Roman
© 2011 bei Kathleen Weise
Überarbeitete Neuveröffentlichung
Im Land des Voodoo-Mondes
Erstveröffentlichung 2011 bei
Thienemann/Planet Girl
Redaktion: Boris Koch
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.kathleenweise.de
Satz und Layout: Textwache
Druck: Bookwire, ORT
Edition Medusenblut, Leipzig
http://www.medusenblut.de
Print ISBN: 978-3-935901-60-4
E-Book ISBN: 978-3-935901-61-1
Prolog
Le Cap 1789
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Nachwort
Sachregister
Die Idee zu dieser Geschichte kam mir während einer Voodoo-Ausstellung in Berlin, die ich gemeinsam mit einer Freundin besuchte.
Als ich vor einem Spiegel stand, durch den man angeblich Kontakt zu Luzifer aufnehmen kann, trat eben diese Freundin neben mich, und ich flüsterte ihr zu:
»Wenn der Teufel gerade auf mich aufmerksam geworden ist, weil ich in dieses Ding geschaut habe, dann hängst du jetzt auch mit drin.«
Worauf sie antwortete: »Dafür sind Freunde ja da. «
Dieses Buch ist also für Dr. Sandra Pinkert – weil sich echte Freunde mit dir gemeinsam dem Teufel stellen.
Im Jahr 1697 tritt Spanien das westliche Drittel der Karibikinsel Hispaniola an Frankreich ab.
Dieser Teil heißt fortan Saint-Domingue und wird in den darauffolgenden Jahrzehnten zur reichsten Kolonie der Welt. Wichtigstes Handelszentrum ist die Hafenstadt Le Cap, die eigentlich Cap Français heißt.
Der sagenhafte Reichtum von Saint-Domingue gründet sich vor allem auf die Ausfuhr von Zucker, Kaffee und Tabak. Doch die Zuckerrohrplantagen sind für all jene, die unter den schwierigen klimatischen Bedingungen auf den Feldern schuften müssen, die Hölle auf Erden.
Jedes Jahr werden ungefähr zwanzigtausend afrikanische Sklaven von Menschenhändlern auf die Insel verschleppt, denn auf den Plantagen überleben die meisten von ihnen nur drei bis vier Jahre. Sie sterben an Hunger, Erschöpfung und Folter.
Herrscher der Insel sind die sogenannten Grand Blancs, weiße Plantagenbesitzer, die mit unmenschlicher Härte das Schicksal ihrer »Neger« lenken.
Doch nicht alle französischen Eigentümer leben auch in der Kolonie. Häufig stellen sie lediglich einen Verwalter ein, der in ihrem Namen die Plantage verwaltet. Über die tatsächlichen grausamen Zustände in Saint-Domingue machen sie sich kaum Gedanken, denn unter den vermögenden Franzosen gilt »die Perle der Antillen« als ein Ort, an dem man zwar noch reicher werden, aber nicht leben kann.
Diesen Grand Blancs stehen die Petit Blancs gegenüber, Weiße, die sich unter anderem als Handwerker, Händler und Beamte auf der Insel verdingen, allerdings auch als Abenteurer und Verbrecher. Obwohl sie über sämtliche politischen Rechte freier Bürger der Kolonie verfügen, fehlt den Petit Blancs in den meisten Fällen das nötige Vermögen, um sich mit den Plantagenbesitzern auf eine gesellschaftliche Stufe zu stellen, was zu Neid und Missgunst führt. Ganz anders verhält es sich dagegen mit den freien Mulatten, häufig Kinder von farbigen Sklavinnen und ihren Herren. Einige von ihnen sind sogar selbst Plantagenbesitzer. Sie verfügen oft über ein gutes Einkommen, es fehlt ihnen jedoch an politischen Rechten und Entscheidungsgewalt. Damit nehmen sie eine Sonderstellung innerhalb der Gesellschaft ein.
Ganz unten im sozialen Gefüge steht die halbe Million Sklaven, die für ihre Herren nicht viel mehr als Arbeitstiere sind, und auch dementsprechend behandelt werden. Immer wieder kommt es zu Aufständen gegen diese Unterdrückung und das Elend, das die Insel beherrscht, aber diese werden blutig niedergeschlagen.
Noch können die Grand Blancs ihre Herrschaft über die Insel verteidigen, doch die Spannungen zwischen den Bevölkerungsschichten wachsen. Besonders zwischen den freien Mulatten und den Petits Blancs, die sich durch die Mulatten in ihrer Stellung bedroht fühlen. Außerdem flüchten immer mehr Sklaven von den Plantagen in die Berge. Wer auf einer solchen Flucht gefasst wird, überlebt seine Gefangennahme meist nicht.
Aber die Zeiten ändern sich.
In Frankreich werden die Stimmen nach einer Revolution lauter, die bis in die Kolonien zu hören sind, und im Frühjahr 1789 gleicht Saint-Domingue einem Pulverfass, das jeden Moment zu explodieren droht …
Die Trommeln raubten Éloise den Verstand. Das dumpfe Schlagen drang ihr bis ins Innere und übertrug sich auf ihre Eingeweide, als bestünde die Oberfläche ihres Herzens selbst aus Trommelhaut. Flimmernde Luft, schwarze Leiber und der schwere Duft von Orchideen bildeten einen Kokon, der sie einhüllte und aus dem es kein Entrinnen gab.
Tam-tam-tam.
Sie sah nichts mehr außer den wirbelnden Röcken, die einen sich windenden und zuckenden Farbreigen bildeten. Glutrot, safrangelb und ozeanblau zogen die Kreisel an Éloise vorüber, und immer wieder berührten die Rocksäume ihre Beine.
Sie spürte Hände, die sie streiften, und Schultern, die sie hin und her schoben, tiefer hinein in den Strudel aus Musik und Tanz. Dagegen wirkte selbst der Sprung über das Johannisfeuer daheim auf den Wiesen vor Nantes wie ein harmloses Kinderspiel.
Noch nie hatte Éloise diese Art von Tanz gesehen, er war ausgelassen und frivol. Nackte Arme und Beine, auf denen der Schweiß glänzte, hoben sich, als besäßen sie ein Eigenleben. Die Körper bogen sich in seltsamen Verrenkungen. Sie alle folgten dem Rhythmus der Trommeln, der sie in ihren Bann schlug.
Tam-tam-tam.
Immer schneller und wilder.
Éloise konnte nicht sagen, wie sie in dieses Spektakel geraten war – in einem Moment lief sie noch neben Tanguy durch die Straßen von Le Cap und im anderen Moment stand sie inmitten einer Horde Sklaven, die sich wie Verrückte gebärdeten. Nirgendwo konnte sie einen Weißen sehen, und selbst die Mulatten, die sich sonst wie welche verhielten und Kleidung nach französischer Mode trugen, rissen ihre Hüte vom Kopf und tanzten barfuß über den kleinen staubigen Platz abseits der Hauptstraße. Wohin Éloise sich auch wandte, erhob sich vor ihr eine Mauer aus Sklaven, die sich ganz der Musik hingaben und wie berauscht auf nichts mehr achteten.
Unsanft stieß sie mit einem Mann zusammen, der sie an den Ellbogen fasste und ihr ins Gesicht starrte, als sei Éloise eine Erscheinung. Dabei übertrugen seine Finger eine brennende Hitze auf ihre Haut. Er war nicht viel größer als sie, schmächtig, mit ausgehöhlten Wangen und einer Brandnarbe im Gesicht, die es ihm unmöglich machte, das linke Auge vollständig zu öffnen. Sie hob sich merkwürdig rosa gegen seine schwarze Haut ab. Er war in einen alten, löchrigen Rock gekleidet, dessen Ärmelaufschläge bereits Fäden zogen, der aber vor langer Zeit einmal einem eleganten Herrn gehört haben musste, denn er war aus kostbarem Brokatstoff, dessen Silberstickereien in der Sonne glänzten. Aber das war nicht das Auffälligste an seinem Aufzug. Um den Hals trug der Mann eine Kette, an der Muscheln, winzige Holzfiguren und kleine Tierschädel hingen. Auch eine getrocknete Schlangenhaut wand sich um das lederne Band, das er sich in mehreren Reihen um den Hals geschlungen hatte. Die Schädel klapperten gegen das Holz und bildeten eine eigene Melodie im Rhythmus der Trommeln.
Klack-klack-klack.
Auf ihrem Gesicht konnte Éloise seinen Atem spüren und den Rum darin riechen, dem er bereits reichlich zugesprochen hatte. Der Teufel, dachte sie, und versuchte panisch, sich von ihm loszureißen, aber er hielt sie fest und redete auf sie ein. Sie verstand kein einziges Wort. Die Sätze prasselten auf sie ein in dieser merkwürdigen Sprache, derer sich die Menschen hier bedienten und die manchmal wie Musik klang, wenn sie schnell gesprochen wurde – eine Melodie, die verzaubern und willenlos machen sollte.
»Les morts et les mystères …«, drang es aus dem Mund des Sklaven. Es war gebrochenes Französisch, das wie eine Drohung klang.
Die Toten und die Geheimnisse.
Einem Tier in der Falle gleich versuchte Éloise zu entkommen. Sie zog und zerrte, aber es nützte nichts, sein Griff um ihre Arme verstärkte sich nur, und je mehr sie zog, desto fester packte er sie. Niemand um sie herum schien von ihnen Notiz zu nehmen, niemand kam ihr zu Hilfe oder schaute sie auch nur an. Als wären sie unsichtbar.
Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle; Tanguys Namen – immer wieder stieß sie ihn aus, in der verzweifelten Hoffnung, dass er sie hören würde.
Ihre Hand tastete nach der durchstochenen Münze, die sie an einer goldenen Kette um den Hals trug und die das letzte Geschenk ihrer Mutter gewesen war.
Ohne es zu merken, hielt sie dem Schwarzen die Münze mit dem Königsprofil entgegen, wie ein Kreuz, das vor Dämonen schützen sollte. Da endlich ließ er sie los, doch nur, um selbst nach seiner Kette zu greifen und sie sich mit diesem furchtbaren Klappern über den Kopf zu zerren.
Wütend schüttelte er Éloise die Faust entgegen, sodass sie das Ende der Kette beinahe im Gesicht traf. Dabei bewegten sich seine Lippen weiter in einem zornigen Crescendo. Erschrocken taumelte Éloise nach hinten. Sie stürzte, hob die Hände, um sich vor den stampfenden Füßen zu schützen, und zog die Knie an, während sich der Kreis der tanzenden Leiber noch enger um sie schloss und die Trommeln immer wieder zu ihrem hypnotischen Rhythmus ansetzten.
Tam-tam-tam.
Éloise kam es vor, als würde sich ihr Mieder von selbst noch enger um sie schnüren. Die Luft blieb ihr weg und die Fischbeinstangen des Mieders drückten unnachgiebig auf die Lunge. Am Rand ihres Gesichtsfeldes blitzten Sterne auf, gefolgt von Schwärze, die von den Seiten näher kroch, während das dumpfe Schlagen der Trommeln und der Gestank nach Rum Éloise in die nahende Ohnmacht begleiteten …
Doch plötzlich wurde sie fortgerissen, Arme umfassten sie und hoben sie hoch. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, denn unter den Fingern spürte sie das weiche Leder einer alten, abgetragenen Weste.
»Tanguy«, flüsterte sie und hörte noch, wie er antwortete: »Ich bin hier», bevor die Schwärze sie gänzlich eingeholt hatte und sie dankbar in ihr versank. Jenseits der dunklen Wand war das Schlagen der Trommeln nicht mehr zu hören …
Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft auf der Insel Saint-Domingue durchzogen Éloises dunkelbraunes Haar bereits von der Sonne ausgebleichte Strähnen. Die in Locken gelegte Frisur war einem einfachen Knoten gewichen, doch selbst darunter bildete sich noch Schweiß und floss ihr den Nacken hinunter. Inzwischen sah sie aus, als hätte jemand ihre Haut mit Eigelb eingestrichen, denn genau wie Brote im Ofen hatte sie unter der Gluthitze Farbe angenommen.
Nach nur einer Woche auf dieser Insel am Ende der Welt erkannte sie sich im Spiegel kaum wieder.
»Wenn das so weitergeht, werdet Ihr eines Tages genauso aussehen wie Honoré«, sagte Tanguy, der Vertraute ihres Vaters, als er bemerkte, wie sie sich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Wange fuhr und in dem alten, beschlagenen Spiegel die seltsamen Veränderungen betrachtete, die die Sonne mit ihr anstellte.
Irritiert blinzelte sie. »Glaubst du wirklich, dass wir irgendwann so werden wie diese Schwarzen? «, fragte sie. Ihre Erzieherin, Madame Cigny, hatte zwar behauptet, dass es nicht möglich sei, die Hautfarbe zu wechseln, aber wer wusste schon, was in diesem seltsamen Land alles geschehen konnte.
Lachend hob Tanguy den letzten Koffer auf, um ihn nach unten zu tragen. »Ich glaube nicht, dass Ihr Euch darüber Gedanken machen müsst, Éloise. Wenn es so wäre, müssten ja auch die Herren aus der Kolonialversammlung bereits schwarz bis zu ihren Nasenspitzen sein.«
In seinen breiten Händen sah der große Reisekoffer aus, als würde er nichts wiegen, dabei lagen in ihm das tragbare Fernrohr, mit dem Éloise seit Jahren die Sterne beobachtete, die Planetenmaschine und das Tafelsilber der Familie de Bouillé, das sie aus Frankreich mitgebracht hatten. Als er den Raum verließ, musste er sich bücken, um nicht am Türrahmen anzustoßen. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, hatte sich sein Hemd am Rücken vom Schweiß dunkel gefärbt, und das dunkelblonde Haar klebte ihm in feuchten Strähnen im Nacken. Von ihnen allen ertrug er die Hitze trotzdem am besten, denn als er noch zur See gefahren war, hatte er auch die Länder auf dieser Seite des Ozeans kennengelernt; für ihn war die sengende Sonne eine alte Bekannte, die über die Jahre nichts an Kraft verloren hatte.
Lediglich die Stirn wischte er sich hin und wieder mit seinem roten Taschentuch ab und sein Hemd war weiter aufgeknüpft, als er es daheim in Frankreich des Anstandes wegen gewagt hätte. Darunter kam die gezackte Narbe über seinem Herzen zum Vorschein, die er bei einer Messerstecherei im Hafen von La Rochelle davongetragen hatte – halb verdeckt vom Bild des Heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der Seeleute, das mit Tinte in seine Haut gestochen war.
»Ein Halunke von einem Seemann«, flüsterte Éloise in die Stille des leeren Raums und wiederholte damit nur die Worte, die ihr Vater gern scherzhaft für seinen treuesten Diener verwandte.
Seit siebzehn Jahren stand Tanguy im Dienst der de Bouillés, und als Éloises Vater nach dem Tod ihrer Mutter beschlossen hatte, in die Kolonien aufzubrechen, war Tanguy dem Marquis auch dorthin gefolgt. Zum Glück wie es schien, denn bereits kurz nach ihrer Ankunft auf dieser seltsamen Insel hatte er Éloise gerettet, nachdem sie mitten hinein in eine Calenda geraten war. Eines jener wilden Feste, die die Schwarzen auch in der Öffentlichkeit veranstalteten und mit denen sie ihre Geister, die Loa, ehrten. Das Ganze war ein entsetzliches Spektakel gewesen, und beim Gedanken daran, was hätte passieren können, schauderte Éloise.
Noch immer klangen ihr die zornigen Rufe des Schwarzen mit der Schädelkette in den Ohren und wenn sie die Augen schloss, sah sie die klappernden Tierschädel vor sich. In seinem Gesicht hatte sie kein Mitgefühl gesehen, nur lodernde Wut – und die hatte ihr gegolten.
Nach diesem Vorfall war sie nicht mehr aus dem Haus gegangen. Während sich ihr Vater in der Kolonialversammlung den anderen Grand Blancs vorstellte, um Kontakte für zukünftige Geschäfte zu knüpfen, beobachtete Éloise vom Fenster aus die Stadt, die sich wimmelnd und lautstark unter ihr ausbreitete. Stundenlang lauschte sie den Stimmen, die an ihr Ohr drangen, während die Schatten an den Wänden länger wurden und seltsame Figuren bildeten. Ganze Landschaften entstanden dort auf den Tapeten im roten Licht der vergehenden Nachmittagsstunden; manchmal der bretonische Wald mit seinen hohen Bäumen und manchmal die Straßen von Nantes, die Éloise so gut kannte. Dann hatte sie für einen Moment lang wieder den Geruch von Asche, Parfüm und Färbemittel in der Nase gehabt.
Wenn sie aber blinzelte und in die Wirklichkeit zurückkehrte, hatte stattdessen das Meer die Luft von Saint-Domingue mit seinem Geruch erfüllt, ebenso wie die taufeuchte Erde und die schweren Orangenblüten. Das Klackern der tausenden Absätze auf den Straßenpflastern von Nantes war hier nur noch eine ferne Erinnerung. Viele Bewohner von Le Cap, von denen die meisten Mulatten und Schwarze waren, liefen barfuß über die Wege aus festgestampfter Erde, und dieses stetige Patt-patt-patt nackter Füße erinnerte Éloise an die Trommeln der Sklaven.
Sie hatte so viele Stunden an diesem Fenster verbracht, dass sie inzwischen sogar erkennen konnte, wer gerade von Bord eines Schiffes kam und wer schon mehrere Monate auf der Insel lebte. Ganz gleich, welcher Schicht sie angehörten, mit der Zeit machten sich die Kolonisten alle jenes eingefärbte Französisch zu eigen, in das sich kreolische Sprachfetzen mischten, und auch ihr Gang passte sich dieser Melodie an. Er wurde weicher und wiegender.
Obwohl Tanguy ihr versicherte, dass sie mit ihm an ihrer Seite auf den Spaziergängen sicher sei, konnte sich Éloise nicht überwinden, noch einmal in das Gewühl der Stadt einzutauchen.
Die engen Gassen von Le Cap bedrückten sie genauso wie die Gedanken an daheim.
Seufzend sah sie sich ein letztes Mal in dem kleinen Zimmer um. In dem Salon stand nun nichts mehr außer einem blauen Sofa und einer Kommode mit Spiegel. Beides gehörte dem Besitzer des Hauses, einem gewissen Monsieur Robert, der vor fünfzehn Jahren in die Kolonien gekommen war und es offenbar verstanden hatte, sein Glück zu machen. Er besaß im französischen Teil der Insel mehrere Häuser, von denen er ihnen eines für die Dauer ihres Aufenthaltes in Le Cap überlassen hatte. Gegen eine unverschämte Summe Gold, verstand sich. Aber Éloises Onkel hatte Monsieur Robert in seinen Briefen nach Frankreich als vertrauenswürdigen Mann empfohlen, der sich nach ihrer Ankunft um sie kümmern würde; daher waren sie auf das Angebot eingegangen.
»Mademoiselle«, sagte plötzlich eine raue Stimme von der Tür her und unterbrach ihre Gedanken. »Euer Vater erwartet Euch.«
Erschrocken drehte sich Éloise um und konnte nicht verhindern, dass ihr nach all diesen Tagen noch immer ein Schauer über den Rücken lief, wenn sie Honoré erblickte. Lautlos wie eine Katze war der Diener von Monsieur Robert hinter ihr aufgetaucht.
Honoré war der erste Schwarze gewesen, den sie je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Die Haut des Sklaven war so dunkel wie die heiße Schokolade, die am Place de Grève in Paris verkauft wurde, dazu war er mindestens zwei Köpfe größer als Éloise und seine Schultern waren sogar noch breiter als Tanguys. Wenn er sprach, blitzten die Zähne zwischen seinen Lippen wie ein gefährliches Raubtiergebiss auf. Monsieur Robert hatte ihn in den Hafen geschickt, um sie mit einer Kutsche abzuholen. Wie alle Sklaven vermied es Honoré, Éloise direkt anzusehen, weil es ihm verboten war. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sein Blick ihr folgte, sobald sie den ihren von ihm abwandte. Die Art, wie er, ohne ein Geräusch zu verursachen, über die Dielen lief, war ihr unheimlich. Es erinnerte sie an die jagenden Luchse im Unterholz.
Über ihre Furcht hatte ihr Vater nur gelacht und gemeint, sie würde sich schon daran gewöhnen, schließlich sei es ihrer Mutter vor siebzehn Jahren auf der Hochzeitsreise genauso ergangen. Und auch sie hätte sich irgendwann an den Anblick all dieser Schwarzen gewöhnt.
Aber nicht genug, um noch einmal hierher zurückzukehren, dachte Éloise bitter, als sie langsam die breite Holztreppe nach unten ging, während Honoré am oberen Ende stand und ihr nachsah. Steif wie eine Statue, da war sie sich sicher. Sein Blick brannte ihr im Rücken, und am liebsten wäre sie vor ihm davongelaufen. Aber das tat sie nicht. Er war nur ein Sklave, wovor sollte sie also Angst haben? Es war lächerlich.
Ihre Schritte hallten laut in der Stille des Flurs wider. Am Fuß der Treppe drehte sie sich noch einmal nach Honoré um, und zum ersten Mal in all den Tagen trafen sich ihre Blicke – und Éloise erschrak. Hastig machte Honoré mit der rechten Hand das Kreuzzeichen und senkte die Lider.
Der Sklave hatte sie angesehen wie einen Geist.
Eine nervöse Unruhe befiel sie. Nur mühsam konnte sie den Blick von ihm losreißen und weitergehen. Erst als sie im Flur ankam und seine Gestalt durch die breite Flügeltür verdeckt wurde, gelang es ihr, sich abzuwenden.
Etwas an seinem Gesichtsausdruck hatte sie zutiefst verstört – mehr noch, als es die letzten Tage schon der Fall gewesen war. Ihr war nicht entgangen, dass sein Blick wie fieberhaft auf ihrer Kette mit der Münze gelegen hatte und dieser Gedanke verursachte ihr eine Gänsehaut, ohne dass sie wusste warum.
Fröstelnd trat sie ins Freie, wo sie die Sonne und der Lärm der Straße mit voller Wucht trafen. In der gleißenden Helligkeit, die sie blendete, hoben sich dunkle Schemen gegen die flirrende Luft ab. Hinter der Kutsche zog der Menschenstrom vorüber, Geschwätz drang wie Summen an Éloises Ohr und in der Ferne knallten Peitschenhiebe, die vielleicht ein Fuhrwerk antrieben.
»Beeil dich, Kind, alles wartet nur auf dich«, brummte ihr Vater mürrisch neben ihr und reichte Éloise die Hand, um ihr in die Kutsche zu helfen. Dabei hatte er die braunen Augen, die ihren so ähnlich sahen, unwillig ein Stück zusammengekniffen.
Als sie auf dem unbequemen Polster Platz genommen hatte und auch Tanguy eingestiegen war, klopfte ihr Vater mit dem silbernen Griff seines Degens gegen die Rückseite des Kutschbocks, und das Gefährt setzte sich rumpelnd in Bewegung.
Éloise warf einen letzten Blick zu dem Fenster im ersten Stock empor, in dem die Sonne die Glasscheibe zum Gleißen brachte und förmlich darin zu explodieren schien.
Einen Herzschlag lang glaubte sie, dahinter einen Schatten wahrzunehmen, aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Im blendenden Licht konnte man seinen Augen nicht immer trauen.
Die Sicherheit dieses Hauses blieb nun in Le Cap zurück, während ihr Vater sie tiefer ins Innere der Insel führte. Als wäre Éloise ein Gegenstand, den man willkürlich verrücken konnte. Von Frankreich an die Küste dieser gottlosen Insel und weiter hinein ins Unbekannte. Was ihre Mutter wohl dazu gesagt hätte, dass er nun nach Saint-Domingue zurückkehrte? Ausgerechnet auf jene Insel, von der sie noch jahrelang Albträume gehabt hatte, aus denen sie schreiend erwacht war. Schweißgebadet und fiebrig …
Bedrückt griff Éloise nach der Münze, die sie an einer Kette um den Hals trug und die früher einmal ihrer Mutter Béatrice gehört hatte. Unter ihren tastenden Fingern blieb das Metall trotz der Hitze merkwürdig kühl.
In Frankreich war sie nie abergläubisch gewesen, aber jetzt packte sie zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie eine böse Vorahnung. Fast hätte sie gerufen: Haltet an, wir dürfen die Stadt nicht verlassen! Doch sie gab dem Impuls nicht nach. Ihr Vater würde ihre Unruhe nur auf überspannte Nerven zurückführen und ihr beruhigend die Hand tätscheln, als wäre sie noch ein kleines Mädchen. Dabei wollte sie kein Feigling sein, denn Tanguy behauptete immer, Feigheit wäre nur etwas für Mäuse und Engländer im Angesicht hungriger Katzen und französischer Soldaten.
Aber Éloise war weder das eine noch das andere. Sie durfte sich von dieser Insel und der brennenden Hitze nur nicht verrückt machen lassen, das war alles.
Langsam ließ sie die Kette wieder unter das Hemd gleiten, und während die Straßen von Le Cap an ihnen vorüberzogen, legte sie die Hand auf die Stelle des Stoffes, unter der die Münze verborgen ruhte.
Doch in ihrem Kopf hörte sie noch immer das dröhnende Tam-tam-tam der Trommeln.
Über die Insel zogen sich weite Gebirgszüge, und das stetige Auf und Ab im Wechsel zwischen Tälern und Bergen machte die Reise beschwerlich und langsam. So waren sie gezwungen, die Nacht in Marmelade, der nächstgrößeren Stadt im Landesinnern, zu verbringen. Sie lag nördlich von Le Cap, in der Nähe des Flusses Les Trois Rivières, der sich türkisblau durch die Landschaft schlängelte. Von dort aus mussten sie noch einen halben Tagesritt weiter, bis sie die Plantage von Éloises Onkel erreichen würden.
In seinem letzten Brief vor ihrer Abreise hatte dieser es bedauert, sie nicht selbst in Le Cap empfangen zu können, aber die Zuckerrohrernte wurde eingeholt, was seine Anwesenheit erforderte. Daher war Monsieur Robert die Aufgabe zugefallen, sich um sie zu kümmern.
Gespannt sah Éloise diesem ersten Treffen mit ihrem Onkel entgegen, der Frankreich bereits vor ihrer Geburt verlassen und den Tante Isabelle daheim fast schwärmerisch einen Abenteurer genannt hatte. Damals war Joseph de Bouillé kaum zwanzig Jahre alt gewesen und als jüngstem Spross einer Adelsfamilie standen ihm nur wenige Wege offen. Weil er sein Heil weder in der Kirche noch in der Armee sah, hatte er sein Glück in der Ferne gesucht und war in die Kolonien aufgebrochen – und nie zurückgekehrt. Glaubte man den Erzählungen Monsieur Roberts, hatte er es hier zu einem reichen Mann gebracht.
Auf der Plantage seines Bruders wollte Éloises Vater lernen, wie man Zuckerrohr pflanzte, um anschließend auf dem Festland in Louisiana eine eigene Plantage aufzubauen. Er hatte Éloise versprochen, dass die Menschen dort französisch sprachen und sie neue Freunde finden würde, ein zweites Zuhause sogar, aber es war eben nicht Frankreich. Es war so weit weg von ihrem geliebten Nantes wie der Mond von der Erde. Vielleicht sogar noch weiter, denn den Mond konnte man wenigstens sehen.
Nachdem sie Marmelade hinter sich gelassen hatten, begegneten ihnen mit jeder Wegbiegung weniger Kutschen und Sänften, denn die Straßen waren schlecht befestigt. Mehr als einmal fuhr die Kutsche durch ein riesiges Loch im Boden, wobei Éloise Gefahr lief, sich den Kopf an der Holzverkleidung zu stoßen. Das Gepäck auf dem Dach rutschte zuweilen gefährlich hin und her, aber die Stricke, mit denen es festgebunden war, verhinderten, dass ein Dutzend Koffer und Kisten nach unten stürzten.
Éloise war gefesselt von der Blütenpracht, die sich rechts und links vom Weg entfaltete und von der in der Stadt kaum etwas zu ahnen gewesen war. Der Wald erhob sich wie eine Wand in die Höhe und bildete an mancher Stelle ein löchriges Dach über ihren Köpfen, durch das die Sonne fiel und zitternde Flecken auf den Boden warf. Das Grün selbst schien zu leben wie eine feuchtglänzende Haut, unter der es pulsierte und wimmelte. Orchideen in unzähligen Farben säumten den Wegesrand und an den Bäumen hingen Früchte, die von Weitem wie Brotleiber aussahen. Große rosafarbene Blüten bildeten Girlanden an den Büschen. Noch nie hatte Éloise ein solches Farbenmeer erblickt. Nicht einmal in den Gärten von Versailles am Hof des Königs. Sie konnte sich gar nicht satt sehen am Nebeneinander der Blumen, von denen eine schöner war als die andere. Der Farbenrausch ließ sie die Furcht vergessen, die sie beim Anblick der Schwarzen von Saint-Domingue am Tag ihrer Ankunft erfasst hatte.
So stellte sie sich den Garten Eden vor, es konnte dort kaum schönere Blumen geben.
Hin und wieder entdeckte sie Papageien im Geäst, die sich nur durch die bunten Flecken in ihren ansonsten grünen Federkleidern oder lautstarkes Geschrei verrieten. Außerdem beobachtete sie einen kleinen Vogel, der beinahe in der Luft stand, so schnell schlug er mit den Flügeln, und dessen langer, spitzer Schnabel in einem Blumenkelch versunken war. Es schien Éloise eine rechte Anstrengung für ein so kleines Tier.
Im Dickicht, das schon wenige Fuß neben dem Weg begann, war dagegen nicht mehr viel zu erkennen. Die breiten Blätter der Bäume verschluckten das Sonnenlicht und tauchten den Wald in ein unwirkliches Halbdunkel, das Éloise mit bloßem Auge nicht durchdringen konnte. Doch die Gerüche, die daraus hervordrangen, erfüllten die Luft, wenn man den Kopf zum Fenster hinausstreckte – süß wie in einer Zuckerbäckerei und schwer wie im Ankleidezimmer einer vornehmen Dame.
Im Inneren der Kutsche allerdings war die Luft stickig und die Hitze fast unerträglich. Es fühlte sich an wie in einer Gesindeküche während der Zubereitung der Speisen. Zwar hatte Éloise beim Ankleiden am Morgen bereits auf die weißen Seidenstrümpfe und den Unterrock verzichtet, sodass sie nur noch ein blaues Hemd und ein einfaches Mieder ohne Fischbein trug, an dem sie den Überrock befestigen konnte – trotzdem klebte ihr der Stoff schon wieder auf der Haut und ihr Haar löste sich Strähne für Strähne aus dem Knoten.
Tanguy hatte ihr in Marmelade einen Strohhut gegen die Sonne besorgt, der weitere Sommersprossen auf ihrer Nase verhindern sollte. Aber die breite Krempe fiel ihr beständig ins Gesicht, weshalb der Hut schon nach kurzer Zeit auf den Platz neben ihr verbannt worden war. Er half genauso wenig gegen die Sonne wie der Fächer, von dessen Griff sich bereits die Farbe löste, da Éloise im schweißtreibenden Inneren der Kutsche so feuchte Finger bekam.
Selbst ihr Vater setzte seine Perücke seit Tagen nicht mehr auf, weil er darunter apfelrot angelaufen war. Mit seinen echten, braunen Haarstoppeln, die an den Schläfen bereits grau wurden, sah er aus wie ein Bürgerlicher, der in seinem Leben noch nie bei einem Schneider gewesen war. Wären nicht der Degen und die roten Absätze seiner Schuhe gewesen, man hätte ihn für einen einfachen Händler halten können.
Die Hitze auf Saint-Domingue erreichte, was weder Reformation noch Pest geschafft hatten: Die französische Mode verkam zu bloßer Bedeckung!
Nachdem sie eine Zeit lang unterwegs waren, schnaufte ihr Vater plötzlich: »Wir werden gegart wie die Hühner!«, und zog es vor, auf eines der Pferde umzusteigen. Ein wunder Hintern war ihm offenbar lieber als ein Hitzschlag. Als Éloise es ihm jedoch gleich tun wollte, murrte er unwillig: »Sei nicht albern, Kind, was sollen die Leute denken, wenn du hier auf einem Lastpferd transportiert wirst?«
»Welche Leute meint Ihr, Vater?«, erwiderte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und deutete aus dem Fenster. Auf dem Weg, der vor ihnen lag, war weit und breit kein einziger Mensch zu sehen. Doch ihr Vater ging nicht darauf ein.
»Es sind unruhige Zeiten«, murmelte Tanguy, der Éloise in der Kutsche gegenübersaß, als er ihren finsteren Blick bemerkte. »Auf einem Pferd gebt Ihr ein gutes Ziel ab.«
»Für wen? Die Truthahngeier?« Unwillig klappte Éloise den Fächer zusammen und warf ihn neben den Strohhut.
»Es gibt genug Gesindel, das nicht allzu gut auf uns Franzosen zu sprechen ist«, erwiderte Tanguy. »Nehmt die Spanier zum Beispiel. Denkt Ihr, die sind glücklich darüber, dass Frankreich mit der Insel reich wird, die einmal ihnen gehört hat?« Misstrauisch beäugte er die blühenden Sträucher, die den Weg säumten. Auf den Knien balancierte er eine Steinschlosspistole mit goldverziertem Griff, den er fest umklammerte. »Oder die Engländer, diese Hunde! Die nur darauf warten, dass hier die Hölle losbricht, damit sie eine Chance erhalten, die Insel zu übernehmen. Und nicht zuletzt die flüchtigen Sklaven, die ihr Unwesen jenseits der Wege treiben.« Er schüttelte den Kopf und kratzte sich mit der freien Hand die blonden Stoppeln am Kinn, weil er am Morgen nicht dazu gekommen war, sich zu rasieren. »Nein, glaubt mir, an Gefahren mangelt es nicht.«
»Willst du mir vielleicht Angst machen?«, fragte Éloise, woraufhin er ihr einen düsteren Blick zuwarf.
»Ich will Euch erklären, warum es besser für Euren hübschen Kopf ist, wenn Ihr ihn während der Reise in der Kutsche lasst. Monsieur Robert hat den Begleitschutz sicher nicht ohne Grund empfohlen.« Nun war es an ihm, mit der Hand nach draußen zu deuten.
Éloises Blick folgte unwillkürlich der Bewegung. Der Händler aus Le Cap hatte ihnen vier Männer der Mulattenmiliz vermittelt, die sie zur Plantage ihres Onkels begleiteten.
»Ungebildet allesamt, aber brauchbar«, hatte er bei der Abreise gesagt und dabei abfällig gewinkt. Sie sollten die Kutsche vor Übergriffen der Marrons, raubender Banden entlaufener Sklaven, schützen, die in den Bergen lebten und hin und wieder hinunter in die Täler kamen, um Essen und Kleidung zu stehlen. In den letzten Jahren war es in Saint-Domingue zu mehreren Aufständen gekommen, und seit der Sklave Macandal Plantagenbesitzer vergiftet hatte, machte die Maréchaussée, wie die Miliz genannt wurde, Jagd auf die Aufständischen.
Aus dem Fenster heraus beobachtete Éloise die Männer, die mit grimmigen Gesichtern neben der Kutsche herritten, die Blicke genau wie Tanguy auf das sie umgebende Gelände gerichtet, als könne jeden Moment etwas aus dem Gebüsch springen. Ihre Kleider waren staubbedeckt, ebenso wie ihre Gesichter. Von ihren Mienen war kaum eine Regung abzulesen. Wenn sie miteinander sprachen, taten sie es auf Kreolisch, sodass Éloises Vater, Tanguy und sie selbst nur ein paar französische Brocken verstanden, die vor vielen Jahrzehnten in die Sprache eingeflossen waren.
Im Haus von Monsieur Robert war es den Sklaven verboten gewesen, sich auf Kreolisch zu verständigen. Wer es dennoch tat und dabei erwischt wurde, bekam den Stock zu spüren. Auf diese Weise wollte der Händler verhindern, dass sie Absprachen trafen, auf die er keinen Einfluss hatte.
Nachdenklich sah Éloise nach draußen. »Was hältst du von ihnen, Tanguy?«, fragte sie, während sie doch wieder nach dem Fächer griff, um die Männer über den Rand hinweg unbemerkt zu beobachten.
»Was soll man schon groß von ihnen halten?«, murmelte er und wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch ab.
Éloise konnte nicht erkennen, was in seinem Innern vor sich ging. Dadurch erhielt er eine seltsame Ähnlichkeit mit diesen Männern, obwohl er sich doch äußerlich so von ihnen unterschied.
»Scheinen zäh zu sein«, sagte er nach einer Weile, und das klang fast bewundernd.
»Glaubst du, dass es stimmt, was man über sie erzählt?«, grübelte sie weiter.
»Was erzählt man denn?«
»Na ja … dass sie … dass sie nicht viel mehr sind als Tiere …«
»Sehen für mich nicht wie Tiere aus«, war alles, was er dazu sagte.
Der Blick, den Éloise in den Gesichtern dieser Mulatten sah, erinnerte sie auf sonderbare Weise an die Pächter daheim in Nantes, als sie eines Tages während des langen Winters ins Château ihrer Familie gekommen waren, um sich über die hohen Pachtzinsen zu beschweren. Damals hatte sie diesen Blick zum ersten Mal gesehen und begriffen, was er bedeutete: Ablehnung und Wut. Noch Monate später war ihr Vater davon überzeugt gewesen, dass einer von ihnen eines Nachts die Scheibe zum Empfangssaal eingeschmissen hatte.
»Monsieur Robert nannte sie Griffes, als er mit Vater sprach«, überlegte sie laut, »das bedeutet, sie sind Nachkommen von Schwarzen und Mulatten, nicht wahr?«
»Was kümmert’s Euch, wie die zustande gekommen sind?«, brummte Tanguy und wandte sich mit roten Ohren ab. Das Thema schien ihm unangenehm zu sein. Vielleicht hätte sie nicht danach fragen sollen. Madame Cigny hatte sich ja oft genug bei Éloises Vater darüber beschwert, dass es seiner Tochter an Feingefühl mangelte.
»Hat es dir eigentlich gar nichts ausgemacht, Frankreich zu verlassen?«, wechselte sie deshalb das Thema, während die Kutsche weiterholperte.
»Über Frankreich braut sich ein Sturm zusammen, Éloise. Im Volk brodelt es. Vielleicht ist es besser, wenn wir nicht dort sind, wenn er ausbricht.«
»Ein Sturm?«
Verlegen schaute er zur Seite. An seinem schuldbewussten Blick erkannte sie, dass er schon mehr gesagt hatte, als er eigentlich wollte.
»Macht Euch keine Sorgen«, erwiderte er hastig, »alles wird sich fügen, Ihr werdet sehen.« Aber damit wiederholte er nur, was ihr Vater seit ihrer Abreise wie ein Gebet vor sich hin murmelte. Es fiel ihr schwer, daran zu glauben.
Welcher Sturm konnte schon so schlimm werden, dass sie am Ende der Welt besser aufgehoben waren?
Sie teilte Tanguy ihre Bedenken nicht mit. Was hätte sie auch zu ihm sagen sollen? Dass eine unbestimmte Furcht sie auf einmal ergriffen hatte? Nur weil sich ein Sklave vor ihr bekreuzigt hatte …
Sie starrte hinaus und versank im Anblick der Landschaft, die sich vor dem Fenster der Kutsche entfaltete. Nach einer Weile ließ sich ein Schmetterling auf dem Fensterrahmen nieder, dessen Flügel in der Sonne wie das Blau strahlten, das die flämischen Maler für ihre Gemälde benutzten. Es war so intensiv, dass man glauben konnte, der Himmel selbst hätte dem Maler ein wenig seiner Farbe auf den Pinsel geträufelt.
Gebannt beugte sich Éloise nach vorn, um einen besseren Blick auf das Tier zu erhaschen. Es war ungefähr so groß wie ihre Handfläche, und als der Schmetterling die Flügel zusammenklappte, bemerkte sie, dass sich auf den Unterseiten braune Kreise befanden, die wie Augen aussahen.
»Hast du jemals so etwas gesehen?«, fragte sie Tanguy, und er schüttelte den Kopf.
»Ich bin schon so manchem Tier begegnet, aber von solch ungewöhnlicher Farbe war keines.«
Als der Schmetterling sich wieder in die Luft erhob und ins Dickicht flog, das im flimmernden Licht zitterte, schaute Éloise ihm sehnsüchtig nach. Wenn sie fliegen könnte so wie er, würde sie nach Frankreich zurückkehren. Genau wie die Zugvögel im Frühling.
Auf einmal lenkte jedoch etwas Weißes in dem undurchdringlichen Grün ihren Blick von dem Schmetterling ab.
Ein fahler Mond, der in der Nacht auf sie herabstierte.
Erschrocken fuhr sie zusammen.
Leere Augenhöhlen starrten ihr aus dem bleichen, grinsenden Schädel eines Menschen entgegen, der von giftigen Efeublättern umrankt wurde. Die Schwärze der Höhlen schien ihr zu folgen, als die Kutsche an der Stelle vorbeiruckelte. Lange Knochenfinger umklammerten einen ausgedörrten Ast darunter. Es knackte …
Éloise hielt die Luft an.