image

Ulrich Effenhauser

Papierfische

Vierzehn Erzählungen

mit Illustrationen von Fritz Maier

edition lichtung

Impressum

eBook-Ausgabe 2017

© lichtung verlag GmbH

94234 Viechtach Bahnhofsplatz 2a

www.lichtung-verlag.de

Umschlagillustration: Fritz Maier

eBook ISBN 978-3-931306-34-9

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Unbefugte Nutzungen wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übetragung können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

Die Herausgabe des Buches wird gefördert vom Landkreis Cham und von der Ernst-Pietsch-Stiftung.

Die gedruckte Ausgabe ist in der edition lichtung erschienen:

1. Auflage 2017

© lichtung verlag GmbH

ISBN 978-3-941306-33-2

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie unter www.lichtung-verlag.de.

Inhalt

Der Auftrag

Otto Galotti

Wiktor

Die Rückkehr

Walter Conradis Verhältnis zu Zellstoff

Wie geht die Liebe?

Fischfang: limbisch

Kanufahren mit Anna 3_

Pedros Plan

Lady Marian geht unter

Die Einladung

Fischsterben

Der Nachtschreck

Die Lesung

Über den Autor

Der Auftrag

Unter anderen Umständen hätte ich natürlich nachgesehen, was es mit dem Geräusch auf sich hatte, aber ich hatte zu tun, entscheidende Vorarbeiten mussten erledigt werden, es konnte ja auch sein, dass das Kratzen gar nicht aus der Kleiderkammer, sondern von oben kam, von der Familie mit den Kindern, wofür ich meine Nerven, gerade an diesem Tag, wirklich nicht verschwenden konnte, also machte ich die Arbeitszimmertür hinter mir zu und vertiefte mich in meinen Auftrag, der von der Leitung als dringend und schwierig eingestuft worden war, ein Kollege meinte sogar, im Grunde könne nur ich dieses Problem lösen, ich benötigte daher völlige Konzentration und konnte mich um die, zunächst geringfügige, Störung beim besten Willen nicht kümmern. Gegen ein Uhr in der Nacht, während ich grübelnd herumging, fiel mir das Geräusch wieder auf, es kam mir nun vor wie das regelmäßige Aufeinandertreffen von etwas Hartem mit Holz, eine Art Schnitzen mochte es sein oder ein Nagen, ich entschied daher, dass es besser sei, die Tür zur Kleiderkammer geschlossen zu halten und erst dann nach dem Rechten zu sehen, wenn ich mich auf die Vertreibung des Tiers ausreichend vorbereitet hätte, um etwas anderes konnte es sich meines Ermessens kaum handeln, es musste ein Nager sein, möglicherweise auch ein größeres Insekt, eine Schabe oder eine Grille, irgendwo hatte ich gelesen, dass überdimensionierte Käferwesen mittlerweile in Mietshäusern heimisch waren, ich hielt es also für durchaus denkbar, dass in meine Kleiderkammer ein betreffendes Subjekt Einzug gehalten hatte, wo sonst sollte ein solcher Schädling zuerst Fuß fassen, wenn nicht in der Kleiderkammer, die sozusagen als Schleuse zwischen draußen und drinnen fungiert, und wenn dem so war, dann musste das Tier, so schnell es in die Wohnung gelangt war, ebenso schnell wieder vertreibbar sein, gleich für den nächsten Nachmittag hatte ich vor, wenn nicht selbst zu Werke zu gehen, so doch einen Fachmann zu bestellen, allerdings lag darin die Gefahr, mich der Lächerlichkeit preiszugeben, was nämlich, wenn es sich um etwas vollkommen Harmloses handelte? Man malt sich in Gedanken ja vieles weit schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist, insbesondere nachts neigt man zu dieser Lupenwahrnehmung, wie ich so etwas nenne, ein stellenweises Herabbröseln des Deckenputzes war, letzten Endes, ebenso wahrscheinlich wie ein tierischer Geräuschursprung, auch dachte ich an eine eventuelle Aufwellung des Bodens, hatte ich doch, so fiel mir ein, in der Vorwoche versehentlich neben den Sportschuhen eine Mineralwasserflasche auslaufen lassen, das Wasser, mit Kohlensäure versetzt, musste in die Ritzen eingedrungen sein und jetzt von unten seine Wirkung tun, Holz arbeitet ja, zu diesem Ergebnis bin ich schließlich gekommen, sodass ich, vorerst, alle Gegenmaßnahmen zurückstellte, um mich wieder bis in die Nacht dem Auftrag zu widmen, und als ich, nach etwa drei Stunden Schlaf, gegen sechs Uhr aufbrach, hatte ich die Störung mehr oder minder vergessen, meinen Anzug hatte ich, zum Glück, im Badezimmer aufgehängt, der Mantel lag in der Küche, und die Schuhe hatte ich ausnahmsweise im Gang postiert, es gab also, bei Lichte betrachtet, keine echte Notwendigkeit, die Kleiderkammer zu betreten.

