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WARUM REISEN WIR? Woher der feste Glaube, dass es uns an einem anderen Ort besser ginge? Der Himmel blauer wäre, das Lebensgefühl »echter«, das Essen besser. Warum schreiben wir manchen Orten eine geradezu paradiesische Aura zu, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass das Paradies definitiv woanders sein muss? Geoff Dyer geht diesen Fragen in seinem neuen Buch auf den Grund. Mit einzigartiger Beobachtungsgabe und sprühendem Witz nimmt er uns mit auf seine Reisen durch die Welt. Er berichtet von dem Versuch, in Französisch-Polynesien Gauguins Traumland zu finden, von einem Trip in die Verbotene Stadt in Peking, auf dem er sich in seine Führerin verguckt, von seiner Reise ins eisige Norwegen, zu den Nordlichtern, die aber nicht den Anstand besitzen, rechtzeitig aufzutauchen. In einer furiosen Mischung aus Reisebericht, Essay, Kulturkritik und Fiktion erzählt er von erhebenden Momenten genauso wie von Situationen grandiosen Scheiterns. Kaum ein Autor vermag so anspruchsvoll, klug, elegant und lustig über die grundlegenden Fragen des Menschseins zu schreiben.

 

»Geoff Dyer ist wahrhaft einzigartig – eine dieser seltenen Stimmen in der Gegenwartsliteratur, die nie aufhört, einen zu überraschen, durcheinanderzubringen und zu begeistern.«

WILLIAM BOYD

autor

© Marzena Pogorzaly

GEOFF DYER ist der Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Sachbücher, darunter die viel gerühmte Jazz-Studie But Beautiful. Zuletzt erschienen Zona, eine Verneigung vor Andrej Tarkowskij, und Another Great Day at Sea über seinen Aufenthalt auf dem Flugzeugträger USS George H. W. Bush. Der u. a. mit dem Lannan Literary Award, dem E. M. Forster Award und dem Windham-Campbell Prize for Nonfiction ausgezeichnete Schriftsteller lebt zurzeit in Los Angeles. Bei DuMont erschienen Sex in Venedig, Tod in Varanasi (DuMont Taschenbuch 2016) und Aus schierer Wut (2016).

 

STEPHAN KLEINER, geboren 1975, lebt als freier Lektor und Übersetzer in München. Er übertrug u. a. Chad Harbach, Michel Houellebecq, Tao Lin und Hanya Yanagihara ins Deutsche.

Geoff Dyer

WHITE SANDS

ERLEBNISSE AUS DER AUSSENWELT

Aus dem Englischen
von Stephan Kleiner

 

 

 

 

Für Rebecca

 

 

Einen Ort wie den Río Napo in Ecuador besucht man nicht, um das spektakulärste Irgendwas zu sehen. Man tut es einfach, um zu sehen, was dort ist. Wir sind nur dieses eine Mal auf diesem Planeten, da schadet es nicht, uns mit ihm bekannt zu machen.

Annie Dillard

 

 

 

 

Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden.

Franz Kafka

Anmerkung

Wie auch mein früherer Kassenschlager Reisen, um nicht anzukommen ist dieses Buch eine Mischung aus fiktionaler Erzählung und Sachbuch. Wo liegt der Unterschied? Nun, in einem fiktionalen Text kann man Dinge erfinden oder verändern. Meine Frau heißt beispielsweise Rebecca, wohingegen im Buch die Frau des Erzählers Jessica heißt. Mehr ist es eigentlich nicht. Man nennt sich selbst »Erzähler« und ändert die Namen. Aber Jessica existiert auch im Sachbuchteil. Worauf es eigentlich ankommt, ist, dass das Buch nicht im Hinblick darauf gelesen werden muss, in welcher Entfernung von einer gedachten Trennlinie – einer Grenze, die bestimmte Formen und die Erwartungen, die sie hervorrufen, voneinander scheidet – man es verortet. In dieser Hinsicht ist White Sands sowohl das Ornament in der Mitte des Teppichs als auch der weiße Fleck auf der Landkarte.

GD, Kalifornien, September 2015

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Nahe meiner Grundschule in dem kleinen Ort, in dem ich aufwuchs (Cheltenham, Gloucestershire), gab es einen weitläufigen Park. Während der Schulzeit spielten wir dort in der großen Pause; in den Sommerferien verbrachten wir dort ganze Nachmittage mit Fußballspielen. In einer der Ecken des Parks befand sich etwas, das wir den »Höcker« nannten: ein Hügel aus festgewalzter Erde, aus dem Bäume wuchsen – die letzten Überreste des Landes, das geräumt und planiert worden war, um den Park entstehen zu lassen; entweder das, oder man hatte dort – was angesichts der Größe der Bäume unwahrscheinlich erschien – einen Teil des während der Arbeiten angefallenen Schutts aufgehäuft. Der Höcker war der Angelpunkt sämtlicher Spiele außer Fußball und Kricket. Innerhalb meiner persönlichen Landschaft war er der erste Ort, dem eine spezielle Bedeutung zufiel. Er war der Ort, den wir zum Mittelpunkt vieler Spiele machten: die Festung, die es zu stürmen galt, der Brückenkopf, der zu erreichen war (damals waren alle Spiele Kriegsspiele). Er war mehr als das, was er war, mehr als das, was sein Name bezeichnete. Hätten wir beschlossen, Peyote zu nehmen oder einen unserer Schulkameraden anzuzünden, dann hätten wir es dort getan.

