In einer Videothek in einer Kleinstadt inmitten Iowas tauchen seltsame und unheimliche Filmschnipsel auf den Leihkassetten auf. Dunkle und grobkörnige Szenen, die in einer Scheune aufgenommen wurden. Sie dauern nur ein paar Minuten und zeigen möglicherweise S/M-Spiele, vielleicht sogar eine Folterung. Der Videotheksmitarbeiter Jeremy will nichts mit der Sache zu tun haben, doch als die Dorflehrerin Stephanie die Scheune in den Videos wiedererkennt, muss er handeln. Die Suche nach der Wahrheit hinter den Videos führt Jeremy und Stephanie in die Vergangenheit.
John Darnielle, geboren 1967, ist amerikanischer Musiker und Kopf der Band The Mountain Goats. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Durham, North Carolina.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von
Tobias Schnettler
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Universal Harvester«
Für die Originalausgabe: Copyright © 2017 by John Darnielle
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anabelle Assaf, Berlin Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung eines Motivs von Massimo Peter-Bille
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4938-2
www.bastei-entertainment.de
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»Doch die, die, wie Gott, im Geheimen agieren, teilen sich nur ihren Vertrauten mit. Auch sind sie sehr grausam und manchmal unglücklich. In jedem Fall bleiben sie im Verborgenen.
– Benjamin Tammuz, Das Geheimnis des Minotaurus
In der Regel sagten die Kunden gar nichts, wenn sie ihre Kassetten bei Video Hut zurückgaben: In einer einzigen, nicht uneleganten Bewegung traten sie an die Theke heran, schoben dem, der gerade an der Kasse saß, die Kassetten hinüber, machten kehrt und steuerten wieder auf den Ausgang zu. Manchmal nickten sie wortlos oder hoben die Augenbrauen ein wenig an, um sicherzustellen, dass man sie gesehen hatte. Mit wenigen Abwandlungen war dieses stumme Herantreten fast zwei Jahrzehnte lang ungeschriebenes Protokoll in Videotheken überall in den USA. Manche Läden hatten in der Theke einen Schlitz, unter dem ein großer Behälter stand, doch Nevada war eine kleine Stadt. Ein wenig freigeräumter Platz am Rande der Theke reichte aus.
Bob Pietsch lieh heute Großwild für Fortgeschrittene und Best of Barsch-Angeln – Teil Vier aus; jetzt stand er da, vor der Theke, geduldig, beinahe monolithhaft. Er kam manchmal auf dem Nachhauseweg von der Genossenschaft vorbei. Die Kassetten, die er auslieh, behielt er immer genau eine Woche lang. Stephanie Parsons wartete hinter ihm in der Schlange; Jeremy sah, dass sie ein wenig ungeduldig wirkte, doch daran konnte er nichts ändern.
Bob verbrachte den Großteil des Jahres ganz allein in einem Farmhaus auf einem Grundstück, das ihm gehörte, außerhalb von Collins. Falls er noch immer jagte oder angelte, dann jedenfalls nicht mit jemandem, den er noch aus den Zeiten kannte, als er in der Stadt gewohnt hatte: Niemand wusste, was Bob den lieben langen Tag so trieb. Die Leute redeten ein bisschen über ihn, weil er so ganz allein da draußen lebte; man hoffte, er würde wieder heiraten. Doch er hatte das gemeinsame Haus verkauft, nachdem seine Frau gestorben war, und sein Haus in der Nähe von Collins lag ziemlich abgelegen. Da gab es nicht viele Gelegenheiten, jemanden kennenzulernen. Wenn er sich jetzt unterhielt, klang er wie ein Farmer bei einer Auktion, der auf den Beginn der Versteigerung wartete.
»Die hier ist richtig gut«, sagte er und tippte auf Best of Barsch-Angeln – Teil Vier. »Wenn sie Schwarzbarsche erwischen, müssen sie die Hälfte wieder reinwerfen.«
»Schon mal in Hickory Grove gewesen?«, fragte Jeremy ihn. Er hatte sein ganzes Leben in Iowa verbracht. Die Männer in seiner Familie redeten ständig übers Angeln.
»Früher. Immer«, sagte Bob. »Wir sind da im Winter wegen der blauen Sonnenbarsche hingefahren.«
»Klar«, sagte Jeremy. So ging es noch eine Minute lang weiter. Schließlich zog Bob seinen Video-Hut-Mitgliedsausweis hinter seinem Führerschein hervor und unterschrieb für die Kassetten. Er hatte einen der alten, laminierten Ausweise, der an den Rändern schon vergilbt war. Mitgliedsausweise waren inzwischen eine reine Formsache, doch Jeremy warf ihm zuliebe trotzdem einen Blick darauf.
Stephanie wartete, bis Bob gemächlich an den Regalen vorbeigegangen war und den Laden verlassen hatte, bevor sie an die Theke herantrat. Sie legte ihre Kassette nicht ab, sondern hielt sie in der Hand, auf Brusthöhe, ein Stück weg von ihrem Körper.
»Auf dieser hier ist was drauf«, sagte sie.
Jeremy nahm die Kassette; er erkannte sie wieder. Er hatte den Titel umkringelt, als der Vertriebskatalog letztes Jahr herumgegangen war. Alle, die in der Videothek arbeiteten, durften mitentscheiden, was bestellt wurde. Sarah Jane, die Inhaberin, hatte dieses System eingeführt, als sie das Geschäft vom Vorbesitzer übernommen hatte. Darauf war sie persönlich stolz. Als junge Frau hatte sie jahrelang selbst als Verkäuferin gearbeitet.
