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Selma, eine alte Westerwälderin, kann den Tod voraussehen. Immer, wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Unklar ist allerdings, wen es treffen wird. Davon, was die Bewohner in den folgenden Stunden fürchten, was sie blindlings wagen, gestehen oder verschwinden lassen, erzählt Mariana Leky in ihrem Roman.

›Was man von hier aus sehen kann‹ ist das Porträt eines Dorfes, in dem alles auf wundersame Weise zusammenhängt. Aber es ist vor allem ein Buch über die Liebe unter besonderen Vorzeichen, Liebe, die scheinbar immer die ungünstigsten Bedingungen wählt. Für Luise zum Beispiel, Selmas Enkelin, gilt es viele tausend Kilometer zu überbrücken. Denn der Mann, den sie liebt, ist zum Buddhismus konvertiert und lebt in einem Kloster in Japan …

 

Wie Innigkeit gelingen kann zwischen den Menschen – gegen viele Widerstände, Zeit- verschiebungen und Unwägbarkeiten –, zeigt dieses ebenso kluge wie zartfühlende Buch. Mariana Leky ist eine Meisterin der genauen Beobachtung und des lakonischen Tons. Mit diesem Roman beweist sie erneut, dass sie zu den kraftvollsten, den unverwechselbaren Stimmen der deutschen Literatur gehört.

 
autor

© Franziska Hauser

Mariana Leky studierte nach einer Buchhandelslehre Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Bei DuMont erschienen der Erzählband ›Liebesperlen‹ (2001) sowie die Romane ›Erste Hilfe‹ (2004), ›Die Herrenausstatterin‹ (2010) und ›Bis der Arzt kommt. Geschichten aus der Sprechstunde‹ (2013). Sie lebt in Berlin und Köln.

Mariana Leky

WAS MAN VON HIER AUS
SEHEN KANN

ROMAN

 

 

 
 
 
 
 

Für Martina

It’s not the weight of the stone. It’s the reason
why you lift it.
 
Hugo Girard,
stärkster Mann der Welt 2004

Prolog

Wenn man etwas gut Beleuchtetes lange anschaut und dann die Augen schließt, sieht man dasselbe vor dem inneren Auge noch mal, als unbewegtes Nachbild, in dem das, was eigentlich hell war, dunkel ist, und das, was eigentlich dunkel war, hell erscheint. Wenn man zum Beispiel einem Mann nachsieht, der die Straße hinuntergeht und sich immer wieder umdreht, um einem ein letztes, ein allerletztes, ein allerallerletztes Mal zuzuwinken, und dann die Augen schließt, sieht man hinter den Lidern die angehaltene Bewegung des allerallerletzten Winkens, das angehaltene Lächeln, und die dunklen Haare des Mannes sind dann hell, und seine hellen Augen sind dann sehr dunkel.

Wenn das, was man lange angeschaut hat, etwas Bedeutsames war, etwas, sagte Selma, das das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdreht, dann taucht dieses Nachbild immer wieder auf. Auch Jahrzehnte später ist es plötzlich wieder da, ganz egal, was man eigentlich gerade angesehen hat, bevor man die Augen schloss. Das Nachbild des Mannes, der zum allerallerletzten Mal winkt, taucht plötzlich auf, wenn einem beispielsweise beim Reinigen der Regenrinne eine Mücke ins Auge geflogen ist. Es taucht auf, wenn man die Augen kurz ausruhen will, weil man lange auf eine Nebenkostenabrechnung geschaut hat, die man nicht versteht. Wenn man abends am Bett eines Kindes sitzt, ihm eine Gutenachtgeschichte erzählt und einem der Name der Prinzessin oder ihr gutes Ende nicht einfallen will, weil man selbst schon sehr müde ist. Wenn man die Augen schließt, weil man jemanden küsst. Wenn man auf dem Waldboden liegt, auf einer Untersuchungsliege, in einem fremden Bett, im eigenen. Wenn man die Augen schließt, weil man etwas sehr Schweres hochhebt. Wenn man den ganzen Tag herumläuft und nur anhält, um sich den aufgegangenen Schnürsenkel zuzubinden, und jetzt, mit dem Kopf nach unten, erst merkt, dass man den ganzen Tag über nie angehalten hat. Es taucht auf, wenn jemand »Mach mal die Augen zu« sagt, weil man überrascht werden soll. Wenn man sich gegen die Wand einer Umkleidekabine lehnt, weil auch die letzte der infrage kommenden Hosen nicht passt. Wenn man die Augen schließt, kurz bevor man endlich mit etwas Wichtigem herausrückt, bevor man beispielsweise sagt: »Ich liebe dich« oder »Ich dich aber nicht«. Wenn man nachts Bratkartoffeln macht. Wenn man die Augen schließt, weil jemand vor der Tür steht, den man keinesfalls hereinlassen will. Wenn man die Augen schließt, weil gerade eine große Sorge abgefallen ist, man jemanden oder etwas wiedergefunden hat, einen Brief, eine Zuversicht, einen Ohrring, einen entlaufenen Hund, die Sprache oder ein Kind, das sich zu gut versteckt hatte. Immer wieder taucht plötzlich dieses Nachbild auf, dieses eine, ganz bestimmte, es taucht auf wie ein Bildschirmschoner des Lebens, und oft dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnet.

ERSTER  TEIL

Weide, Weide

Als Selma sagte, sie habe in der Nacht von einem Okapi geträumt, waren wir sicher, dass einer von uns sterben musste, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Das stimmte beinahe. Es waren neunundzwanzig Stunden. Der Tod trat etwas verspätet ein, und das buchstäblich: Er kam durch die Tür. Vielleicht verspätete er sich, weil er lange gezögert hatte, über den letzten Augenblick hinaus.

Selma hatte in ihrem Leben dreimal von einem Okapi geträumt, und jedes Mal war danach jemand gestorben, deshalb waren wir überzeugt, dass der Traum von einem Okapi und der Tod unbedingt miteinander verbunden waren. Unser Verstand funktioniert so. Er kann innerhalb kürzester Zeit dafür sorgen, dass die einander abwegigsten Dinge fest zusammengehören. Kaffeekannen und Schnürsenkel beispielsweise, oder Pfandflaschen und Tannenbäume.

Der Verstand des Optikers war besonders gut darin. Man sagte dem Optiker zwei Sachen, die nicht im Geringsten zusammengehörten, und er stellte aus dem Stand eine enge Verwandtschaft her. Und jetzt war es ausgerechnet der Optiker, der behauptete, dass der neuerliche Traum vom Okapi ganz gewiss niemandem den Tod brächte, dass der Tod und Selmas Traum vollkommen zusammenhangslos seien. Aber wir wussten, dass der Optiker es eigentlich auch glaubte. Vor allem der Optiker.