Verbotene Stadt

Am Morgen des Tages, an dem ich die Verbotene Stadt besuchen sollte, meinem letzten Tag in China, erwachte ich erschöpft, so wie an jedem anderen Tag der Reise auch. Zuerst, in Schanghai, wegen des Jetlags und der Aufregung darüber, in China zu sein, dann – als es abends immer später wurde und die Anzahl der Drinks ebenso zunahm wie die morgendlichen Verpflichtungen –, weil ich nicht ausreichend geschlafen hatte; schließlich, in Peking, aufgrund einer wirkmächtigen Kombination aller genannten Faktoren, die als »jetlag-induzierte Schlaflosigkeit« bekannt ist.

Zum Frühstücken blieb keine Zeit. Es blieb nie Zeit zum Frühstücken. Min wartete an der Rezeption, überpünktlich wie immer, niemals müde, stets lächelnd und fröhlich – aber unter diesem Lächeln lag eine leichte Besorgnis, als sie fragte, ob ich gut geschlafen hätte.

»Wunderbar«, sagte ich. Das ist das Einfachste, wenn man eine furchtbare Nacht hinter sich hat – man sagt das, was am wenigsten Anstrengung beziehungsweise Erklärungen erfordert. Wir gaben uns die Hand – unsere Beziehung war irgendwie vor der Umarmungsphase stehen geblieben – und traten nach draußen. Schon um acht Uhr morgens herrschte eine Gluthitze. Der Fahrer stand in einem weißen Hemd und mit gegelten Haaren neben dem Wagen und rauchte. Sein Name war mir entfallen. Das heißt, eigentlich war es gar nicht sein Name, sondern sein Gesicht, das mir Probleme bereitete: Der Name des Fahrers war Feng, das wusste ich, aber das hier war sicherlich nicht Feng. Während ich am Vortag »Hallo, Feng« gesagt hatte, sagte ich diesmal also nur »Hi«, wohl wissend, dass, sollte es sich doch um Feng handeln, er sich an dem Abstieg in die Anonymität stören könnte. Lächelte er deshalb nicht? Nein, nein, das konnte nicht Feng sein … Das war das Blöde daran, so müde zu sein: Man vergaß Dinge, an die man sich hätte erinnern sollen – etwa die Gesichter von Menschen –, und zerbrach sich dann, während man seiner Wege ging, den Kopf darüber, was einen nur noch mehr erschöpfte.

Ich machte es mir in meinem Sitz bequem, während der Wagen seine schreckensreiche Reise in die Verbotene Stadt antrat. Peking war eine Albtraumstadt, die die Intensität New Yorks mit der Weite von Los Angeles verband. Wie viele Menschen lebten hier, zwanzig Millionen? Ein Drittel der Bevölkerung Großbritanniens in einer Stadt, die sich halb so groß wie England anfühlte. Wir fuhren auf einer achtspurigen Autobahn und kamen kaum voran. Mir war’s nur recht: eine Gelegenheit, das erste von mehreren Nickerchen im Laufe eines, wie Min mich bereits gewarnt hatte, »sehr kraftraubenden« Tages zu machen.

Ich schreckte auf, als der Wagen, der in eine Lücke vorgestoßen war, abbremste und zur Seite ausscherte. Ich hatte zwanzig Minuten lang geschlafen – es war so einfach, tagsüber in einem fahrenden Wagen einzuschlafen, viel einfacher als nachts in einem luxuriösen Hotelbett. Und diese zwanzigminütigen Nickerchen waren unglaublich belebend – ungefähr zwanzig Minuten lang. Min telefonierte wie üblich mit einem ihrer zwei Telefone, um den sich laufend ändernden Terminplan des Tages festzuzurren. Sie sagte, sie habe eine Führerin engagiert, die uns die Verbotene Stadt zeigen würde. Mir rutschte das Herz in die Hose. Mir rutscht ganz gern mal das Herz in die Hose, und auch wenn wenige Wörter es so rasch und so tief rutschen lassen wie »Führer« oder »Führerin«, gibt es viele, die es wie einen langsamen Stein sinken lassen: Wörter wie »müssen« und »zuhören«, wie in »einem Führer zuhören müssen«, der mir Dinge über die Verbotene Stadt erzählt, die ich ebenso gut zu Hause in einem Buch nachlesen könnte, wenn jedes Bedürfnis, das tatsächlich zu tun, spurlos verschwunden wäre.

Wir waren am Eingang zur Verbotenen Stadt angekommen. In der Nacht zuvor war ich in einem anderen Wagen im chinesischen Mondlicht daran vorbeigefahren, von einem Abendessen kommend, bei dem es zwanzig verschiedene Tofusorten gegeben hatte, auf dem Weg zu einer Bar mit Blick über die mondbeschienenen Dächer der Verbotenen Stadt. Der Höhepunkt des Essens waren Spareribs gewesen, Spareribs aus Tofu, die so fleischig geschmeckt hatten, wie man es sich als Fleischliebhaber nur erträumen konnte, aber ohne den Schrecken, der jedem Fleischgenuss zugrunde liegt. Aus dem Tofufleisch hatte sogar ein glänzender Knochen geragt, der aus einer Lotuswurzel bestand. Drei Dinge hatten mich China im Voraus fürchten lassen: die Luftverschmutzung, die Raucherei (eine Untergruppe der Luftverschmutzung) und das Essen. Die Luft war sauber gewesen, ich war kaum Rauchern begegnet, und das Essen – der Tofu – hatte eine neue Simulationsstufe erreicht.