»Ah, ja«, sagte er, während er sich zu den Regalen hinter ihm umdrehte, in denen viele Hundert Videokassetten in durchsichtigen Boxen und ein paar Dutzend in durchsichtigem Pink standen: Softpornos, die kaum jemand je auslieh. »Tut mir leid. Im Katalog klang er gut, aber der ist schon richtig alt, oder?« Der Film hieß Bewegliche Ziele. Mit Boris Karloff.
Stephanie sah Jeremy ausdruckslos an, schätzte ihn ab, dann sagte sie: »Nein, der Film ist toll, ich hatte ihn schon gesehen. In der Uni.« Stephanie hatte ihren Master of Education an der University of Chicago gemacht; sie ließ keine Gelegenheit aus, das zu erwähnen. »Ich meinte die Kassette. Da ist was drauf.«
»Ich kann es dir gutschreiben«, sagte Jeremy.
Stephanie setzte wieder ihr abwägendes Gesicht auf und schien zu dem Schluss zu kommen, dass Jeremy es nicht verstehen würde. »Nein, schon gut«, sagte sie. »Vergiss es. Aber vielleicht kannst du Sarah Jane Bescheid sagen, okay?«
»Ja klar«, sagte Jeremy. Er kam sich dumm vor: Er war nicht dumm, doch Stephanie schüchterte ihn ein, und er wusste nicht, wie er mit ihr reden sollte. Während er die leere Ansichtshülle zurück an ihren Platz brachte, sagte er sich, dass er daran denken würde, doch am Abend schloss er das Geschäft selbst ab und sah Sarah Jane erst am Montag wieder. Bis dahin hatte er es vergessen.
Steve Heldt brachte gerade eine neue Regenrinne am Vordach über der Haustür an, als Jeremy im Dunkeln nach Hause kam; Steve hatte den Strahler an der Außenwand der Garage eingeschaltet. Im Schein des Strahlers bildete sein Atem riesige Wolken.
Jeremy parkte in der Einfahrt und stieg aus. »Kann das nicht bis morgen warten?«, fragte er. Seine Stimme klang einsam, eigenartig in der Februarluft. Dad stand in Stiefeln ganz oben auf der Leiter und veränderte permanent seine Position, während er arbeitete.
»Heute nicht, Großer«, sagte Steve. Jeremy war seit dem Tag der »Große«, an dem er seinem Vater mit acht Jahren beim Reifenwechseln geholfen hatte. »Es soll die ganze Nacht schneien. Wenn es ab Mittag wärmer wird, fällt das Ding gleich wieder ab.«
Die Regenrinne würde nicht gleich wieder abfallen, wenn sie bis zum nächsten Tag mit der Reparatur warteten: Steve wusste das, Jeremy wusste das. Doch sie beide wussten auch, dass man sich im Winter beschäftigen musste, so gut man nur konnte. Mom war sechs Jahre zuvor im Schnee von dem neuen Highway 30 abgekommen und gegen einen Telefonmast geknallt, das war 1994 gewesen. Jeremy war damals sechzehn.
Er zog seine Handschuhe wieder an und hielt die Leiter, während sein Vater die Nägel einschlug. Der Wind war nicht stark, nur eine kleine Brise vielleicht; er blies den Schnee um seine Füße herum. »Heute spät nach Hause gekommen?«, fragte er.
»Nein«, sagte Steve. »Hab nur erst dran gedacht, als es schon dunkel war. Hab den Wetterbericht gesehen.« Dann blieb nicht mehr viel zu sagen, und das dumpfe Schlagen des Hammers wurde zum einzigen Geräusch, das in der Nachbarschaft zu hören war, bis auf das gelegentliche Knarren eines Astes.
Später sahen sie sich Wild Christmas an: Jeremy brachte häufig Neuerscheinungen mit nach Hause, wenn es etwas gab, das seinem Vater gefallen könnte. Spionagesachen. Manchmal auch Polizeifilme. Sie fingen erst spät an, wegen der Regenrinne; bis der Film zu Ende war, war es beinahe Mitternacht.
Sie beide fanden Wild Christmas verwirrend und hatten Schwierigkeiten, sich auf den Film zu konzentrieren. Während der langsameren Passagen unterhielten sie sich. Anschließend versuchten sie, die Fragen des anderen zu beantworten, doch irgendwie passte alles nicht so recht zusammen. Dann fing Dad mit Jeremys Job an.
»Es gibt Labore für Erde und für Wasser, hier in der Stadt«, sagte er.