Auch mein Vater sagte, dass das hanebüchener Unfug sei und unser Irrglaube vor allem daher käme, dass wir zu wenig Welt in unsere Leben hereinließen. Das sagte er immer: »Ihr müsst mehr Welt hereinlassen.«

Er sagte es entschieden und vor allem zu Selma, im Vorhinein.

Im Nachhinein sagte er das nur noch selten.

Das Okapi ist ein abwegiges Tier, viel abwegiger als der Tod, und es sieht vollkommen zusammenhangslos aus mit seinen Zebraunterschenkeln, seinen Tapirhüften, seinem giraffenhaft geformten rostroten Leib, seinen Rehaugen und Mausohren. Ein Okapi ist absolut unglaubwürdig, in der Wirklichkeit nicht weniger als in den unheilvollen Träumen einer Westerwälderin.

Es war überhaupt erst zweiundachtzig Jahre her, dass das Okapi offiziell in Afrika entdeckt worden war. Es ist das letzte große Säugetier, das der Mensch entdeckt hat; das glaubt er jedenfalls. Vermutlich stimmt das auch, denn nach einem Okapi kann eigentlich nichts mehr kommen. Wahrscheinlich hat schon sehr viel früher einmal jemand ein Okapi inoffiziell entdeckt, aber vielleicht hat er beim Anblick des Okapis geglaubt, er träume oder habe den Verstand verloren, weil ein Okapi, besonders ein plötzliches und unerwartetes, absolut zusammengeträumt wirkt.

Das Okapi wirkt alles andere als unheilvoll. Es kann überhaupt nicht unheilvoll wirken, selbst wenn es sich anstrengen würde, was es, soweit man weiß, selten tut. Selbst wenn es sich in Selmas Traum das Haupt von Krähen und Käuzchen hätte umflattern lassen, die ja die Unheilfülle gepachtet haben, hätte es immer noch einen sehr sanftmütigen Eindruck gemacht.

In Selmas Traum stand das Okapi auf einer Wiese, nahe am Wald, in einer Gruppe von Feldern und Wiesen, die insgesamt »Uhlheck« heißen. Uhlheck bedeutet »Eulenwald«. Die Westerwälder sagen vieles anders und kürzer, als es eigentlich ist, weil sie das Sprechen gerne schnell hinter sich bringen. Das Okapi sah exakt so aus wie in Wirklichkeit, und auch Selma sah exakt so aus wie in Wirklichkeit, nämlich wie Rudi Carrell.

Die absolute Ähnlichkeit zwischen Selma und Rudi Carrell fiel uns erstaunlicherweise nicht auf; es musste erst, Jahre später, jemand von außen kommen und uns darauf hinweisen. Dann aber traf uns die Ähnlichkeit mit all ihrer angemessenen Wucht. Selmas langer, dünner Körper, ihre Haltung, ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund, die Haare: Selma sah von oben bis unten so sehr aus wie Rudi Carrell, dass er ab dann in unseren Augen nicht mehr war als eine mangelhafte Kopie von Selma.

Selma und das Okapi standen im Traum auf der Uhlheck ganz still. Das Okapi hatte den Kopf nach rechts gewendet, zum Wald hin. Selma stand einige Schritte abseits. Sie trug das Nachthemd, in dem sie in Wirklichkeit gerade schlief; mal ein grünes, mal ein blaues oder weißes, immer knöchellang, immer geblümt. Sie hatte den Kopf gesenkt, sie blickte auf ihre alten Zehen im Gras, krumm und lang wie im echten Leben. Sie sah das Okapi nur ab und zu aus den Augenwinkeln an, von unten her, so, wie man jemanden anschaut, den man um einiges mehr liebt, als man preisgeben möchte.

Keiner bewegte sich, keiner gab einen Laut von sich, es ging nicht mal der Wind, der auf der Uhlheck in Wirklichkeit immer geht. Dann, am Schluss des Traumes, hob Selma den Kopf, das Okapi wandte seinen um, zu Selma, und jetzt schauten sie sich direkt an. Das Okapi blickte sehr sanft, sehr schwarz, sehr nass und sehr groß. Es schaute freundlich und so, als wolle es Selma etwas fragen, als bedaure es, dass Okapis auch im Traum keine Fragen stellen dürfen. Dieses Bild stand lange still: das Bild von Selma und dem Okapi, wie sie sich in die Augen schauten.

Dann zog sich das Bild zurück, Selma erwachte, und aus war er, der Traum, und aus war es bald mit irgendeinem nahen Leben.

Am Morgen danach, es war der 18. April 1983, wollte Selma ihren Traum vom Okapi überspielen und tat ausgesprochen fröhlich. Sie war im Vortäuschen von Fröhlichkeit ungefähr so gewieft wie ein Okapi, und sie glaubte, Ausgelassenheit demonstriere man am glaubwürdigsten durch Herumschlackern. So kam Selma nach ihrem Traum schief lächelnd in die Küche geschlackert, und mir fiel nicht auf, dass sie aussah wie Rudi Carrell, wenn er am Anfang von Rudis Tagesshow aus einem übermannshohen Globus trat, einem Globus mit hellblauen Ozeanen, goldenen Ländern und Schiebetüren.

Meine Mutter schlief noch, in unserer Wohnung über Selmas, mein Vater war bereits in seiner Praxis. Ich war müde. Gestern war ich nicht gut eingeschlafen, Selma hatte lang an meinem Bett gesessen. Vielleicht hatte etwas in mir geahnt, was Selma träumen würde, und sie deshalb besonders lange aufhalten wollen.

Wenn ich unten bei Selma schlief, erzählte sie mir am Bettrand Geschichten mit guten Enden. Als ich kleiner war, hatte ich nach den Geschichten immer ihr Handgelenk umfasst, meinen Daumen auf ihren Puls gelegt und mir vorgestellt, dass die ganze Welt alles im Rhythmus von Selmas Herzschlag tat. Ich stellte mir vor, wie der Optiker Linsen schliff, Martin ein Gewicht stemmte, Elsbeth ihre Hecke schnitt, wie der Einzelhändler Safttüten einräumte, meine Mutter Tannenzweige aufeinanderschichtete, mein Vater Rezepte stempelte, und alle taten das genau in Selmas Herzrhythmus. Darüber war ich immer verlässlich eingeschlafen, aber jetzt, mit zehn Jahren, fand Selma, sei ich zu alt dafür.

Als Selma hereingeschlackert kam, war ich am Küchentisch gerade dabei, meine fertigen Erdkundehausaufgaben in Martins Heft zu übertragen. Ich wunderte mich, dass Selma, statt mich zu beschimpfen, weil ich schon wieder Martins Hausaufgaben machte, »Hallöchen« sagte und mich lustig in die Seite knuffte. Selma hatte noch nie »Hallöchen« gesagt, und sie hatte auch noch nie irgendjemanden lustig geknufft.

