image

image

Lichtjahre von der Erde entfernt haben Menschen eine Stadt gebaut, in einem unbedeutenden Sonnensystem: Die am Reißbrett entworfene Oneiropole sollte Symbol einer neuen, besseren Gesellschaft werden, aber Rheit ist ein kleiner, feindseliger Planet, vom Außenparasiten umkreist, der nachts blutrot am Himmel steht. Von Wüste und flirrender Hitze umgeben, sind alle früheren Ideale der Siedler zu hohlen Phrasen verkommen. Man interessiert sich für nichts, gibt sich geistlosen Spielen hin und beteiligt sich nicht mehr an politischen Entscheidungsprozessen. Und die Träume der Menschen haben ein Eigenleben entwickelt: Die Wirklichkeit wird brüchig, alles scheint in Auflösung begriffen. Nur der Wissenschaftler Aspi kämpft mit seiner Partnerin, der Lehrerin Obla, und ihrem gemeinsamen Sohn Chao gegen den unaufhaltsam scheinenden Untergang der Stadt an …

Sebastian Guhr beschreibt in Die Verbesserung unserer Träume nicht nur das Scheitern einer Utopie und den Untergang einer Gesellschaftsvision, er stellt in eindrücklichen Bildern die grundsätzliche Frage nach der Vergeblichkeit menschlichen Strebens: Bedeutet die eigene Endlichkeit letztlich nicht die Auflösung jeglicher Zusammenhänge?

SEBASTIAN GUHR, * 1983 in Berlin, studierte Philosophie und Germanistik. Er lebt als Autor in Neukölln.

Sebastian Guhr

Die Verbesserung unserer Träume

Roman

image

© Luftschacht Verlag – Wien

1. Auflage 2017

luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Julian Tapprich – juliantapprich.com

ISBN: 978-3-903081-14-7

image

Städte wie Träume sind aus
Wünschen und Ängsten geformt
.

Italo Calvino

Erster Teil

ONEIROPOLE

Am Stadtrand, im Wüstensand

Herl steht hoch oben am Fenster ihres Büros und überblickt die Welt, für die sie sich als Zentralpaneldelegierte besonders verantwortlich fühlt. Zwanzig Lichtjahre von der Erde entfernt haben hier die Menschen eine Stadt gebaut, in einem unbedeutenden Sonnensystem, auf einem kleinen Planeten, der abseits der Handelsrouten liegt und durch seinen äußeren Geröllgürtel nur unzuverlässig interstellare Radiosignale empfängt. Genau so einen hintersten Winkel des bekannten Universums, ein vom Rest der menschlichen Zivilisation vergessenes Habitat in einer gleichgültigen Umgebung hatten sich die ersten Siedler ersehnt. Hier konnten sie sich erproben.

Als sie damals ins Ungewisse aufbrachen in ihrem nach der Ankunft zerstörten Wohnschiff namens Prometheus, machte ein Satz die Runde, der bald zum Wahlspruch für diese Reise wurde: Reißt die Träume von den Bäumen und pflanzt sie in ein Meer aus Zuversicht! Wer den Satz, den heute jedes Kind in der Oneiropole kennt, erfand, ist nicht überliefert worden.

Aus Teilen des Wohnschiffs der Siedler wurde der viel behäbigere, für tiefere Vorstöße ins All ungeeignete Frachter gebaut, der zweimal am Tag zwischen Rheit und seinem Außenparasiten pendelt. Er bringt den Rohstoff Kys, eine Ausscheidung dieses bohnenförmigen Planetenbegleiters, und liefert im Gegenzug Fördermaschinen und Reparatureinheiten hinauf. Sein Landeplatz liegt für Herl von hier aus sichtbar etwas außerhalb der Oneiropole, deren quadratische, mit hohen Türmen bebaute Fläche jetzt, wenn gegen Mittag die Wolken verschwinden, silbern unter der hiesigen Sonne glänzt. Nur noch wenige Spaziergänger trotzen unter dem gelben Himmel der Hitze. Manche von ihnen gehen in die Wüste hinaus, unvernünftig und gegen den ausdrücklichen Ratschlag der Ärzte, Politiker und Wissenschaftler, die ihrerseits längst in sicheren Gebäuden mit der Arbeit begonnen haben.

Als Mitglied des Zentralpanels sorgt sich Herl um jeden einzelnen dieser Wüstengänger, die ihr wie kleine Punkte erscheinen. Sie zählt sie, lässt dann aber ihren Blick zum Frachter hinüber wandern, der zu einem weiteren Flug abhebt. Der eine oder andere Oneiropolit sieht ihm ebenfalls aus seinem Bürofenster nach, interessiert, vielleicht auch stolz auf diese fleißige Hummel, die für viele ein Symbol für die Unabhängigkeit und das Wachstum der Kolonie ist.

Neben einem Schachtisch aus Glas, dessen Holo-Figuren schon seit Tagen auf den nächsten Zug warten, steht ein Sessel, in dem sich Krais zurücklehnt. Hinter ihm, in einer Ecke des kleinen Zimmers, liegt ein ordentlich zusammengerolltes Springseil über einem Haufen aus Hanteln, doch zwischen einer karierten Unterhose und dem Hemd, das Krais schon seit ein paar Tagen anhat, erhebt sich sein untrainierter Bauch nackt, behaart und melonenhaft. Die Sportgeräte sind ihm, genauso wie das Schachspiel, vom Zentralpanel zugeschickt worden, da die Behörde weiß, dass Verstockte die Möglichkeiten des Extensums selten nutzen und gern zu Hause bleiben. Dass er als Verstockter im Computer geführt wird, hat Krais erst bei der Lieferung erfahren, eine Woche nachdem das Zentralpanel ihm zum ersten Mal keine Stelle vermitteln konnte.

Der großen Wölbung des Bauchs entspricht weiter unten die kleinere einer Erektion. Krais hat sich die Homunc-Brille aufgesetzt, und etwas, das ihm in seinem Traum widerfährt, lässt ihn aufseufzen. Er fährt mit der Zunge über die trockenen Lippen und mit einer Hand über den Bart, den er meistens zu einem Krawattenknoten bindet, jetzt aber offen trägt wie einen Fuchsschwanz. Er ordnet den Bausch, als würde er sich für jemanden schön machen, kämmt ihn mit gekrümmten Fingerspitzen.

»Komm her«, flüstert er und meint eine der beiden Nackten, die sich neben ihm am Strand eines goldenen Meeres räkeln. Zwar deuten die dunkelblaue Haut, die pulsierenden Kiemen sowie die jeweils drei Brüste auf eine Idee von nicht gerade menschlicher Weiblichkeit, doch sind es eher die altvertrauten Berührungen, die verlässlich sich einstellende Erregung, die Krais hier sucht. Er beugt sich, im Sessel wie im Traum, nach vorn, spitzt seine Lippen zu einem Kuss und weiß nicht, was er mit den Kiemen und den drei Brüsten eigentlich anfangen soll. Er wollte sie einfach mal ausprobieren und merkt nun, dass sie ihn ablenken. Dann schiebt sich etwas Störendes in den Traum, als die eine dunkelblaue Schönheit sich auf ihn setzt und die andere zu singen beginnt. Krais hört die feuchten Schnappgeräusche der Kiemen und den Sopran, spürt die viel zu feste Klammer ihrer Schenkel, den schmerzhaften Biss an seinem Ohrläppchen und möchte sie von sich wegschieben. »Verstockt«, flüstert sie in sein Ohr.

Wie kann das sein? Oder war es nur das Plätschern der Wellen? Wie ein Baumeister eine fehlerhafte Apparatur, analysiert Krais das Setting, das ihn einige Arbeit gekostet hat. Wie kommt das Zentralpanel darauf, dass er verstockt wäre? Weil er schon zu lang allein lebt? Während er irritiert die drei gegen seinen Brustkorb drückenden Rundungen mit den nur zwei Gesäßhälften, um die sich seine Hände legen, in Verbindung zu bringen versucht, lauscht er aufmerksam auf das Wellengeräusch. Es ist ihm eindeutig zu blechern geraten, kein Wunder, dass er dieses scheußliche Wort darin hört. Verstockt, rauschen die Wellen.

Da erotische Homunc-Settings für einen vom Zentralpanel vorübergehend als »unvermittelbar« Eingestuften zu teuer sind, programmiert sich Krais seine Wunschwelten selbst, keine besondere Herausforderung für einen Experten wie ihn und ein kleiner Trost für jemanden, der es nicht schafft, auf wirkliche Frauen erweiternd zu wirken. Dementsprechend verteidigt er seine Homunc-Liebschaften vor sich selbst als Vorbereitung oder wenigstens als Zwischenlösung, um nicht gänzlich zu verdorren.

Unzufrieden reißt er sich die Brille vom Kopf und zieht beinahe auch den Akont in seinem Hinterkopf heraus. Er streichelt sich über den Oberarm, dort wo er eben von der Kiemenfrau berührt worden war, aber es fühlt sich anders an. Erinnerungen an Settings sind meistens lau und wirken im Vergleich zu realen Erlebnissen seltsam erledigt, abgeschlossen, keiner Wehmut wert. Wenn die Settings einen Ersatz darstellen sollen, denkt Krais, ergibt es keinen Sinn, sie so abweichend von der Wirklichkeit zu programmieren. Im Gegenteil, er sollte zukünftig auf bekannte Gesichter und Körper zurückgreifen, obwohl das illegal wäre. Seine Lehrerin im Extensum zum Beispiel, möchte sie mit ihm schlafen? Weiß sie überhaupt, wie er heißt? Bestimmt würde er ihr gegenüber anders auftreten, wenn er sie vorher in einem seiner Settings für Dinge benutzt hätte, von denen sie selbst vielleicht auch träumt.

Ein Klingeln schreckt ihn auf. Es wird der Alte sein, denkt er, und tritt auf dem Weg zur Wabentür mit nackten Zehen gegen etwas Weiches, das sich, als er nach unten blickt, als ein verschimmelter Apfelrest entpuppt.

Wie erwartet ist es der alte Mann mit der Knollennase und dem zerzausten, wie ein graues Feuer lodernden Haar. »Schauen Sie nicht so betröpfelt«, sagt er. »So schnell werden Sie mich nicht los.«

»Dix! Das hab ich mir schon gedacht.« Ein Feuer, das über kalte Flure zu seinem Ziel hin wandert wie das, was im Lexikon der unerwünschten Wörter Schicksal genannt wurde. Krais versucht, sich an dessen genaue Definition zu erinnern, aber der Alte lässt ihn nicht dazu kommen.

»Darf ich reinkommen?«

Was Dix mit ihm besprechen möchte, womit er ihn schon seit Tagen bedrängt, ist für die Ohren neugieriger Nachbarn nicht geeignet, deshalb bleibt Krais nichts anderes übrig, als den Spalt weiter zu öffnen und beiseite zu treten.

Der Alte gibt sich keine Mühe, seinen Ekel vor dem Zustand dieser Wabe hier im hundertsiebten Stockwerk eines der mittelgroßen Türme der Oneiropole zu verbergen. Er versucht, keines der ihn umschwebenden Holo-Stücke oder der willkürlich über den Boden verteilten Dinge zu berühren, und nimmt einen nicht viel größeren Platz ein, als sein schon etwas gekrümmter Körper mit angelegten Armen braucht. Vierzig Jahre älter als Krais hat er die Zeit der großen Knappheit noch miterlebt, doch so schlimm, dass er einen Besucher in Unterhosen empfangen hätte, war es ihm nie gegangen. Eins der Holo-Stücke treibt auf ihn zu. Ehe es auf seine Körpertemperatur reagieren kann, pustet Dix es, eine Staubschicht aufwirbelnd, weg.

»Was machen Sie den ganzen Tag?«

»Ich muss oft ins Extensum, Erweiterungspunkte sammeln.«

»Lassen Sie sich nicht gehen, Mensch!«

Krais sieht sich im Wirrwarr nach einer Hose um, findet aber nur einen Morgenmantel, in den er schlüpft. Nachdem er den Stoffgürtel vor seinem Bauch verknotet hat, vergräbt er die Hände in den schlackernden Taschen. »Gut.«

Das Gesicht des Alten zieht sich sorgenvoll zusammen wie ein Kaleidoskop aus Schwierigkeiten, die sich endlos fortspiegeln würden, wäre Krais für ein genaueres Hinsehen nicht zu entmutigt.

»Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«

»Die Decodierung? Ja. Ich kann Ihnen so etwas programmieren. Gegen entsprechende …«

Dix wischt das lästige Thema der Bezahlung beiseite. »Besorgen Sie mir die betreffenden Artefakte aus dem Keller des archäologischen Instituts.«

»Diebstahl? Davon war bisher keine Rede. Ich dachte, Sie besitzen die Artefakte längst.« Geschlagen von dieser nächsten, bestimmt als Falte im Gesicht des Alten eigentlich seit langem erkennbaren Schwierigkeit, seufzt Krais geräuschvoll auf.

»Im Keller des Instituts lagern sie ohne jeden Nutzen«, sagt Dix. »Die Leute dort wissen nichts damit anzufangen. Wir dagegen haben die Möglichkeit … Dank Ihrer Fähigkeiten als Programmierer!«

»So was kommt bestimmt raus.«

»Eine Lappalie im Vergleich zur Korruption im Zentralpanel.« Dix kann sich über die Naivität des jungen Manns nur wundern. »Wachen Sie endlich auf!«

»Das Zentralpanel hat mich als Verstockten eingestuft. Wissen Sie, wie das passieren konnte?«

»Jemand, der Sie nicht leiden kann. Haben Sie Feinde?«

»Nicht, dass ich …«

»Haben Sie Freunde?«

»Nein.«

»Keine Sorge, ich habe welche.« Ein Vergnügen, das er, streng gegen sich selbst, nur kurz durchscheinen lässt, ordnet das Faltenmuster in seinem Gesicht neu. »Wie auch immer. Ich bin zu alt für so eine nächtliche Aktion. Leider. Ich verspreche Ihnen einen Haufen Spezialisierungspunkte, meinetwegen als Bio-Ingenieur, wenn Sie die Angelegenheit sauber durchziehen.« Überzeugungseifer treibt feuchte Bläschen in seine Mundwinkel. »Sie haben schon eine Menge gelernt. Eines Tages könnten Sie in meinem Labor arbeiten.«

»Auf eine Stelle als Bio-Ingenieur müsste ich vermittelt werden.«

»Mein Kontakt beim Zentralpanel kann Ihr Register so verbessern, dass der Rechner Sie mir als geeigneten Arbeiter zuordnet.«

»Und die Einstufung als Verstockter?«

»Geschenkt.«

In einem überschaubaren, im Fall der Oneiropole quadratischen Feld aus Bekanntschaften und zufälligen Nicht-Bekanntschaften ist es eine Frage der Zeit und des strategischen Denkens, ob ein Nicht-Bekannter zu einem Bekannten und ein bloßer Bekannter zu einem Unterstützer wird, der natürlich auch unterstützt werden möchte. Irgendein Selbstverständnis im Umgang mit dieser Stadt muss es sein, das Krais fehlt, das er im Alten aber deutlich erkennt. Vielleicht ist es dieser Mangel an Geläufigkeit, der einen Verstockten ausmacht, denkt Krais. Ein plötzlicher Tagtraum in düsteren Tönen springt ihn an: Dix, über einen Sarg gebeugt, ruft »Alma!« Es ist ein verletzter, zerrissener Dix, der wimmert wie ein Kind, der mit Fäusten auf die Sargkante schlägt und trotzdem unter Tränen und mit halb zugekniffenen Lidern am Inhalt des Kastens hartnäckig vorbei sieht. »Alma, es tut mir leid!«, ruft er – und mit diesen Worten löst sich der Traum auf. Krais empfindet plötzlich Mitleid mit seinem Besucher, dessen bleiches Haarfeuer auf dem Kopf jetzt weit weniger überlegen lodert, sondern weich die Spitzen hängen lässt, als wären sie feucht geworden. Hat der Alte, bevor er zu ihm kam, mit den Händen absichtlich die Frisur aufgebauscht, um Eindruck zu machen?

»Sie hatten gerade einen Traum, nicht wahr?«

»Ja.«

»Elende Träume. Sie werden immer aufdringlicher. Als ich jung war, haben sie sich nur selten in den Tag hineingetraut. Und die, die sich ins Helle vorwagten, haben sich wenigstens anständig benommen, waren nicht so negativ.« Er macht eine Pause, in der er überlegt, wie er von einem Geheimnis sprechen soll, ohne es zu verraten. »Aber bald … gibt es vielleicht eine Lösung für dieses Ärgernis.«

»Das Projekt, an dem Sie arbeiten?«

Dix legt einen Zeigefinger über seinen Mund und schweigt.

»Kennen Sie das Wort Verweser?«, fragt Krais.

»Nein. Was soll es bedeuten?«

»So was wie Gouverneur. Glauben Sie, dass wir so etwas hier haben?«

»Wie jeder Oneiropolit weiß, konstituiert sich das Zentralpanel für eine begrenzte Dauer. Wenn Sie mich fragen, ist ein Jahr zu kurz für das, was man auf der Erde Regieren nannte.«

»Dieses Wort kennen Sie also! Regent, das bedeutet so etwas wie König.«

»Na sehen Sie, das kommt doch Ihrem Verweser sehr nahe. Dann ist das die Verwesung des Zentralpanels!« Der Alte kichert und blinzelt. »Ich weiß schon seit einer Weile, dass es mit uns abwärts geht. Daran sind die Störträume schuld, sie bringen alles durcheinander. Oder nicht?«

»Das meinte ich nicht.« In der Tasche seines Morgenmantels kullert eine einzelne Kys-Tablette, die Krais herausfingert und sich auf die Zunge legt, woraufhin der Alte erstaunt die Wangen aufbläst.

»Sie kauen das, als wäre es Obst. Wie viel nehmen Sie am Tag von dem Zeug?«

»Nicht mehr als die erlaubte Dosis.«

Krais wünscht sich an den Goldstrand seines Homunc-Settings zurück, zu seinen zwei blauen Grazien, auf die er allerdings verzichten könnte, wenn er erst einmal als Bio-Ingenieur wirklich selbsterweiternd auf Frauen wirkt. Er streckt die Hand aus, und Dix schlägt ein.

»Abgemacht.«

Wie er vorhin nicht in die Sargöffnung blicken wollte! Verlogener Hund, kommt sich mutig vor. Krais ärgert sich über das Geplapper mancher Oneiropoliten, die mit ihren angeblich aus besonderen menschlichen Begegnungen und intensiven Erlebnissen gewonnenen Erfahrungspunkten prahlen.

»Träumen Sie schon wieder?«, fragt der Alte, ungeduldig den Türknauf im Visier. »Weitere Gespräche bitte nicht über meinen Akont. Persönliche Gespräche sind sicherer.«

»In Ordnung«, stottert Krais. Drei Brüste, aber nur zwei Hände – liegt es daran, dass sein Körper sich nun so seltsam anfühlt? Oder ist der Morgenmantel ihm zu eng geworden? Er sollte doch einmal die Sportgeräte ausprobieren. »Ich muss erst mal eine Weile drüber nachdenken, bevor ich mir etwas für den Einbruch einfallen lasse.« Er hat es nie für möglich gehalten, einmal ein Einbrecher zu sein. Die ganze Sache kommt ihm unwirklich und er selbst sich allein schon beim Aussprechen dieses Wortes, das er eher aus Geschichten kennt, unbeholfen vor. »Als Spezialisierter sagt man Einstieg und nicht Einbruch, oder?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Hauptsache, Sie verschlafen es nicht. Jeder weitere Tag, den Sie als Verstockter im Zentralpanel geführt werden, macht eine zukünftige Vermittlung schwieriger.«

»Aber …«

»Nur damit Sie wissen, worum es geht.«

»Ich verstehe.« Und vielleicht benötigt er dann als Bio-Ingenieur auch nicht mehr diesen Bart und diesen Knoten, um einer Frau aufzufallen.

An den Köpfen ihrer Schüler vorbei erhascht Obla einen Blick auf den kleiner werdenden und bald im Weltraum versinkenden Frachter. Für sie ist es die Bestätigung, dass alles seinen geregelten Gang geht. Vielleicht ist sie übertrieben ängstlich, aber obwohl sie von den Idealen der Siedler überzeugt ist, kann sie immer noch nicht glauben, dass dies alles hier, diese neue Welt, tatsächlich von Dauer sein soll.

In der Mitte schwebend, vernarbt und unregelmäßig wie eine Riesenkartoffel, zeigt ein Hologramm den Planeten Rheit. Auf konzentrischen Sitzreihen folgen die Schüler aufmerksam den sich ausbreitenden oder verblassenden Farbflächen, den grünen Ebenen und ockerfarbenen Höhenzügen, die Obla wie eine Göttin mit einer Handbewegung aufschichtet oder abträgt. Heute muss sie nicht viel erklären, denn das meiste davon ist Wiederholung.

Von der Geologie kommen sie zum Klima, und während die Temperaturunterschiede zwischen dem Äquator und den Polen anhand von Blau- und Rottönen dargestellt werden, erlaubt sich Obla wieder einen Blick aus dem breiten, bis zum Fußboden reichenden Fenster. Sie sucht den Horizont nach vergleichbaren Farben ab, aber die Wirklichkeit ist eintöniger als deren Illustration hier im Klassenraum. Das, was auf der Erde ein gemäßigtes Klima ausmacht, und die damit verbundene Flora und Fauna, gibt es auf Rheit nicht.

Dieser Planet ist ein toter Klumpen, und daher ein Magnet für den Missmut der Menschen hier. Obla stellt sich vor, wie ihre Enttäuschung über die Beschränktheit des Planeten ihrem Kopf entsaugt und zu den Polkappen geleitet wird, wo es vielleicht deshalb so kalt ist. Sie weiß, dass sie nicht die Einzige ist, die Rheit als einen persönlichen Gegner betrachtet, und sie macht sich einen kleinen Spaß daraus, auf die Pole des Hologramms, mit einer Wischbewegung ihres Zeigefingers, dunkle Flecke zu malen. Aus dem Augenwinkel registriert sie, dass niemand im Rund etwas davon mitbekommen hat.

»Findet ihr nicht auch, dass alles Bunte, Freundliche, Spannende erst von uns hierher gebracht wurde?«, fragt sie ihre Schüler, die sich verdutzt vom Hologramm ab und ihr zuwenden. Sie schickt der Provokation noch rechtzeitig ein Zwinkernhinterher, ein paar Lacher aus den hinteren Reihen beruhigen sie.

Nicht nur die Wahl dieses Planeten ist eine Entscheidung der Siedler, die Obla schwer nachvollziehen kann, auch die Lage des Gebäudes, in dem sie gerade unterrichtet, regt sie auf. Nur drei Orte befinden sich außerhalb des Stadtquadrats: der Frachterlandeplatz, das Extensum und die Zelte über der Ausgrabungsstätte. Dass Ersterer aus Sicherheitsgründen nicht in der Nähe von Wohnwaben liegen kann, versteht sie. Und dass die Funde der anderen Spezies lange vor dem Bau der Oneiropole dort im Boden lagen, ist bewiesen. Aber warum wurde das Extensum an den Rand der Stadt gebaut? Stellt nicht die Selbsterweiterung das höchste Ideal der Oneiropoliten dar? Wurde dieses Gebäude nicht eigens dafür errichtet, allen Menschen diese Entfaltung zu ermöglichen? Das Extensum ist Kindergarten, Schule, Universität, Bibliothek und Sportzentrum, es bietet Proberäume und Werkstätten, Theatersäle und Spielplätze. Hier können die Oneiropoliten neue Spezialisierungen erwerben und sich in ihr Zentralpanelregister eintragen lassen. Das Extensum hätte einen Platz in der Mitte der Stadt verdient.

Obla merkt, wie sie errötet. Sie fächelt sich mit einer Hand Luft zu und verändert dadurch unbeabsichtigt das Hologramm. Kurz sieht es so aus, als würde der ganze Planet aufglühen und dann zu einem Stück Kohle zusammenschrumpfen. »Entschuldigung«, sagt sie, während sie das Hologramm eifrig neu modelliert. »Etwas hat mich abgelenkt.«

Sonst glückt ihr der Unterricht hauptsächlich. Sie berichtet von den Opfern der Urbarmachung dieses kleinen Fleckens, und sie genießt die Wirkung in den aufmerksamen Gesichtern ihrer Zuhörer, wenn sie die geschundenen Menschen früherer Erdzeitalter beschreibt, deren lähmende Passivität und deren Desinteresse oft die Folge von Überforderung und Einseitigkeit waren. Auch weil Obla solche Zustände fürchtet und verhindern will, unterrichtet sie. Und natürlich, weil die Arbeit mit Menschen sie selbst erweitert.

Rasch verteilt sie fünfzehn weiß leuchtende Punkte auf die Pole des Planeten. Es sind die Positionen der Kraftwerke, die Reibungsenergie aus Schwefelgletschern gewinnen. Sie werden vom Kontrollzentrum der Oneiropole aus überwacht.

»Wir würden gerne Energie aus weniger weit entfernten Regionen gewinnen, aber die Lage der Oneiropole hat sich leider als äußerst isoliert herausgestellt«, sagt Obla. »Von den ersten Anzeichen, oder vielmehr Überresten einer nicht-menschlichen Urbevölkerung ließen sich die Siedler zu der Annahme verleiten, der Schauplatz einer früheren Zivilisation könnte auch für unsere eigene günstig sein.« Obla beißt sich auf die Unterlippe und schmeckt Blut. »Heute wissen wir, dass diese Spezies wohl nur zum Sterben hierher kam«, womit sie zur Beschreibung der geologischen Verhältnisse unter der Oneiropole und den angrenzenden Ubinox-Zonen übergeht.

Ein Mädchen, quirlig und mit einem Vogelgesicht, möchte wissen, warum die Ubinox-Zonen diesen Namen haben. Sie zwitschert die drei Silben des unbeliebten Worts so arglos, dass es Obla vorkommt, als hätte sie die Frage tatsächlich nur aus Höflichkeit gestellt. Will sie mir helfen? Mache ich heute einen so verlorenen Eindruck? Jeder weiß doch, dass die Flattertiere, die von den Siedlern in Volieren mitgebracht worden sind, von der unsichtbaren Wand der Zonengrenzen behindert werden. Die Oneiropole ist nur eine größere Voliere, und wenn eine Amsel oder eine Elster den Ausbruch wagt, fällt sie nach einem halben Kilometer wie ein Lappen vom Himmel.

Trotzdem erzählt Obla geduldig vom vor dreißig Jahren entdeckten Mineral, das Ubinox benannt wurde und hauptsächlich in den der Oneiropole anliegenden Gebieten lagert. »Dieses Mineral lässt elektronische Geräte verrückt spielen, was die Expansion der Oneiropole erheblich einschränkt, selbst Drohnenflüge über diese Teile der Wüste sind gescheitert.«

In Oblas Erinnerung vermischen sich die Bilder eines Drohnenexperiments mit denen einer seltsamen Begegnung, die sie sich später als Traum erklärt hatte. Ein bronzefarbener, großer Vogel mit menschlichen Ohren hatte ihr zugenickt, bevor er von ihrem Wabenfenster aus weit in die Wüste hineingeflogen und – zu ihrer Überraschung – nicht umgekommen war. Sie hatte ihm nachgespäht und das deprimierende, oft gesehene Schauspiel erwartet, aber der Punkt, zu dem das Tier geschrumpft war, hatte seine Richtung nicht geändert, sondern war bald in weiter Ferne verschwunden.

Erst als Obla mit Bedauern von den verlorenen Menschenleben einiger, nicht aus den Ubinox-Zonen zurückgekehrter Expeditionen berichtet, erleben einige bis dahin lächelnde Schüler selbst eine Art Absturz. Die Erkenntnis, der schreckliche Verdacht, auf diesem Planeten für immer fremd, vielleicht sogar unwillkommen zu sein, gehört zum Erwachsenwerden eines jeden Oneiropoliten.

Als könnte sie die Traurigkeit mit einem Fingerschnippen wegzaubern, lässt Obla Rheit verschwinden und aktiviert eine andere Animation, diesmal ein Hologramm des Außenparasiten mit seinen Kysvorkommen. Sie gibt ihren Schülern Zeit, die neue Topographie zu erkunden und denkt dabei an Chao, den sie nachher treffen wird. Ihr Sohn ist noch zu jung für diesen Unterricht, mit Grenzen setzt er sich noch nicht bewusst auseinander. Obwohl er im Extensum die Elementarkurse besucht, treffen sie sich in dem riesigen Gebäude nur selten. Und wenn sie sich zufällig auf einem der geschwungenen Terrassengänge an der Innenseite der Kugel über den Weg laufen, scheint Chao sich zu verstellen. Heute haben sie sich allerdings ganz offiziell im Bewegungszentrum zum freien Tanz verabredet, eine Beschäftigung, die beiden gefällt. Obla kann durch das Tanzen eine erholsame Zeit mit ihrem Sohn verbringen, in der sie nicht sprechen muss oder die Rolle spielen, die ihr sonst zufällt. Und Chao kann zumindest die Grenzen seines Körpers kennenlernen.

Während die Flugroute des Frachters vom Außenparasiten zum Planeten durch eine Kette aus pulsierenden Punkten simuliert wird, nimmt sich Obla vor, mit Chao in den nächsten Tagen zur Grabungsstätte zu gehen. Ein Spaziergang entlang des Wüstenrands könnte ihre Verkrampfungen lockern, so wie es der Tanz auf eine andere Art zwischen ihnen tut. Man weiß nie genau, was man in der Wüste erleben wird. Durchs Fenster des Klassenzimmers sieht Obla die weißen Zeltplanen, unter denen die Archäologen arbeiten. Die Hitze darunter muss erbarmungslos sein, und sie versteht nicht, warum Aspi, ihr Mann, gern dort draußen im Sand wühlt. Gestern Abend hat sie ihn scherzhaft gefragt, ob er nicht während ihrer Unterrichtszeit aus dem Zelt kommen und winken könne. Er hat es bis jetzt nicht getan, und obwohl ihre Frage wirklich nicht ernst gemeint war, ist das vermutlich der Grund, warum Obla heute immer wieder so zerstreut aus dem Fenster blickt.

Ein Schmetterling fliegt heran, ein riesiger, träger Sonnensegler, von dem niemand weiß, aus welchem Gewächshaus er entwischt ist. Auch seine Vorfahren stammen aus dem Wohnschiff der Siedler. Mit Flügeln in flammendem Orange, über dem Lachen der Schüler, hält er schlingernd Kurs auf das Hologramm, das er mit einer Blüte verwechselt. Jeder im Raum ist gespannt, was passiert, wenn der Schmetterling landen wird. Um dem Insekt eine Enttäuschung zu ersparen, setzt Obla mit flinken Händen die letzten Striche ihrer Luftmalerei, löst alle Illusionen auf und beendet den Unterricht.

Ein paar Schüler applaudieren, vielen ist Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Eine gute Erschöpfung muss es sein, denkt Obla, denn sonst würden sie nicht so zahlreich wiederkommen. Sie weiß nicht genau, warum gerade ihr Unterricht so beliebt ist, die eine oder andere Schusseligkeit muss sie sich heute eingestehen. Was genau das Wort Ubinox bedeutet, hatte sie nicht erklären können, weil sie es ganz einfach vergessen hat. Sie macht sich in ihrem Akont eine Notiz und wartet, bis alle Schüler den Raum verlassen haben. Manche begeben sich vom Extensum aus an ihre Arbeitsplätze, andere haben schon vorher ihre fünf Stunden geleistet. Länger zu arbeiten ist den Oneiropoliten verboten und kann zu fixen Ideen führen, deren Symptome – das haben die Siedler ganz richtig erkannt – Neid und Egoismus sind.

Als sie endlich allein ist, schaut sie sich nach liegengelassenen Dingen um und begibt sich dann ebenfalls zur Tür, wo über ihren Akont der Arbeitstag abgerechnet wird. Dass sie das Kästchen in der Hand trägt und nicht, wie es auch möglich wäre, in ihren Hinterkopf integriert, ist eine altmodische Eigenheit von ihr. Ein blinkendes Gerätchen an einem blinden Fleck ihres Körpers zu tragen, würde sie nervös machen.

Draußen auf dem Gang fügt Obla sich nicht in den schwerfälligen Strom der Passanten ein. Sie umkurvt sie und weicht aus, bis sie das Terrassengeländer erreicht, wo sie, wie so oft, vom Ausmaß des Extensums überwältigt wird. Sie atmet tief ein und umkrampft mit den Fingern die Kante. Oben, unter dem Kugeldach, sammelt sich Dunst, vielleicht die warme Feuchtigkeit der menschlichen Körper, die zu Tausenden die spiralförmig auf- und absteigenden Gänge bevölkern. Auf der anderen Seite der Kugel steht ein Mensch am Geländer und winkt. Obla weiß nicht, ob sie gemeint ist, das Gesicht ist zu weit entfernt, um jemand Bekanntes darin zu erkennen. Trotzdem winkt Obla zurück, was dazu führt, dass der Andere sich in Bewegung setzt. Kommt er zu ihr?

Eigentlich hat Obla gerade kein Verlangen nach einem Gespräch. Sie ärgert sich, dass sie sich heute so sehr auf das Hologramm verlassen hatte, obwohl doch gerade ihre menschlichen Eigenschaften gebraucht werden. Offenheit und Interesse zu wecken ist eine wichtige Aufgabe von Erziehern in der Oneiropole, und das beginnt mit offenen Augen, mit einem offenen Gesicht. Monotone Arbeiten können genauso gut von Computern und Automaten ausgeführt werden, deshalb trifft man ja in den Gewächshäusern der Oneiropole, wo Obst und Gemüse angebaut werden, selten einen Menschen.

Obla hat den Winkenden aus den Augen verloren und geht weiter. Sie muss jetzt ihre Gedanken ordnen, weitere Gründe für ihre Unzufriedenheit suchen.