»Dad«, sagte Jeremy. »Ich hab einen Job.«
»Klar. Aber das ist doch nichts Richtiges, oder?«
»Ich weiß.« Er nahm die Fernbedienung und ließ die Kassette zurückspulen. »Du hast recht. Keine Ahnung.«
»Ja, jedenfalls hab ich ein paar Anzeigen gesehen.«
»Ich hatte überlegt, ich könnte im nächsten Semester am Community College in Des Moines anfangen.«
»Ja, das hast du letztes Jahr auch schon gesagt.«
Der Videorekorder warf die Kassette aus, und Jeremy steckte sie zurück in die Hülle. »Ich weiß«, sagte er. »Du hast recht.«
In manchen Versionen dieser Geschichte folgt jetzt ein Streit, weil Jeremy findet, dass sein Vater sich in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen, und weil er sich dafür schämt, zweiundzwanzig zu sein und noch nichts aus sich gemacht zu haben; er mag es nicht, wenn ihn etwas daran erinnert. In diesen Varianten bittet Jeremy seinen Vater, ihm ein bisschen Raum zu lassen, und Steve Heldt, der ein guter Vater ist und der, genau wie sein Sohn, einen schrecklichen Verlust erlitten hat, denkt sich: Komm deinem Sohn nicht in die Quere; er geht seinen Weg, wenn du ihn nur lässt. In anderen Versionen bleibt Jeremy noch zwei Stunden lang wach, sieht sich vielleicht noch einen anderen Film an, den er mitgebracht hat, ohne sich darauf konzentrieren zu können, und am Morgen bittet er seinen Vater, ein paar dieser Jobangebote aufzuschreiben, und dann bekommt er eine Stelle in einem Bodenlabor in Newton und wechselt schließlich in ein größeres Labor zu Hause in Nevada.
In dieser Version jedoch behält er seinen Job bei Video Hut, und dann passiert etwas anderes.
Story County war noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts Prärie gewesen. In der Schule lernte man ein wenig über die Stämme Iowas, doch es war schwer, eine klare Vorstellung davon zu erlangen, wer genau in Story County gelebt hatte, als die Siedler kamen. Irgendwer muss jedenfalls da gewesen sein. Das Wort Iowa ist ein Wort der Ureinwohner, und viele Orte im ganzen Bundesstaat sind nach Stämmen benannt: Sioux City. Tama. Black Hawk. Außerdem wusste jeder, dass überall im Bundesstaat Stämme von ihrem Land vertrieben worden waren, irgendwann im Verlauf der Expansion Richtung Westen. Doch in der Highschool ging man nicht näher darauf ein, deshalb hatte Jeremy nur eine grobe Vorstellung davon. Ein paar Details hier und da, wenn überhaupt.
Über seine eigene Familie, woher sie kam, wusste er ein bisschen mehr. Wenn seine Großeltern oder Tanten und Onkel sich am vierten Juli oder an Thanksgiving trafen, war das so ziemlich das einzige Thema, über das sie sprachen. In sämtlichen Unterhaltungen ging es um einfache Ahnenforschung und Geografie: Wer war mit wem verwandt, wer lebte jetzt wo, wo hatten sie ursprünglich gelebt. Es hatte etwas angenehm Betäubendes. Bei diesen Unterhaltungen, die bei jedem Familientreffen endlos wiederholt werden konnten, stand nichts auf dem Spiel. Ist Pete noch in Tama? Nein, er hat jetzt einen Job in Marshalltown, bei Lennox, im Vertrieb. Sind das die mit den Klimaanlagen? Na ja, Pete nennt es »Klimaregulierung«. Ach, »Klimaregulierung«, so heißt das? Ja, genau.
Der gesamte Prozess bestand aus dem Nachverfolgen von Bewegungen. Wenn der Anwerber von Caterpillar 52 auf der Jobbörse an Mike herantrat und ihm anbot, sein Gehalt innerhalb zweier Jahre zu verdoppeln, dann landeten Mike und seine Familie auf diesem Weg in Peoria: Doch simple Bewegungen, die auf einer gemeinsamen, verinnerlichten Landkarte vollzogen wurden, waren noch immer das Wesentliche, das, was alle leidenschaftlich interessierte. Bill wohnt jetzt oben in Storm Lake. Hat er das Haus in Urbandale verkauft? Das an der Zweiundsiebzigsten? Nein, das war gemietet. Ach, echt? Ja, es gehört den Handsakers. Die haben es für ein paar Jahre vermietet, bis ihr Jüngster vom Coe College zurück war. Meinst du Davy? Ja, aber er nennt sich jetzt Dave. Von Davy über Dave und Daves Eltern bis zu ihren Verwandten konnte man die Unterhaltung eine ganze Weile lang aufrechterhalten, doch an diesem Punkt erkaltete die Spur. Die Großeltern von Jeremys Mutter waren irgendwie russisch, aus einem dieser Gebiete, die jetzt nicht mehr wirklich zu Russland gehörten. Sein Urgroßvater väterlicherseits stammte aus Deutschland. Doch weiter als das ging es nicht. Das Nachvollziehen lokaler Bewegungen war schon Arbeit genug, bis es schließlich Zeit war, sich zu verabschieden, und am Labor Day oder an Weihnachten würden sie dann weitermachen, wo sie aufgehört hatten.
Mit vierzehn konnte Jeremy von so gut wie jedem Ort in Story County aus den magnetischen Norden lokalisieren, selbst dann, wenn es absolut keine vertrauten Orientierungspunkte gab. Zu wissen, wo man war: Dies schien ein wichtiger Teil davon zu sein, warum man in Nevada lebte, vielleicht auch davon, warum man überhaupt am Leben war. In Filmen sprachen die Menschen fast nie über die Städte, in denen sie ihr Leben verbrachten. Sie rannten herum, erlebten Abenteuer und blieben nie stehen, um sich zu orientieren. Das war merkwürdig, wenn man es sich genau überlegte. Sie erinnerten sich nur daran, woher sie kamen, wenn sie sich darüber beklagten, wie schrecklich es dort gewesen war, oder später, wenn sie den Ort als einen erinnerten, der grenzenlose Verheißungen barg, einen Ort, dessen Licht ihnen verborgen geblieben war, bis er unwiederbringlich verschwunden war und sein Abglanz zu etwas Unwiderstehlichem wurde.
Video Hut öffnete um zehn Uhr morgens, was ein Witz war. Jeder, der vor dem Nachmittag seine Kassetten zurückbrachte, benutzte dafür den Schlitz in der Tür, und fast niemand kam vor Mittag in den Laden, um etwas auszuleihen. Trotzdem saß immer jemand hinter der Theke, nur für den Fall, und wartete darauf, dass das Tagesgeschäft tatsächlich losging. Manchmal dauerte es Stunden.
In einer Ecke des Ladens war über den Regalen ein Fernseher angebracht. Während der Öffnungszeiten liefen dort permanent Filme. Dem Gesetz nach mussten es jugendfreie Filme sein. Den Film auszuwählen und zu starten war eine der Aufgaben, die auf dem MORGENS-ÖFFNEN-Zettel standen, einer Liste mit sechs Punkten, die auf neongrünes Papier gedruckt und mit im Laufe der Jahre ausgefranstem und schwarz gewordenem Klebeband neben der Kasse an der Theke befestigt worden war:
Die Liste war dazu da, die Aufmach-Routine wie Arbeit aussehen zu lassen, auch wenn Jeremy in der Praxis insgesamt nur rund fünf Minuten dafür brauchte. Er ging zum Computer, noch bevor er das Licht anschaltete; es war ein Gateway 2000 … Als der Computer gebaut worden war, war Gateway noch ein mehr oder weniger lokales Unternehmen gewesen. Jetzt ächzte der Rechner volle fünf Minuten lang, während er hochfuhr. Bis er einsatzbereit war, hatte Jeremy alle anderen Punkte der Liste abgearbeitet, bis auf die überfälligen Videos. Er würde deswegen eh niemanden vor Mittag anrufen.
Unter der Theke lagen sechs oder sieben Kassetten, die immer abwechselnd eingelegt wurden – das war der Punkt »Video auswählen«, der beinahe automatisch ablief. Muppet Movie, Bugsy Malone, Eine Klasse für sich, Star Wars: Meist griff, wer auch immer die erste Schicht übernahm, einfach irgendeine der Kassetten, ohne hinzusehen. Es gab auch noch ein paar neuere, die monatsweise ausgetauscht wurden. Jeremy nahm in der Regel eine von diesen und stellte den Ton auf lautlos, bis die ersten Kunden kamen.
Er hatte Wild Christmas in der Hand, als er die Videothek erreichte, also ließ er den Film ohne Ton und unbeachtet laufen, während er im Katalog mit den Sommerkursen des Community College von Des Moines blätterte. Joan vom Mary-Greeley-Krankenhaus kam herein, um zwei Trainingsvideos gegen neue zu tauschen; das Krankenhaus bekam sie umsonst, was in Ordnung war, denn niemand sonst wollte sie haben. Joan setzte sie in Reha-Kursen ein. Sie kam zur Theke und nickte über ihre Schulter hinweg in Richtung des Bildschirms: Das Bild wurde für eine Sekunde schwarz-weiß, als Jeremy aufsah, dann stabilisierte es sich wieder.
»Rechnest du heute nicht mit viel Kundschaft?«, fragte sie. Charlize Theron stand in einem Pool und öffnete gerade ihren Bikini.
»Was? Ah. Entschuldigung, tut mir leid«, sagte Jeremy und griff gleich nach der Fernbedienung.
Joan lachte. »Nein, alles gut.« Er hielt das Band an, kurz bevor es wirklich zur Sache ging. »Entschuldige, den habe ich gestern Abend geguckt. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
»Alles gut«, sagte Joan noch einmal, und dabei nickte sie aufmunternd. Jeremy wurde rot. »Ich bin sechsundvierzig, ich habe schon alles gesehen.«
»Nein, ja klar, ich habe nur – nicht nachgedacht«, sagte er. Er holte die beiden neuen Trainingsvideos aus dem Regal, immer noch stirnrunzelnd.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, ja«, sagte er und schüttelte den Kopf, wie eine Katze, die gerade aufwachte. »Ich glaube, ich habe schlecht geschlafen. Bin auf der Couch eingenickt.«
»Das passiert mir ständig!«, sagte Joan. Sie unterschrieb den Ausleihbeleg, in dessen »Anzahl«-Spalte eine Null stand, und steckte die beiden neuen Kassetten in ihre bauschige, übergroße Handtasche.
»Ja«, sagte Jeremy, »mir auch«, was nicht stimmte. Genauso wenig wie die Behauptung, auf der Couch eingenickt zu sein; er wusste selbst nicht, wieso er das gesagt hatte. Er war durcheinander.
»Bis nächste Woche«, sagte Joan.
»Alles klar«, sagte Jeremy, und auch das klang falsch.
Der restliche Tag war ein Wintertag in einer Videothek Ende der Neunziger: lange Phasen ohne jeden Kunden, ein großer Ansturm zwischen halb sechs und sieben, als die Leute von der Arbeit kamen und nach Hause fuhren, und dann wurde es wieder ruhiger. Lindsey Redinius brachte in der Hauptzeit ihre Kassette von Eine wie keine zurück und sagte, damit stimme etwas nicht, der Film höre plötzlich auf und würde zu etwas ganz anderem, um dann später wieder einzusetzen. Jeremy legte ihn zur Seite. Das war innerhalb von zwei Tagen die zweite Beschwerde wegen einer Kassette. Ob sie inzwischen billigeres Material für die Bänder verwendeten? DVD-Player waren ja angeblich das große neue Ding.
Er sah sich im Laden um, während er alles ausschaltete. Es war ein beheiztes Gebäude von Morton, aus denselben Materialien, aus denen man heute Scheunen baute: das exakt gleiche Gebäude, nur mit anderen Sachen darin. In der Dunkelheit sah man, wie provisorisch es war. Er durchstöberte die Rückgabekiste und schnappte sich ein Video, für den Fall, dass er nicht schlafen konnte. Ein Stück die Straße hoch hielt er bei Taco John’s und bestellte das Familien-Sparmenü zum Mitnehmen. Dann fuhr er auf den alten Highway 30, der ihn nach Hause führte.
Sie hatten die Straße am Morgen und noch mehrfach am Nachmittag geräumt. Alle fuhren aus Vorsicht ein wenig langsamer. So fühlte sich diese Jahreszeit für Jeremy an. Langsame Autos, die im Dunkeln über gefrorene Straßen rollten. Schwere Äste. Scheinwerfer. Die Melancholie würde, stumm und greifbar, bis zum März anhalten. Das Ganze hatte eine ureigene Melodie, die nur wahrnahm, wer sich nicht zu sehr darauf konzentrierte.
Dad war bereits zu Hause, als er ankam; sie aßen ihre Tacos am Esstisch, wie eine Familie.
»Bei der Arbeit alles okay?«
»Klar. Großauftrag von einer Firma aus Minnesota. Die bauen in Ames ein neues Motel.«
»Ja?«
»Bloß ein Holiday Inn Express. Die brauchen alles auf einmal, wollen bis zum Start der Big 12 eröffnen können.« Jeremy sprach es nicht aus, doch er freute sich, dass sein Vater den gesamten Winter hindurch damit beschäftigt sein würde, Granulatbestellungen von konkurrierenden Zulieferern zu koordinieren, seine Mannschaft zu dirigieren und Rohre auf Tiefladern rauszuschicken. Dad schien immer dann am glücklichsten zu sein, wenn er abends von der Arbeit ausgepowert war.
»In der Stadt?«
»Nein, draußen an der I-35. Die bauen da alles Mögliche«, sagte er; Steve Heldt fand nicht, dass Ames noch viel Raum zum Wachsen hatte, doch sie bauten trotzdem immer weiter. »Großer Auftrag jedenfalls.«
Jeremy deckte den Tisch ab; dazu gehörte nicht viel, er musste bloß den Müll wegwerfen. Er öffnete den Kühlschrank, drehte den Kopf und sagte: »Biest?« Das war im Hause Heldt das Codewort für Bier. Steve gönnte sich nach dem Abendessen nur eins; wie seine Wahl dabei auf Milwaukee’s Best gefallen war, blieb ein Geheimnis, doch das Bündnis war dauerhaft. Vor Jahren hatte Mom einmal einen Sechserträger Stroh’s mitgebracht, weil sie im Regal bei Fareway nichts anderes entdeckt hatte. Es blieb ein ganzes Jahr im Kühlschrank liegen.
Er warf seinem Dad die Dose per Unterhandwurf zu, dann gingen beide ins Wohnzimmer: So lief es im Winter immer ab. Im Sommer grillten sie gern hinterm Haus, doch an die Küche hatte sich keiner von ihnen je wirklich gewöhnt. Sie fühlten sich dort einfach nicht zu Hause. Die Küche fühlte sich noch immer an wie Moms Bereich.
An diesem Abend sahen sie sich Lebenszeichen an, den Film, den Jeremy gegriffen hatte, ohne hinzusehen. Gemeinsam Filme zu schauen hatte etwas Beruhigendes und Unbeschwertes. Jeremy schätzte sich selbst als ein wenig anspruchsvoller ein als seinen Dad, doch sie beide tauchten ungefähr zur gleichen Zeit ins Flimmern des Bildschirms ab, und sie beide blieben dort verschollen. Der Raum füllte sich mit Licht. Es war ein Ort, den sie miteinander teilen konnten, etwas, für das sie dankbar sein konnten, ohne allzu viel darüber nachdenken zu müssen.
Anschließend ging Dad sofort ins Bett – »Bis morgen dann«, sagte er, wie ein Arbeitskollege, der früher Feierabend machte –, doch Jeremy blieb wach, um sich Eine wie keine genauer anzusehen. Er wusste, dass Kassetten irgendwann kaputtgehen konnten, doch wenn das passierte, sagten die Leute meist nicht viel dazu. Nach der Hälfte gab’s Bandsalat, sagten sie vielleicht. Kurz vorher sieht man, dass was nicht stimmt, und dann wirft das Gerät die Kassette aus, sagten sie. Es quietscht irgendwie.
