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Die Auseinandersetzung mit dem Vorleser sollte damit beginnen, den Unterschied zwischen den Instanzen »Autor« und »Erzähler« bewusst zu machen. Darüber hinaus sollten die klassischen Erzählsituationen nach Franz K. Stanzel (also auch die personale und die auktoriale Erzählsituation als Alternativen zum Ich-Erzähler) bekannt sein.
lat. ›mitten in die Sache‹; das Gegenteil davon ist ein ab-ovo-Einstieg (lat. ›vom Ei‹, also vom Beginn/Ursprung an).
lat. ›ein Teil [steht] für das Ganze‹.
Bezeichnet die Situation für einen Befehlsempfänger, in der er Befehle ausüben muss, die er eigentlich moralisch nicht vertreten kann.
Man unterscheidet die erzählte Zeit, also jene Zeit, die in der Erzählung verstreicht, von der Erzählzeit, die benötigt wird, um eine Geschichte zu erzählen. Ist die erzählte Zeit umfangreicher als die Erzählzeit, handelt es sich insgesamt um eine geraffte Erzählung. Verhält es sich umgekehrt, ist die Erzählung gedehnt. Nähern sich beide ungefähr an, spricht man von zeitdeckendem Erzählen.
Mullan meint damit eigentlich einen Ich-Erzähler, »that requires the reader to supply what the narrator cannot understand« (John Mullan, How Novels Work, Oxford 2006, S. 50). Sein Konzept erläutert Mullan an dem autistischen Ich-Erzähler Christopher in Mark Haddons The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (London 2003; dt. Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone).
Die szenische Darstellung in epischen Texten zeichnet sich v. a. dadurch aus, dass sie unmittelbar und zeitdeckend wirkt. Oft werden dazu Figuren-Dialoge verwendet. Andere Formen der Erzählerrede sind der (raffende) Bericht, der Kommentar oder die Beschreibung.
Literarisch minderwertiger, auf billige Effekte setzender Text.
Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1951.
Isers Metapher wird hier freilich etwas überdehnt. Bei ihm heißt »Appellstruktur«, dass jeder Text »Leerstellen« enthält, die der Leser individuell füllen muss.
Ein gutes Interview mit Andreas Kilb findet sich online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/im-gespraech-bernhard-schlink-herr-schlink-ist-der-vorleser-geschichte-1100720.html
Bernhard Schlink im Interview mit Tilman Krause: »Gegen die Verlorenheit an sich selbst. Gute Literatur lebt von der Auseinandersetzung mit der Umwelt – ein Gespräch mit Bernhard Schlink, dem Autor des Vorleser«, in: Die literarische Welt, 3.4.1999, online unter: http://www.welt.de/print-welt/article569316/Gegen-die-Verlorenheit-an-sich-selbst.html
Vgl. ebenda.
Sandro Moraldo, »Bernhard Schlink«, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München, edition text + kritik, 3/02, S. 2.
Zitiert nach: Moraldo (Anm. 14), S. 5.
Vgl. hierzu auch den Artikel »Kitsch und Tod« von Raphael Gross in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8. 4. 2009): www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/schlinks-vorleser-kitsch-und-tod-1784197.html
Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser erreichte unmittelbar nach seiner Publikation im Jahr 1995 Bestseller-Status. Lange Zeit galt der Konsens, dass Schlinks Roman ein gelungener Versuch sei, den Holocaust bzw. dessen Folgen mit Mitteln der Literatur darstellbar zu machen. Im Frühjahr 2002 freilich war es mit der Einigkeit weitgehend vorbei: Sieben Jahre nach dem Erscheinen bezeichneten Kritiker wie Jeremy Adler – britischer Germanistik-Professor und Sohn des Theresienstadt-, Auschwitz- und Buchenwaldüberlebenden H. G. Adler – das Buch als »Kulturpornographie« oder »Schundroman«, der Solidarität mit einer Täterin wecke. Trotz dieser Kontroverse gehört Der Vorleser, der in über 40 Sprachen übersetzt wurde, mit Günter Grass’ Die Blechtrommel und Patrick Süskinds Das Parfum weltweit zu den erfolgreichsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur.