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Nichts«, flötete Selma, öffnete den Kühlschrank, holte ein Paket Schnittkäse und eine Leberwurst heraus und schwenkte beides durch die Luft. »Was darf’s denn heute aufs Schulbrot sein?«, flötete sie. »Mäuselchen«, flötete sie noch hinterher, und Flöten und Mäuselchen waren nun wirklich alarmierend.

»Käse, bitte«, sagte ich, »was hast du denn?«

»Nichts«, flötete Selma, »hab ich doch gesagt.« Sie strich Butter auf eine Scheibe Brot, und weil sie immer noch herumschlackerte, schubste sie dabei den Käse mit dem Handgelenk von der Anrichte.

Selma hielt jetzt still und schaute hinab auf die Käsepackung, als sei sie etwas Kostbares, das in tausend Teile zersprungen war.

Ich ging zu ihr und hob den Käse auf. Ich sah ihr in die Augen, von weit unten. Selma war noch größer als die meisten anderen Erwachsenen, und sie war damals um die sechzig; aus meiner Perspektive also turmhoch und steinalt. Sie schien mir so hoch, dass ich glaubte, man könne von ihrem Kopf aus bis weit über das nächste Dorf hinaussehen, und so steinalt, dass ich glaubte, sie habe die Welt mit erfunden.

Sogar von hier unten, meterweit entfernt von Selmas Augen, konnte ich sehen, dass sich in der Nacht hinter ihren Lidern etwas Unheilvolles abgespielt hatte.

Selma räusperte sich. »Erzähl es niemandem weiter«, sagte sie leise, »aber ich fürchte, ich habe von einem Okapi geträumt.«

Jetzt war ich hellwach. »Bist du ganz sicher, dass es wirklich ein Okapi war?«

»Was soll es denn sonst gewesen sein«, sagte Selma, und dass man ein Okapi ja nur schwerlich mit einem anderen Tier verwechseln könne. »Doch«, sagte ich, es könne ja auch ein verwachsenes Rind gewesen sein, eine falsch zusammengesetzte Giraffe, eine Laune der Natur, und die Streifen und das Rostrote, das könne man doch alles nicht so genau erkennen in der Nacht, da sei schließlich alles sehr verschwommen.

»Das ist doch Quatsch«, sagte Selma und rieb sich die Stirn, »das ist doch leider Quatsch, Luise.«

Sie legte eine Scheibe Käse auf das Brot, klappte es zusammen und legte es in meine Butterbrotdose.

»Weißt du, wann genau du das geträumt hast?«

»Gegen drei Uhr«, sagte Selma. Sie war hochgeschreckt, nachdem das Bild vom Okapi sich zurückgezogen hatte, aufrecht im Bett sitzend war sie aufgewacht und hatte auf ihr Nachthemd gestarrt, in dem sie eben noch im Traum auf der Uhlheck gestanden hatte, und dann auf den Wecker. Drei Uhr.

»Wir sollten das wahrscheinlich nicht so ernst nehmen«, sagte Selma, aber sie sagte es wie ein Fernsehkommissar, der ein anonymes Schreiben nicht so ernst nimmt.

Selma packte die Butterbrotdose in meinen Schulranzen. Ich überlegte, Selma zu fragen, ob ich unter diesen Umständen zu Hause bleiben dürfe.

»Du gehst selbstverständlich trotzdem zur Schule«, sagte Selma, die immer wusste, was ich dachte, als hingen meine Gedanken in Buchstabengirlanden über meinem Kopf, »du lässt dich durch so einen dahergelaufenen Traum von überhaupt nichts abhalten.«

»Darf ich es Martin erzählen?«, fragte ich.

Selma überlegte. »In Ordnung«, sagte sie dann. »Aber wirklich nur Martin.«

Unser Dorf war zu klein für einen Bahnhof, es war auch zu klein für eine Schule. Martin und ich fuhren jeden Morgen erst mit dem Bus zu dem kleinen Bahnhof im Nachbardorf und dann mit dem Regionalzug in die Kreisstadt zur Schule.

Während wir auf den Zug warteten, hob Martin mich hoch. Martin übte schon seit dem Kindergarten Gewichtheben, und ich war das einzige Gewicht, das immer greifbar war und sich anstandslos hochheben ließ. Die Zwillinge aus dem Oberdorf ließen das nur gegen Bezahlung zu, zwanzig Pfennig pro hochgehobenem Zwilling, an den Erwachsenen und den Kälbern scheiterte Martin noch, und alles andere, was eine Herausforderung hätte sein können, zarte Bäume, halbstarke Schweine, war festgewachsen oder lief davon.

Martin und ich waren gleich groß. Er ging in die Hocke, fasste mich um die Hüften und stemmte mich hoch. Mittlerweile konnte er mich fast eine Minute lang in der Luft halten, ich berührte den Boden nur, wenn ich die Zehenspitzen sehr weit nach unten streckte. Als Martin mich zum zweiten Mal hochstemmte, sagte ich: »Meine Großmutter hat heute Nacht von einem Okapi geträumt.«

Ich schaute auf Martins Scheitel, sein Vater hatte ihm die blonden Haare mit einem nassen Kamm gekämmt, einzelne Strähnen waren noch dunkel.

Martins Mund war in Höhe meines Bauchnabels. »Stirbt dann jetzt einer?«, fragte er in meinen Pullover.

Vielleicht stirbt ja dein Vater, dachte ich, aber natürlich sagte ich das nicht, denn Väter dürfen nicht sterben, egal wie schlimm sie sind. Martin stellte mich ab und atmete aus.

»Glaubst du daran?«, fragte er.

»Nein«, sagte ich.

Das rot-weiße Signalschild an den Gleisen löste sich aus seiner Halterung und fiel scheppernd herunter.

»Ganz schön windig heute«, sagte Martin, dabei stimmte das gar nicht.

Während Martin und ich im Zug waren, erzählte Selma am Telefon ihrer Schwägerin Elsbeth, dass sie von einem Okapi geträumt hatte. Sie band Elsbeth auf die Seele, es niemandem weiterzusagen, und Elsbeth rief anschließend die Frau des Bürgermeisters an, eigentlich nur wegen der Planung des anstehenden Maifestes, aber als die Bürgermeistersfrau fragte: »Und, gibt’s sonst noch was Neues?«, da lösten sich die Bande, mit denen Selma den Traum vom Okapi auf Elsbeths Seele gebunden hatte, sehr zügig, und dann wusste es im Handumdrehen das ganze Dorf. Es ging so schnell, dass Martin und ich noch im Zug zur Schule waren, als das ganze Dorf es wusste.

Die Zugfahrt dauerte fünfzehn Minuten, einen Zwischenhalt gab es nicht. Seit unserer ersten Zugfahrt spielten wir immer dasselbe: Wir stellten uns mit dem Rücken zu den Fenstern an die gegenüberliegenden Zugtüren, Martin machte die Augen zu, ich sah aus dem Fenster der Zugtür, die Martin im Rücken hatte. In der ersten Klasse hatte ich Martin aufgezählt, was ich während der Fahrt sah, und Martin versuchte, alles auswendig zu lernen. Das gelang sehr gut, sodass ich im zweiten Schuljahr nichts mehr aufzählte und Martin, mit dem Rücken zum Fenster und geschlossenen Augen, fast alles aufsagen konnte, was ich durch das beschlagene Zugfenster gerade sah: »Drahtfabrik«, sagte er, genau in dem Moment, als wir an der Drahtfabrik vorbeifuhren. »Jetzt Feld. Weide. Das Gehöft vom verrückten Hassel. Wiese. Wald. Wald. Hochsitz eins. Feld. Wald. Wiese. Weide, Weide. Reifenfabrik. Dorf. Weide. Feld. Hochsitz zwei. Waldstück. Hof. Feld. Wald. Hochsitz drei. Dorf.«

Am Anfang machte Martin noch Flüchtigkeitsfehler, er sagte »Wiese«, wenn da eigentlich ein Feld war, oder er zählte die Landschaft nicht schnell genug auf, wenn der Zug in der Mitte der Strecke beschleunigte. Aber bald lag er in allem punktgenau richtig, er sagte »Feld«, wenn ich ein Feld sah, er sagte »Bauernhof«, wenn der Bauernhof vorbeirauschte.

Jetzt, im vierten Schuljahr, konnte Martin alles komplett einwandfrei, mit genau den richtigen Abständen, vorwärts und rückwärts. Im Winter, wenn der Schnee Felder und Wiesen ununterscheidbar machte, sagte Martin auf, was die unebene weiße Fläche, die ich vorbeirauschen sah, eigentlich war: Feld, Wald, Wiese, Weide, Weide.

Bis auf Selmas Schwägerin Elsbeth waren die Leute im Dorf meistens nicht abergläubisch. Sie machten unbekümmert all das, was man bei Aberglauben nicht machen darf: Sie saßen gelassen unter Wanduhren, obwohl man bei Aberglauben daran sterben kann, sie schliefen mit dem Kopf zur Tür hin, obwohl das bei Aberglauben bedeutet, dass man durch genau die Tür bald mit den Füßen zuerst hinausgetragen wird. Sie hängten zwischen Weihnachten und Neujahr Wäsche auf, was, wie Elsbeth warnte, bei Aberglauben einem Suizid oder einer Beihilfe zum Mord gleichkommt. Sie erschraken nicht, wenn nachts das Käuzchen rief, wenn ein Pferd im Stall stark schwitzte, wenn ein Hund nachts jaulte, mit gesenktem Kopf.

Selmas Traum aber schuf Tatsachen. War ihr im Traum ein Okapi erschienen, erschien im Leben der Tod; und alle taten, als würde er wirklich erst jetzt erscheinen, als käme er überraschend angeschlackert, als sei er nicht schon von Anfang an mit von der Partie, immer in der erweiterten Nähe, wie eine Tauftante, die das Leben lang kleine und große Aufmerksamkeiten vorbeischickt.

Die Leute im Dorf waren beunruhigt, man sah es ihnen an, auch wenn sie größtenteils versuchten, sich nichts anmerken zu lassen. Heute Morgen, wenige Stunden nach Selmas Traum, bewegten sich die Leute im Dorf, als habe sich auf allen Wegen Blitzeis gebildet, nicht nur draußen, sondern auch in den Häusern, Blitzeis in den Küchen und Wohnzimmern. Sie bewegten sich, als seien ihnen die eigenen Körper ganz fremd, als seien all ihre Gelenke entzündet und auch die Gegenstände, mit denen sie hantierten, hochentzündlich. Den ganzen Tag lang beargwöhnten sie ihr Leben und, soweit möglich, das aller anderen. Immer wieder schauten sie hinter sich, um zu überprüfen, ob da jemand angesprungen käme mit Mordlust, jemand, der den Verstand verloren und deshalb nichts Nennenswertes mehr zu verlieren hatte, und sie schauten rasch wieder nach vorne, weil jemand ohne Verstand schließlich auch frontal angreifen konnte. Sie schauten nach oben, um herabfallende Dachziegel, Äste oder schwere Lampenschirme auszuschließen. Sie mieden alle Tiere, weil es aus denen, glaubten sie, schneller herausbrechen konnte als aus Menschen. Sie machten einen Bogen um die gutartigen Kühe, die heute womöglich austreten würden, sie mieden die Hunde, auch die ganz alten, die kaum noch stehen konnten, ihnen aber heute vielleicht trotzdem an die Gurgel gehen würden. An solchen Tagen war alles möglich, da konnten einem auch vergreiste Dackel die Kehle durchbeißen, viel abwegiger als ein Okapi war das schließlich nicht.

Alle waren beunruhigt, aber bis auf Friedhelm, den Bruder des Einzelhändlers, war niemand entsetzt, weil man für Entsetzen üblicherweise Gewissheit braucht. Friedhelm war dermaßen entsetzt, als habe das Okapi in Selmas Traum seinen Namen geflüstert. Er rannte davon, schreiend und zitternd stolperte er durch den Wald, bis der Optiker ihn einfing und zu meinem Vater brachte. Mein Vater war Arzt und gab Friedhelm eine Spritze, die so glücklich machte, dass Friedhelm den Rest des Tages durchs Dorf tänzelte, O du schöner Westerwald sang und damit allen auf die Nerven fiel.

Die Leute im Dorf beargwöhnten ihr Herz, das so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt war und deshalb verstörend schnell klopfte. Sie erinnerten sich, dass es bei einem aufziehenden Herzinfarkt in einem Arm kribbelt, sie erinnerten sich aber nicht, in welchem, deshalb kribbelte es den Leuten im Dorf in beiden Armen. Sie beargwöhnten ihren Geisteszustand, der ebenfalls solche Aufmerksamkeit nicht gewohnt war und deshalb ebenfalls verstörend schnell klopfte. Sie fragten sich, wenn sie sich ins Auto setzten, wenn sie eine Mistgabel zur Hand oder einen Topf kochendes Wasser vom Herd nahmen, ob nicht gleich der Verstand verlustig gehen, eine zügellose Verzweiflung hervorbrechen würde und mit ihr das Verlangen, das Auto mit Vollgas gegen einen Baum zu fahren, sich in die Mistgabel zu stürzen oder das kochende Wasser über den Kopf zu gießen. Oder das Verlangen, zwar nicht sich selbst, aber einen Nahestehenden, den Nachbarn, den Schwager, die Ehefrau, mit kochendem Wasser zu begießen oder zu überfahren oder in die Mistgabel zu stoßen.

