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Giorgio Samorini

 

 

Rausch und Mythos

 

Die Entdeckung der psychoaktiven Pflanzen

 

 

 

 

 

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Impressum

 

Verlegt durch

Nachtschatten Verlag

Kronengasse 11

CH – 4500 Solothurn

 

Dieses Buch ist eine unveränderte Neuauflage des 1998 im Nachtschatten Verlag erschienen Titels

»Halluzinogene im Mythos – Vom Ursprung psychoaktiver Pflanzen«

 

Copyright © Giorgio Samorini

Copyright der deutschen Ausgabe © 1998 / 2016 Nachtschatten Verlag, Solothurn

 

Übersetzung: Daniela Baumgartner

Cover: Sven Sannwald

 

ISBN 978-3-03788-399-0

eISBN 978-3-03788-406-5

 

Alle Rechte der Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische Medien und auszugsweiser Nachdruck sind vorbehalten.

Inhalt

 

Vorwort

Einleitung

Yajé (Ayahuasca)

Peyote

Cannabis

Solanaceae

Datura

Mandragora

Tabak

Schnupfpulver

Iboga

San Pedro

Jurema

Kava

Pilze

Amanita muscaria

Andere Pilze

Stimulierende Pflanzen

Koka

Kaffee

Tee

Kola

Alkoholische Pflanzen und Getränke

Weinreben und Wein

Maguey und Pulque

Bibliographie

 

Vorwort

 

»Und was noch wunderbarer ist: Es gibt Flüssigkeiten, die die Macht haben, nicht nur den Leib, sondern auch die Seele zu verändern.«

Ovid, Metamorphosen, XV 317ff.

 

 

Italien war im »Sommer der Liebe«, also zur Zeit der psychedelischen Revolution, international geradezu übersehen worden.{1} Aus dem von Mafia und Vatikan beherrschten Land wurde kaum etwas bekannt. Die angetörnten italienischen Bands blieben im Ausland unentdeckt. Wer kennt z.B. die Gruppe »The Trip«, die 1973 ihr psychedelisches Konzeptalbum Time of Change veröffentlicht hat? – Der LP-Titel kann prophetisch gedeutet werden. Denn Italien ist spätestens in den Neunzigern zu einem psychedelischen Land geworden. Nirgends werden derart hohe Auflagen von den Werken Albert Hofmanns verkauft: über 100.000 Stück!{2}

Betrachtet man die Forschungsgeschichte in Italien etwas genauer, zeigt sich sofort die große Bedeutung des südlichen Landes für die Entheobotanik. Sie beginnt nämlich bereits in der römischen Antike und gipfelt in den Arbeiten Giorgio Samorinis.

Der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) war ein Zeitgenosse des Plinius. Berühmt ist vor allem seine Ars Amatoria, die »Liebeskunst«, geworden. Von seiner Bearbeitung der Sage von Medea, der kolchischen Schamanin und kräuterkundigen Urhexe, ist kaum mehr als ein Vers erhalten geblieben. Aber sein Hauptwerk, die Metamorphosen, wurde vor dem Schlund der Geschichte gerettet. Diese monumentale Dichtung fasst alle antiken Mythen und Verwandlungsgeschichten von der Schaffung der Welt bis zur römischen Zeit zusammen. Häufig nennt der Dichter psychoaktive Substanzen, schwärmt von den Wunderwirkungen des »Krautes der Hecate«, besingt die hermetische Moly und den schlummerbringenden Mohn{3} und resümiert: »Groß ist die Macht von Zauberkräutern« (XIV 286). Ovid hat nicht die Naturgeschichte, sondern die Mythologie der Antike erforscht.

Der Naturgeschichte hat sich Plinius (auch Plinius der Ältere oder C. Plinius secundus genannt; 23 bis 79 n. Chr.) in den 37 Bänden seiner Naturalis Historiae gewidmet. Dieses besterhaltene antike Werk seiner Art hat bis ins 19. Jahrhundert hinein maßgeblich die Grundlage der europäischen Naturwissenschaft gebildet. Plinius hat sowohl aus den griechischen Schriften, besonders aus der Arzneimittellehre des Dioskurides, aber auch aus eigenen Erfahrungen und einheimischen Quellen geschöpft. Zahlreiche psychoaktive Pflanzen werden in dem gewaltigen Kompendium angeführt:{4} Bilsenkraut (Hyoscyamus spp.), Alraune (Mandragora officinarum L.){5}, Hanf (Cannabis sativa L.), Schlafmohn (Papaver somniferum L.), Wermut (Artemisia absinthium L.), Lattich (Lactuca spp.), Meerträubel (Ephedra spp.), die pontische Alpenrose (Rhododendron ponticum L.) und ihr berauschender Tollhonig, Safran (Crocus sativus L.), Steppenraute (Peganum harmala L.), Sturm- oder Eisenhut (Aconitum napellus L.); daneben auch bis heute nicht identifizierte psychoaktive Zauberpflanzen: Achaimenis (vielleicht eine Psilocybe sp.), Aglaophotis (»die herrlich Leuchtende«), Dodecatheon (»Zwölfgötterkraut«), Gelotophyllis (»das Blatt, das Lachen hervorruft«), Halicacabon (»Salztiegel«), Hestiateris (»Pflanze, die eine Mahlzeit gibt«), Moly, Nepenthes, Ophiussa (»Schlangenkraut«), Potamaugis (»Flussglanz«), Silphion, Strychnos manikos (vielleicht ein Nachtschattengewächs oder die Brechnuss), Thalassaigle (»Glanz des Meeres«), Theangelis (»Götterbote«) und Theombrotion (»Götterspeise«?).{6}

Im Mittelalter gab es einen starken Rückgang der Forschung. Lediglich die medizinische Schule von Salerno (12.–13. Jh.) entwickelte verschiedene Betäubungsmittel auf der Basis von Opium und Nachtschattengewächsen (sogenannte »Schlafschwämme« und die Pappelsalbe oder Unguentum populeon).{7}

In der Renaissance widmeten sich die Italiener besonders der Alchemie, Magie und Toxikologie.{8} Die Herrscher, z.B. die Medicis, wollten für sich selbst den »Stein der Weisen«, für ihre Gegner und unerwünschten Rivalen tödliche Gifte. Dazu beschäftigten sie Alchemisten, Destillateure, Magier, Ärzte und Giftmischer.{9} Dabei haben sich anscheinend viele Ärzte mit den »Flugsalben« der »Hexen« auseinandergesetzt und mögliche Rezepturen entwickelt.{10}

