote Weihnachtsschleife auf ihrem Kopf hatte Feuer gefangen. Ihr Gebell konnte man nicht hören.

»Ich komme, mein Baby! Ich rette dich!« Die Finck rannte zu dem Feuerwehrauto, dessen ausgefahrene Leiter ihrem Wohnzimmerfenster am nächsten war. Sie kletterte bereits auf den Wagen, als ein Feuerwehrmann sie zurückriss. »Bleiben Sie hier! Wir machen das.«

»Was machen Sie denn? Sie stehen hier rum und glotzen!« Jetzt begann sie zu wimmern.

»Wir holen das Tier«, sagte er und gab seinen Kollegen ein Zeichen. Die Leiter schwenkte. Das Fenster, hinter dem Paisy jetzt nicht mehr zu sehen war, wurde eingeschlagen. Der Feuerwehrmann kletterte hinein. Wenige Augenblicke später erschien sein Gesicht wieder im Fenster. Er schüttelte den Kopf.

Pasow saß auf seinem Bierkasten und sah zu, wie Marthe in die Knie sank. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Sie schlug die Arme um ihren Körper und begann sich zu wiegen. Vor und zurück, vor und zurück. Die Feuerwehrleute eilten an ihr vorbei.

Pasow erhob sich. »Gertrud, du passt hier uff, det nüscht wegkommt.« Er deutete auf seinen Bierkasten. »Ick muss mich mal kümmern.«

Wie dieses Buch entstanden ist

Hausmeister Pasow, Sandra Kerner, Marthe Finck, das liebe Paisylein und die übrigen Figuren wurden 2003 während eines Workshops der VHS Berlin-Spandau »geboren«. Sie waren von Anfang an übertrieben bis skurril, nicht für die Ewigkeit entworfen, sondern zum Üben – doch gerade das begeisterte die Erstautoren und später immer weitere.

Unter Leitung der Autorin Claudia Johanna Bauer entwickelte sich die Story im Laufe der Jahre weiter. 2007 war Pasows erster Fall einmal »durchgeschrieben« und wurde unter dem Gruppennamen Spandau Krimi Connection als szenische Lesung vor großem Publikum präsentiert. Danach ging der Text in die Überarbeitung. Viele Autoren haben an diesem Roman mitgewirkt, einige nur in Mini-Szenen. Ihnen allen sei herzlichst gedankt. 

Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei Doris Blank, die dieses Langzeitprojekt im Rahmen der Volkshochschule Berlin-Spandau überhaupt erst möglich gemacht hat, und bei Gisela Rhein von der Stadtbibliothek Berlin-Spandau, wo sich die Krimiautoren seit Jahren regelmäßig »hinter dem blauen Vorhang« treffen.

Dass Pasows erster Fall nun als Buch vorliegt, ist einigen »Unentwegten« zu verdanken, denen das Projekt besonders am Herzen lag. Gemeinsam wurden die Texte in vielen Arbeitsstunden stilistisch vereinheitlicht und poliert.

Wir wünschen allen viel Spaß beim Lesen.

Die Spandau Krimi Connection

Die Autoren

Die Autoren der Spandau Krimi Connection, die u.a. an diesem Buch mitgewirkt haben, sind:

Claudia Johanna Bauer

geboren 1965, studierte Germanistik, Musikwissenschaften und Philosophie. Seit 2000 lebt sie in Berlin, wo sie, immer noch ganz begeistert, als Autorin, Dozentin für literarisches Schreiben und Literaturcoach tätig ist. Dazu gehört auch die Leitung größerer Schreibprojekte mit vielen Autoren.

Dagmar Kahr

geboren 1970 in Berlin, versuchte sich in diesem Roman erstmals als Autorin. Da sie nicht allein schreiben wollte, suchte und fand sie fröhliche Mitstreiter in der Spandau Krimi Connection. Sie liebt humorige Geschichten, die gerne auch ins Skurrile gehen dürfen.

Ramona Karthe

geboren 1965, studierte Volkswirtschaft. Sie ist Kabarettistin mit durchaus ernsten Absichten in der Literatur. In der Spandau Krimi Connection schreibt sie seit 2006. Außerdem veröffentlichte sie diverse Kurzgeschichten im Rahmen des Berliner VHS-Literaturwettbewerbs Die Schreibwerkschau. Zur Zeit arbeitet sie an ihrem ersten Roman.