Gegenstand des Vorlesers sind die Lebenserinnerungen des etwa 50-jährigen Erzählers Michael Berg, der zum Zeitpunkt der Erzählung Jura-Professor ist (eine Parallele zum Autor Bernhard Schlink, die nicht selten zur Gleichsetzung von Schlink und Berg führte): Er, Berg, blickt auf die zentrale Beziehung in seinem Leben zurück, die für ihn im Alter von 15 Jahren begann. Hanna Schmitz, eine um rund 20 Jahre ältere Frau, verführte den damals noch unerfahrenen und mit diesen Ereignissen sichtlich überforderten Michael und pflegte mit ihm in den darauf folgenden Monaten eine ungewöhnliche und intensive Liebschaft, die anfangs auch von Brutalität und Dominanz der 36-Jährigen geprägt war und schließlich für den Erzähler zunächst unerklärlich abrupt endete: Hanna verließ überstürzt die Stadt. Später erst, als Michael Hanna vor Gericht wieder begegnete, von dem sie wegen ihrer Tätigkeit als SS-Aufseherin in Auschwitz und einem anderen Lager angeklagt wurde, vermeint Michael zu erkennen, dass die Grundlage für Hannas Verhalten in jeder Hinsicht ihr Analphabetismus war, den sie unter allen Umständen zu verbergen suchte.
Wichtig bei der Analyse des Vorlesers ist die klare Unterscheidung zwischen der Ebene des Romans, dessen Autor Bernhard Schlink ist, und der der Erzählung des fiktiven Ich-Erzählers Michael Berg.1 Die Kontroverse um den Roman, die in diesem Lektüreschlüssel ansatzweise nachgezeichnet wird, wurzelt nicht selten in der allzu leichtfertigen Gleichsetzung beider Ebenen.
Der Ich-Erzähler treibt mit dem Leser im Rahmen der Erzählung ein komplexes Spiel: Wenn er auch das jeweils Erzählte zum Gegenstand seiner Reflexion macht, die damaligen Ereignisse aus seinem späteren Erfahrungshorizont einordnet, so lässt er auf faktischer Ebene den Leser doch immer nur so viel wissen, wie auch er im Laufe der Ereignisse wissen konnte. Er enthält dem Leser also Informationen vor. Die Enttarnung Hannas als SS-Täterin kommt daher ebenso überraschend wie die Entdeckung ihres Analphabetismus. Die Erzählung dient letzten Endes deutlich einem Ziel: der Entlastung des Ich-Erzählers von seiner eigenen Schuld, eine SS-Täterin geliebt zu haben. Damit verbunden sind jedoch generelle Fragen der Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Schuld und Täterschaft, die allesamt auf der Ebene des Romans – und natürlich weit darüber hinaus – beantwortet werden müssen.
Als der Ich-ErzählerIch-Erzähler Michael Berg seinen Rückblick verfasst – die Erzählgegenwart liegt in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts –, ist Hanna bereits zehn Jahre tot (dies erfährt der Leser aber erst sehr viel später). Bei seinen Rückblenden hält sich der Erzähler überwiegend an die chronologische Abfolge der damaligen Ereignisse.
Kapitel 1: Der Roman Medias in resführt medias in res2, indem sich Michael Berg (sein Name wird dem Leser allerdings erst später bekannt) erinnert, wie er als 15-Jähriger an Gelbsucht erkrankte. Das erste Symptom der Krankheit überkommt ihn eines Tages im Herbst auf dem Heimweg von der Schule: Plötzlich muss er sich übergeben. Eine ihm fremde Erste Begegnung mit HannaFrau nimmt sich seiner an, wäscht ihm Gesicht und Hände und begleitet ihn nach Hause. Seine Mutter verständigt den Arzt, der Gelbsucht diagnostiziert, und beauftragt Michael später, einen Blumenstrauß zu kaufen und sich damit bei der Unbekannten für deren Hilfsbereitschaft zu bedanken. Der erste Weg nach Besserung seines Gesundheitszustandes im darauffolgenden Frühjahr führt ihn schließlich zu ihr.
Kapitel 2: Es folgt eine ausführliche Beschreibung des Hauses in der Bahnhofstraße, vor dem sich Michael übergeben hat. Das Haus, das zum Zeitpunkt des Erzählens nicht mehr steht, beschäftigt ihn auch später immer wieder in seinen Träumen.
Kapitel 3: Michael steht vor der Haustür, er erfährt den Nachnamen seiner Helferin: Schmitz. Nach einer Beschreibung des Treppenhauses und der Wohnung von Frau Schmitz erhält der Leser einen ersten Eindruck von ihrem äußeren Erscheinungsbild.
Kapitel 4: Michael beobachtet Frau Schmitz beim Umziehen. Sie Hanna erregt Michael sexuellerregt ihn: »Ich konnte die Augen nicht von ihr lassen« (S. 15). Frau Schmitz bemerkt das, der Beobachter errötet und verlässt überstürzt Wohnung und Haus. Auf dem Heimweg ärgert er sich über sein kindliches Verhalten.
Kapitel 5: Michael hat fortgesetzt erotische Träume und Fantasien; er empfindet diese zunächst als verwerflich. Die Erinnerung an Frau Schmitz bestimmt seine Gedanken. Nach dem vergeblichen Versuch, sie zu vergessen, kehrt er eine Woche später wieder zu ihrer Wohnung zurück.