Manche im Dorf mieden jede Bewegung, den ganzen Tag lang; einige sogar länger. Elsbeth hatte Martin und mir erzählt, dass vor Jahren, am Tag nach Selmas Traum, der pensionierte Postbote begonnen hatte, sich gar nicht mehr zu bewegen. Jede Bewegung, da war er sicher, konnte den Tod bedeuten; auch Tage und Monate nach Selmas Traum, als traumweisungsgemäß längst jemand gestorben war, die Mutter des Schusters nämlich. Der Postbote war einfach für immer sitzen geblieben. Seine unbewegten Gelenke hatten sich entzündet, das Blut war verklumpt und schließlich auf halbem Weg durch seinen Körper stehen geblieben, gleichzeitig mit dem beargwöhnten Herz; der pensionierte Postbote hatte sein Leben verloren aus Angst, sein Leben zu verlieren.

Einige Leute im Dorf fanden, dass es jetzt unbedingt an der Zeit sei, mit einer verschwiegenen Wahrheit herauszurücken. Sie schrieben Briefe, ungewohnt wortreiche, in denen von »immer« und »niemals« die Rede war. Bevor man stirbt, fanden sie, sollte man wenigstens auf den letzten Drücker Wahrhaftigkeit ins Leben bringen. Und die verschwiegenen Wahrheiten, glaubten die Leute, sind die wahrhaftigsten überhaupt: Weil nie an ihnen gerührt wird, ist ihre Wahrhaftigkeit gestockt, und weil sie in ihrer Verschwiegenheit zur Bewegungslosigkeit verdammt sind, werden diese Wahrheiten im Lauf der Jahre immer üppiger. Nicht nur die Leute, die die verschwiegene und beleibte Wahrheit herumtrugen, auch die Wahrheit selbst glaubte an Wahrhaftigkeit auf den letzten Drücker. Auch sie wollte kurz vor knapp unbedingt hinaus und drohte, dass es sich mit einer verschwiegenen Wahrheit im Leib besonders qualvoll stürbe, dass es ein langwieriges Tauziehen geben würde zwischen dem Tod, der auf der einen Seite zieht, und der korpulenten Wahrheit, die auf der anderen Seite zieht, weil sie verschwiegen nicht sterben möchte, weil sie bereits ihr ganzes Leben lang bestattet war, weil sie jetzt wenigstens einmal kurz hinauswill, entweder um bestialischen Gestank zu verbreiten und alle zu erschrecken, oder um festzustellen, dass sie, bei Licht betrachtet, gar nicht so grauenhaft und furchterregend war. Kurz vor dem mutmaßlichen Ende will die verschwiegene Wahrheit dringend eine Zweitmeinung einholen.

Der Einzige, der sich über Selmas Traum freute, war der alte Bauer Häubel. Bauer Häubel hatte so lange gelebt, dass er beinahe durchsichtig war. Als ihm sein Urenkel von Selmas Traum erzählte, stand Bauer Häubel vom Frühstückstisch auf, nickte seinem Urenkel zu und ging die Treppe hoch in sein Zimmer, in die Dachstube. Dort legte er sich ins Bett und schaute zur Tür wie ein Geburtstagskind, das vor lauter Aufregung viel zu früh wach geworden ist und ungeduldig darauf wartet, dass endlich die Eltern mit dem Kuchen hereinkommen.

Bauer Häubel war der festen Überzeugung, dass der Tod höflich sein würde, so wie Bauer Häubel selbst es sein Leben lang gewesen war. Er war sicher, dass der Tod ihm das Leben nicht entreißen, sondern behutsam aus der Hand nehmen würde. Er stellte sich vor, wie der Tod vorsichtig anklopfte, die Tür nur einen Spalt öffnete und »Darf ich?« fragte, was Bauer Häubel natürlich bejahen würde. »Selbstverständlich«, würde Bauer Häubel sagen, »treten Sie doch ein«, und der Tod würde eintreten. Er würde sich an Bauer Häubels Bett stellen und fragen: »Passt es Ihnen jetzt? Ich kann sonst auch zu einem späteren Zeitpunkt vorbeikommen.« Bauer Häubel würde sich aufrichten und »Nein, nein, es passt mir gerade sehr gut« sagen, »lassen Sie es uns besser nicht noch einmal verschieben, wer weiß, wann Sie es wieder einrichten können«, und der Tod würde sich auf den schon bereitgestellten Stuhl am Kopfende setzen. Er würde sich im Vorhinein für die Kälte seiner Hände entschuldigen, die, das wusste Bauer Häubel, ihm überhaupt nichts ausmachen würde, und dann eine Hand auf Bauer Häubels Augen legen.

So stellte Bauer Häubel sich das vor. Er stand noch mal auf, weil er vergessen hatte, die Dachluke zu öffnen, damit nachher die Seele umstandslos hinausfliegen konnte.

Die Liebe des Optikers

Die Wahrheit, die am Vormittag nach Selmas Traum auf den letzten Drücker aus dem Optiker herausrücken wollte, war keine objektiv schreckliche Wahrheit. Der Optiker hatte keine Affäre (es gab auch niemanden, mit dem er eine Affäre hätte haben wollen), er hatte nie jemanden bestohlen und außer sich selbst auch niemanden nachhaltig belogen.

Die verschwiegene Wahrheit des Optikers war, dass er Selma liebte, und zwar seit Jahrzehnten. Manchmal versuchte er, das nicht nur vor allen anderen, sondern auch vor sich selbst zu verstecken. Aber sehr zeitnah tauchte dann die Liebe zu Selma wieder auf; sehr zeitnah wusste der Optiker wieder ganz genau, wo er die Liebe zu Selma versteckt hatte.

Der Optiker war fast jeden Tag da, von Anfang an. Er war aus meiner Sicht fast so steinalt wie Selma, und also hatte auch er die Welt mit erfunden.

Als Martin und ich in den Kindergarten gekommen waren, hatten Selma und der Optiker uns die Schleife beigebracht, zu viert hatten wir auf den Stufen vor unserem Haus gesessen, und Selma und der Optiker hatten sich beim Beibringen die Rücken verknackst, weil sie sich so lange zu unseren Kinderschuhen hinuntergebeugt und immer wieder in Zeitlupe die Schleife vorgemacht hatten, Selma mit meinen, der Optiker mit Martins Schnürsenkeln.

Auch das Schwimmen hatten Selma und der Optiker uns beigebracht, sie hatten im Nichtschwimmerbecken gestanden, beide bis zum Bauchnabel im Wasser, Selma trug eine große violette Rüschen-Badehaube, die aussah wie eine Hortensie und die sie sich von Elsbeth geliehen hatte, damit Rudi Carrells Frisur nichts geschah. Ich lag mit dem Bauch auf Selmas Händen, Martin auf den Händen des Optikers. »Wir lassen nicht los«, sagten Selma und der Optiker, und irgendwann: »Wir lassen jetzt los«, und Martin und ich schwammen, erst zappelig und mit vor Panik und Stolz weit aufgerissenen Augen, dann immer sicherer. Selma fiel dem Optiker jubelnd in die Arme, und dem Optiker traten die Tränen in die Augen.