In dieser Zeit studierte Pietro Andrea Mattioli (1500–1577), in Siena geboren, in Padua Medizin und wirkte in Trient als Stadtmedicus. Er verfasste einen italienischen Kommentar zu Dioskurides (1. Jh. n. Chr.), der 1554 ins Lateinische übersetzt wurde. Der Kommentar wurde durch ihn mit eigenen Informationen, Erfahrungen und Forschungsergebnissen derart angereichert, dass man bald nur noch vom »Kräuterbuch des Mattioli« sprach. Es erschien dann 1626 unter eingedeutschter Autorenschaft: Pierandrea Matthiolus, Kreutterbuch (Frankfurt/M.: Jacob Fischers Erben). Der Autor hat viele bis dato unbekannte Informationen zu den psychoaktiven Gewächsen veröffentlicht, die weit über die antiken Kenntnisse hinausreichte: Kalmus (Acorus calamus L.){11}, Baldrian (Valeriana officinalis L.), Safran (Crocus sativus L.), Rohr (Arundo donax L.), Muskatnüsse (Myristica fragrans Houtt.), Habichtskraut (Hieracium pilosella L.), Giftlattich (Lactuca virosa L.), Wermut (Artemisia absinthium L.), Poleiminze (Mentha pulegium L.), Steppenraute (Peganum harmala L.), Gelbe Teichrose (Nuphar lutea [L.] Sm.), Hanf (Cannabis sativa L.), Burzeldorn (Tribulus terrestris L.){12}, Magsamen oder Mohn (Papaver somniferum L.), mehrere Bilsenkräuter (Hyoscyamus spp.), Tabak (Nicotiana tabacum L.), Nachtschatten (»Solanum hortense«; Solanum spp.), Tollkirsche (Atropa belladonna L.), Schlafbeere (Withania somnifera [L.] Dunal), Stechapfel (Datura stramonium L., Datura metel L.), Alraune (Mandragora officinarum L.), Eisenhut (Aconitum napellus L.), Eibe (Taxus baccata L.), Fliegenpilz (Amanita muscaria [L. ex Fr.] Pers.), Weisser Germer (Veratrum album L.), Hopfen (Humulus lupulus L.).

Mattioli hat auffällig viele psychoaktive oder halluzinogene Nachtschattengewächse (Solanaceae) beschrieben. Diese Pflanzenfamilie sollte auch später die italienische Forschung bewegen.{13}

Mattioli hat als erster den Namen Belladonna, »Schöne Frau«, für die Tollkirsche (Atropa belladonna L.) erwähnt und ihn damit erklärt, dass die eitlen Italienerinnen sich den gepressten Saft in die Augen träufelten, um schöner zu erscheinen. Denn das in dem Saft enthaltene Atropin bewirkt eine vorübergehende Mydriasis (Vergrößerung der Pupillen). Damals gehörten große schwarze Pupillen zum Schönheitsideal.{14}

Die Ethymologie des Mattioli wird heute zunehmend in Frage gestellt; die Belladonna, die »Schöne Frau«, könnte auch ein Name des weiblichen Pflanzengeistes sein.

Der aus Neapel stammende Arzt Giovanne Battista della Porta (ca. 1535–1615) hat in seinem Werk über die »Natürliche Magie«{15} beschrieben, dass man sich mit einem Arcanum (Geheimmittel) in einen Vogel, Fisch oder eine Gans verwandeln kann, und dadurch »viel Spaß« haben würde. Er führt als dazu brauchbares Mittel an erster Stelle die Tollkirsche an.{16} Diese Pflanze hielt man für das aphrodisische Zauberkraut der in Latium lebenden Hexengöttin Kirke/Circe. Der große italienische Philosoph der Renaissance, Giordano Bruno (geb. 1548), der am 17. Februar 1600 als Ketzer auf dem Campo de' Fiori in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, spricht enthusiastisch von »einem nur der Fortpflanzung dienenden Zaubertrank der Circe«{17}.

Erst im 19. Jh. wurde die Tollkirsche wieder als Forschungsgegenstand aufgegriffen. Der italienische Arzt G. Ruspini beobachtete, dass die Alkaloide der Pflanze in das Fleisch von Tieren übergehen, die von dem Laub, den Früchten oder der Wurzel gefressen haben. Er beschrieb einen Fall, bei dem eine ganze Familie halluzinierte, nachdem sie ein Kaninchen als Sonntagsbraten verspeist hatten. Das Kaninchen liebt die Tollkirsche, zeigt aber keine toxischen Reaktionen. Wenn man ein Kaninchen isst, dass sich zuvor mit Tollkirschen sattgefressen hat, geht man auf einen wahren Hexenritt!{18}

In Italien trat im 19. Jh. Paolo Mantegazza (1831–1910), der »Pionier der modernen Drogenforschung« in Erscheinung.{19} Er publizierte 1871 in Mailand sein 1200 Seiten starkes Hauptwerk Quadri della natura umana: Feste ed ebbrezze, »Bilder der menschlichen Natur: Feste und Räusche« (Brigola).

Mantegazza war dem Coca ergeben und hatte bereits 1858 eine sensationelle Schrift mit dem Titel Sulle virtù igieniche e medicinali della coca e sugli alimenti nervosi in generale, »Über hygienische und medizinische Tugenden der Coca und Nervennahrung im Allgemeinen« veröffentlicht.{20} Mantegazza war wie seine deutschen Kollegen Dr. Ernst Freiherr von Bibra (1806–1878) und Carl Hartwich (1851–1917){21} an allen Genuss- und Rauschmitteln interessiert und hat sich sein ganzes Leben davon leiten und inspirieren lassen. Da seine Schriften nur auf Italienisch erschienen sind, wurden sie international weitaus weniger beachtet als die geschichtsträchtigen Publikationen von Bibra{22}, Johnston{23} und Cooke{24}.

Besonders modern mutet Mantegazzas Klassifikation der Genussmittel an. Er teilte die »Nervennahrung« in drei »Familien« ein:

 

1. die alkoholischen Nahrungsmittel mit den beiden Stämmen Fermente und Destillate;

2. alkaloidische Nahrungsmittel mit den Stämmen Koffeine und Narkotika. Zu den Narkotika zählte er Opium, Haschisch, Kava-Kava, Betel, Fliegenpilz, Coca, Ayahuasca und Tabak;

3. die aromatischen Nahrungsmittel (Salbei, Oregano, Rosmarin, Zimt, Pfeffer, Chili usw.).