Abends bemerkte ich nichts, weder in der Kleiderkammer, die ich zunächst mied, noch im Badezimmer, wo ich mich umzog, es ist freilich möglich, dass er in diesem Moment bereits hinter dem Duschvorhang verharrte oder dass ich ihn vor Müdigkeit einfach nicht wahrnahm, obwohl er unmittelbar neben mir stand, den Kopf voller wichtiger Einzelheiten mag ich ihn tatsächlich übersehen haben, dergleichen kommt vor, auch bei meinen Mitarbeitern gelte ich als nach innen gewandt, zumal während der Erledigung schwieriger Aufträge, doch bislang hat mir diese Eigenschaft eher Vorteile als Nachteile eingebracht, nicht umsonst bin ich derjenige in unserer Firma, von dem es heißt, dass er in Notlagen die Ruhe bewahrt und selbst die heikelsten Probleme schnell und hundertprozentig bewältigt, ich rühme mich dessen nicht, ich bin es gewohnt, überlegt zu handeln, und die Tatsache, dass ich bislang noch jeden Angriff auf unser System abwehren konnte, halte ich für nichts anderes als eine Alltäglichkeit. Nach dem Verzehr eines Stücks Zwieback (wenn ich komplizierte Projekte zu bearbeiten habe, neige ich zu einem nervösen Magen, nicht selten verbunden mit Brechreiz) zog ich mich ins Arbeitszimmer zurück und stürzte mich auf die Problemlösung, ohne allerdings recht voranzukommen, brauchbare Ansätze ergaben sich nicht, und als ich gegen zwei Uhr nachts versuchte, ins Badezimmer zu gelangen, musste ich feststellen, dass aus dem Inneren – mutmaßlich aus der Richtung der Dusche – wieder eigenartige Geräusche drangen, dieses Mal bedeutend lauter als am Vortag, es hörte sich an wie ein Zischen und Verdampfen, unterbrochen von gelegentlichem Hämmern, dessen Vibrationen noch auf der Diele spürbar waren, nachbarliche Klagen waren zu befürchten. Da ich zur Gründlichkeit neige, entschloss ich mich, trotz des Zeitdrucks, unter dem ich stehe, das Problem systematisch anzugehen und wandte mich zunächst der Kleiderkammer zu, wo die Störung als Erstes aufgetreten war, fasste Mut (ein Öffnen der Tür drohte die Auswirkungen auf die Gesamtwohnung schließlich zu verschlimmern) und machte auf, wobei das Bild, das sich mir bot, im Widerspruch zu dem Kratzen vom Vortag, ganz und gar unbedenklich war, eigentlich war alles wie sonst, ein oder zwei Hemden schienen mir verknittert, offenbar waren sie von jemandem anprobiert worden, und auf dem Boden entdeckte ich ein Metallstück, daumennagelgroß und verrostet, darüber hinaus fand sich nichts Ungewöhnliches, meine Erleichterung, dass es sich offensichtlich nicht um ein Tier handelte, war so beträchtlich, dass ich mich von den aus der Form geratenen Hemden nicht weiter verunsichern ließ, gleichzeitig aber kam die Befürchtung in mir auf, ein Obdachloser könnte sich bei mir eingenistet haben, das Metall, augenscheinlich vom Schrottplatz, erinnerte mich sehr an entsprechende Personenkreise, auch drängte sich mir die, ethisch sicher nicht ganz einwandfreie, Überlegung auf, was wohl weniger von Schaden für mich sei, eine Schabe oder ein Obdachloser, und da ich noch ein paar Minuten Zeit hatte, begab ich mich nun mit Entschlossenheit zur Badezimmertür und versuchte diese zu öffnen, um den Eindringling, wer auch immer es sei, zur Rede zu stellen, doch die Tür war verschlossen, und durch die Sichtschutzscheibe konnte ich nur eine schemenhafte Gestalt erkennen, die sich gerade gebückt hielt, wobei ich erneut das undefinierbare Zisch- und Verdampfgeräusch hörte, welches mich, im Zusammenhang mit der dreisten Selbstverständlichkeit des Unbekannten, derart befremdete, dass ich zweimal heftig gegen die Tür klopfte und dringend bat, sich zu erkennen zu geben, man könne die Angelegenheit doch auch von Angesicht zu Angesicht behandeln, aber es kam lediglich ein Wortschwall zurück, der sich nicht recht einordnen ließ, beim Weggehen hatte ich den Eindruck, als sei mir aus dem Bad, in seltsam beschwichtigendem Tonfall, die Wortfolge „keine Sorge, du bekommst es bald“ zugerufen worden, doch kann es sich auch um eine Fehlinterpretation meines Gehirns gehandelt haben, welches die undeutliche Aussage nicht präzise genug identifizieren konnte und daher zu einer Ersatzbedeutung griff. Da ich dem Menschen in meiner Dusche, als Obdachlosem, den Vorgang des Sich-Säuberns gönnte, selbst wenn er seine Verrichtungen für meine Begriffe zu geräuschvoll ausführte, und zumal ich schon länger das schlechte Gewissen mit mir herumtrug, für derartige Gesellschaftsschichten bislang zu wenig getan zu haben, unterdrückte ich mein wachsendes Unverständnis – mein Drang, mich zu erleichtern, war ohnehin bereits vergangen (eine Verstopfung kündigte sich an) – und widmete mich wieder der Arbeit, die keinerlei Abzweigung von Energien duldet, da sie von allerhöchster Komplexität ist. Irgendwann suchte ich für einen kurzen Schlaf das Bett auf, gegen 7.30 Uhr wachte ich, mit deutlichem Verspätungsgefühl, auf, weswegen ich die Morgentoilette vernachlässigte und meine Wohnung schnellstmöglich verließ, in die ich gegen 19.45 Uhr zurückkehrte, nun schien niemand anwesend zu sein, ich wagte daher einen kurzen Blick in das Badezimmer, wo alles, zu meiner Überraschung, aufgeräumt war, die Geräusche hatten ja ein mittleres Chaos vermuten lassen, nur stellte ich an der Duschwanne kleine Schlieren und Ränder fest, und ein wenig roch es nach Rauch, was ich auf Zigarettenkonsum zurückführte. Obwohl es mich ins Arbeitszimmer drängte, wollte ich mir noch geschwind ein Stück Zwieback einverleiben, doch als ich im Begriff war, die Küche zu betreten, saß er bereits am Tisch und aß, mit hörbarem Appetit, von mehreren randvoll gefüllten Tellern, die leeren Dosen und Packungen lagen fein säuberlich aufeinandergestapelt neben der Spüle. Da ich ihn nur seitlich von hinten sah, kann ich keine genaueren Angaben zu seiner äußeren Erscheinung machen, er ist von eher schlanker Gestalt, aber keineswegs großgewachsen, als muskulös würde ich ihn nicht bezeichnen, und dennoch strahlt seine Haltung eine gewisse Kräftigkeit aus, seine Frisur konnte ich nur kurz erkennen, da er den Kopf nach unten neigte, ich würde sie als durchaus gepflegt bezeichnen, mitnichten obdachlosentypisch, allerdings von stumpfem, unschönem Grau, insbesondere die Hände, die in der Sekunde, in der ich in die Küche starrte, gerade an etwas Blinkendem herumfingerten, sind mir verhältnismäßig gut in Erinnerung, sie wirkten feingliedrig auf mich, beinahe kam es mir vor, als hätten sie weibliche Züge, die Farbe des Pullovers, den er anhatte, kann ich mit Sicherheit angeben, da es sich um mein Eigentum handelt, der Störenfried hatte aus der Kleiderkammer meinen schwarzen Lieblingspullover entwendet, der ihm an den Ärmeln jedoch zu kurz und am Körper deutlich zu lang war. Selbstverständlich sprach ich ihn auf sein Fehlverhalten an, an meiner Irritation konnte er keinerlei Zweifel haben, ich erhob meine Stimme und war verhältnismäßig laut, doch zur Antwort bekam ich nur eine gelangweilt wirkende Winkbewegung, woraufhin er, in plötzlicher Raschheit, zur Tür sprang und diese verschloss, sodass ich, reflexartig, zurückwich und nur noch seine dunklen Augen erkennen konnte, die darauf schließen ließen, dass er lächelte, während er mich meiner Küche verwies. Trotz meines Zeitproblems entschloss ich mich zu Gegenmaßnahmen, ich ging zum Sicherungskasten und kappte in der Küche den Strom, danach postierte ich mich vor der Tür und forderte, mit klaren Worten, ein sofortiges Verschwinden, ansonsten würde ich die Polizei rufen, das Recht lag schließlich auf meiner Seite, danach wartete ich noch ein paar Minuten ab, aber keinerlei Reaktion erfolgte, ich war mir sicher, den Unbekannten mit meinem, doch recht drastischen, Vorgehen eingeschüchtert zu haben, und da es draußen schneite, tat ich ein Übriges und stellte in der gesamten Wohnung die Heizung ab (im Winter wird es nachts in der Küche, die nach Norden zeigt, empfindlich kalt), während ich dank mehrerer Decken, in die ich mich hüllte, keine Unannehmlichkeiten zu befürchten hatte, doch leider gelang es mir in den folgenden Stunden wider Erwarten nicht, den Auftrag abzuschließen, mein Kopf fühlte sich wie eingefroren an, sodass ich mich, früher als sonst, ins Schlafzimmer zurückzog, um Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen, an dem es nicht nur galt, endlich die Leitung zufriedenzustellen, sondern auch meine Wohnung von dem Unbekannten zu befreien. Auf die Abendtoilette verzichtete ich, da ich sonst an der Küche hätte vorbeigehen müssen, ein erneutes Aufeinandertreffen hätte mich nur über Gebühr aufgewühlt, also stieg ich mit dem Anzug ins Bett, was, in Stresssituationen, schon einmal angehen kann, ich fühlte mich sogar erstaunlich wohl in dieser Lage, zumal ich am Morgen, so wie ich war, unverzüglich aufbrechen konnte, zur Beschleunigung des Einschlafens beschäftigte ich mich in Gedanken noch mit einem Subproblem, ich befand mich auch schon kurz vor dem Wegdämmern und wollte mich nur noch einmal umdrehen, da stieß ich mit meiner Hand gegen etwas Festes, Warmes, es war deutlich zu spüren, dass jemand in meinem Bett lag, aber statt aufzuschrecken und davonzulaufen, entschied ich mich, so zu tun, als hätte ich etwas vergessen und müsste deswegen noch einmal aufstehen, dabei erschien mir ratsam, zur Tarnung, mit größtmöglicher Langsamkeit vor die Schlafzimmertür zu schlurfen, wo ich in plötzlicher Schnelligkeit versucht hätte, den Schlüssel zu greifen, draußen ins Schloss zu stecken und umzudrehen, damit der Unbekannte eingesperrt wäre, daraufhin hätte ich ohne Zögern die Polizei verständigt (die Worte, die ich während der Wartezeit an den Unbekannten gerichtet hätte, wären sicher keine höflichen gewesen), bedauerlicherweise befand sich aber der Schlüssel nicht wie sonst im Schloss, vielmehr musste ich feststellen, dass alle anderen Zimmer, bis auf das Arbeitszimmer, abgeschlossen waren, der Unbekannte hatte mich übertölpelt, was meine Stimmung derart beeinträchtigte, dass ich mit aller Kraft gegen die Schlafzimmertür pochte (lautes Schreien verbot sich im Hinblick auf die Nachbarn), erst nach zwei, drei Sekunden fand ich meine Beherrschung wieder und blickte durch das Schlüsselloch, wobei ich erneut die Hände des Eindringlings sehen konnte, die sich, im Licht meiner Nachttischlampe, in schneller Abfolge gegeneinanderbewegten und dabei ein schleifendes Geräusch produzierten, mehr ließ sich nicht erkennen.

Da in den anderen Zimmern noch immer die Vorherrschaft des Fremden zu befürchten ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich im Arbeitszimmer mit meinem Auftrag zu beschäftigen, der mit jedem teilweisen Fortschritt im Gesamten immer verzwickter zu werden droht, sodass ich, in gewissem Maße, besorgt bin, wer weiß, wie die Leitung auf die Komplikation reagieren wird, für meine Kollegen, die den Auftrag nicht bekommen haben, wird es ohnehin ein gefundenes Fressen sein, mich als Gescheiterten zu sehen, ich starre seit Minuten gedankenlos in die Luft und treffe mit meinem Blick immer wieder das Telefon in der Diele, wobei ich in Erwägung ziehe, mich möglicherweise vorzuwagen, um die Polizei zu verständigen, gewiss handelt es sich um einen Straftäter, es wäre wohl auch meine Bürgerpflicht, mich an seiner Ergreifung zu beteiligen, doch gerade jetzt, wo ich mir die Worte für das Telefonat zurechtlege, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie der Unbekannte, gar nicht einmal überstürzt, zu mir ins Arbeitszimmer schreitet, um das Messer, von dem er sagt, er habe es für mich gemacht, mit seinen dürren Armen, durch alle Decken hindurch, mir geräuschlos in den Rücken zu treiben, was mich an der erfolgreichen Fertigstellung meines Auftrags vollends verzweifeln lässt, und im Dahinsinken meines Körpers muss ich, beschämt, zur Kenntnis nehmen, dass ich die Gründe meines Versagens der Leitung, unglücklicherweise, nicht persönlich werde erläutern können.

image

Otto Galotti