»Das ist nur eine allergische Reaktion«, sagte er.

»Gegen was?«, fragte Selma.

»Gegen diesen einen bestimmten Stoff in Badehaubenrüschen«, behauptete der Optiker.

Selma und der Optiker hatten uns das Fahrradfahren beigebracht, der Optiker hielt Martins Gepäckträger fest, Selma meinen. »Wir lassen nicht los«, sagten sie, und irgendwann: »Wir lassen jetzt los«, und Martin und ich fuhren, erst wackelig und dann immer sicherer. Selma fiel dem Optiker jubelnd in die Arme, und dem Optiker traten die Tränen in die Augen.

»Das ist nur eine allergische Reaktion«, sagte er.

»Gegen was?«, fragte Selma.

»Gegen diesen einen bestimmten Stoff in Fahrradsitzen«, behauptete der Optiker.

Der Optiker und Selma hatten Martin und mir vor dem Bahnhof in der Kreisstadt die Uhr erklärt. Alle vier sahen wir zu dem großen, runden Zifferblatt hoch, Selma und der Optiker deuteten auf Zahlen und Zeiger wie auf Sternbilder. Als wir die Uhr verstanden hatten, erklärte der Optiker die Zeitverschiebung gleich hinterher; er bestand darauf, als habe er schon damals gewusst, wie sehr und wie oft sich die Zeit für mich noch verschieben würde.

Der Optiker hatte mir im Eiscafé in der Kreisstadt das Lesen beigebracht, zusammen mit Selma und Martin, der das schon konnte. Der neue Eigentümer des Cafés, Alberto, hatte seinen Eisbechern sehr leidenschaftliche Namen gegeben, und vielleicht war das Eiscafé nicht gut besucht, weil die Leute im Westerwald lieber »drei Bällchen gemischt« bestellten als Flammende Versuchung oder Heißes Verlangen. »Eisbecher Heimliche Liebe« war das Erste, was ich lesen konnte. Wenig später las ich die Horoskope auf den Zuckertütchen vor, die Selmas Kaffee beilagen, ich las sie erst stockend und dann immer flüssiger. »Löwe«, las ich, »mutig, stolz, offen, eitel, kontrollwütig.« Der Zeigefinger des Optikers fuhr in meinem Vorlesetempo unter den Wörtern entlang, sehr langsam bei »kontrollwütig«, und als ich mein erstes Zuckertütchen flüssig vorgelesen hatte, bekam ich zur Belohnung eine kleine Heimliche Liebe mit Sahne.

Der Optiker nahm immer die mittlere Heimliche Liebe ohne Sahne. »Die große Heimliche Liebe schaffe ich nicht«, sagte er und sah Selma aus den Augenwinkeln an, Selma aber hatte keinen Sinn für Metaphern, auch wenn sie direkt vor ihrer Nase auf einem Eiscafétisch standen, mit Schirmchen.

Der Optiker war dabei, als Martin und ich vor Kurzem eine Popmusiksendung im Radio entdeckt hatten und von da an nichts anderes mehr hören wollten. Wir baten den Optiker, uns die Texte der Lieder zu übersetzen, obwohl wir sie auch auf Deutsch nicht verstanden. Wir waren zehn und wussten nicht, was im Eiscafé und im Radio mit brennendem Verlangen und heißem Schmerz gemeint war.

Wir beugten uns nahe an das Radio heran. Der Optiker war hoch konzentriert, das Radio war alt und rauschte, und die Sänger sangen sehr schnell.

»Billie Jean ist nicht meine Geliebte«, übersetzte der Optiker.

»Billie klingt eher nach einem Mann«, sagte Selma.

»Billie Jean ist auch nicht mein Geliebter«, sagte der Optiker entrüstet.

»Leise«, riefen Martin und ich.

»Was für ein Gefühl«, übersetzte der Optiker, »nimm deine Passion und lass es geschehen.«

»Vielleicht eher: deine Leidenschaft?«, fragte Selma.

»Richtig«, sagte der Optiker. Weil er wegen seiner Bandscheiben nicht so lange sitzen konnte, legten wir uns mit dem Radio und einer Decke auf den Boden.

»Hebe uns hoch, wo wir hingehören«, übersetzte der Optiker, »auf einen hohen Berg, wo die Adler weinen.«

»Vielleicht eher: schreien?«, fragte Selma.

»Das ist gehupft wie gesprungen«, sagte der Optiker.

»Leise!«, riefen wir, und dann kam mein Vater und sagte, dass es langsam Zeit zum Schlafengehen sei. »Noch ein letztes Lied, bitte«, sagte ich. Mein Vater lehnte sich in den Türrahmen.

»Worte kommen nicht leicht zu mir«, übersetzte der Optiker, »wie kann ich einen Weg finden, der dich sehen lässt, dass ich dich liebe.«

»Den Eindruck hat man gar nicht«, fand Selma, »dass Worte nicht leicht zu ihm kommen«, und mein Vater seufzte und sagte: »Ihr müsst dringend mal ein bisschen mehr Welt hereinlassen.«

Der Optiker nahm seine Brille ab und drehte sich zu meinem Vater um. »Das tun wir doch gerade«, sagte er.

Jetzt, nachdem der Optiker von Selmas Traum erfahren und allen gesagt hatte, dass er kein bisschen daran glaube, zog er seinen guten Anzug an, der mit den Jahren immer größer wurde, nahm einen Stapel angefangener Briefe vom Tisch, der ebenfalls mit den Jahren immer größer wurde, und packte ihn in seine große Ledertasche.

Er ging los zu Selmas Haus, er hätte den Weg auch blind oder rückwärts laufen können, er ging ihn seit Jahrzehnten beinahe täglich, allerdings ohne den guten Anzug, ohne den Stapel angefangener Briefe, aber immer mit der verschwiegenen Liebe im Leib, die jetzt auf den vielleicht letzten Drücker an die Luft wollte.