 

Noch zu Mantegazzas Lebzeiten gab es um 1880 in Italien eine Insektenpest, die viele Weingärten zerstörte. Dadurch wurde der von den Italienern so hoch geschätzte Wein plötzlich derart knapp, dass die Bevölkerung panisch reagierte. In der Zeitschrift Gazetta degli Ospitali di Milano veröffentlichte der Arzt B. Grassi einen Artikel namens »Il nostro Agarico muscario sperimentato como ahmento nervosa« (1961–972). Darin schlug Grassi vor, den Mangel an Wein durch den Genuss der reichlich sprießenden einheimischen Fliegenpilze auszugleichen!{25} – Inwieweit dieser Ratschlag jemals befolgt wurde, ist nicht genauer bekannt. Aber der Fliegenpilz hat viele spätere Italiener ausgiebig beschäftigt.{26}

Die wissenschaftliche Entheobotanik hatte bis Mitte dieses Jahrhunderts anscheinend keinen Platz in der kulturellen Landschaft Italiens. Das sollte sich erst durch den unermüdlichen Einsatz von Giorgio Samorini und seinen Kollegen (Giovanne, Claudio Barbieri, Antonio Bianchi, Gilberto Camilla, Francesco Festi, Daniele Piomelli, Antonio Pollio, u.a.) ändern. Samorini hat der italienischen »Szene« wesentlich zur internationalen Anerkennung verholfen. Er war nicht nur einer der Gründer der »Società Italiana per lo Studio degli Stati di Coscienza« oder abgekürzt SISSC (»Italienische Gesellschaft zur Erforschung von Bewusstseinszuständen«), sondern auch Initiator des Jahrbuches Altrove (seit 1993){27} und ist Herausgeber der Zeitschrift Eleusis Bollettino d'Informazione SISSC (seit 1995){28}.

Giorgio Samorini hat sich vielen wenig bekannten, neuentdeckten und übersehenen psychoaktiven Pflanzen gewidmet. Dabei hat er die Gräser Arundo donax L. und Phalaris arundinacea L. als DMT-Lieferanten für Ayahuasca-Analoge untersucht und an sich selbst getestet{29}, den Burzeldorn (Tribulus terrestris) als möglichen MAO-Hemmer in Betracht gezogen{30}, ist der ominösen Hottentottenfeige (Carpobrotus edulis) auf die Spur gekommen{31}, hat Schimmelpilze als Produzenten psychoaktiver Mutterkornalkaloide bekannt gemacht{32} und möglicherweise einen afrikanischen Kykeon, einen mutterkornalkaloidhaltigen Einweihungstrank gefunden{33}.

Bestechend sind die Arbeiten Samorinis zur Entschlüsselung oder Interpretation von Artefakten. Dabei geht er gleichermaßen einfühlsam, aber auch vorsichtig und selbstkritisch vor. Kein voreiliger Enthusiasmus steht ihm dabei im Wege. Herausragend ist seine Recherche zu dem als Fliegenpilz deutbaren »Baum der Erkenntnis« auf einem Fresko in der Kapelle von Plaincourault, die seit 1184 existiert (siehe Abbildung auf der nächsten Seite).{34} Eindrucksvoll und überzeugend ist seine Interpretation der antiken Darstellungen von Weintrauben als Symbole für entheogene Pilze.{35} Ebenso wirft seine Untersuchung der indischen »Schirm-Steine« ein neues Licht auf die prähistorische und vedische Ethnomykologie.{36} Samorini hat sogar in den Alpen Petroglyphen entdeckt, die möglicherweise von einer steinzeitlichen, schamanischen Pilzkultur zeugen.{37}

Giorgio Samorini hat sich besonders der Erforschung der Alten Welt{38} und speziell Afrikas verschrieben. Er hat sich nicht nur ausführlich mit den berühmten Petroglyphen von Tassili (Nordafrika){39}, die auf einen etwa 9000 Jahre alten entheogenen Pilzkult schließen lassen, beschäftigt, sondern auch ethnographische Spuren solcher Gebräuche entdeckt. Kürzlich hat er an der Elfenbeinküste einen rudimentären Kult um eine Tamu, »Pilz der Erkenntnis«, genannte Conocybe sp. aufgespürt.{40}

 

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Der »Baum der Erkenntnis« erinnert fast überdeutlich an Fliegenpilze. Sollte dieses mittelalterliche Fresko in der Kapelle von Plaincourault eine geheime Botschaft bergen?

 

Am spektakulärsten ist jedoch seine Annäherung an den westafrikanischen Bwiti-Kult, bei dem in initiatorischen Riten Iboga (Tabernanthe iboga Baill.) gegessen wird, um mit den Ahnen Kontakt aufzunehmen oder zu pflegen.{41} Der Bwiti-Kult ist bis heute im nördlichen Gabun lebendig und erfährt eine stetig steigende Popularität. Giorgio Samorini war der erste Weiße, der jemals in einen Bwiti-Kult initiiert wurde und die heftige Wirkung der Ibogawurzel durchgestanden und überlebt hat.{42} Solche Abenteuer und Wagnisse sind prägend; sie erzeugen ein tiefes Verständnis für die Bedeutung der heiligen Pflanzen und Pilze. Davon zeugt dieses Buch.

Giorgio Samorini hat es zudem immer verstanden, die verborgenen Botschaften der Mythen zu entschlüsseln. Und davon handelt dieses Buch.

 

Christian Rätsch

Einleitung

 

Einige Verhaltensweisen begleiten den Menschen von Anfang an, oder von dem Augenblick an, da er zum Menschen »geworden« ist, und in gewissem Sinne beschreiben und definieren sie ihn. Der Mensch stellt zum Beispiel Kunst her, er ist von einem künstlerischen Trieb bewegt, der ihn seit den Uranfängen begleitet. Hiervon besitzen wir einen Nachweis, der sich auf die Datierung der ältesten künstlerischen Erzeugnisse bezieht, die sich bis in unsere Tage erhalten haben: prähistorische Felsmalereien in Tansania und Australien, die etwa auf die Zeit zwischen 45.000–40.000 datiert sind, ein Datum, das in der »Nähe« desjenigen liegt, das in der Regel letztendlich den Homoniden, dem Homo sapiens, chronologisch zugeordnet wird.{43}

Diese atavistischen menschlichen Verhaltensweisen – unter ihnen der künstlerische Trieb – können als »Verhaltenskonstanten« betrachtet werden, die unaufhörlich das Werden des Menschen erneuern. Es handelt sich um ununterdrückbare Verhaltensimpulse, die sich im Inneren der menschlichen Gesellschaft ohne Unterscheidung nach Rasse oder Volk offenbaren: es sind transkulturelle Verhaltensweisen.

Eine weitere dieser »Konstanten« ist die Tendenz des Menschen zu versuchen, mit Hilfe der unterschiedlichsten Methoden seinen normalen Bewusstseinszustand zu verändern, mit dem Ziel, psychophysische Erfahrungen in anderen Bewusstseinszuständen zu durchleben; Bewusstseinszustände, die ihrer Natur nach in gleicher Weise möglich und »natürlich« sind, wie wir den Bewusstseinszustand für »natürlich« halten, in dem wir für gewöhnlich unser Leben führen. Eine solche Überlegung wird bekräftigt durch den Atavismus, der dem Trieb innewohnt, diesen Typus von Erfahrungen zu erleben, und durch deren Ununterdrückbarkeit, die historisch gesichert ist.

Die Geschichte der Beziehung zwischen dem Menschen und seinen veränderten Bewusstseinszuständen verdeutlicht, dass letztere in enger Verbindung zu einer weiteren wichtigen menschlichen »Konstante« stehen: dem religiösen Impuls. Es kann kein Zufall sein, dass bei allen Völkern die Ekstase- und Trancezustände – den höheren Bewusstseinszuständen zugeordnet – kulturell als Phänomene von besonderem mystischen, spirituellem und religiösem Charakter interpretiert werden. Es muss im Gegenteil davon ausgegangen werden, dass der Ursprung der Beziehung des Menschen zu den veränderten Bewusstseinszuständen in direkter Weise mit dem Entstehen des religiösen Impulses verbunden ist. Weiterhin kann angenommen werden, dass das Bewusstsein in der Geschichte der Menschheit ursprünglich als jenes entstanden ist, das man heute den »mystischen Bewusstseinszustand« nennt. Dies würde erklären, warum die Mystiker von einem »goldenen Zeitalter« sprechen, in dem die mystischen Visionen Allgemeingut waren.{44}

Die Veränderung des Bewusstseins wird, außer in Fällen, die man vielleicht schlecht mit dem Wort »spontan« beschreibt, durch eine breite Palette von Techniken eingeleitet, die der Mensch im Laufe der Geschichte nach und nach entdeckt und ausgearbeitet hat. Von den Techniken der sensorischen Deprivation und physischen Kasteiung zu den meditativen und asketischen Techniken bis hin zu jenen, die als Katalysatoren für Trance und Besessenheit verwendet werden, dem Tanz und dem Klang bestimmter Musikinstrumente; und schließlich (sicher nicht in der Reihenfolge der Bedeutsamkeit) die Techniken, die den Gebrauch von Pflanzen mit psychoaktiver, hauptsächlich halluzinogener Wirkung vorsehen. Letztere ist eine der ältesten Techniken der Bewusstseinsveränderung und hat mit sicherer Wahrscheinlichkeit ihren Ursprung in der großen Epoche der Steinzeit.

Auf der ganzen Welt finden sich Pflanzen und Pilze, deren Verzehr im Menschen Halluzinationen und Visionen auslöst, die von tiefen emotional-intuitiven, »erleuchtenden« und »enthüllenden« Gemütszuständen begleitet sind, und auf allen fünf Kontinenten haben Kulturen existiert und bestehen immer noch weiter, die diese speziellen Pflanzen als Hilfsmittel verwenden, um die gewöhnliche Wirklichkeit zu überschreiten und mit der Welt der Geister und Götter, mit dem Jenseits, dem Anderen, zu kommunizieren.

Der größte Teil dieser Pflanzen wird in die Gruppe der sogenannten Halluzinogene eingereiht, auch als Psychedelika (»Enthüller des Geistes«) oder Entheogene (»die deine eigene Göttlichkeit enthüllen«) bekannt, mit dem ausdrücklichen Bezug dazu, dass das Hauptziel ihrer Anwendung darin besteht, Geisteszustände von religiöser Inspiration zu erlangen.{45}

Zahlreiche Kulturen haben die heilige Pflanze in den Mittelpunkt ihres religiösen Systems gestellt und zum Kernpunkt des interpretativen Systems der verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit und des Lebens gemacht, in gleicher Weise wie Völker, Stämme und Sekten die meditativen und asketischen Techniken und die daraus resultierenden geistigen Erfahrungen zum Mittelpunkt ihres spirituellen und irdischen Lebens gemacht haben.

Psychoaktive Pflanzen und Pilze wurden überall als Geschenk betrachtet, das den Menschen von der Gottheit gegeben wurde, und hin und wieder wurden sie sogar vollständig mit einem Gott gleichgesetzt. Dies ist bei dem Soma der Veden der Fall – den ältesten religiösen indischen Zeugnissen –, der gleichzeitig als ein Gott und ein Unsterblichkeitstrank betrachtet wurde; der Trank wurde gemäß der Hypothese von Richard G. Wasson aus dem psychoaktiven Pilz Amanita muscaria{46} gewonnen. Der Soma wurde in einem Ritual zubereitet und von den Ritualteilnehmern im Laufe von bestimmten religiösen Zeremonien getrunken. Eine bekannte Hymne der Veden lautet: »Wir haben den Soma getrunken/ wir sind unsterblich geworden/ wir sind zum Licht gekommen/ wir haben die Götter getroffen.«{47}

Von den Huichol in Mexiko wird der Peyote-Kaktus, der mit dem Hirsch und dem Mais identifiziert wird, als »Quelle ihres Lebens« betrachtet. Die indischen Shivaanhänger benutzen die Wirkung des »bhang« (marihuana), um mit dem Gott Shiva zu kommunizieren. Die Fang von Gabon konsumieren im Laufe einiger Initiationsrituale eine große Menge der Wurzel Iboga – ein starkes Halluzinogen – das einen langandauernden Komazustand hervorruft, im Laufe dessen die Seele des Initianten eine »Reise« antritt, die bis zu den »Wurzeln des Lebens und zum direkten Kontakt mit Nzamé«, ihrem Gott, führt.