Hans-Peter Nicklasch

Nachdem er sich 35 Jahre lang mit Kriminalität jeder Art befasst hatte, wollte er die Herangehensweisen von Krimi-Autoren kennenlernen. Es war für ihn sehr interessant, die völlig andere Methodik in der Entstehung und dramaturgischen Weiterentwicklung der Krimitexte mitzuerleben.

Helmut Paske

ist von Beruf Erzieher im Kindergarten. Schon als kleiner Junge erzählte er gerne Geschichten und behielt diese Freude am Fabulieren und Hineindenken in Wesen jeglicher Art stets bei. 1999 erschien sein Roman Nirupama, die Unvergleichliche in der edition belletriste.

Gudrun Peters

ist überzeugte Spandauerin, schreibt ansonsten Kabaretttexte und präsentiert sie lustvoll auf der Bühne.

Rainer Rehme

geboren 1955 in Spandau, hat in den 80er-Jahren zur Probe einige Glossen beim Spandauer Volksblatt abgegeben, als es noch eine »echte« Tageszeitung war – und viele dieser Texte wurden tatsächlich veröffentlicht. Nach seiner Pensionierung 2003 stellte er die Produktion humorvoller Kurzgeschichten auf eine semiprofessionelle Ebene und schrieb in den ersten Jahren für bis zu sieben deutsche Tageszeitungen.

Spandau Krimi Connection: Hundsgemein!

Fledermausetot

Berlin, Mai 1982. Im Wehrgang der Spandauer Zitadelle steckt eine Leiche kopfüber im Schlamm. Während der kuriose Fund den Kommissaren Marlin und Lemke Kopfzerbrechen bereitet, räumt einer schon auf: Hausmeister Pasow. Mit Spürsinn, Berliner Schnauze und ganz eigenen Ermittlungsmethoden nimmt er die Fährte des Mörders auf ... Der Hausmeister ist zurück - und das mit seinem allerersten Fall!

Ein neuer Berlin-Krimi der Autorengruppe Spandau Krimi Connection.

Verlag

Hundsgemein! Hausmeister Pasows erster Fall

Originalausgabe

© 2017 Verlag Karim Pieritz, Berlin

www.karimpieritz.de

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

Herausgeberin: Claudia Johanna Bauer

Autorengruppe Spandau Krimi Connection:

Claudia Johanna Bauer, Dagmar Kahr, Ramona Karthe

Hans-Peter Nicklasch, Helmut Paske, Gudrun Peters, Rainer Rehme

Lektorat: Franziska Dreke

Zeichnungen: Frank Hegemann

Gestaltung: Karim Pieritz

Google Web Fonts: Covered By Your Grace (Überschriften)

Die Geschichte ist frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Hundsgemein!

Wie dieses Buch entstanden ist

Die Autoren

Die Fortsetzung

Weitere eBooks

1

Pasow streckte den Bauch vor und stemmte sich aus dem Sessel. Mit der einen Hand kratzte er seine Weichteile, mit der anderen nahm er die Fernbedienung und schaltete aufs erste Programm. In einer knappen Viertelstunde kam die Tagesschau, die sah er regelmäßig. Schließlich wollte er mitreden können. Die Hausbewohner sollten ihn nicht für dämlich halten, nur weil er hier der Hausmeister war.

Er trank den letzten Schluck aus seiner Bierflasche und rülpste. »Gertrud!«, brüllte er. »Ick werd ma noch die kaputte Glühbirne uff ’m Dachboden auswechseln jehn. Wenn die Nachrichten anfangen, haste mir ’n neuet Bier hinjestellt!«

Im Fernsehen redete Meister Proper. Sonst redete niemand.

»Na, wo isse denn?« Pasow warf einen verdutzten Blick in die leere Küche. Er furzte genüsslich und freute sich, dass seine Alte es nicht hörte. Nicht, dass ihre Gegenwart ihm Zurückhaltung auferlegt hätte, aber ihr missbilligendes Gesicht störte ihn jedes Mal.