Während er mit großen Schritten zu Selmas Haus ging, schlug sein Herz laut gegen den Brustkorb, es schlug im Einklang mit der verschwiegenen Wahrheit, und die Ledertasche schlug bei jedem Schritt gegen seine Hüfte, die Ledertasche voller

Liebe Selma, es gibt da etwas, das ich dir schon seit Jahren

Liebe Selma, es ist, nach all den Jahren unserer Freundschaft, bestimmt falsch komisch seltsam bemerkenswert unerwartet überraschend falsch

Liebe Selma, anlässlich der Hochzeit von Inge und Dieter möchte ich dir endlich einmal

Liebe Selma, du wirst lachen, aber

Liebe Selma, dein Apfelkuchen war mal wieder unübertrefflich. Apropos unübertrefflich. Du bist

Liebe Selma, eben haben wir noch bei einem Glas Wein zusammengesessen, und du sagtest zu Recht, dass der Mond ja heute besonders voll und schön sei. Apropos voll und schön

Liebe Selma, mir geht das mit Karls Erkrankung sehr nahe, auch wenn ich das vorhin nicht so zum Ausdruck bringen konnte. Es macht einem deutlich, wie begrenzt das Leben hienieden unser Dasein alles ist, und deshalb möchte ich dir dringend

Liebe Selma, du hast vorhin gefragt, warum ich so still bin, und die Wahrheit ist

Liebe Selma, nun ist ja Weihnachten, ganz ohne Schnee, also so, wie du es gar nicht magst. Apropos mögen

Liebe Selma, anlässlich der Scheidung von Inge und Dieter

Liebe Selma, anlässlich des Festes der Liebe

Liebe Selma, anlässlich von Karls Beerdigung

Liebe Selma, ganz ohne Anlass

Liebst

Liebe Selma, im Gegensatz zu dir bin ich mir ganz sicher, dass wir bei »Unser Dorf soll schöner werden« gewinnen werden. Allein wegen deiner Schönheit ist uns der erste Platz ganz

Liebe Selma, es ist völlig klar, dass wir bei »Unser Dorf soll schöner werden« nicht gewinnen konnten. Unser Dorf muss nicht schöner werden. Es ist bereits vollkommen schön, weil du

Liebe Selma, schon wieder Weihnachten. Ich sitze hier und schaue hinaus in den Schnee und frage mich, wann er schmelzen wird. Apropos schmelzen

Liebe Selma, Weihnachten ist ja die Zeit der Geschenke. Apropos Geschenke. Was ich dir schon längst zu Füßen

Liebe Selma, mal was ganz anderes

Liebe Selma, übrigens, was ich dir immer schon mal

Liebe Selma, schon wieder Weihnachten

Liebe Selma VERDAMMT

Liebe Selma, als wir vorhin mit Luise und Martin im Schwimmbad waren, glänzte das Blau des Wassers in der Sonne wie das Blau deiner Au

Liebe Selma, danke für den Tipp wegen der Maulwurfshügel. Apropos Hügel. Beziehungsweise Berg. Ich kann nicht länger hinter dem Berg halten mit

Liebe Selma, apropos Liebe

Der Optiker eilte die Straße hinunter zu Selmas Haus, er sah nicht nach rechts oder links zu den paar Häusern, die da standen, in denen alle wahrscheinlich damit beschäftigt waren, ihre Herzen, ihren Verstand und ihre Nächsten zu beäugen, mit Wahrheiten herauszurücken oder diese Wahrheiten in Empfang zu nehmen. Wahrheiten, die sich vielleicht, sobald sie ans Licht kamen, als gar nicht so grausig erwiesen, Wahrheiten, die vielleicht aber auch ganz genauso schrecklich waren wie erwartet und bei denen den, der sie in Empfang nehmen musste, sofort der Schlag traf, und dann hätte Selmas Traum seinen Dienst getan.

Kurz dachte der Optiker über Wahrheiten nach, bei denen jemand der Schlag treffen könnte. Er fand, dass sie alle klangen wie Sätze aus der amerikanischen Vorabendserie, die Selma immer schaute. Im Gegensatz zu Selma fieberte der Optiker bei der Vorabendserie kein bisschen mit, aber bei Selmas Profil, da fieberte er mit, und die Vorabendserie gab ihm Gelegenheit, vierzig Minuten lang aus den Augenwinkeln Selmas Profil zu bestaunen, während Selma ihre Serie bestaunte. Wahrheiten, bei denen einen der Schlag treffen konnte, klangen wie die Sätze, die ganz am Ende der Serie gesagt werden, bevor die Titelmelodie ertönt und Selma eine Woche lang auf die Fortsetzung warten musste, Sätze wie »Ich habe dich nie geliebt« oder »Matthew ist nicht dein Sohn« oder »Wir sind bankrott«.

Der Optiker hätte nicht darüber nachdenken sollen, denn jetzt bekam er die Titelmelodie der Vorabendserie nicht mehr aus dem Kopf, eine für ein Liebesgeständnis vollkommen unangemessene Melodie, und schon wurde der Optiker auf seinem Weg von seinen inneren Stimmen angerempelt.

Der Optiker hatte in sich eine ganze Wohngemeinschaft voller Stimmen. Es waren die schlimmsten Mitbewohner, die man sich vorstellen konnte. Sie waren immer zu laut, vor allem nach zweiundzwanzig Uhr, sie verwüsteten die Inneneinrichtung des Optikers, sie waren viele, sie zahlten nie, sie waren unkündbar.

Die inneren Stimmen plädierten seit Jahren dafür, die Liebe zu Selma zu verbergen. Auch jetzt, auf dem Weg zu Selma, waren die Stimmen natürlich unbedingt dafür, die Wahrheit über die Liebe zurückzuhalten, jetzt, wo man im Zurückhalten doch so versiert, wo man jahrzehntelang so gut mit der Zurückhaltung gefahren sei. Es sei zwar ohne das Liebesgeständnis nichts sonderlich Schönes passiert, sagten die Stimmen, aber auch nichts sonderlich Schlimmes, und darauf komme es schließlich an.

Der Optiker, der sich sonst immer gewählt ausdrückte, blieb kurz stehen, hob den Kopf und sagte laut: »Klappe halten!«, denn er wusste, dass man sich mit inneren Stimmen auf keine Diskussion einlassen durfte, er wusste, dass die Stimmen äußerst geschwätzig werden konnten, wenn man sie nicht sofort anherrschte.

Und dann, wenn die Wahrheit heraus wäre, fuhren die unbeeindruckten Stimmen fort, würde vielleicht doch etwas Schlimmes passieren. Vielleicht, zischelten die Stimmen, fände Selma die Wahrheit, also diese korpulente, seit Jahren verschnürte Liebe des Optikers ganz besonders bedrohlich oder unansehnlich. Und wenn der Optiker tatsächlich heute stürbe, wenn er gemeint war mit Selmas Traum, dann wäre das Letzte, was Selma von ihm bekommen hätte, etwas so Unappetitliches wie seine seit Jahren nie gelüftete Liebe.

Der Optiker machte einen torkelnden Schritt nach rechts. Das tat er manchmal, er sah dann sekundenlang betrunken aus. Selma hatte ihn letztes Jahr überredet, sich wegen dieses plötzlichen Torkelns untersuchen zu lassen. Der Optiker war mit Selma in die Kreisstadt gefahren, ein Neurologe hatte den Optiker untersucht und nichts gefunden, weil innere Stimmen natürlich auch für Untersuchungsapparate unsichtbar sind. Der Optiker war nur zum Neurologen gefahren, damit Selma Ruhe gab, er hatte im Vorhinein gewusst, dass man nichts finden würde; der Optiker wusste, dass er torkelte, weil die inneren Stimmen ihn anrempelten.

»Klappe halten«, sagte der Optiker noch einmal lauter und ging schneller, »Selma findet nur sehr selten etwas bedrohlich oder unansehnlich.«

Damit hatte er völlig recht, und damit hatte er leider mehr gesagt, als er den Stimmen eigentlich hätte antworten sollen.

Aber die Liebe fände sie womöglich ausgerechnet doch unansehnlich, zischelten die Stimmen, es habe ja einen Grund, sagten sie, dass die Wahrheit so lange verborgen wurde.

»Feigheit war das«, sagte der Optiker und schob die Ledertasche auf die andere Hüfte, weil das Rempeln der Tasche und das Rempeln der Stimmen langsam begannen wehzutun.

»Besonnenheit war das«, sagten die Stimmen, »Angst ist ja manchmal doch ein guter Ratgeber«, sagten sie und summten die Titelmelodie der Vorabendserie.

Der Optiker wurde jetzt langsamer. Der Weg zu Selmas Haus, der eigentlich zehn Minuten dauerte, kam ihm plötzlich vor wie eine Tagesreise, eine Tagesreise mit sehr, sehr viel Gepäck.

Er ging an weiteren Häusern vorbei, Häusern voller verschwiegener Wahrheiten, die ans Licht wollten, und er fuhr jetzt alles auf, was er je an Sinnsprüchen über Mut gelesen hatte. Das war eine Menge. Immer, wenn er mit Selma in die Kreisstadt fuhr, weil Selma ihren Wochenendeinkauf erledigen wollte, wartete der Optiker vor einem abgelegenen Geschenkideengeschäft auf sie, denn dort konnte man gut heimlich rauchen, dort wurde man von Selma bestimmt nicht erwischt, nirgends war man vor ihr so sicher wie vor einem Geschenkideengeschäft.

Während Selma einkaufte, hatte der Optiker mittlerweile den ganzen immerhin 96-fächrigen Postkartenständer vor dem Geschenkideengeschäft gelesen und vollgequalmt. Auf jeder Postkarte war eine Landschaft abgebildet, die mit der Kreisstadt nicht das Geringste zu tun hatte, nämlich eine mit Meer, Wasserfall oder Wüste, und dazu jeweils ein Sinnspruch, der mit dem Optiker nicht das Geringste zu tun hatte. Jetzt, da er merkte, dass die Stimmen immer kraftvoller und er immer kraftloser wurde, sagte er sich die Sprüche auf, laut und schon kurz vor Selmas Haus.

»Mut tut gut«, sagte er.

»Das wüssten wir aber«, sagten die Stimmen.

»Am Mute hängt der Erfolg«, sagte der Optiker.

»Mute, Mute, Schnute«, sagten die Stimmen.

»Lieber auf neuen Wegen stolpern als auf alten Wegen auf der Stelle treten«, sagte der Optiker.

»Lieber auf alten Wegen auf der Stelle treten als auf neuen stolpern, unglücklich fallen und sich mehrere irreparable Wirbelbrüche zuziehen«, sagten die Stimmen.

»Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens«, sagte der Optiker.

»Bisschen kurzer Rest«, sagten die Stimmen, »irgendwie lohnt das jetzt auch nicht mehr.«

»Wer die besten Früchte ernten will, muss auf den Baum steigen«, sagte der Optiker, und die Stimmen antworteten: »Und dann fällt der Baum um, genau in dem Moment, wo er einen morschen Optiker in der Krone hat.«

Der Optiker ging jetzt sehr langsam. Die Tasche schlug nicht mehr gegen die Hüfte, das Herz nicht mehr gegen den Brustkorb. Die Stimmen summten die Melodie der Vorabendserie, sie säuselten: »Wir sind bankrott« und »Matthew ist nicht dein Sohn«.

»Klappe halten«, sagte der Optiker, »bitte.«

Selma saß vor ihrem Haus und sah den Optiker den Hang hochkommen. Sie stand auf und ging ihm entgegen. Auch der Hund, der zu Selmas Füßen gesessen hatte, erhob sich und ging mit, der junge Hund, dem man bereits ansah, dass er eines Tages riesig sein würde, so groß, dass der Optiker sich schon jetzt fragte, ob es sich überhaupt um einen Hund handelte, ob es nicht eher eine riesige, noch unentdeckte Art Landsäugetier war.

»Was murmelst du denn da?«, fragte Selma.

»Ich habe was gesungen«, sagte der Optiker.

»Du bist blass«, sagte Selma, »mach dir keine Sorgen. Dich trifft’s bestimmt nicht«, obwohl sie natürlich keine Ahnung hatte, wen es treffen würde.

»Schicker Anzug«, sagte Selma. »Allerdings wird er auch nicht jünger. Was hast du denn gesungen?«

Der Optiker schob seine Tasche auf die andere Hüfte und sagte: »Wir sind bankrott.«

Selma legte den Kopf schief, kniff die Augen zusammen und sah in das Gesicht des Optikers wie ein Hautarzt, der einen besonders eigentümlichen Leberfleck betrachtet.

Es war jetzt still im Optiker. Die inneren Stimmen schwiegen, sie schwiegen in der Gewissheit, dass jetzt nichts mehr schiefgehen konnte.

Es war still im Optiker bis auf einen Satz. Es war ein Satz, der sich in seinem Inneren ausbreitete wie vergossene Farbe, ein Satz, der mit so viel Kraft so viel Kraftlosigkeit verbreitete, dass dem Optiker war, als schwänden all seine Muskeln im Leib, als würden sämtliche Haare auf seinem Kopf, die noch nicht grau waren, das jetzt unverzüglich nachholen, als müssten die Blätter an den Bäumen, die um Selma und ihn herumstanden, unverzüglich welken und die Bäume selbst einknicken vor lauter Müdigkeit wegen des Satzes, der sich im Optiker ausbreitete, als müssten die Vögel aus dem Himmel fallen, weil der Satz eine plötzliche Flügellähmung auslöste, als müssten den Kühen auf der Weide die Beine schwach werden und als würde der Hund, der neben Selma stand und ein Hund war, was sollte er denn auch sonst sein, einfach durch die drei Worte im Optiker unverzüglich eingeschläfert werden, alles welkt, dachte der Optiker, alles verschrumpelt und fällt um und herunter und knickt ein durch den Satz: »Lieber doch nicht.«

Ein bislang unentdecktes Landsäugetier

Der Hund war letztes Jahr zu Selmas Geburtstag aufgetaucht. Mein Vater hatte Selma einen Bildband über Alaska geschenkt und zwinkernd gesagt: »Später kommt noch eine Überraschung.«

Selma war nie in Alaska gewesen, und sie wollte auch nicht hin. »Danke«, hatte sie gesagt und den Bildband zu den anderen Bildbänden ins Wohnzimmerregal gestellt. Mein Vater schenkte ihr jedes Jahr einen Bildband, wegen der Welt, die sie, wie er fand, dringend hereinlassen müsse.