Die heiligen Pflanzen werden auch zu Heilzwecken verwendet, obwohl ein solcher Gebrauch nicht von einem größeren spirituell-religiösem Zusammenhang zu trennen ist: In den traditionellen Kulturen werden die Entheogene nicht als bloße Medizin für den menschlichen Körper angesehen, sondern vielmehr als heilige medizinische Mittel für das untrennbare System Körper/Geist. Die traditionellen Heilungssysteme, die in der Figur des Schamanen vereinigt sind (oder jedenfalls des »Spezialisten« – Schamanen, Heilers oder Kräuterkundler-, der die visionäre, kollektive Zeremonie leitet) und den Gebrauch eines Entheogens zur Grundlage haben, wirken über einen Mechanismus, den einige westliche Gelehrte als »soziopsychotherapeutisch« definieren. In den meisten Fällen – unter denen wir die mazatekischen Veladas (Mexiko), Heilsitzungen, in denen die halluzinogenen Pilze konsumiert werden, und die Mesadas der Anden Perus ins Gedächtnis rufen, in denen der starke San-Pedro-Kaktus verwendet wird – wird die psychoaktive Pflanze von allen Teilnehmern der Zeremonie, einschließlich den Kranken, eingenommen. Im Laufe des darauffolgenden visionären Zustandes »greift« der Schamane die Botschaften »auf«, die vom Pflanzengeist oder von der spirituellen oder göttlichen Wesenheit, die die Pflanze repräsentiert, geschickt werden, und »übersetzt« diese für die Allgemeinheit. Es handelt sich um ein Phänomen von »magischer Diagnose«, durch welche die übernatürlichen Wesenheiten, die in der Pflanze »wohnen«, dem Schamanen die Ursachen der Krankheit und die Wahl der zu verwendenden Heilmittel (zum Beispiel, welche Medizinalpflanzen anzuwenden sind) mitteilen.

In verschiedenen Kulturen werden diese Pflanzen auch zu magischen Zwecken verwendet, oder um paranormale psychische Kräfte zu entwickeln, durch die magische Handlungen ausgeführt werden können: um die Zukunft vorherzusagen, um weit entfernte Personen zu sehen und mit diesen zu kommunizieren, um ein verschwundenes Objekt wiederzufinden, den Schuldigen einer schlechten Tat auszumachen etc. Die veränderten Bewusstseinszustände – gemäß der Behauptung jener, die solche Erfahrungen durchleben – können von der Freisetzung paranormaler Kräfte begleitet sein. Zum Beispiel trifft man in den Siddhi (psychische Kräfte), die von den indischen Yogis im Laufe ihrer asketischen Übungen erlangt werden, auf eine Parallele dieses Phänomens, und nicht zufällig wird in Bengalen der indische Hanf mit dem gleichen Begriff siddhi bezeichnet. Es gibt Fälle, in denen die gleiche Pflanze je nach Zusammenhang und den jeweiligen kulturellen Voraussetzungen zu verschiedenen Zwecken verwendet wird. Dies ist zum Beispiel beim Peyote der Fall, dem halluzinogenen Kaktus, der von den Indianerstämmen Nordamerikas als eine heilige Hostie (der »Rote Christus«) betrachtet wird. Solche Stämme haben von der Mitte des vergangenen Jahrhunderts an durch den rituellen kollektiven Gebrauch dieses Kaktus die etablierte religiöse Bewegung der Native American Church ins Leben gerufen. Im nördlichen Mexiko gebrauchen die Tarahumara dagegen den Peyote weiterhin ausschließlich in den Zeremonien zur Heilung ihrer Kranken, während die Azteken des vorkolumbianischen Mexikos – so wie die Quellen aus der Zeit der Conquista berichten – diesen auch zu magischen Zwecken benutzten, um ein verschwundenes Objekt wiederzufinden, um zukünftige Ereignisse vorherzusagen oder einen Schuldigen zu entlarven.

Der Grad der Sozialisierung der Erfahrungen, die den Gebrauch von heiligen Pflanzen vorsehen, variiert bekanntlich je nach dem sozialen Zusammenhang und der Art der kulturellen Annäherung, die mit der Erfahrung verbunden ist. Im Ritual des Soma wird das Getränk nur von den Zelebranten eingenommen. Dies ist ein Beispiel des Gebrauchs berauschender Pflanzen, der ausschließlich der privilegierten Schicht vorbehalten ist, oder einzelnen Personen, die als Vermittler auserwählt sind, um den Kontakt zwischen den Göttern und dem Volk herzustellen. Auch in den religiösen, schamanischen Kulturen, der wahrscheinlichen Wiege des Ursprungs des menschlichen religiösen Impulses, fungiert der Schamane als Vermittler zwischen seinem Volk und dem Jenseits. Die visionären Erfahrungen können in den Sitzungen von zahlreichen Einzelpersonen erlebt werden, der Schamane bleibt jedoch die Schlüsselfigur der kollektiven Erfahrung. Auch kommt es häufig vor, dass in religiösen Bewegungen die psychoaktive Pflanze in einem offeneren kollektiven Rahmen, der auf alle Ritualteilnehmer erweitert ist, in Form einer Kommunion eingenommen wird. In solchen Zusammenhängen wird das Halluzinogen als individueller Vermittler zwischen jedem Einzelnen und der Gottheit betrachtet und erlebt.{48}

Die enge Beziehung, die zwischen dem Menschen und den psychoaktiven Pflanzen zustande kommt, hat natürlich auch die Mythen und die Glaubensvorstellungen der Völker beeinflusst, die solche Pflanzen benutzen; dies geht soweit, dass diese Pflanzen eine bedeutende symbolische Rolle in den Kosmogonien und Anthropogonien dieser Völker innehaben können – vor allem, wenn die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze lokalen Ursprungs ist.