Ich stieg aus dem Wagen und spürte die Hitze augenblicklich wie einen Schlag ins Gesicht, obwohl es noch nicht einmal neun Uhr war. Die Führerin werde sich etwas verspäten, sagte Min, bevor sie davoneilte, um Tickets zu kaufen, daher würden wir uns drinnen mit ihr treffen.

»Prima«, sagte ich und hoffte, die Führerin werde uns inmitten der Massen, die durch das Tor strömten, als wäre es der einzige Tag im Jahr, an dem der Zutritt nicht verboten war, vielleicht nicht finden können. Min kehrte mit den Tickets zurück, und wir trippelten im Gänsemarsch auf den gewaltigen Hof – auf dem es bereits von Menschen wimmelte, obwohl wir nur wenige Augenblicke nach dem Öffnen der Ticketschalter eingetroffen waren. Dieser erste Anblick war fantastisch: rote Wände und sich biegende goldene Dächer, die wie Boote unter einem Ozean aus sauberem Himmel lagen. Wir gingen auf den nächsten Hof. Auch hier wimmelte es von Leuten, aber die Verbotene Stadt war so groß wie Cheltenham, und es gab reichlich Platz für alle. Herrje, es ging immer weiter, und jedes Fitzelchen sah exakt genauso aus wie jedes andere Fitzelchen: Höfe, groß wie Fußballfelder, Klöster, Schrägdächer mit Zimmern darunter. Zweifellos würde uns die Führerin erklären, dass all diese Fitzelchen sich eigentlich gar nicht ähnelten, dass jeder Teil seine ganz eigene und öde Funktion habe, die ihn von all den anderen unterscheide. Ein Grund mehr, es jetzt in einem Zustand vollendeter Ignoranz zu genießen, ohne sich Mühe geben zu müssen, so zu tun, als würde man der Führerin zuhören, die einem das Erlebnis mit unverlangtem Wissen und unangeforderter Expertise zernagen wollte.

Min befand sich in immer regerem Austausch mit dieser Führerin, und plötzlich winkte sie ihr. Und da war sie und winkte zurück. Ihr pechschwarzes Haar fiel ihr geschmeidig auf die Schultern. Sie hatte einen dunkleren Teint als viele andere Besucher der Verbotenen Stadt, die so blass waren, dass sie unter pink leuchtenden Schirmchen Schutz vor der gleißenden Sonne suchten. Sie lächelte über das ganze Gesicht und trug ein langes, hellgrünes, ärmelloses Kleid. Sie ging auf Min zu, nahm die Sonnenbrille ab und umarmte sie. Die Brille hielt sie hinter Mins Rücken in einer Hand. Ihre Augen waren braun, rund und zugleich ein wenig länglich. Mir gefiel ihr Selbstvertrauen (es gab mir Selbstvertrauen, auch wenn ich mir zugleich wünschte, ich hätte keine kurze Hose angezogen), die Art, wie sie dastand in ihren Sandalen mit leichtem Absatz. Ihre Zehennägel waren dunkelblau lackiert. Sie hieß Li. Wir reichten einander die Hand. Ein bloßer Arm wurde ausgestreckt, und dann verschwanden ihre Augen wieder hinter der Sonnenbrille. Die dreißig Sekunden, die seit ihrem Winken vergangen waren, hatten ausgereicht, um alle vorherigen Annahmen bezüglich einer Führerin in ihr Gegenteil zu verkehren. Eine Führerin war eine ausgezeichnete Idee. Was konnte es Schöneres geben, als die Geschichte dieses faszinierenden Ortes auf das Ausführlichste, in allen fesselnden Einzelheiten dargeboten zu bekommen? Ohne etwas Wissen darüber aufzunehmen, würde ich diesen Ort gar nicht wirklich sehen, würde bloß in einem Nebel aus Ignoranz und leichter Gleichgültigkeit durch ihn hindurchtreiben.

Wir drei traten aus dem heißen Schatten in die sengende Sonne auf dem Hof oder wie man das sonst nannte – Li ging nicht näher darauf ein. Ich sah ihr zu, wie sie ins Sonnenlicht hinausglitt, und wir setzten unsere Tour durch die Verbotene Stadt fort. Wir spähten in ein paar staubig wirkende Räume hinein, doch außer erschöpften Betten und deprimierten Stühlen gab es darin nichts zu sehen. Nicht, dass es darauf angekommen wäre: Die Inneneinrichtung spielte eine Nebenrolle, verglichen mit dem rot-goldenen Äußeren von unvorstellbaren Ausmaßen – die zu benennen Li es offenbar nicht eilig hatte. Sie schien ihre Rolle so widerwillig einzunehmen, dass ich sie mit ein paar Fragen anstupste, deren Beantwortung ich unter normalen Umständen gefürchtet hätte.

»Ich fürchte, ich weiß eigentlich gar nichts über die Verbotene Stadt«, sagte sie.