Das hier war anders. Zweimal schon hatten Kunden Videos zurückgebracht, unterschiedliche Videos, und gesagt, dass etwas auf den Kassetten sei, das dort nicht hingehöre. Etwas, das sie sich angesehen hatten und das einen Eindruck hinterließ. Schon der Versuch, es zu beschreiben, schien sie zu verwirren; entweder wollten sie nicht ins Detail gehen, oder sie wussten nicht, wie. »Da ist noch ein anderer Film auf dieser Kassette«, hatte Lindsey es formuliert. »Die müssen den alten damit überspielt haben.«
Eine wie keine war kein Film, den Jeremy sich sonst allein angesehen hätte. Er war langweilig. Er saß rastlos auf der Couch, zupfte lose Fäden von den Kissen und versuchte, einem Plot zu folgen, der ihn nicht interessierte, während er überlegte, ob er die übrig gebliebenen Potato Olés noch einmal aufwärmen sollte. Nach einer Viertelstunde fiel ihm auf, dass er sich stattdessen Stephanie Parsons’ Exemplar von Bewegliche Ziele hätte ansehen können, und er ärgerte sich über sich selbst; er überlegte, einfach ins Bett zu gehen. Doch dann, mitten in einer Szene, in der eine weinende Frau etwas an einem Computer tippte, war der Fernsehbildschirm plötzlich eine halbe Sekunde lang schwarz; und dann leuchtete er wieder auf, und Jeremy setzte sich gerade hin und sah eine Schwarz-Weiß-Szene vor sich, gefilmt mit einer einzigen Kamera, die fest montiert war oder von einer besonders ruhigen Hand gehalten wurde. Er musste die Lautstärke ganz aufdrehen, um zu hören, ob es überhaupt Ton dazu gab: den gab es, aber nur wenig. Ein bisschen so wie Wind, der ins Mikro der Kamera bläst; das hörbare Heben und Senken der menschlichen Atmung. In der Ecke war ein laufender Timecode eingeblendet. Das angezeigte Datum lautete 00/00/0000. Ansonsten gab es nicht viel zu sehen, doch dann beschleunigten sich die Atemgeräusche, und plötzlich waren Bewegungen in der Dunkelheit zu erkennen.
Die Szene dauerte rund vier Minuten. Dann zuckte der Bildschirm erneut und Eine wie keine dröhnte aus der Stille zurück in den Raum, während Jeremy, der jetzt hellwach und hoch konzentriert war, den Bildschirm anstarrte, als erwarte er, dass jemand aus seiner Rolle heraustrat und vielleicht in die Kamera hinein erklärte, was alle da gerade gesehen hatten.
Doch er wusste, dass das nicht geschehen würde. Jemand hatte eine Szene in Eine wie keine hineinkopiert. Waren die Kassetten nicht dagegen geschützt, dass man irgendein Zeug darauf spielte? Es musste wohl einen Weg geben, das zu umgehen. Er sah weiter zu, ohne hinzuhören, wartete auf einen dritten Bildwechsel, der einen verständlicheren Kontext für die ersten beiden liefern würde, doch es kam nichts. Nach zwanzig Minuten überlegte er, die Kassette zurückzuspulen. Stattdessen entschied er, auf Schnellvorlauf zu schalten, ohne vorher auf Stopp zu drücken. Jetzt lief das Geschehen wortlos ab, doch alles war in Farbe, alles war der richtige Film.
Er spulte zurück, sobald der Abspann einsetzte, dann sah er sich die Schwarz-Weiß-Szene noch einmal an, und dann noch ein drittes Mal. Schließlich ging er in sein Zimmer und versuchte zu schlafen, mit mäßigem Erfolg.
Die Stille des Schnees draußen im Garten am nächsten Morgen: Das war vermutlich das Beste am Winter, diese Morgen mit ihrer reinen Stille. Jeremy hatte schlecht geschlafen und stand vor Sonnenaufgang auf. Er dachte darüber nach, Eine wie keine noch einmal anzusehen, fragte sich, ob er es seinem Dad zeigen sollte. Doch er entschied sich, es zu vergessen. Jemand hatte etwas Persönliches auf einem Film aufgezeichnet, den er ausgeliehen hatte; das sollte eigentlich nicht möglich sein, aber vielleicht war es das doch. Wer hatte das schon ausprobiert, wer würde sich die Mühe machen?
Die Straße zum Lincoln Highway wurde erst am Nachmittag geräumt. Jeremy musste anrufen, dass er später kommen würde. Er erreichte die Arbeit gegen zwei Uhr. Sarah Jane saß auf ihrem Hocker vor dem Computer und löste ein Kreuzworträtsel.
»Ich hätte anrufen und dir sagen sollen, dass du zu Hause bleiben kannst«, sagte sie. »Es kommt eh keiner, bis sie die Nebenstraßen geräumt haben.«
Er stand in der Tür und trat sich den restlichen Schnee von den Schuhen. »Schon okay«, sagte er.
»Hast du Lust, morgen wieder diese Schicht zu übernehmen?«, fragte sie. »Ich will nicht, dass Ezra auf diesen Straßen im Dunkeln nach Hause fährt.« Ezra wohnte mit seinen Eltern südlich von Ames, auf einem der ältesten Grundstücke der Gegend. Er musste fast einen Kilometer Schotterstraße fahren, bis er den Highway erreichte, in einem Auto, das der Aufgabe kaum gewachsen war. Sein Vater hatte angeboten, ihn mit der Anzahlung für etwas Robusteres zu unterstützen, doch Ezra, mit seinen gerade einmal neunzehn Jahren, hatte eine tiefe Abneigung gegenüber Schulden und eine noch tiefere gegenüber dem Entsorgen eines Werkzeugs, das noch irgendwie zu gebrauchen war. So sind die Leute, die auf einer Farm aufgewachsen sind, wie ich festgestellt habe. Sie werfen ungern brauchbare Dinge weg.
»Kein Problem«, sagte Jeremy. So hatte man ihn erzogen.