Unter den Mythen und Erzählungen, die von psychoaktiven Pflanzen handeln, rücken jene – an Zahl und Reichtum der Ausarbeitung – in den Vordergrund, die vom Ursprung der Pflanzen oder vom Ursprung ihrer Beziehung zum Menschen Kunde geben. Bezüglich vieler dieser Pflanzen ist die westliche Wissenschaft und besonders die Ethnobotanik noch nicht in der Lage zu erklären, in welcher Weise und durch welche logischen Folgerungen der Mensch dazu gekommen ist, die einzelnen psychoaktiven Eigenschaften zu entdecken, die oft nur auf einige Pflanzenteile (Blüten, Samen, Wurzeln etc.) begrenzt oder von solch giftiger Begleiterscheinung sind, dass die giftige Pflanze vor der psychoaktiven im Gedächtnis bleibt. Einige Pflanzen sind plausiblerweise per Zufall entdeckt worden, während man sich bei anderen auf die Beobachtung des Verhaltens einiger Tiere bezogen hat; dann nämlich, wenn die Tiere die Pflanze gefressen hatten und davon berauscht worden waren (solche Beobachtungen werden in der Tat von verschiedenen Mythen wiedergegeben). Zum Beispiel behaupten die Völker Sibiriens, die den Amanita muscaria verwenden – den bekannten und auffälligen Pilz mit dem roten Hut, der von weißen Punkten übersät ist –, dass sie dessen Wirkung bei der Beobachtung von Rentieren entdeckt haben, die nach dem Verzehr des Pilzes davon berauscht waren.

Es gibt aber auch psychoaktive Pflanzen, deren Entdeckung seitens des Menschen im Dunkeln bleibt. Dies ist beim yajé der Fall, ein im Amazonas verbreitetes halluzinogenes Getränk, das durch das Abkochen von zwei verschiedenen Pflanzen gewonnen wird, die beide für die gewünschte visionäre Wirkung des Getränks unerlässlich sind; es versteht sich von selbst, dass keine dieser Pflanzen für sich alleine eine Wirkung hat. Man fragt sich schließlich, wie die Bewohner des Amazonas vor Tausenden von Jahren unter den tausenden Pflanzen des Regenwaldes »diese Pflanze« und »jene Pflanze« entdecken konnten, die, nur wenn sie zusammen verwendet wurden, die halluzinogene Wirkung erzeugen konnten. Für die Einheimischen existiert dieses Problem nicht: Sie haben es natürlich nicht von den Pflanzen erfahren, sondern der Geist des Waldes oder der Geist des yajé, besser bekannt als Frau-Yajé, war es, der es ihnen an einem Tag, der weit zurückliegt, persönlich gezeigt hat.

Von hier aus ist es der mehr oder weniger ausgearbeitete »Ursprungsmythos« der psychoaktiven Pflanze, der ihre Existenz und ihre ursächliche Beziehung zum Menschen erklärt, anleitet – und unaufhörlich begründet.

In diesen Erzählungen entspringen die Entheogene häufig einer direkten Emanation der Gottheiten, auf deren Wunsch hin die heiligen Pflanzen der Menschheit als Kommunikationsmittel mit den übernatürlichen Welten geschenkt wurden. In der Mythologie der Fang von Gabon zeigen die Geister der Toten einer Frau namens Bandzioku die Pflanze Iboga und unterweisen sie in deren Gebrauch, damit diese »die Geister sehen« und mit ihnen kommunizieren kann. Bei den Indianern Nordamerikas erscheint einem Mann (oder einer Frau) im Traum der Geist des Peyote und zeigt ihnen den Peyote, die heilige Wurzel, als Heilmittel ihres Stammes.

Verschiedene Mythen handeln davon, dass die Pflanze aus dem Leichnam oder dem Grab eines Mannes entsteht, der in den meisten Fällen ein Kulturheros ist und nach der Gründung der Stammesgesetze, der Übergangsriten, der landwirtschaftlichen Regeln oder anderer wichtiger sozialer Einrichtungen seinem Stamm ein letztes Geschenk spendet, indem er sich im Augenblick seines Todes in die psychoaktive Pflanze verwandelt. Diese Erzählungen gehören im weitesten Sinne zu den Ursprungsmythen der Kulturpflanzen, die den Kulturvölkern eigen sind, und als Charakteristikum das Motiv der Verwandlung eines Geistes – eines dema, um es mit Jensen{49} zu sagen –, häufig via Zerstückelung, in die gleichnamige Pflanze aufweisen.

Für die gleiche Pflanze kann es, je nach ihrer Herkunft, verschiedene Mythen geben und für jede von diesen können verschiedene Versionen überliefert sein: Dies liegt vor allem an der geoethnographischen Verbreitung des Gebrauchs der Pflanze. Zum Beispiel kennt man Dutzende von Versionen desselben Ursprungsmythos über den Gebrauch des Peyote bei den Indianern Nordamerikas; für jeden Indianerstamm, der diesen halluzinogenen Kaktus als sakramentale Droge verwendet, gibt es praktisch eine Version.

Es existieren Fälle, in denen ein Mythos gleichzeitig das Thema des Ursprungs der Pflanze und jenes des Ursprungs ihres Gebrauchs seitens des Menschen behandelt, vor allem in jenen Erzählungen, in denen der Ursprung des Menschen und der Ursprung der heiligen Pflanze in enger zeitlicher Beziehung zueinander stehen (in der Zeit des Mythos, versteht sich). In zahlreichen anderen Fällen handeln die Erzählungen dagegen ausschließlich vom Ursprung der Beziehung des Menschen zur Pflanze, wobei man annimmt, dass die Pflanze zeitlich bereits vor dem im Mythos erzählten Ereignis existierte, ohne ihren Ursprung genau zu bestimmen.

Unter den hier wiedergegebenen Mythen zeichnet sich eine gewisse Variabilität im Grad der »ethnographischen Reinheit« ab. Verschiedene Erzählungen wurden den Einflüssen und Interpretationen fremder Kulturen unterzogen, bis sie in einigen Fällen die Charakteristika des Ursprungsmythos verloren haben – Charakteristika, die unter einer dicken Schicht interpretativer Veränderungen begraben wurden. Was in etlichen Fällen zu uns gelangt ist, ist eine Erzählung, eine kleine Geschichte oder eine einfache Anekdote, die Frucht der jahrhundertelangen Popularisierung und Folklorisierung der alten Mythen.

Jene Völker, deren Kultur und Religion dem Phänomen des Synkretismus mit fremden Religionen wie dem Christentum, dem Islam oder dem Buddhismus unterworfen wurde, haben ihre Mythologie durch einen Prozess der Überlagerung und der symbolischen Vergleiche entwickelt und angepasst, die sich wiederum auch in den Ursprungsmythen der psychoaktiven Pflanzen widerspiegeln. Zum Beispiel ist es in einigen Versionen des Ursprungsmythos des Peyote-Gebrauchs bei den Indianern Nordamerikas nicht mehr der Geist des Peyote, sondern Jesus Christus, der sich dem Indianer offenbart, um ihm die heilige Wurzel zu zeigen.