»Ich dachte, Sie wären eine Führerin.«

»Nein, ich bin nur eine Freundin von Min. Sie hat mich gebeten, mitzukommen.«

Ein Morgen wie dieser zeigt einem, dass man verrückt sein müsste, um Selbstmord zu begehen. Denk darüber nach, so viel du willst, aber schreite nie zur Tat. Das Leben kann sich im Laufe eines Augenblicks bis zur Entstellung verbessern. In diesem Fall war das Leben ohnehin schon ziemlich gut gewesen, und dann war es noch besser geworden – und es wurde sogar immer noch besser, als Lin sagte: »Wenn Sie möchten, dass ich die Führerin spiele, kann ich es versuchen.«

»Ja, nur zu. Probieren Sie es doch mal.«

»Also, mal sehen. Früher lebten hier einmal sämtliche Frauen des Kaisers. Sie konnten nicht fort. Sie konnten gar nichts tun, außer herumzulaufen. Es muss so langweilig gewesen sein. Sodass alle ständig Ränke schmiedeten. Gar nicht unbedingt, um den Kaiser oder eine seiner Frauen loszuwerden, sondern um die Zeit totzuschlagen. Es wurde pausenlos intrigiert.«

»Ihr Englisch ist fantastisch. Intrigiert.«

»Danke.«

»Wo haben Sie es gelernt?«

»Hier in Peking. Und dann in London. Ich habe in Camden Town gelebt. Es war …« Ihrer Sprachkünste zum Trotz brach sie ab, suchte nach einer weniger faden Variante von »sehr schön«. »Na ja, es war ziemlich fürchterlich, wenn ich das so sagen darf.« Ah, sie hatte befürchtet, mich vor den Kopf zu stoßen.

»Was gibt es noch zu sagen? Nicht über Camden, das ist für seine Widerwärtigkeit bekannt. Über das hier – die Frauen, den Kaiser.«

»Die Frauen wollten nur, dass der Kaiser sie liebte.« Sie sagte es mit solcher Überzeugung, dass es wirkte, als erzählte sie nicht bloß die Geschichte dieser Frauen – sie hielt ein Plädoyer für sie.

»Und was wollte er?«

»Mehr Frauen«, sagte sie. »Und seine Ruhe vor den Frauen, die er schon hatte.« War Li verheiratet? Ich warf einen Blick auf ihre langen, unberingten Finger. Beim Betrachten ihrer Finger und Zehen fühlte ich mich weniger ungeschützt als bei allem, was dazwischenlag.

Min, stets um mein Wohl besorgt, hatte ein paar Flaschen Wasser gekauft, die in der Sonne funkelten, als sie damit zu uns herüberkam. Wir zogen uns in den Schatten zurück und schlenderten langsam weiter, während wir das Wasser in großen Schlucken tranken. Ich sah Li beim Trinken zu: ihre Hand, die Flasche, das Wasser, ihre Lippen. Wir setzten uns auf eine niedrige Mauer und blickten auf das zertrampelte Gras und das Pflaster des Hofs.

»Zur Linken«, sagte Li, »können Sie die Halle zur Bildung der Gefühle bewundern.« Wir saßen im Schatten und blickten auf eine sonnenbeschienene Tafel, auf der »Halle zur Bildung der Gefühle« stand.

»Sie sind zu bescheiden«, sagte ich. »Sie wissen sehr viel über diesen Ort. Sie verfügen über geheimes Wissen, das der Tourist aus der Fremde niemals auf eigene Faust erlangen könnte.« Die Halle zur Bildung der Gefühle hatte es mir angetan. Das klang so viel heimeliger, als in der Bodleian Library zu sitzen und sich dröge Bücher zu bestellen, aber vielleicht war es auch fordernder – und zudem erhellend. Auf eine mir vage chinesisch erscheinende Weise war das Schild, das den Weg zur Halle zur Bildung der Gefühle wies, womöglich die Halle zur Bildung der Gefühle. Der Gedanke gefiel mir, er signalisierte, dass ich bereits dabei war, meine Gefühle zu bilden, die sich nahezu ausschließlich auf Li auszurichten begannen. Als mir bewusst wurde, dass dem so war und wie unhöflich es erscheinen mochte, riss ich meinen Blick von ihr los und plauderte mit Min, bis diese einen Telefonanruf entgegennehmen musste, um den Ablaufplan für den Nachmittag zu aktualisieren.

Zu dritt liefen wir in die Richtung, in die das Schild wies, und kamen an einen leeren Raum, der sich von den übrigen leeren Räumen durch nichts unterschied, obwohl die darin enthaltene Leere eine qualitativ andere sein musste als jene, die im ungebildeten Drumherum zu finden war.

In der Sonne hielten wir es nie länger als fünf Minuten am Stück aus. Es war wie im Backofen, der Himmel von einem angebrannten Blau. Als ich einen Monat zuvor um zweiundzwanzig Uhr an einem bewölkten Abend durch London gelaufen war, hatte mir jemand gesagt, so sehe es in Peking tagsüber aus: nahezu finster vor lauter Luftverschmutzung. Ich hatte zu der Zeit Husten gehabt, und auch das war offenbar ein Vorgeschmack auf Peking gewesen; es war unmöglich, dort nicht einer schweren Hals- oder Lungeninfektion zu erliegen. Ich erzählte Li, was ich gehört hatte: Die Luftverschmutzung sei so heftig, man könne sie vom Himmel fallen sehen.

»Vor ein paar Jahren haben wir den Luftverschmutzungsrekord gebrochen. Wir haben nicht nur den Rekord gebrochen. Auch das Gerät ging kaputt. Die Verschmutzung war so schlimm, dass das Mess… wie sagt man?«

»Messinstrument.«

»Ja, dass das Instrument sie nicht messen konnte.«

»Sie hat die Skala gesprengt.«

»Es war furchtbar …«

Li zog ihr Telefon hervor; sie hatte eine Luftqualitäts-App, die bestätigte, dass die Luft heute – vergleichsweise – kristallklar war. All die in China lebenden Ausländer, die ich kennengelernt hatte, hatten ebenfalls solche Apps, aber die Quelle ihrer Messdaten war die US-Regierung, deren Werte stets doppelt so hoch waren wie die offiziellen chinesischen Werte. All das spielte keine Rolle, als wir durch die auf magische Weise saubere, aber noch immer backofenheiße Luft der Verbotenen Stadt liefen, die ihrem Status als Weltwunder spielend gerecht wurde; falls sie denn eines der Weltwunder war; mir fielen nur zwei weitere ein: die Hängenden Gärten von Babylon und die Pyramiden. Existierten die Hängenden Gärten überhaupt noch? Hatten sie das je getan – im solipsistischen Sinn von »zu meinen Lebzeiten« –, oder waren sie als bloßes mythisches Überbleibsel einer verschwundenen Vergangenheit auf die Liste gesetzt worden? Dem ganzen Konzept sieben imposanter Wunder haftete heutzutage etwas Elegisches an: ein Exzellenzstandard, der durch »Löffellisten« von hundert Dingen, die man tun muss, bevor man stirbt, verdrängt worden ist, ob es dabei nun um Bungeesprünge über dem Sambesi geht oder darum, auf einer Fullmoon-Party in Ko Pha-ngan auf Pilzen den Verstand zu verlieren, was ich beides noch nicht getan hatte und was beides auf meiner Liste von Dingen stand, die es tunlichst zu vermeiden galt, bevor ich den Löffel endgültig abgab.

Auf dem Weg zum Kaiserlichen Garten rasteten wir in einer Ecke eines weiteren Hofs. Li trank Wasser. Als sie die Flasche an die Lippen hob, konnte ich ihre haar- und schweißlose Achselhöhle sehen. Und eine kleine Narbe an ihrem Mundwinkel. Man sah sie nur, wenn das Sonnenlicht darauffiel, wenn diese Seite ihres Gesichts der Sonne zugewandt war. Min schlug vor, ein Foto von uns beiden zu machen, von Li und mir zusammen. Ich legte meinen Arm um Li, wagte aber nicht, ihre nackte Haut zu berühren. Als ich das Foto später betrachtete, schien es mir durch meine wie eine Kartoffel geballte Hand verschandelt zu sein.

»Du siehst wirklich gut aus«, sagte Min, schaute auf das Display auf der Rückseite der Kamera und machte noch ein weiteres. Sie sagte ständig solche Dinge. Tatsächlich sagte eine überraschende Anzahl ihrer Kolleginnen aus dem Verlag dasselbe, und ich hörte diese netten Dinge nur allzu gern. In gewisser Weise mochte es sogar stimmen. Der Freund, der mich vor der Luftverschmutzung gewarnt hatte, hatte mich auch gewarnt – im Sinne von »ermutigt« –, chinesische Frauen fänden weiße Männer mittleren Alters attraktiv. Stimmte das, oder war es eine Art Spiegelprojektion des Gelbfiebers, dem westliche Männer verfielen? So oder so verführte mich der stete Strom von Komplimenten, der von Min und ihren Kolleginnen ausging, in Kombination mit der Tatsache, dass alle hier so jung aussahen, dazu, mich wie ein attraktiver junger Mann zu benehmen. So sehr gewöhnte ich mich an dieses neue Selbstbild, dass ich auf der Nanjing Lu in Schanghai einen mir entgegenkommenden westlichen Mann mittleren Alters mit einem Ausdruck kaum verhohlener Verachtung anstarrte. Das verspiegelte Fenster war so auf Hochglanz poliert, dass die schreckliche Wahrheit eine Zeit lang brauchte, um hindurchzudringen. Ich war nahezu buchstäblich meinem Spiegelbild begegnet: das Selbst als ein rosiger anderer. Jetzt, wo Min mir schmeichelte und ich mich mit Li fotografieren ließ, war das eine verblasste, möglicherweise trügerische Erinnerung. Und Mins Vermögen, mir ein gutes Gefühl mir selbst und der Welt gegenüber zu geben, kannte keine Grenzen. Es sei ihr zu heiß, sagte sie. Sie müsse noch den Fahrer instruieren und werde uns in einer halben Stunde draußen treffen.

»Wirklich? Bist du sicher?«, sagte ich und war froh, dass ich meine Sonnenbrille trug, für den Fall, dass sich irgendwelche Anzeichen freudiger Erregung auf meinem Gesicht zeigen sollten, auf meinem gebräunten, scharf geschnittenen Gesicht. Min war sich sicher; wir würden uns in zwanzig Minuten sehen. Sie begann den Weg zurückzugehen, den wir gekommen waren, und hielt sich dabei an die schattigen Ränder. Jetzt waren da also nur noch wir beide, nur Li und ich und etwa eine Million weiterer Besucher, die durch die Verbotene Stadt spazierten. Es wäre die natürlichste Sache der Welt gewesen – und absolut unmöglich –, sie bei der Hand zu nehmen, Hand in Hand durch die Verbotene Stadt zu schlendern. Es wäre schön gewesen, den restlichen Tag so dahinzuspazieren, wie Adam und Eva in einem überfüllten Paradies des Ostens aus vergangener Zeit, bis wir zu einem fernen, schattigen Platz kamen, wäre schön gewesen, diesen Platz gefunden zu haben und uns dort hinzusetzen, wo niemand uns sehen könnte, fernab der neugierigen Augen von Ehefrauen und Besuchern, weit weg von der Intrige und doch mitten in ihrem Zentrum. Sie trank aus der von der Sonne erhitzten Flasche, bis sie leer war. Das Wörtchen, das in alldem immer wieder vorkam – »bis« –, tanzte und hallte in meinem Kopf, bis es Zeit war, zu gehen und Min zu treffen.

Wir gingen durch das Tor, fanden Min, den Wagen und den Fahrer, der in einem weißen Hemd und mit gegelten Haaren dastand und rauchte – aber lächelnd, froh, mich zu sehen. Das war doch Feng, auf jeden Fall.

»Anderes Auto als heute Morgen, gleiches Modell«, erklärte Min. »Und anderer Fahrer. Gleicher Fahrer wie gestern.« Sie nahm hinter ihm, hinter Feng, Platz. Li setzte sich nach vorn, ich setzte mich nach hinten neben Min, hinter Li. Wir fuhren zehn Minuten lang, bis Feng an einem mir unbekannten Ort in der Stadt anhielt, um Li aussteigen zu lassen. Ich kraxelte auch hinaus, umgeben von der tosenden Hitze des Verkehrs. Sie musste wieder zur Arbeit. Es war angenehm, ihre Hand zu schütteln und sie zum Abschied auf die Wange zu küssen, auf die Seite ihres Gesichts mit der kleinen Narbe. Wir sprachen darüber, was wir abends vorhatten. Sie reichte mir ihre zweisprachige Visitenkarte, die sie mit beiden Händen hielt.

»Ich habe leider keine Karte«, sagte ich. »Aber vielleicht können wir uns ja später noch treffen, nach dem Abendessen. Ich würde mich freuen, wenn es klappen würde.«

Ich hatte es beiläufig gesagt, aber noch nie im Leben hatte ich etwas so ernst gemeint. Zu Teenagerzeiten hatte mir der Gedanke, mich mit einem Mädchen zu verabreden, das ich gerade erst kennengelernt hatte, vor Aufregung fast das Herz zerplatzen lassen. War das der physiognomische Ursprung des Ausdrucks in jemanden verknallt sein?

Sie würde sich auch freuen, wenn es klappte, sagte sie noch, bevor sie sich umwandte und fortging. Ich schob ihre Visitenkarte vorsichtig in eine der vielen Taschen meiner Shorts und stieg wieder in den kühlen Wagen. Als ich aus dem Fenster sah, war sie schon in der Masse verschwunden. Der Wagen tastete sich in den unablässig dahinströmenden Verkehr hinein. Während ich mit Min plauderte, berührte ich die scharfen Ränder der Karte, widerstand der Versuchung, sie herauszuholen und mich eifrig über die erstaunlichen Informationen zu beugen, die auf ihr verzeichnet waren: ihre Telefonnummer, ihre E-Mail-Adresse. Es hatte einmal eine Zeit gegeben – sie schien von meinen Teenagerjahren bis in meine frühen Vierziger hinein gedauert zu haben –, da war es so schwierig gewesen, an die Nummer einer Frau heranzukommen, dass ein Abend als großer Erfolg betrachtet wurde, wenn man mit einer unleserlich auf einen Fetzen Papier gekritzelten Telefonnummer nach Hause kam: einer Nummer, die man voller Angst wählte, unsicher, ob nicht ihr Vater oder, später dann, ihr Freund abheben würde. Bei genauerer Betrachtung hatte Li ihre Nummer etwas zögerlich herausgegeben; in Asien war das normalerweise das Erste, was man tat.

Der Nachmittag war, wie Min versprochen hatte, kraftraubend: eine Folge von Interviews, was bedeutete, wieder und wieder mit immer weniger Überzeugung dasselbe zu sagen, wobei ich dann und wann mitten im Satz gedanklich abschweifte und vergaß, worüber ich gerade sprach, bereits gesprochen hatte oder noch sprechen wollte. Ich hatte von Soldaten gehört, die so erschöpft waren, dass sie beim Marschieren schlafen konnten, aber diese Option stand dem müden Autor nicht zur Verfügung, der über seine Arbeit ausgefragt wurde und sich dabei stetig des Problems bewusst war, dass er, während er über sein Buch – eine Geschichte der Improvisationsmusik, zu deren zentralen Themen die Notwendigkeit gehörte, ganz und gar im Moment zu leben – redete oder darauf wartete, dass der Dolmetscher die Antworten übersetzte, entweder Li vor seinem inneren Auge noch einmal durch die Verbotene Stadt gehen sah, ihre bloßen Schultern, das grüne Kleid, oder dem Abend entgegenfieberte und den frühestmöglichen Zeitpunkt berechnete, an dem man sich wiedersehen könnte.

Als das Interview beendet war, befand ich mich in einem Zustand wachkomaartiger Unaufmerksamkeit. Min rief Feng von der Eingangshalle des Gebäudes aus an. Sie sagte, er stecke im Verkehr fest. Nicht sehr weit entfernt, aber er werde es keinesfalls innerhalb der nächsten Stunde zu uns schaffen. Die Bürgersteige waren voller Menschen, die Taxis heranzuwinken versuchten, aber jedes der Taxis war besetzt, und keines von ihnen bewegte sich in dem schrecklichen Verkehr und der fürchterlichen Hitze. Am schnellsten, sagte Min, würde es mit der U-Bahn gehen.