»Pizza?« Sie deutete auf eine Casey’s-Kiste, die auf der Theke stand.
»Klar«, sagte Jeremy. Er wusste, er sollte mehr auf seine Ernährung achten, aber er kam nie dazu, es zu versuchen. Er zog sich einen Hocker heran, stellte seinen Rucksack ab und sah zum Bildschirm hinauf. Sarah Jane guckte Nachrichten, in denen es ausschließlich ums Wetter ging, darum, welche Straßen frei waren und welche nicht, wie lang es dauern würde, um von Des Moines nach Urbandale oder Ankeny oder Clive zu fahren.
»Hey, eine Kundin hat sich über die hier beschwert, deshalb habe ich sie mitgenommen«, sagte er nach einer Weile, während er sich die Hände an der Jeans abwischte. »Jemand hat da was draufgespielt.«
»Jemand hat was?«
»Was draufgespielt. So eine Szene in einer Scheune, mit so Leuten drin. Hat mir irgendwie Angst eingejagt.«
Sie griff nach der Kassette und sah sie sich an, als könne sie das Problem auf der Stelle offenbaren. »Haben die nicht so Schreibschutzlaschen?«
»Keine Ahnung«, sagte Jeremy. »Ich dachte, man kann die eh nicht überschreiben.«
»Okay, ich guck’s mir an«, sagte Sarah Jane, und sie stand auf und ging in den Pausenraum, der nicht annähernd groß genug war, um darin tatsächlich seine Pause zu verbringen, weshalb er als Garderobe diente. Jeremy überlegte einen Moment, ihr vorzuschlagen, dass sie es sich im Laden ansehen könnten, doch dann fiel ihm auf, dass er es sich wirklich nicht noch einmal ansehen wollte und dass es nicht mehr sein Problem war, jetzt, da er seiner Chefin davon berichtet hatte.
Gegen vier Uhr herrschte ordentlich Kundenandrang: Menschen, die es zur Arbeit geschafft hatten, aber davon ausgingen, das gesamte Wochenende zu Hause zu verbringen. Sie besorgten sich einen Vorrat an Filmen, die sie gucken würden. Die Abteilung »Kinder und Familie« war schon um halb sechs beinahe leergeräumt, dann ließ der Ansturm langsam nach. Sarah Jane fuhr nach Hause, und Jeremy hätte früher dicht machen können, wenn er gewollt hätte, doch er blieb bis um neun. Ein leeres Geschäft störte ihn nicht. Es war besser, nach Hause zu fahren, wenn weniger Leute auf den Straßen unterwegs waren.
Bewegliche Ziele ist ein Film von Peter Bogdanovich aus dem Jahre 1968. Er zeigt die Leben zweier Personen, deren Wege sich kreuzen werden: Byron Orlok, ein alter Filmstar in der Spätphase seiner Karriere, gespielt von Boris Karloff, und Bobby Thompson, ein junger Soldat, der gerade aus Vietnam zurückgekehrt ist, gespielt von Tim O’Kelly, der auch den Danno in der Pilotfolge von Hawaii Five-O gab.
Karloff war achtzig, als er die Rolle des Byron Orlok bekam. Sein Vertrag sah nur zwei Drehtage vor, doch er mochte das Drehbuch so sehr, dass er, als drei weitere Tage nötig wurden, um seine Szenen fertigzustellen, ohne Bezahlung weiterarbeitete. Seine Darstellung stellt einen Triumph des menschlichen Willens über das störrische Fleisch dar; obwohl er an einem Emphysem und rheumatischer Arthritis leidet, seine Beine durch Schienen gestützt werden und er nur mithilfe eines Gehstocks stehen oder laufen kann, spielt Karloff gegen sämtliche Widrigkeiten von Krankheit und Alter an. Orlok ist, genau wie der Schauspieler, ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit; die Monster, die er als jüngerer und kräftigerer Mann gespielt hat, sind den anhaltenden Erschütterungen des späten zwanzigsten Jahrhunderts gewichen, den Gräueltaten des Krieges und der Isolation des modernen Lebens. Es gibt jetzt neue Monster.
Das Monster in Bewegliche Ziele ist Bobby, der eines Tages nach dem Frühstück, ohne erkennbaren Anlass, seine halbe Familie und einen Lieferanten umbringt, in sein Auto steigt und davonfährt. Er klettert auf einen Öltank neben einem stillgelegten Vergnügungspark, von dem aus er die Schnellstraße überblicken kann. Er isst etwas, trinkt eine Coca-Cola und schießt dann, ohne jede Emotion, auf die vorbeifahrenden Autos. Als die Polizei ihn festzunehmen versucht, entkommt er und versteckt sich in einem Autokino.
Jetzt folgt der Höhepunkt des Films. Von seinem Versteck hinter der Leinwand des Autokinos zielt er auf Besucher in ihren Fahrzeugen. Er erwischt einen Mann in einer Telefonzelle, einen anderen am Imbissstand. Wütende Kinobesucher, einige von ihnen bewaffnet, stürmen über den Asphalt. Orlok, der zur Premiere von Der Schrecken, seinem allerletzten Film, angereist ist, steigt aus seiner Limousine und trifft, im Halbdunkel des Vorführraums, auf Bobby. Es kommt zum Gerangel; der ältere Mann entwaffnet den jüngeren mithilfe seines Gehstocks. Als die Polizei den Schützen in Handschellen abführt, fragt er sich laut, wie viele Menschen er getötet hat und ob er es in die Abendnachrichten schaffen wird.
Die VHS-Kopie von Bewegliche Ziele, die im Regal von Video Hut steht, enthält zwei Szenen, die es in der Originalfassung nicht gibt. Die erste davon ist kurz und absolut inhaltsleer: die statische Einstellung eines Stuhls, der in der Ecke eines Außengebäudes steht, einer Scheune vielleicht oder eines Werkzeugschuppens. Ohne weitere Anhaltspunkte ist es schwer zu sagen. Am linken Bildrand ist ein Teil einer Werkbank zu sehen oder eines Sägebocks; diese Einstellung wird zwei stille Minuten lang gehalten, fast unverändert. Nach der Hälfte der Zeit wackelt kurz das Bild, als wäre ein schwitziger Daumen vom Gehäuse der Kamera abgerutscht, doch davon abgesehen passiert nichts, was zu beschreiben wäre. Der Stuhl, die Ecke von etwas; hinter dem Stuhl eine Wand, Wellblech, Aluminium oder Stahl. Ton ist zu hören, doch niemand macht ein Geräusch. Das Mikrofonrauschen deutet darauf hin, dass die Luft in dem Raum, in dem die Szene aufgenommen worden ist, still und leise war.
Die zweite Szene ist länger. Auch hier ist der Stuhl in dem Gebäude zu sehen, doch jetzt sitzt jemand darauf. Sie oder er hat einen Stoffbeutel über dem Kopf, wie eine Kapuze. Ein gelbes, kunststoffummanteltes Kabel um ihren Hals hält den Beutel an Ort und Stelle. In ihrem weiten T-Shirt und der Jeans könnte die Person auf dem Stuhl irgendwer sein: Es ist nicht möglich, sie in irgendeinen externen Kontext zu setzen. Wenn man sie zum ersten Mal sieht, könnte man denken, dass sie an dem Stuhl festgebunden ist. Die Kapuze und das Kabel deuten auf Gefangenschaft hin, auf Gefesseltsein, Unfreiheit. Ihre Hände befinden sich hinter ihrem Rücken. Doch dann steht sie, oder auch er, es macht keinen Unterschied und es lässt sich schlicht nicht sagen, auf und bringt beide Arme vom Rücken über den Kopf, die Hände hält sie wie Klauen, die Finger gespreizt und nach unten gerichtet, wie jemand, der gleich in die Tasten eines Klaviers hauen oder Blitze zur Erde schießen will. Langsam hebt sie den linken Fuß. Das rechte Knie erzittert und gibt beinahe nach, doch sie hält die Pose.
So bleibt sie minutenlang stehen. Wenn sie ihr Gleichgewicht zu verlieren droht, richtet sie sich neu aus, durch das nicht wahrnehmbare Kalibrieren von Sehnen und Muskeln. Ihre Mühe, ihre Konzentration sind greifbar. Man hört das Geräusch ihres Fußes, wenn sie sich bewegt, ein korrigierendes Stottern. Außerdem hört man, wie jemandes Ärmel das Mikrofon der Kamera streift. Wenn man den Ton laut genug dreht, ist sogar das Geräusch zu hören, wenn die Hand hinter dem Objektiv hervorkommt und kurz ins Bild hineinragt. Da. Swisch.
Die Hand hält einen Malpinsel. Die Kamera rückt vor, vermutlich gehalten von der anderen Hand des Malers: Der Kopf in dem Stoffbeutel, jetzt in Nahaufnahme, atmet hörbar, gleichmäßig, ein wenig angestrengt. Die Hand fängt an, etwas auf die Stoffkapuze zu malen: Sie malt dort, wo die Augen wären, welche hin, jedoch übertrieben, grotesk, unrealistisch. Eine Karikatur. Ein-, zweimal schmiert sie gedankenlos auf die linke Wange, was einen unzusammenhängenden Klecks hinterlässt. Im Bereich der Stirn fängt sie Linien an, die zu Buchstaben werden könnten – ein Winkel ist zu sehen, möglicherweise die ersten Striche eines N oder eines M, vielleicht auch eines A. Dann wackelt das Bild, und die Tür des Gebäudes ist zu sehen. Sie steht offen und führt auf einen Hof hinaus, doch nach einer Sekunde wird die Kamera ruckartig wieder auf das Innere des Gebäudes gerichtet.
Sie hält an, bevor sie die aufgestandene Person erreicht. Jetzt ist nichts mehr im Bild außer der Wand, die sich dreht, hochkant zu sehen ist, und jetzt sehen wir entweder die Decke oder den Fußboden.
Jemand sagt: »Moment. Ich habe nicht–«
Dann setzt Bewegliche Ziele wieder ein, mitten in der Actionszene an der Schnellstraße. Bobby drückt immer wieder ungerührt ab. Das Schicksal, vor dem ihn niemand wird retten können, nimmt seinen Lauf – es sei denn, man möchte zurückspulen und sich die Szene im Schuppen noch einmal ansehen, was durchaus möglich ist, vielleicht sogar noch zweimal, für den Fall, dass man etwas übersehen hat, einen Fingernagel vielleicht oder einen Stiefel oder eine lose Haarsträhne.
Es vergingen mehrere Wochen, bis Jeremy sich Bewegliche Ziele schließlich ansah. Sarah Jane hatte ihm nie eine Rückmeldung zu Eine wie keine