Als Forscher auf dem Gebiet der multidisziplinären Untersuchung des menschlichen Gebrauchs der psychoaktiven Pflanzen, und ohne den Anspruch, Forschungsgebiete zu usurpieren, die Spezialisten der Mythologie, der Anthropologie und der Religionsgeschichte vorbehalten sind, habe ich mit der vorliegenden Arbeit beabsichtigt, eine Gesamtheit an mythologischem Material – wovon der größte Teil in Italien unveröffentlicht ist – zu strukturieren und darzustellen; dabei hielt ich den Umstand für nützlich oder wenigstens für subjektiv interessant, die Erzählungen über die Ursprünge des Marihuana, des Tabak, des Peyote, des Amanita muscaria, der Mandragora etc. in Abfolge lesen zu können. Neben einer umfassenderen Darstellung der Mythen, die die halluzinogenen (entheogenen) Pflanzen betreffen, habe ich noch einige Mythen über die stimulierenden Pflanzen und über die Pflanzen, aus denen man alkoholische Getränke gewinnt, wiedergegeben.

Yajé (Ayahuasca)

 

Der Yajé, sonst bekannt als ayahuasca, caapi, natem, ist das wichtigste Halluzinogen des Amazonas. Seine Verwendung für religiöse und magisch-therapeutische Zwecke ist derzeit unter dem größten Teil der Stämme verbreitet, die das Regenwaldgebiet zwischen Peru, Ecuador, Kolumbien und Brasilien bewohnen. Seine Anfänge verlieren sich im langandauernden tropischen Neolithikum: die archäologische Dokumentation würde bei ihm ein Alter von 5000 Jahren ansetzen.{50}

Der Yajé ist ein Getränk, das aus dem langem Abkochen einer Liane der Familie der Malpighiaceae – Banisteriopsis caapi (Spr. ex Griseb.) Morton – zusammen mit den Blättern eines Strauches Psychotria viridis Ruiz & Pavon, der Familie der Rubiaceae – gewonnen wird. Eine Besonderheit dieses Halluzinogens besteht in dem notwendigen Vorhandensein beider Pflanzentypen, damit sich die visionäre Wirkung einstellt. Häufig werden dem Basisgetränk weitere pflanzliche Zutaten beigefügt, die den halluzinogenen Effekt beeinflussen, der eine Reihe von traditionell gut bewährten, psychischen Erfahrungen liefert.

Seit der Zeit von Richard Spruce (1851), dem Botaniker, der als erster Europäer mit diesem Getränk in Berührung kam und dessen Gebrauch und Eigenheiten beschrieb, haben zahlreiche Anthropologen und Ethnographen die Amazonasstämme, die den yajé verwenden, in Augenschein genommen, die damit ausgeführten Rituale beschrieben und ein reichhaltiges mythologisches Material zusammengetragen. Der Gebrauch des Getränks ist traditionell mit den schamanischen Praktiken verbunden, und selbst während der kollektiven Anwendung untersteht die Darreichung des yajé der direkten Kontrolle des Schamanen. Der yajé wird getrunken, um die übernatürliche Welt zu erreichen und mit den Geistern des Waldes in Kontakt zu treten, um übernatürliche Kräfte zu erlangen oder auch die häufig auftretenden Opfer von Verhexungen zu heilen. Dieser letzte Typus der Heilung basiert auf der Identifizierung und Entfernung von bestimmten magischen Gegenständen aus dem Körper des Patienten (wie die »magischen Pfeile«, virotes), welche die von den Hexern und Zauberern am meisten gefürchteten unsichtbaren Waffen darstellen. Bei vielen Amazonasstämmen sind die durch den yajé erhaltenen visionären Erfahrungen eine Quelle an Informationen ersten Ranges für die Interpretation der Wirklichkeit und der Ereignisse des Lebens.

Die geläufigsten Themen der Visionen, die durch das Getränk eingeleitet werden, handeln, den Indios zufolge, von Anakondas, anderen Reptilien und verschiedenen anderen Tieren, im Besonderen dem Jaguar. Das Reptil stellt die Liane des yajé dar, wobei der Symbolismus des yajé Bilder und Ereignisse umfasst, die Gegenstand einer »Verreptilierung« sein können: von dem komplexen Flussnetz des Regenwaldes bis zum Akt des Erbrechens, das ein häufig anzutreffendes physiologisches Symptom als Folge der Einnahme des Getränkes ist und als das Herauskommen einer Schlange aus dem Körper des Konsumenten durch den Mund interpretiert wird. Der Jaguar ist das typische Tier, in das sich der Schamane verwandelt. Eine allgemeine Erfahrung des Schamanen ist die Trennung der Seele vom Körper mit dem darauffolgenden Gefühl des »Fliegens«; auch das Gefühl, Geister und Gottheiten zu sehen, wie jenes, ferne Orte und Personen oder die Verantwortlichen zu erblicken, die mittels Hexenpraktiken Krankheiten geschickt haben, gehören zu den allgemeinen Erfahrungen, die von den Schamanen erlebt werden.{51}

Nachdem die zentrale Rolle nachgewiesen ist, die das Getränk in Glaubensfragen und in der Interpretation der Welt dieser Völker bekommen hat, kann davon ausgegangen werden, dass es spezifische und gut strukturierte Mythen gibt, die sich auf den Ursprung dieses Getränkes beziehen.

Der folgende Mythos ist von Gerardo Reichel-Dolmatoff bei den Tukano im Vaupés-Gebiet, im äußersten Süd-Osten Kolumbiens an der Grenze zu Brasilien, aufgenommen worden. Die erzählten Ereignisse beziehen sich auf die Epoche der Ankunft der ersten Menschen auf der Erde. Im Mythos ist Ipanoré der Ort, an dem die ersten Indianer des Vaupés-Flusses in einem Kanu, das die Form einer Anakonda hatte, vom Himmel herabkamen. Das Haus der Wasser ist der Ort, an dem von den Menschen die erste Hütte (maloca) errichtet wurde:

 

Die ersten Männer versammelten sich im Haus der Wasser, das an einem Reck genau unterhalb Ipanoré am unteren Vaupés-Fluss gelegen war, und bereiteten gerade cashiri{52} zu. Sie waren gerade dabei, ein Getränk zu suchen, einen giftigen Heiltrank, der sie jenseits der engen Grenzen der täglichen Wirklichkeit bringen sollte, für den sie verschiedene Typen von fermentiertem Bier zusammenbrauten. Vater Sonne hatte ihnen ein wundertätiges Getränk versprochen; er sagte ihnen, sie würden es als höchstes Geschenk erhalten, das die Menschen dieser Erde für immer mit den strahlenden Kräften der himmlischen Mächte verbinden würde. Die Männer warteten; sie versammelten sich, um die gepriesene Gunst zu erhalten, und während sie auf sie warteten, tranken und sangen sie im Haus der Wasser.

Unter ihnen war eine Frau, die erste Frau der Schöpfung; während sich die Erregung der Männer steigerte und das Haus sich mit den Stimmen und Bewegungen der Menge anzufüllen begann, bewegte sie sich unbeobachtet und ging hinaus. Die Frau trug einen Jungen (im Schoße). Als Vater-Sonne sie im Haus der Wasser erschuf, hatte er ihren Körper durch ihre Augen geschwängert; als sie seinen Glanz sah, wurde sie geschwängert{53}, und jetzt war sie im Begriff zu gebären, weswegen sie das Haus verließ und in die Dunkelheit des Waldes hinauslief. Während die Männer weitersangen, gebar sie einen Jungen, einen Jungen, der die narkotische Liane, der yajé, werden sollte, – ein übermenschliches Kind, das in einem blendendem Lichtschein geboren wurde. Die Frau – Frau Yajé war ihr Name – schnitt die Nabelschnur durch, nahm sodann einige dunkelrote Blätter der Pflanze carayurù{54}, und fing an, den Körper des Kindes abzureiben. Daraufhin nahm sie eine Handvoll Blätter tooka{55}, die an der Außenseite grün, an der Innenseite dagegen rotschimmernd sind, und rieb damit von neuem den Körper des Kindes ab. Und während sie so dabei war, das Kind abzureiben und zu säubern, gab sie dem kleinen Körper Form, dem Kopf, den Armen und den Beinen, einem nach dem anderen.

Als das Kind strahlte und leuchtete, nahm sie es auf den Arm und ging in Richtung Haus der Wasser zurück. Sie lief die ganze Nacht hindurch, der Weg war ihr vom Licht angezeigt worden, das vom Körper des Kindes ausstrahlte. Als sie am Ende des Pfades ankam, hielt sie sich immer noch auf den Beinen. Im Inneren saßen die Männer, und jetzt fühlten sie sich auf einmal wie gelähmt und innerlich bewegt. Dies kam nicht von dem Getränk, das sie eingenommen hatten; es wurde von etwas anderem verursacht, aber niemand wusste, was es war. Sie fühlten sich benommen und benebelt, und sahen alle durch die Tür hindurch die Frau, die am Ende des Pfades gegenüber dem Haus stand. Langsam ging Frau Yajé zum Haus und trat ein. Das Kind in ihren Armen haltend, stellte sie sich in die Mitte des großen Raumes in die Nähe der Feuerstelle, wo ein Korb mit Federschmuck aufgestellt war, und hier blieb sie stehen. Die Männer betrachteten sie und spürten wie sie erbleichten; das schimmernde Licht und der Blick des blutroten Jungen ließen sie die Sinne verlieren. Sie fühlten sich, als würden sie in Wasserstrudel ertrinken.

Die Frau blickte sich um und fragte: »Wer ist der Vater dieses Jungen?« Ein Mann, der in ihrer Nähe saß, sagte: »Ich bin sein Vater!« Er nahm einen seiner Kupferohrringe ab, brach ihn in der Mitte der Längsseite, packte den Jungen und schnitt mit der scharfen Klinge des Ohrringes ein Stück der Nabelschnur weg. Ein anderer Mann erhob sich und rief aus: »Ich bin der Vater des Kindes!« und riss das rechte Bein des Jungen weg. Schließlich erhoben sich alle Männer und schrien: »Wir alle sind die Väter des Kindes«, stürzten sich auf den Körper des Kindes und rissen ihn in Stücke. Jeder Mann riss einen Teil aus und behielt ihn für sich, bis nichts mehr übrigblieb.

Und seither besaß jeder Stamm, jede Gruppe von Männern, ihre eigene narkotische Liane.{56}

 

Derselbe Reichel-Dolmatoff{57} hatte einige Jahre zuvor eine Version des gleichen Mythos bei den Desana aufgenommen, einem Stamm, der zur gleichen Sprachfamilie der Tukano gehört und entlang des kolumbianischen Seitenarmes des Río Papurí zuhause ist. In dieser Version ist die Ankunft des yajé bei den Männern ausdrücklicher an »den Anfang der Zeit« gesetzt worden. Bei den Stämmen der Tukano gibt es ein allgemeines Motiv, das von der Ankunft der ersten Menschen auf der Erde in einem großen himmlischen Kanu handelt, das die Form einer Anakonda hatte: das Anakonda-Kanu, das lebendig ist und von Pamurí-mahse gelenkt wird, dem »Hervorbringer«, einem übernatürlichen Wesen, das die direkte Emanation des Sonnen-Vaters ist (Pamurí bedeutet »gären«). Während das Kanu die Flüsse hinauffuhr, um die menschliche Rasse auf der ganzen Erde zu verbreiten, erschien Frau Yajé.

Der Ursprung des yajé wird also in enge zeitliche Verbindung mit dem Ursprung des Menschen gebracht: Nachdem die Menschen von der himmlischen Anakonda im Wald abgesetzt wurden und die erste maloca gebaut hatten, kam als erste Frau die Mutter des yajé zu ihnen, und die erste Entbindung einer Frau, die sich in dieser Welt ereignete, betraf nicht ein menschliches Wesen, sondern die heilige Liane.

Einem anderen Mythos{58} desselben kolumbianischen Vaupés-Gebietes zufolge kamen die ersten Bewohner der Erde von der Milchstraße in einem Kanu an, das von einer Anakonda gezogen wurde und einen Mann, eine Frau und drei Pflanzen mit berauschender Wirkung transportierte: cassava, coca und caapi (yajé).