»Wir müssen improvisieren!«, sagte sie. »Auch wenn die Bahn sehr voll sein wird.«

»Das macht nichts«, sagte ich. »In jeder Stadt, die halbwegs etwas auf sich hält, ist die U-Bahn überfüllt.«

Aber keine andere U-Bahn war so überfüllt wie die von Peking. Jeder Teil des Vorgangs – Tickets kaufen, durch die Drehkreuze und Gänge (sicherlich die längsten, die es in irgendeinem U-Bahn-System auf der Welt gab) gehen – kostete Kraft, und jeder Abschnitt der U-Bahn-Stationen war bis zum Bersten mit Menschen gefüllt. Jeder Gang, durch den wir mussten, bestand von vorne bis hinten aus einer dichten Masse von Bürgern. Wir mussten zwei Mal umsteigen und uns beide Male anstellen, als der Zug einfuhr, aber nicht weil eine Hoffnung bestanden hätte, in den Wagen einzusteigen, sondern um für den übernächsten Zug hoffentlich in eine bessere Position zu gelangen. Niemand drängelte, niemand schubste; alle hatten sich darauf eingestellt, sich in Massen zu bewegen, und kümmerten sich um ihre eigenen dicht gepackten Angelegenheiten.

Ich war völlig zerschlagen, als ich zurück ins Hotel kam, zurück in das Zimmer, in dem ich zehn Stunden zuvor völlig zerschlagen erwacht war, aber mir blieb keine Zeit, um mich durch ein Nickerchen wieder zusammenzusetzen, wie ich es in dem Wagen vorgehabt hatte, der uns vor dem wirklich zerrüttenden Erlebnis der U-Bahn-Fahrt zurück zum Hotel hätte abholen sollen. Mir blieb gerade genug Zeit, um zu duschen und frische Unterwäsche, ein blaues Hemd – das letzte saubere, das ich noch in Reserve hatte – und Jeans anzuziehen, bevor ich mich mit Min an der Rezeption traf. Wir wollten zu einem Restaurant, um Peking-Ente zu essen. Das, erklärte Min, werde das symbolische Ende meines Besuchs markieren: dass ich in einem Restaurant in Peking, das für seine Peking-Ente berühmt sei, Peking-Ente essen würde.

Das Restaurant war nur einen fünfminütigen Fußweg entfernt. Die Fotos im Aufzug zeigten Dutzende politische Führer und Prominente aus aller Welt beim Peking-Ente-Essen, wobei das Restaurant auf den Fotos nicht zwingend wie das aussah, das wir betraten, als sich die Türen des Aufzugs öffneten.

Wir aßen zu sechst in einem Séparée. Qiang, der Geschäftsführer des Verlags, war dort und Wei, die ich seit ein paar Tagen nicht gesehen hatte. Sie trug Jeans und ein weißes T-Shirt, auf dem in chinesischen Schriftzeichen irgendetwas stand, und hatte wie immer einen pinken Rucksack aus einem weichen, flauschigen Material dabei. Als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, hatte ich sie für Qiangs Tochter gehalten, die ihn während der Schulferien begleitete. Ich hatte angenommen, in dem Rucksack habe sie ein paar Spielsachen oder Computerspiele, um sich nicht zu langweilen – bis ich ihn ihr irgendwann reichte und feststellte, dass er ungefähr eine Tonne wog. Er war bis obenhin vollgestopft mit Büchern, einem Laptop und verschiedenen elektronischen Geräten. Sie war vierundzwanzig und Leiterin der Marketing-Abteilung. Dass ich sie ein paar Tage lang nicht gesehen hatte, lag daran, dass sie sich um einen anderen Autor gekümmert hatte, Jun aus Hongkong. Sie machte uns miteinander bekannt; wir schüttelten uns die Hände. Jun war genauso alt wie ich, wirkte aber – ungewöhnlich für einen Teil der Welt, in dem alle zehn Jahre jünger aussehen, als sie sind – fünf Jahre älter.

So wie die Verbotene Stadt wurde auch die Peking-Ente ihrem beachtlichen Ruf gerecht, aber während ich Entenscheiben in die Pfannkuchen einrollte, Frühlingszwiebeln und dies und das hinzufügte und dabei laufend das Essen lobte, war ich stets darauf bedacht, mir nicht zu viel Zeit zu lassen, damit ich Li wiedersehen konnte, auch wenn es gar keinen Sinn hatte, sich zu beeilen, da sie selbst noch zu Abend aß und ihr Essen sicherlich nicht hinunterschlang, sich den Kopf nicht ausschließlich darüber zerbrach, wann wir uns endlich wiedersehen würden.