Kapitel 6: An der Wohnungstür angekommen, stellt Michael fest, dass Frau Schmitz nicht zu Hause ist. Er beschließt, vor ihrer Wohnung auf sie zu warten. Als sie schließlich von ihrer Arbeit als Straßenbahnschaffnerin nach Hause kommt, bittet sie ihn, ihr beim Herauftragen der Kohlen behilflich zu sein. Er erfüllt ihre Bitte mehr als bereitwillig. Dabei geschieht ihm ein Missgeschick und Michael kommt völlig verschmutzt aus dem Kohlenkeller. Frau Schmitz lässt ihm ein Bad ein und fordert ihn auf, sich auszuziehen und zu waschen. Nach dem Bad trocknet sie ihn ab – danach kommt es zum von Michael so ersehnten Erster LiebesaktLiebesakt.
Kapitel 7: Michael kehrt später als erwartet von Frau Schmitz nach Hause zurück, die Familie ist bereits mit dem Abendessen beschäftigt. Daraufhin beschließt er, nach seiner Krankheit endlich wieder zur Schule zu gehen, und fühlt sich darüber hinaus hin- und hergerissen zwischen Altem und Neuem: »Ich hatte Heimweh nach Mutter und Vater und den Geschwistern und die Sehnsucht, bei der Frau zu sein« (S. 32).
Kapitel 8: Michael schwänzt einzelne Schulstunden, um bei Frau Schmitz sein zu können. Das Duschen und Miteinander-Schlafen wird zum Ritualisierte TreffenRitual. Er erfährt den vollen Namen der Frau, Hanna Schmitz, und nennt ihr (und damit auch erstmals dem Leser) seinen eigenen.
Kapitel 9: Michael ist stolz auf seine Beziehung zu Hanna. Er beginnt ihr Das Vorlesen beginntvorzulesen. Dieses neue Ritual tritt fortan zu den bereits etablierten hinzu.
Kapitel 10: Michael fährt an seinem ersten Ferientag mit der Straßenbahn, um Hanna nah zu sein. Obgleich sich ihre Blicke treffen, nehmen sie keinen weiteren Kontakt zueinander auf. Sie werfen sich im Nachhinein gegenseitig vor, den anderen ignoriert zu haben, was in einen Erster StreitStreit mündet. Obwohl sich Michael keines Fehlers bewusst ist, nimmt er schließlich alle Schuld auf sich, als Hanna droht, ihn zurückzuweisen. Auch spätere Auseinandersetzungen verlaufen nach demselben Schema.
Kapitel 11: Michael und Hanna unternehmen eine mehrtägige Fahrradtour. Michael geht eines Morgens ohne Hannas Wissen aus dem Zimmer, um das Frühstück und eine Rose für Hanna zu holen. Als er zurückkommt, ist Hanna derart aufgebracht, dass sie ihn mit ihrem Gürtel schlägt. Ein Zettel mit einer Notiz für sie, den Michael beim Verlassen des Zimmers zurückließ, ist nicht mehr auffindbar.
Kapitel 12: Michael begeht Ladendiebstahl – einmal, um für Hanna ein Geschenk zu ›besorgen‹, ein andermal, um seine kleine Schwester bestechen zu können, damit diese sich bereit erklärt, bei einer Freundin zu wohnen, während die Eltern und die übrigen Geschwister verreist sind, so dass Michael das Haus für sich und Hanna alleine hat.
Kapitel 13: Das neue Schuljahr beginnt, Michael lernt Begegnung mit SophieSophie, eine Mitschülerin, kennen und vergleicht sie mit Hanna.
Kapitel 14: Michaels Leben kreist nicht mehr nur um Hanna. Er geht öfter ins Schwimmbad, wo sich »das gesellschaftliche Leben der Klasse« (S. 70) abspielt.
Kapitel 15: Michaels Verbindung zu den Klassenkameraden intensiviert sich – besonders zu Sophie. Er spricht in diesem Zusammenhang erstmals von Verrat an Hanna.
Kapitel 16: Michael wüsste gerne mehr von Hannas alltäglichem Leben. Seinen Fragen weicht sie jedoch stets aus. Darüber hinaus ist sie in sonderbarer Stimmung. Sie wirkt auf ihn launisch und herrisch, ein gewisser Druck scheint auf ihr zu lasten. Bei einer zufälligen Begegnung im Schwimmbad sehen sie sich zum vorerst letzten Mal.
Kapitel 17: Tags darauf ist Hanna Hanna verschwindetverschwunden. Michael stellt Nachforschungen an, erfährt aber nur, dass Hanna den Wohnort gewechselt hat, ohne eine genaue Adresse hinterlassen zu haben. Michael macht sich Vorwürfe.
Kapitel 1: