Die deutsche Ausgabe von DIE JÜNGER DES JUDAS wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Joachim Riefer; verantwortlicher Redakteur: Filip Kolek; Lektorat: Christian Steudtner und Katrin Aust; redaktionelle Mitarbeit: Christian Endres; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Printed in Germany.
Titel der Originalausgabe: SILVER
First published in the United States by Variance LLC
German translation copyright © 2018 by Amigo Grafik GbR.
Original English language edition copyright
© 2010, 2011, 2018 Steven Savile. All Rights Reserved.
ISBN 978-3-95981-507-9 Februar 2018
eISBN 978-3-95981-508-6
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Die Menschen in meinem Leben sind so viel mehr wert als dies hier, aber es ist das Beste, was ich geben kann, und ich gebe es mit Liebe an
Mum, Dad, David, Sonia, Sarah, Amy und Marie.
Alles, was ich tue, tue ich entweder für euch oder wegen euch. Das heißt wohl, dass ihr für Einiges geradestehen müsst.
1 STÜCKE DES HASSES
2 BRENNT MIT MIR
3 DREIZEHN MÄRTYRER
4 DER STEINIGE WEG NACH MEGIDDO
5 DIE VEREHRUNG DES SILBERS
6 DER ERSTE SCHNITT
7 IM UNTERGRUND
8 DIE BRAUT DES KUMMERS
9 DIE GEHEIMNISSE VON FÁTIMA
10 VOM TEUFEL GERITTEN
11 GHOSTWALKER
12 DER ALLIGATOR-MANN
13 KEIN TRINKWASSER
14 SORGENVOLL IN SICHERHEIT
15 IN DIESEM GARTEN
16 DIE HÜTTE BRENNT
17 DIE DREIZEHN SCHREIE
18 DAS WASSER SPÜLT IHRE SEELE HINFORT
19 DIE KONTROLLE
20 VIDEO KILLED …
21 DIE WORTE DER PROPHETEN STEHEN AUF DEN U-BAHN-WÄNDEN
22 DIE GEBURT DER WAHRHEIT
23 DAS TIER MIT DEN DREIZEHN HÖRNERN
24 DIE KLINGE
25 KILLING IN THE NAME OF …
26 SIEBEN FÜR EIN GEHEIMNIS
27 NIRGENDS IST ES SICHERER ALS ZU HAUSE
28 IN KETTEN
29 DER SÜNDENBOCK
30 VON GOTT VERLASSEN
Damals – Das Zeugnis des Menachem ben Ja’ir
Der eine Garten hatte die Schlange, der andere hatte ihn.
Dieser Gedanke hatte eine gebrochene Schönheit, eine eigentümliche Symmetrie. Die Schlange hatte mit honigsüßen Worten zum ersten Verrat angestiftet, die verbotene Frucht war gekostet, und die Erbsünde lag auf den Lippen des ersten schwachen Mannes. Sein eigener Verrat war hinter der Maske der Liebe begangen worden, ging wieder über die Lippen, und war besiegelt mit einem Kuss. Beide Male wirkte der Verrat durch die Schönheit der Umgebung nur noch hässlicher. Das war das Leid des Gartens.
Schwer lag das Silber in Iskariots Hand.
Es war viel schwerer, als die wenigen Münzen glauben machten. Doch andererseits waren es auch nicht nur ein paar Münzen, es war ein mit Silber erkauftes Leben. Es war das Zeichen seiner Schuld. Seine Hand schloss sich um den abgenutzten Lederbeutel zur Faust. Wie viel war ein Leben denn wirklich wert? In den Stunden, die seit dem Kuss vergangen waren, hatte er viel darüber nachgedacht. War es das Gewicht der Münzen, die es gekauft hatten? Die Handvoll in das Kreuz geschlagener Eisennägel, die es beendet hatten? Oder das Fleisch, das den Aasvögeln überlassen wurde? War es all das zusammen? Oder nichts davon? Er wollte glauben, dass es etwas Erhabeneres war, etwas Ehrlicheres: Die Auswirkungen, die es auf die Leben anderer hatte, die Summe von allem, was gut und was schlecht war, die Worte und die Taten.
„Bitte, nimm es.“ Er bot dem Bauern auf dem Feld die Börse an. „Es ist fünfmal so viel wert wie dein Land. Sogar noch mehr.“
„Ich will dein Blutgeld nicht, Verräter“, erwiderte der Mann und spuckte in den Staub zwischen seinen Füßen. „Und jetzt scher dich fort.“
„Wohin soll ich gehen? Ich habe niemanden.“
„Das ist mir gleich, solange du von hier verschwindest. Irgendwohin, wo man dich nicht kennt. An deiner Stelle würde ich zum Tempel gehen und versuchen, meine Seele zurückzukaufen.“
Der Mann wandte ihm den Rücken zu und entfernte sich, er ließ Iskariot allein auf dem Feld zurück. „Wenn das nicht geht“, rief er, ohne sich umzudrehen, „kannst du nur auf die Gnade Gottes hoffen.“
Iskariot ging in die entgegengesetzte Richtung, hin zu dem einzigen, schwarzen Baum auf dem Feld. Ein Blitz hatte vor vielen Jahren dort eingeschlagen und den Stamm bis zur Mitte gespalten. Die hölzernen Eingeweide waren längst verrottet, und nur ein einzelner Ast reckte sich wie ein Galgen in den Abendhimmel und winkte ihn heran.
Er schleuderte den Beutel gegen den Baum, der ihn zu verhöhnen schien. Als er auf dem Boden aufschlug, platzte eine Naht und die Münzen spritzten über die ausgedörrte Erde. Schon im nächsten Moment kroch er ihnen auf den Knien hinterher. Tränen des Verlusts rannen über seine Wangen. Doch er weinte nicht über den Verlust des Mannes, den er verraten hatte, sondern über den Verlust des Mannes, der er einst gewesen war und der er hätte sein können. So lag er auf der Erde, als auch die Sonne ihn verließ. Er wünschte, sie würde sein Fleisch verbrennen und seine Knochen verkohlen, aber als der Morgen schließlich hereinbrach war er immer noch am Leben.
Unter der drückenden Last der Sonne wankte er zurück durch die Tore Jerusalems und wanderte stundenlang ziellos durch die Straßen. Die Schreie seines Körpers wurden zu Schweiß in der Hitze. Es lag keine Vergebung in der Luft. Niemand sah ihm in die Augen. Er konnte es selbst kaum ertragen, seinen eigenen Schatten auf dem Boden zu sehen, warum sollten sie ihn also anblicken wollen? Er verdiente ihren Hass. Er schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte hinauf zum Kreuzigungshügel. Dort glaubte er den Schatten des Kreuzes erkennen zu können, schwarz vor dem grünen Gras. Doch die Soldaten hatten die Leichen schon vor Stunden abgenommen. Die einzigen Schatten dort oben waren nun Geister.
Im Tempel wurde er von den Pharisäern verspottet, als er sie anflehte, das Silber im Austausch für sein Schuldbekenntnis und seine Lossprechung zurückzunehmen.
„Lebe mit dem, was du getan hast, Judas, Sohn Kariots. Mit dieser Tat hast du dein Vermächtnis geschaffen. Dein Name wird fortleben: Judas, der Verräter, Judas, der Feigling. Das Geld gehört dir, Iskariot, es ist deine Bürde. Du kannst die Unschuld deiner Seele nicht zurückkaufen – und es ist nicht so, als ob du zum ersten Mal getötet hättest. Jetzt geh, dein Anblick macht uns krank“, sagte der Pharisäer, und mit einer weit ausholenden Geste seines Arms trennte er die Gemeinschaft der Betenden von ihm.
Er traf Iskariots Hand, das darin umklammerte Silber ergoss sich über den Steinboden. Judas fiel auf die Knie, als ob er sich dem heiligen Mann zu Füßen werfen wollte. Mit gesenktem Kopf sammelte er die Münzen ein. Der Hohepriester trat ihn verächtlich in die Seite. „Nimm dein Blutgeld und scher dich fort, Verräter.“
Iskariot kämpfte sich auf die Füße und stolperte zur Tür.
Auf dem Weg nach Gethsemani sah er die vertraute Gestalt Marias, die am Rand der Straße saß. Er wollte zu ihr laufen, sich vor ihr niederwerfen und sie um Vergebung bitten. Sie hatte noch viel mehr verloren als der Rest von ihnen. Sie blickte auf, erkannte ihn und lächelte traurig. Ihr Lächeln ließ ihn in der Bewegung erstarren. Er spürte das Gewicht der Münzen in seiner Hand. Plötzlich waren sie so schwer wie die Liebe und doppelt so kalt. Noch nie hatte er Maria so sehr geliebt wie in diesem Moment. Er hatte gegen viele Lehren seines Freundes gehandelt, doch sein schlimmstes Vergehen war, die Frau zu begehren, die dieser liebte. Er lief in ihre Arme und hielt sie fest, gewaltige raue Schluchzer schüttelten ihn. Er konnte nicht weinen. Nach all den Tränen, die er vergossen hatte, war er leer. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“
Sie beruhigte ihn und strich ihm zärtlich durch das Haar. „Sie suchen dich. Matthäus hat sie gegen dich aufgebracht. Er hasst dich, er hat dich schon immer gehasst. Jetzt hat er eine Entschuldigung dafür. Sie sind außer sich vor Trauer und Schmerz, Judas. Du kannst nicht hier bleiben, sonst werden sie dich töten für das, was du getan hast. Du musst fliehen.“
„Ich kann nirgendwo hingehen, Maria, dafür hat er gesorgt. Das ist seine Rache.“ Er lachte bitter. „Ich hätte niemals… Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass es so endet. Und all das nur, weil ich ein Narr bin, der nicht anders konnte, als dich zu lieben.“
„Unser Gott ist ein eifersüchtiger Gott“, sagte sie. Sie klang völlig erschöpft. Die Leere in ihrer Stimme traf ihn tiefer, als die Worte es je vermocht hätten. Sie weinte, aber selbst ihre Tränen waren kraftlos. „Bitte, geh.“
„Ich kann nicht“, sagte er, und er wusste, dass es die Wahrheit war. Er wollte gefunden werden. Er musste spüren, wie ihre Steine ihn trafen. Er brauchte ihren Zorn, um seine Knochen zu zerschmettern. Sein Leben war zu Ende. Der Bauer hatte Recht gehabt, ihm blieb nur noch die Gnade Gottes. Doch was für eine Gnade war das? Welche Gnade lag in einem Selbstmord, wenn ihm die Tore in das Himmlische Reich verschlossen blieben?
Judas war von Zweifeln geplagt, seit Tagen schon. Sein Freund hatte gewusst, dass er nicht mit diesem Blut an seinen Händen leben konnte, und doch hatte er ihn um seinen Verrat gebeten. War vielleicht die Steinigung selbst die letzte Gnade?
„Bitte…“
„Lass sie kommen. Ich werde ihnen gegenübertreten und mit dem letzten Rest Würde sterben, der mir geblieben ist.“
Sie wischte ihre Tränen fort. „Ich flehe dich an. Wenn du es nicht für mich tust, dann tu es für unseren Sohn.“ Sie nahm seine Hand und presste sie gegen die sanfte Wölbung ihres Bauches.
„Unser Sohn“, wiederholte er und fiel vor ihr auf die Knie. Er küsste erst ihre Hände und dann ihren Bauch, er vergrub sein Gesicht im groben Stoff ihres Kleides. Die Worte des Pharisäers hallten durch seinen Kopf: Judas, der Verräter. Wie könnte es einen größeren Verrat geben? Er drückte den zerschlissenen Lederbeutel in ihre Hände. „Bitte, nimm das Silber, für den Jungen, für dich.“
Er sah das Leben, das er verloren hatte, als Spiegelung in Marias Augen. Er wusste, dass sie ihn liebte, und er wusste, dass Liebe allein nicht reichte. Er konnte ihr nicht sagen, wie einsam er sich in diesem Moment fühlte.
Sie wandte sich von ihm ab.
Er ließ sie zurück, um die lange Straße zu seinem Tod zu beschreiten.
Er hatte Zeit zum Nachdenken, Zeit, sich an das Versprechen zu erinnern, das er gegeben hatte, und Zeit, es zu bereuen. Der Gang war voller letzter Dinge: Er sah die Sonne zwischen den Bäumen untergehen; er spürte den Wind auf seinem Gesicht; er schmeckte die dürre Luft auf seiner Zunge. Er zog sein Gewand aus und ging in den Garten.
Sie warteten auf ihn.
Er schreckte nicht vor dem Hass und dem Schmerz in ihren Augen zurück. Er versuchte nicht, sich zu rechtfertigen. Er trat nackt vor sie.
„Du hast ihn getötet“, sagte Matthäus und verdammte ihn damit. Es waren die letzten Worte, die Judas Iskariot hörte. Matthäus hielt einen Strick in seinen Händen. Er war zu einer Schlinge gebunden.
Er hieß den ersten Stein von Jakobus willkommen, der ihn an der Schläfe traf. Er wich nicht zurück. Er spürte ihn nicht. Auch den zweiten von Lukas spürte er nicht, oder den dritten von Johannes. Die Steine trafen ihn, einer nach dem anderen, jeder härter geworfen als der vorherige, bis sie Iskariot in die Knie zwangen. Alles, was er spürte, war das Leid des Gartens.
Matthäus trat mit dem Strick vor und legte ihn um Judas’ Hals.
Judas weinte.
Jetzt
Es war zwei Minuten vor drei, als die Frau den Bahnhof Trafalgar Square betrat.
Bekleidet mit Jeans und einem weiten gelben T-Shirt sah sie aus wie die unzähligen anderen Sommertouristen, die den Bronzelöwen von Sir Edwin Landseer ihre Aufwartung machen wollten. Ein großer Smiley prangte auf ihrer Brust, sein Grinsen wurde durch die tropfenförmigen Rundungen ihrer Brüste verzerrt. Allerdings war gerade nicht Sommer. Das gelbe T-Shirt ließ die Frau aus der hektischen Menschenmasse hervorstechen, denn alle anderen waren mit Handschuhen, Wollmützen und Schals dick gegen die kalte Frühlingsluft eingepackt.
Sie blieb stehen, ein winziger Ruhepol in der stetigen Betriebsamkeit Londons. Sie öffnete den Verschluss der Plastikflasche in ihrer Hand. Dann kippte sie sich den Inhalt der Flasche über den Kopf und die Schultern und massierte die zähe Flüssigkeit in ihre Kopfhaut. Es dauerte nicht lange, bis ihr langes blondes Haar strähnig und fettig aussah, als ob sie es seit Monaten nicht gewaschen hätte. Sie roch wie der Nebel aus Abgasen, der der Stadt die Luft zum Atmen nahm.
Tauben landeten zu den Füßen des Mannes neben ihr; er hatte Brotkrumen auf das Kopfsteinpflaster gestreut. Er blickte auf und lächelte ihr zu. Er hatte ein sanftmütiges Gesicht und ein freundliches Lächeln. Sie fragte sich, wer ihn liebte. Sie war sich sicher, dass es jemanden gab, denn er strahlte die Zufriedenheit eines geliebten Menschen aus.
Um sie herum teilten sich die Touristen in Gruppen auf: Diejenigen, die Lust auf Kultur hatten, gingen zur National Portrait Gallery; die Durstigen zog es ins Café an der Ecke; die Anhänger des Königshauses überquerten die Straße und verschwanden hinter dem Admirality Arch in Richtung Whitehall; die Hungrigen gingen in die trendigen Lokale am Chandos Place und in Covent Gardens; und diejenigen, die Unterhaltung suchten, wanderten die St Martins Lane hinab, zum Leicester Square oder nach Soho – je nachdem, welche Art der Unterhaltung ihnen vorschwebte. Geschäftsmänner in identischen Anzügen marschierten im Gleichschritt wie eine Gruppe Pinguine; mit Schirmspitzen und Segs, den Schuhbeschlägen aus Metall, die man nur in England findet, steppten sie den Rhythmus der Tagesgeschäfte auf das Straßenpflaster. Rote Doppeldeckerbusse krochen die Cockspur Street hinunter und bogen dann um die Ecke Richtung The Strand und Charing Cross. Die Stadt war voller Leben.
Ein kleines Mädchen in einem roten Mantel rannte auf sie zu. Es lachte fröhlich und wedelte mit den Armen, um die am Boden pickenden Vögel aufzuscheuchen. Als sie genau in ihrer Mitte war, explodierten die Tauben in einem Chaos aus Federn in die Luft. Das Mädchen lachte noch lauter, ihre Kiekser jagten die Vögel in den Himmel. Die Begeisterung war ansteckend. Der Mann fischte in seiner Plastiktüte nach einem neuen Stück Brot, das er zerkrümeln konnte. Die Frau musste lächeln. Sie hatte das gelbe T-Shirt angezogen, weil es sie zum Lächeln brachte. Es erschien ihr wichtig, dass sie gerade heute lächelte.
Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer.
„Presseagentur.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang heiterer, als es angebracht war. Das würde sich in weniger als einer Minute ändern, wenn die Schreie begannen.
„Eine Plage wird kommen“, sagte die Frau ruhig. „Vierzig Tage und vierzig Nächte werden Angst und Schrecken die Straßen regieren. Die Sünder werden in Flammen aufgehen. Es beginnt jetzt.“
„Wer spricht da? Wer sind Sie?
„Mein Name ist nicht wichtig. Sie werden bis heute Abend alles Wissenswerte über mich erfahren – bis auf ein wichtiges Detail.“
„Und was wäre das?“
„Warum ich es getan habe.“
Sie strubbelte dem Mädchen durch die Haare, das wieder auf eine Ansammlung von Tauben zulief und dabei ausgelassen kicherte. Das Mädchen blieb stehen, drehte sich um und blickte zu der Frau hinauf. „Sie riechen aber komisch.“
Die Frau griff nach dem Feuerzeug in ihrer Tasche. Sie drehte mit dem Daumen das Zündrad, rieb damit einen Funken vom Feuerstein und berührte mit der kleinen, unschuldigen Flamme ihr Haar. Sie ließ das Telefon fallen und machte ein paar stolpernde Schritte nach vorn, als sie vom Feuer verschlungen wurde.
Die ganze Stadt um sie herum schrie.
Noah Larkin lag auf dem Rücken und starrte auf den billigen Deckenventilator in seinem ebenso billigen Hotelzimmer. Der Propeller blieb bei jeder vierten Umdrehung stecken und verursachte dabei ein grauenhaftes Quietschgeräusch. Das Zimmer lag im Keller eines alten viktorianischen Stadthauses und kostete ihn zwanzig Pfund pro Nacht. Und es bestätigte sich die alte Redensart: Man bekommt, was man bezahlt. Er hatte bezahlt für eine Matratze, die mit schwarzen Schlieren von zerdrückten Bettwanzen übersät war, ein steifes Bettlaken, das seit der Zeit von Königin Viktoria nicht mehr gewaschen worden war, und Wände, an denen die Wasserflecken schon etwas höher als bis zur Mitte gestiegen waren.
Durch die Fliegengitter mit Blick auf den Gehsteig fiel trübes Licht herein.
Das Zimmer roch nach whiskeyverhangenen Träumen, kaltem Schweiß und indischen Essensresten.
Er schloss die Augen.
Die Frau auf der anderen Seite des Bettes verlagerte ihr Gewicht, worauf sich die ganze Matratze bedrohlich zur Seite neigte. Eine lose Spiralfeder stach in Noahs Hinterteil. Die Frau neben ihm war keine Schönheit, aber das machte ihm nichts aus. Das lag nicht daran, dass Larkin ein tiefgründiges Wesen gehabt hätte, das über bloße Äußerlichkeiten hinwegsehen konnte. Das hatte er nicht und er konnte es nicht; bei ihm gab es keine verborgenen Tiefen. Wie das Hotelzimmer war auch sie billig gewesen, und wieder hatte er bekommen, wofür er bezahlt hatte. Es ging ihm nicht um Sex. Er hatte die Frau nicht einmal berührt. Er wollte nur, dass jemand neben ihm schlief, obwohl er selbst natürlich keinen Schlaf finden konnte.
Sein Handy erbarmte sich und klingelte. Er angelte das Telefon vom Nachttisch.
„Larkin“, sagte er, während er die Tastatur aufschob.
„Wo zum Teufel stecken Sie?“ Der irische Akzent in der Stimme von Ronan Frost war viel deutlicher zu hören, wenn er zornig war. Dieser eine Satz hätte einem Linguisten wahrscheinlich ausgereicht, um nicht nur den Ort, sondern sogar die Straße zu bestimmen, in der er aufgewachsen war.
Noah blickte hinab zu der Prostituierten, die neben ihm lag. Ihr roter Spitzen-BH kämpfte sichtlich mit der Last der Jahre. Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick war hohl, wie der der Leeren Männer in dem Gedicht von T. S. Elliot. Sie lächelte ihn an.
„Ich war beschäftigt“, erklärte er Frost.
„Nun, dann lassen Sie jetzt die Albernheiten sein und schaffen stattdessen ihren Hintern hierher, Soldat. Das braune Zeug ist am Dampfen.“
„Bin schon unterwegs, Boss“, sagte er.
Frost schnaubte ins andere Ende der Leitung.
Noah unterbrach die Verbindung und bugsierte das Handy wieder auf den Nachttisch. Die Leuchtanzeige des Weckers versuchte ihm weiszumachen, dass es fast Mitternacht war. Er glaubte ihr keine Sekunde lang.
Mühsam schob er sich aus dem Bett.
Die Prostituierte stützte sich auf die Ellenbogen und ließ ihren Blick anerkennend über seinen nackten Körper gleiten. Er wollte das Kompliment erwidern, aber er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Stattdessen nahm er die Geldbörse aus der Tasche, zog eine Handvoll Scheine heraus und hielt sie ihr hin.
„Das ist zu viel“, sagte sie, den Blick auf das Geld geheftet. Sie hatte Recht, damit hätte man sie für eine ganze Woche bezahlen können.
Noah zuckte mit den Schultern. „Sagen wir, es ist ein Bonus, weil wir beim Kuscheln keine tiefgreifenden Gespräche geführt haben.“
Sie rollte die Scheine zusammen und steckte sie in ihren Büstenhalter.
„Das Zimmer ist die ganze Nacht gebucht. Bleib über Nacht hier und gönn dir morgen ein anständiges Frühstück.“
Er ging zu ihrer Seite des Bettes, beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Es war eine überraschend sanfte und liebevolle Geste. Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange, ihr rot lackierter Fingernagel fuhr über die Narbe, die sich vor dem dunklen Schatten seiner Bartstoppeln abhob. In diesem kurzen Moment hätten sie fast ein Liebespaar sein können. Die zusammengerollten Geldscheine in ihrem Ausschnitt machten diese Illusion allerdings sofort wieder zunichte.
Noah ließ sie auf dem Bett zurück. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel ihm ihr Name wieder ein: Margot.
Er ging hinaus auf die Straße. Der Polarstern leuchtete hell am Nachthimmel, die Straßenlaternen warfen natriumgelbes Licht auf den Gehsteig. Eine fette Ratte huschte unter einem Berg aus Plastikmüllsäcken hervor, die sich im Rinnstein türmten. Egal, wo man sich in London aufhielt, man war nie weiter als zehn Fuß von einer Ratte entfernt – so sagte man es sich zumindest.
Noahs 1966er Austin Healey in britischem Renngrün war an der Bordsteinkante geparkt. Umgeben von der Eintönigkeit der Volvos, Fords, BMWs und Citroëns, die beide Seiten der Straße säumten, wirkte er wie ein Relikt aus vergangenen und vornehmeren Tagen. Die Seitenwände des Austins waren beige und mit schwarzen und goldenen Leisten abgesetzt, das schwarze Lederverdeck war aufgeschlagen. Noah hatte den Wagen auf dem Schrottplatz von Clapham Common entdeckt und sich sofort in ihn verliebt, obwohl er damals noch ein auf Ziegelsteinen aufgebocktes Wrack gewesen war. Sie waren füreinander bestimmt, wie die sprichwörtliche Kugel mit seinem Namen darauf.
In den Zulassungspapieren stand als Erstverkaufsdatum der 27. März 1966. Ihm gefiel der Gedanke, dass das Auto im selben Jahr „Geburtstag“ hatte, in dem der Hund Pickles den alten Jules-Rimet-Pokal unter einer Hecke in Süd-London gefunden hatte. Noah hatte Hunderte von Stunden und mehrere Tausend Pfund in die Restaurierung des Wagens investiert. Tatsächlich war dieses Auto die einzige Konstante in seinem Leben – es war das einzige, was er wirklich liebte. Ein Psychiater würde daraus vielleicht schließen, dass er eine lieblose Kindheit mit zu wenig Körperkontakt durchlebt hatte, oder dass er vielleicht jedes Mal beim Einsteigen ödipale Gedanken an seine Mutter hegte. Doch manchmal war ein Auto auch einfach nur ein Auto, und bei dieser Männerliebe handelte es sich lediglich um die Liebe eines Mannes zu seinen Speichenfelgen und dem Armaturenbrett aus Walnussholz.
Er ließ den Motor aufheulen und lenkte den Wagen auf die Straße.
Bei Nacht war London ein geheimnisvolles Ungeheuer. Es war erfüllt vom lockenden Duft der Gefahr, und an jeder Ecke wurde ein Ehebruch oder eine sinnlose Gewalttat begangen. Was New York für Frank Sinatra war, war London für Noah Larkin. An einer Kreuzung sah er einen dreibeinigen Hund, der versuchte, an eine Wand zu pinkeln ohne dabei umzufallen. Vor ihm liefen zwei Mädchen mit eingehängten Armen auf dem weißen Mittelstreifen der Fahrbahn, er drückte kurz auf die Hupe und fuhr dann um sie herum. Innerhalb von wenigen Sekunden beschleunigte er erst auf Hundert, nur um an der nächsten Ampel wieder völlig zum Stillstand zu kommen. Noah liebte die trügerische Freiheit, die ihm der Wind in den Haaren verlieh, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war.
Dieser Teil von London hatte drei Ebenen: den Untergrund; dann die Straßen, wo die Fastfood-Ketten, Elektronikläden, Kleidungs-Discounter und Blumenhändler sofortige Zufriedenheit garantierten; und schließlich das Darüber, wo es zwar wunderschöne Gebäude gab, die von allen darunter jedoch so gut wie nie zur Kenntnis genommen wurden. Viele Fenster waren hinter Metalljalousien versteckt, und die Jalousien hinter einfallsreichen Graffiti und krakeligen Tags. Die gewaltige Leere der nächtlichen Stadt überwältigte ihn jedes Mal aufs Neue. Man konnte allerdings nicht sagen, dass sie tot gewesen wäre. Sie war viel eher wie ein Vampir. Nach Mitternacht waren nur noch Menschen auf der Straße, die aus dem einen oder anderen Grund das Tageslicht scheuten.
Mit den Knien am Lenkrad beugte er sich über einen Stapel mit CDs, der hinter der Gangschaltung lag, und zog das gewünschte Exemplar heraus. Ohne auf die Ampel zu achten, bog er mit Hundertzwanzig nach links in die Belgrave Road ein und raste auf ihr entlang durch Pimlico. Durch die Vauxhall Bridge Road fuhr er mit knapp Hundertfünfzig Stundenkilometern.
Beim Überqueren der Themse fragte James Grant sich melancholisch, wer bei klarem Verstand nur in dieser Stadt der Angst leben könne, und es schien eine berechtigte Frage zu sein. Noah liebte London fast so sehr wie die Stimme von James Grant: Beide gaben ihm ein Gefühl von Behaglichkeit und Vertrautheit, ohne dabei jedoch jemals langweilig zu werden. Bei beiden schlummerte viel mehr unter der Oberfläche, als man auf den ersten Blick erahnen konnte; sowohl die Stimme wie auch die Straßen der Stadt waren voll von versteckten Feinheiten. Noah hätte an keinem anderen Ort der Welt leben wollen, er war durch und durch ein Kind Londons. Er lebte und atmete mit der Stadt. Er grinste in dem Wissen, dass ihm so schnell niemand vorwerfen würde, bei klarem Verstand zu sein.
Die Nadel des Tachometers sank auf der fünfzig Kilometer langen Strecke nach Ashmoor und Nonesuch Manor nur zweimal unter hundertfünfzig. Als die Straße breiter wurde, drehte er die Lautstärke auf und versank in der Musik. Noah verließ die Hauptstraße drei Kilometer vor Ashmoor und bog in einen Reitweg ab, der über Wiesen und Weiden zu der mit Linden gesäumten Zufahrt von Nonesuch führte. Außerhalb der Stadt war die Nacht schwarz und undurchdringlich. Kein einziger Stern war mehr am Himmel zu sehen, die Zweige hingen tief und flüsterten im Fahrtwind des Austins. Bald erhoben sich vor ihm die hohen Eisentore von Nonesuch Manor House. Zwei groteske, aus Stein gehauene Dämonenfiguren saßen auf den Torpfosten und beobachteten aufmerksam seine Ankunft. Ihre Augen waren ausgehöhlt und durch Überwachungskameras ersetzt worden.
Noah verringerte die Geschwindigkeit. Der Kies spritzte unter seinen Reifen hervor, als er die hell ausgeleuchtete Einfahrt entlangfuhr. Ringsherum ließen die starken Scheinwerfer Schattendämonen erscheinen, die im Wind tanzten und ihm zuwinkten. Er parkte seinen Wagen neben Ronan Frosts Ducati Monster 696, dem einzigen Motorrad auf dem Innenhof. Es gab allerdings noch andere Autos, und jedes von ihnen war etwas Besonderes. Dort stand ein mit Schlamm bespritzter Lamborghini Diablo, ein feuerroter Jaguar E-Type, ein Bugatti Veyron, ein kanariengelber Lotus Elan, der Daimler von Sir Charles – ein zeitloser Klassiker – und das beste Pferd im Stall: ein silberner V12 Aston Martin Vanquish. Wie Ronan Frost zu sagen pflegte: Wenn man schon kein Leben hat, kann man wenigstens einen anständigen Wagen fahren.
Noah kletterte aus dem Schalensitz und ließ die Schlüssel im Zündschloss stecken – niemand würde den Austin aus dem Innenhof von Nonesuch stehlen.
Vor ihm erhob sich das Nonesuch Manor House, obwohl diese Bezeichnung reichlich irreführend war. Das Gebäude hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Schloss als mit einem Haus. Der linke Flügel war sogar mit Zinnen bewehrt, obgleich schon einige von ihnen den Kletterpflanzen zum Opfer gefallen waren, die sich zwischen den Mauerritzen hindurch tief in das Gemäuer gefressen hatten. Der Ringflügel in der Mitte sah aus wie ein riesiger Edelstein, der in der Nacht funkelte. Es handelte sich dabei um das Atrium des Alten, in dem seine umfangreiche Sammlung seltener Pflanzen untergebracht war. Die hellen Glasscheiben trotzten der Nacht. Im Erdgeschoss brannte nur in drei Fenstern Licht, alle anderen waren mit hölzernen Läden verschlossen. Max, der Butler des Alten, erwartete ihn unter dem von Säulen flankierten Portikus. „Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt, Sir?“ Noah nickte stumm. Die beiden hatten sich vom ersten Moment an nicht ausstehen können. „Sir Charles erwartet Sie im Salon, zusammen mit den anderen. Dürfte ich Ihnen den Mantel abnehmen, Sir?“ Noah schälte sich aus der Lederjacke und übergab sie ihm. „Vielen Dank, Sir. Wünschen Sie sonst noch etwas?“ Und dann, nach einer kurzen Pause, fügte der Butler hinzu: „Etwas Zahnpasta vielleicht? Ihr Atem riecht nach der glücklosen Person, die heute Nacht auf ihrem Gesicht gesessen haben muss.“
Noah ignorierte ihn und trat ein.
Nonesuch Manor war ein weitläufiges altes Anwesen, in dem es viele Korridore, Zwischengeschosse und Dienstbotentreppen gab. Die große Eingangshalle war mit Eichenholz getäfelt, das allerdings Anzeichen von einem Wasserschaden zeigte. Das Familienwappen des alten Mannes prangte an der Mauer über dem offenen Kamin. Es sah nicht so aus, als ob der Kamin in den letzten zehn Jahren oft befeuert worden wäre.
Auf einem Tischchen daneben stand ein Schachbrett mit fein geschnitzten Figuren, auf dem die Saavedra-Studie aufgebaut war: Laut Sir Charles ein wundervolles Endspiel und ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie man seinen Namen mit einem einzigen Zug unsterblich machen konnte. Sie war auch eine nützliche Lektion für jeden, der die Natur des Krieges nicht verstand. Manchmal war Raffinesse wichtiger als die Schlagkraft.
Eine Treppe aus Gusseisen und Granit führte über drei Zwischenabsätze zum Obergeschoss hinauf. Die steinernen Stufen waren in der Mitte glatt ausgetreten, wo sich in den dreihundert Jahren seit der Erbauung des Hauses schon Tausende von Füßen ihren Weg gesucht hatten. An der Wand befand sich ein Treppenlift, und abgeschrammte Stellen waren zu sehen, wo der Alte mit seinem Rollstuhl angestoßen war. Noah konnte sich nur schwer vorstellen, dass Sir Charles sich der Erniedrigung durch den Treppenlift unterzog; das war nicht seine Art. Er müsste sich seinen Weg eigentlich auf Händen und Knien nach oben kämpfen, das würde besser passen.
So prächtig die Empfangshalle auch war, sie wirkte alt und müde, ebenso wie die Treppe und die Fensterläden aus rissigem Eichenholz. Keine wertvollen Gemälde alter Meister zierten die Wände, auf den Fluren standen keine teuren Antiquitäten. Man hätte einem zufälligen Besucher nicht übel genommen, zu glauben, dass Sir Charles pleite war. Doch das war nicht der Fall, er investierte sein Geld nur anderweitig.
Noah durchquerte die Vorhalle. Der Salon lag hinter der ersten Tür auf der rechten Seite, gegenüber der Bibliothek.
Ohne anzuklopfen öffnete er die Tür und trat ein.
Der Salon entsprach nicht unbedingt dem, was man sich unter dem Refugium eines englischen Gentlemans vorstellen mag. Sir Charles selbst bezeichnete ihn nur als den Kessel. Noah dachte eher in militärischen Begriffen, für ihn war es der Einsatzraum. Das große Zimmer bestand fast gänzlich aus glänzenden Glasflächen und dünnen Stahltraversen, die mit dem antiken Charme des altenglischen Landhauses scharf kontrastierten. Die gesamte Einrichtung war auf Sir Charles’ Gehbehinderung angepasst.
Zwölf riesige, hochauflösende Plasmabildschirme nahmen eine ganze Wand des Raumes ein. Sie zeigten zusammen ein großes Bild als visuelles Mosaik, das man in zwölf Einzelbilder aufsplitten konnte. An der nächsten Wand standen zwei Bücherregale. Das erste war gefüllt mit unbezahlbaren Erstausgaben: Bunyon, Marlowe, Fielding und Goethe standen neben Folianten von Lavater, Glanvil, Maturin und Collins – letztere mit eigenhändigen Anmerkungen der Autoren versehen. Das zweite Regal enthielt nur wertlose Bücher in auf alt gemachten Kunstledereinbänden. Selbst wenn Noah nicht gewusst hätte, welche Funktion diese Attrappen hatten, es wäre wohl nicht schwer zu erraten gewesen.
Hinter den falschen Büchern befand sich ein Lastenaufzug. Er führte in einen Bereich hinab, den sie das Nest nannten, das Nervenzentrum von Nonesuch. Hier standen nicht nur die Server mit ihren Zettabytes an gespeicherten Informationen, hier wurden auch sämtliche Meldungen der Nachrichtenagenturen gesammelt, die Überwachungskameras gesteuert, Satellitensignale überwacht und die Notstromversorgung für das Haus sichergestellt. Es war das pochende Herz unter den Dielenbrettern. Die List hätte nicht einmal einen halbprofessionellen Einbrecher in die Irre führen können – Rollstuhlspuren führten durch den Teppich und endeten plötzlich vor dem zweiten Bücherregal – aber ein halbprofessioneller Einbrecher wäre auch niemals bis in den Kessel gelangt. Die Bücherattrappen gab es nur aus dem Grund, weil Sir Charles dieses Spiel so genoss.
In die Decke waren Scheinwerfer eingelassen, deren Licht herabgedimmt war. Auf den Bildschirmen war nur ein ausdrucksstarkes Einzelbild zu sehen: eine brennende Frau mit ausgebreiteten Armen. Der Zeitstempel des Bildes zeigte 15:00 Uhr UTC an, demnach war die Aufnahme nicht ganz zehn Stunden alt.
Auf einer Reihe von Sockeln standen kleine Marmorstatuen, und jede von ihnen zeigte eine andere Darstellung des personifizierten Krieges. Dort waren Badb und ihre Schwestern Macha und Morrigan, die keltischen Schlachtenkrähen. Neben ihnen stand Bastet, die ägyptische Löwin, mit stolz erhobenem Haupt und herausforderndem Blick. Der griechische Gott Ares und der römische Gott Mars traten als Jäger verkleidet auf. Der einäugige Odin trug die Raben Hugin und Munin auf seinen Schultern, Gedanke und Erinnerung, während der nordische Gott selbst den ewigen Zwiespalt des Krieges verkörperte. In der Mitte stand schließlich Kali, die hinduistische Göttin des Todes.
Die Statuetten verliehen dem Raum einen Hauch von Okkultismus, mit dem der alte Mann sich gern umgab. Sie spiegelten seine vielfältigen Interessen wider, und sie waren ein weiterer Teil des Spiels. Er hätte den Kessel mit allem möglichen schmücken können. Geld spielte dabei eben so wenig eine Rolle, wie es eine Frage des Geschmacks war; beides besaß Sir Charles im Übermaß. Nein, die Statuen waren eine kleine, aber bedachtsame Geste der Anerkennung an die Vergangenheit, den Tod und – auf ironische Weise – an den Ruhm.
Außer den Bücherregalen gab es nur noch ein weiteres Zugeständnis an den traditionellen Stil: In der Mitte des Raumes stand ein großer Mahagoni-Tisch im Sheraton-Stil, bei dem allerdings die gesamte Fläche der ledernen Tischeinlage durch einen leistungsstarken Touchscreen-Computer ersetzt worden war.
Um den Tisch herum standen fünf grüne Lederstühle mit hohen Rückenlehnen.
Auf vier von ihnen saß jeweils ein Mitglied von Sir Charles Wyndhams Schöpfung mit dem Codenamen Ogmios. Sie unterstanden dem Mandat 7266, ausgestellt durch den Secret Service Ihrer Majestät, und ihre Aufgabe bestand darin, alles Erforderliche zu tun, um die Souveränität der Britischen Inseln sicherzustellen. Was das im Einzelfall genau bedeutete, war allerdings schwer zu erklären. Sie waren keine Spione. Offiziell standen sie außerhalb des Gesetzes, ausgeschlossen von der Sicherheit einer Staatszugehörigkeit. Ihre Existenz konnte geleugnet werden. Wenn etwas schief ging, waren sie auf sich selbst gestellt. Wenn etwas gut lief, erhielten sie keinen Dank dafür. Wenn es brenzlig wurde, waren sie zur Stelle.
Der Alte nannte sein Team gern „die Schmiede“, für Noah waren sie allerdings die „Hoffnungslosen Fälle“. Das war eine etwas andere Interpretation. Noah wusste nicht, wem sie unterstanden – wer die Wächter überwachte, wenn man so wollte – doch er vermutete, dass es jemand vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6 war. Jemand, der die dünnere Luft von Denenganz-oben atmete. Der alte Mann sprach vom ihm oder ihr nur als der Kontrolle.
Noah wusste nicht, wie der Alte sein Team zusammengestellt hatte. Er wusste überhaupt nicht viel über die anderen, außer, dass jeder einzelne von ihnen für Sir Charles sein Leben riskieren würde. Das wusste er, weil sie es jeden Tag unter Beweis stellten.
Sie besuchten die eher unruhigen Regionen der Welt: manchmal, um zu vermitteln, manchmal zur Unterstützung, und manchmal auch, um durchzugreifen.
Einfache Lügen sind die besten, deshalb waren auch ihre erfundenen Hintergrundgeschichten so knapp wie möglich gehalten. Je weniger Details man sich merken musste, desto weniger konnte man vergessen. Und nachdem man ihre Existenz verleugnen konnte, ergab eine Überprüfung der Mitglieder des Teams natürlich auch keine Verbindung zum Secret Service.
Direkt neben ihm saß Ronan Frost, der blauäugige Junge mit den stahlgrauen Haaren, der einen stahlgrauen, maßgeschneiderten Anzug von Ted Baker trug. Frost blickte nicht auf. Er hatte 1999 im Kosovo beim ersten Bataillon des British Parachute Regiments gedient, bis er dem Special Projects Team der SAS beigetreten war – der Antiterroreinheit. Daneben saß Orla Nyrén, die mit ihrem makellosen, olivfarbenen Teint, den tiefbraunen Augen und dem schulterlangen schwarzen Haar voll und ganz dem mediterranen Schönheitsideal entsprach. Ihr Gesicht war fein geschnitten und ihre Lippen hatten die Form eines Herzes. Eigentlich war sie von gemischter Abstammung: Ihr Vater kam aus einer kleinen italienischen Stadt an der Amalfiküste, ihre Mutter aus dem eisigen Norden Schwedens. Orla selbst war eine eigenartige Mischung aus diesen beiden Anlagen. Ihr skandinavisches Erbe zeigte sich in ihrem Körperbau. In Verbindung mit ihrer Schönheit – und sie war unglaublich schön, dachte Noah – und ihrer Körpergröße von einem Meter achtzig bot sie eine eindrucksvolle Erscheinung. Ihre italienische Seite offenbarte sich in anderen Dingen, und die meisten von ihnen lagen unter der Haut, wie etwa ihr stürmisches Temperament. Noah hatte es einmal am eigenen Leib zu spüren bekommen, und das hatte ihm mehr als gereicht. Nyrén war ehemalige Mitarbeiterin des MI6, Spezialistin für den Nahen Osten und sprach fließend zwölf Sprachen, zwei davon tot. Außerdem kam sie dem am nächsten, was man als einen Schwarm von Noah hätte bezeichnen können.
Auf der anderen Seite des Tisches neigte Konstantin Khavin kurz den Kopf zum Gruß. Konstantin war ein ehemaliger KGB-Agent, und er war der Prototyp des Spions, der aus der Kälte kam: Er war 1988 über die Mauer gekommen, mit nichts anderem als der Kleidung, die er trug, und seinem Pass. Er war älter als die anderen, und er hatte ein Leben geführt, dass auf jedem Zentimeter seiner Haut Spuren hinterlassen hatte. Sein Mund war ein dünner, wie von einem Messer gezogener Schlitz über einem Kinn mit Grübchen. Noah hatte die starke Vermutung, dass der Russe nur lächelte, um seine Bereitschaft zu signalisieren, jemanden nach Draußen zu begleiten und mit Fäusten und Füßen blutig zu schlagen. Aus diesem Grund war Noah ganz froh, dass Konstantin nicht lächelte. Er hatte seine dicken Finger ineinander verschränkt. An seinem rechten Zeigefinger fehlte das letzte Glied. Seine hochgerollten Ärmel gaben den Blick auf eine billige Plastikarmbanduhr frei.
Jeder von ihnen hatte seine eigene Geschichte und seine eigenen Fehler. Keiner von ihnen hatte eine weiße Weste, sonst hätten sie nicht für den Alten gearbeitet; aber bei Konstantin war es etwas anderes. Manchmal war schwer zu sagen, ob seine Geschichten nur ein Produkt seines trockenen russischen Humors waren, oder ob doch mehr dahinter steckte. Er hatte schon Dinge getan, die für den Rest von ihnen fast unvorstellbar waren, aber er neigte auch dazu, alle Übel, die seinem Volk je widerfahren waren, in seine eigene Lebensgeschichte mit einzubauen. Einmal hatte er Noah erzählt, wie man ihn gezwungen hatte, mit den Eingeweiden seiner Mutter um den Hals geschlungen eine Straße entlang zu gehen, um seine Loyalität zum Staat zu beweisen. Noah wollte glauben, dass es nur eine von Konstantins makabren Anekdoten war – schon allein aus dem Grund, weil er sich nicht vorstellen konnte, was für Menschen einem Kind so etwas antun könnten. Das passte einfach nicht in seine Weltsicht. Und es erschien ihm mehr als unmenschlich, einem neunjährigen Jungen zu erzählen, dass er mit dieser barbarischen Handlung seine Loyalität zu einer unsichtbaren Regierung unter Beweis stellen könne.
Dann war da noch Jude Lethe, das Kukuckskind in diesem Soldatennest. Er war der Computerspezialist des Teams. Er war ein Nerd, doch vor allem war er ihr Nerd. Mit seiner schwarzen Joe-90-Brille wirkte er so seriös, dass es schon fast schmerzte.
Zusammen bildeten sie das Team Ogmios, benannt nach dem keltischen Helden, der seinerseits auf den Legenden des Herakles beruhte.
Anstelle eines sechsten Stuhles stand am Kopf des Tisches der Rollstuhl des Alten.
Hier waren seine Leute versammelt, und sie waren eine ungleiche – und gefährliche – Gruppe.
„Wie schön, dass Sie es geschafft haben, Mister Larkin“, sagte der Alte von seinem Platz am Tisch aus.
Noah nickte und setzte sich auf den letzten freien Stuhl.
„Könnten wir jetzt beginnen?“
„Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten“, sagte Noah.
„Vielen Dank.“
Der alte Mann rückte seinen Rollstuhl in eine andere Position. Wäre er nicht querschnittsgelähmt gewesen, hätte er stattdessen kurz seine Unterlagen geordnet. Er streckte die Hand aus, berührte mit dem Finger den leeren Touchscreen und erweckte so den Computer darunter zum Leben. Das Bild auf der Videowand wurde sofort heller. Nach einer weiteren Berührung startete das Video.
„London gehört zu den bestüberwachten Städten der Welt. Es gibt nicht einen Quadratmeter, der nicht durch eine Videoüberwachungsanlage oder eine private Sicherheitskamera abgedeckt ist. Was Sie hier sehen, hat sich heute um 15:00 Uhr am Trafalgar Square ereignet. Es gibt verschiedene Perspektiven, aber sie zeigen alle dasselbe Motiv.“ Es gab keinen Grund für weitere Ausführungen von Sir Charles, das Bild sagte eindeutig mehr als tausend Worte. Noah sah, wie die Frau brannte. Sie hatte die Arme weit ausgestreckt und drehte sich immer wieder um sich selbst, bis sie schließlich zu Boden fiel, als ob ihr schwindlig geworden wäre. „Eine Minute vor ihrem Selbstmord hat die Frau bei der Redaktion der BBC angerufen“, fuhr der alte Mann fort. Er strich über den Touchscreen, minimierte das angehaltene Video von der brennenden Frau und startete dann die Audioaufnahme ihres Anrufs.
Ihre Stimme sprach zu ihnen aus dem Jenseits: „Eine Plage wird kommen. Vierzig Tage und vierzig Nächte werden Angst und Schrecken die Straßen regieren. Die Sünder werden in Flammen aufgehen. Es beginnt jetzt.“
„Wer spricht da? Wer sind Sie?“, fragte eine zweite Stimme.
„Mein Name ist nicht wichtig. Sie werden bis heute Abend alles Wissenswerte über mich erfahren – bis auf ein wichtiges Detail.“
„Und was wäre das?“
„Warum ich es getan habe.“
Sir Charles spielte es noch einmal ab.
Und noch einmal.
Ihr letzter Satz hing in der Luft.
„Wissen wir, wer sie ist?“, fragte Orla Nyrén, die sich in ihrem Stuhl vorgebeugt hatte. Sie wurde immer sehr lebendig, wenn die Dinge um sie herum interessant zu werden versprachen. Das galt zwar für die meisten Menschen, doch ihre Definition von „interessant“ unterschied sie von diesen.
„Mr. Lethe, wären Sie so gut, Ihre Entdeckungen mit uns zu teilen?“ Sir Charles neigte den Kopf leicht zur Seite.
Lethe nickte und rückte nervös die schwarz umrandete Brille zurecht. „Wir haben die Gesichtserkennungssoftware durchlaufen lassen und nach Übereinstimmungen mit unserer Unbekannten hier in verschiedenen Datenbanken gesucht. IDENT1 hatte nichts, ebenso wenig der Server in the Sky, also ist sie nicht auf der Liste der meistgesuchten Personen des FBI. Deshalb haben wir uns erstmal die nationalen Verzeichnisse vorgeknöpft. Wir haben einen Treffer vom DMV in Swansea und einen aus dem IRIS-System von Heathrow. Das hat uns geholfen, die nicht ganz so offensichtlichen Details herauszufinden.
Unsere brennende Dame ist eine gewisse Catherine Meadows. Sie ist Absolventin der Universität von Newcastle, neununddreißig Jahre alt und alleinstehend. Ms. Meadows war bis zum Zeitpunkt ihrer spontanen Selbstentzündung eine angesehene forensische Archäologin. Zuletzt ist sie als Zeugin beim Prozess gegen Radovan Karadžić vor dem Kriegsverbrecher-tribunal in Den Haag aufgetreten. Ihr Lebenslauf liest sich wie ein Who is Who der modernen Archäologie. Aber das war’s dann auch schon, das war ihr ganzes Leben. Sie war besessen von der Vergangenheit. Sie hat nicht im Hier und Jetzt gelebt.
Zwischen den Zeilen ergibt sich der Eindruck, dass sie eine einsame Frau war, die Abends wahrscheinlich eher mit der Katze auf dem Schoß und einem Glas Milch in der Hand die neueste Folge der Eastenders angesehen hat, als dass sie einem stürmischen Liebhaber in die Arme gesunken wäre. Es gibt keine Anzeichen darauf, dass es sich bei ihr um eine typische Terroristin handeln könnte, nicht einmal um eine untypische“, sagte er mit einem Schulterzucken. „Offen gesagt hätte ich Ms. Meadows bis zu ihrem Auftritt als flammendes Inferno – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – als langweilig bezeichnet.“
„Unglaublich, was man mit Google alles herausfinden kann“, scherzte Noah.
„Tatsächlich war die Hälfte dieser Informationen öffentlich zugänglich. Mit ihrem Namen und ihrem Bild hätten Sie alle das herausfinden können. Auf ihrer Facebook-Seite waren unzählige Bilder von ihrem rotgetigerten Kater, Links zu Freunden aus ihrer Abschlussklasse 1991 an der Uni Newcastle, und ein paar unvorteilhafte Fotos aus ihren Tagen als Cure-Fan.“ Lethe zuckte hinter seiner Brille ironisch mit einer Augenbraue. „Manchmal sollte man die Vergangenheit ja lieber ruhen lassen, aber das ist ihr als Archäologin offensichtlich schwer gefallen.” Er lachte leise über seinen eigenen Witz. „Ihre Texte wurden in einigen akademischen Zeitschriften veröffentlicht. Für alle, die unter Schlaflosigkeit leiden, stehen die Artikel online zur Lektüre bereit.“
„Also warum zündet sie sich dann auf einmal selbst an? Ich meine, das ist schon eine ziemlich extreme Art des Selbstmords“, fragte Ronan Frost, dessen Akzent jetzt nur noch ein leises Rattern war.
„In meinem Land würden wir nach den unsichtbaren Männer suchen“, bemerkte Konstantin rätselhaft.
„Genau“, stimmte ihm der Ire zu. „Diese Sache stinkt gewaltig. Eine langweilige Frau beschließt nicht plötzlich aus einer Laune heraus, sich selbst anzuzünden. Wer versteckt sich in den Schatten? Wer sind die unsichtbaren Männer?“
„Sir Charles?“, sagte Lethe, um das Wort wieder an den alten Mann zu übergeben.
Das Einzelbild auf den Plasmabildschirmen teilte sich in zwölf scheinbar identische Bilder auf. Doch Noah fiel schnell auf, dass sie nicht identisch waren, sondern überraschend – wenn nicht sogar erschreckend – ähnlich. Jeder der Monitore war von einer brennenden Menschengestalt ausgefüllt. Der Zeitstempel stand bei jedem Bild auf 15:00 Uhr UTC. Hier endeten die Gemeinsamkeiten allerdings auch schon.
Als er die einzelnen Bilder der Reihe nach betrachtete, erkannte er den Dam und die weiße Steinsäule des Nationalmonuments in Amsterdam, die gläserne Pyramide vor dem Palais de Louvre im ersten Arrondissement von Paris, die rote Ziegelfassade des Casa de la Panadería auf der Plaza Mayor in Madrid, den majestätisch aufragenden Dom am Wiener Stephansplatz, den Obelisken in der Mitte des Petersplatzes in Rom – der Vatikan war hinter den Flammen verborgen – und die monströse Glasfront des Sony Centers am Potsdamer Platz in Berlin. Es gab noch weitere Städte und Denkmäler, die er nicht erkannte. Noah zählte sie, obwohl er genau wusste, dass es zwölf Bildschirme waren.
„Jetzt wird es doch langsam interessant“, sagte Orla neben ihm. Eine einzelne Haarsträhne wanderte langsam über ihre Schläfe und vor ihr linkes Auge.
„Dreizehn Menschen haben sich auf öffentlichen Plätzen in ganz Europa gleichzeitig in Brand gesteckt. Ich würde sagen, das ist schon ein bisschen jenseits von interessant“, sagte Noah. Ihm waren viele Worte in den Sinn gekommen, aber ‘interessant’ gehörte nicht dazu. Die Sache hatte eine fatalistische Schlichtheit.
„Es kommt noch besser. Oder schlechter, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet“, sagte Jude Lethe zu ihnen.
„Lass mich raten, noch mehr Google-Fu?“
„So was Ähnliches“, sagte Lethe. Er beugte sich über den Touchscreen und brachte die Bilder in Bewegung: Er zoomte in jedes Bild hinein, bis alle zwölf Anzeigen nur noch die schreienden Gesichter der Opfer zeigten. Die Qualität und Detailtreue der digitalen Bilder konnte man nur als gnadenlos bezeichnen, sie waren geradezu widerwärtig klar und scharf. Noah hatte in seinem Leben den Tod schon oft genug gesehen, und er war derselben Meinung wie Frost. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
„Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland, England, Griechenland, die Schweiz, Österreich, Holland, Belgien, Dänemark, die Tschechische Republik und Russland.“ Lethe zählte die Länder auf, in denen die dreizehn Märtyrer ihre Selbstopferung begangen hatten. „Man kann mit diesen Aufnahmen keine Aussage über ihre Volkszugehörigkeit machen, die Haut ist schon zu stark verbrannt. Aber die Gesichtserkennungssoftware hat Treffer für alle dreizehn Opfer hier in Großbritannien gefunden.“
„Soll das etwa heißen, sie kommen alle aus England?“
Lethe nickte. „Mit Pässen aus dem British Foreign & Commonwealth Office.“
„Das ist völlig verrückt“, sagte Noah. Er versuchte sich die albtraumhafte Logistik vorzustellen, mit der man dreizehn Menschen dazu zwingen konnte, sich an öffentlichen Orten umzubringen, noch dazu auf so drastische Weise. „Was sagen sie in den Nachrichten? Ich nehme an, dass auf der ganzen Welt darüber berichtet wird.“ Ihm fiel plötzlich ein alter Song der Smiths ein, „Panic“, aber seine Vorstellungskraft trug den Inhalt weit über die Straßen von London und Birmingham hinaus.