Ich hatte bald etwas anderes, worüber ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Mein Telefon war im Hotel geblieben, in meinen Shorts, weshalb Min – hilfsbereit wie immer – Li anrief und ein Treffen vereinbarte. Es würde in einer Bar stattfinden, die nur zwanzig Minuten entfernt war, und Jun, Min und Wei würden mitkommen. Natürlich hatte ich mir den Abend ein wenig anders vorgestellt, aber vielleicht war es keine schlechte Idee, mein Verlangen etwas einzudämmen, bevor es ins Verzweifelte zu spielen begann. Wir bekamen sofort ein Taxi; die Straßen waren so gut wie leer. Zehn Minuten lang brausten wir dahin, dann mussten wir abbremsen, bis wir nur noch vorankrochen, um schließlich mit dem Kriechen aufzuhören, als der Verkehr um uns herum gänzlich erstarrte. Eine Stunde später saßen wir noch immer im Auto, hatten zwanzig Minuten lang gewartet – die Ampeln blieben keine dreißig Sekunden lang grün –, um nach links in die Straße einzubiegen, in der die Bar lag. Hätten wir das früher gewusst, hätten wir vorzeitig von Bord gehen, innerhalb von fünf Minuten zur Bar laufen und fünfzehn Minuten einsparen können – eine Viertelstunde. Nur dass die Bar, als wir endlich ausstiegen, nirgends zu sehen war. Die Straße war voller Bars – fürchterliche Orte, manche hatten Poledance auf dem Programm, alle waren sie mit jungem Jungvolk gefüllt, mit der jugendlichen Jugend –, als handelte es sich um eine funkelndere, etwas weniger grässliche Inkarnation von Camden Town. Sicherlich hätte sie keine dieser Bars ausgewählt. Und falls doch, wo zur Hölle war diese Bar? Wo war sie? Weitere Zeit verrann sinnlos. Eine Minute war wie fünf Minuten. In zehn Stunden würde ich in einem Flieger nach London sitzen. Dann sah ich sie, winkend, wie sie es am Morgen in der Verbotenen Stadt getan hatte, aber ohne die Sonnenbrille. Sie trug ein blaues Kleid, kürzer als dasjenige, das sie zuvor getragen hatte. Dunkler auch, knielang, aber ebenfalls ärmellos, den Blick auf dieselben Schultern und Arme freigebend. Kein Wunder, dass wir den Laden nicht gefunden hatten: Sie stand vor seiner Nail Bar, einem Nagelstudio. Ich schaute auf ihre Füße hinunter, ihre Sandalen, ihre Zehen, ihre blauen Nägel. Min machte Li mit Jun und Wei bekannt, und wir folgten ihr in einen Durchgang, der auf die Seite des Nagelstudios führte. Wir kamen an einen verbeulten Fahrstuhl, groß genug, um einen Patienten auf einer Liege in einem unterfinanzierten Krankenhaus nebst verdrossenem Personal und mehreren besorgten Familienangehörigen zu beherbergen. Die Türen schlossen sich; der Fahrstuhl rumpelte aufwärts, bis sich die Türen wieder öffneten, um den Blick auf einen düsteren Flur freizugeben, der jeglicher besonderen Kennzeichen entbehrte, abgesehen von ein paar unvollständig entfernten Graffitis. Es war ein Abend, an dem eine Enttäuschung die andere jagte, unterbrochen von aufkeimender Hoffnung und neu geweckter Erwartung. Ich folgte Li, die ein paar Betonstufen hinaufging, wobei sich ihre Wadenmuskeln an- und entspannten. Aber wohin führte sie uns? In eine Crack-Höhle?

Nein! In eine Dachbar. Als wir in die warme Nacht hinaustraten, war es wie ein Traum von Ibiza, eines der nächtlichen Weltwunder.

»Wie heißt diese Bar?«, fragte ich.

»Es ist die Bar zur Bildung der Gefühle«, sagte sie. »Haben Sie das Schild nicht gesehen?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass da kein Schild war. Aber vielleicht habe ich nach der falschen Art von Schild Ausschau gehalten. So was wie ›Unberechen-Bar‹ oder ›Bar jeden Anstands‹.« Bar-Wortspiele, die bei Li auf wenig fruchtbaren Boden fielen.

Die Bar war auf drei Seiten von glänzenden, neuen Bürotürmen umgeben – einige von ihnen waren so neu, dass sie noch nicht einmal fertig waren. Auf der vierten Seite erstreckte sich die Stadt in die Unendlichkeit: Wolkenkratzer mit Spitzen in Neonfarben, die blinkenden Lichter von Flugzeugen. Die Musik war nicht laut. Sie hatte den perfekten Ort gewählt, aber es war nicht ganz perfekt: Man konnte nirgends sitzen. Li stellte uns zwei Freundinnen vor, die früher gekommen waren und schon seit einer Weile vergeblich nach einem freien Tisch suchten. Unsere beste Option war, uns alle zusammen auf die Kissen der psychedelischen Gondel in der Mitte des Dachs zu quetschen, aber dann hätten wir ebenso gut drinnen sitzen können statt draußen mit den Sternen über uns. Von diesen Sternen war nichts zu sehen, dafür gab es zu viel Lichtverschmutzung – apropos, wo war eigentlich der Mond von letzter Nacht? –, aber das Licht war gar keine Verschmutzungsart, sondern hatte seine ganz eigene Magie. Wir liefen planlos umher, was an eine stehende Variation dessen erinnerte, was wir im Wagen erlebt hatten, dem Ziel so nah und doch in einer frustrierenden Entfernung davon feststeckend. Vereinzelt standen ein paar Stühle herum, zu wenige, um sie zusammenzustellen und sieben Leute unterzubringen. Dann erhob sich eine Gruppe aus chinesischen und westlichen Männern, wodurch ein großes Sofa und einige Stühle frei wurden. Li machte einen raubtierhaften Satz. Nachdem Jun zwei weitere Stühle herangezogen hatte, saßen wir alle um einen niedrigen Tisch herum – ich neben Li auf dem Sofa, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass genau das meine Absicht gewesen war.

Ein Kellner nahm die komplizierten Bestellungen auf: Bier, Cocktails, Gin, Wein. Nun, da wir saßen und Getränke unterwegs waren, wurden alle noch einmal miteinander bekannt gemacht. Eine von Lis Freundinnen entpuppte sich als ihre Schwester.

»Ihr seht euch gar nicht ähnlich«, sagte ich. Ihre Gesichtszüge waren eckig, scharf, geradezu hart.