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Mark Vollmer

Shania Yara

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Ein geheimnisvoller Traum in Kanada

2. Auflage 2017

Copyright: © 2016: Mark Vollmer

Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Umschlag & Satz: Erik Kinting

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Namen, Handlungen und Orte sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und ungewollt. Die beschriebenen Gebräuche, Namen der Indianer und ihre Symbole existieren, allerdings in den meisten Fällen ohne Bezug zu den First Nations in Kanada. Die Geschichte der Key’as ist frei erfunden.

Das Buch

Gehe aufrecht wie die Bäume. Lebe dein Leben so stark wie die Berge. Sei sanft wie der Frühlingswind. Bewahre die Wärme der Sonne im Herzen und der grosse Geist wird immer mit dir sein.

Indianische Weisheit

Träume können einem den richtigen Weg zeigen, selbst aus ausweglosen Situationen. Die Odyssee von Mark Vollmer führte ihn zu einer Gemeinschaft, bei der nicht materielle Werte wichtig waren. Respekt, Vertrauen und gegenseitige Hilfe prägten ihr tägliches Leben.

Eine raue Natur offenbarte ihre Schönheit, man musste sie nur erkennen können.

Der Autor

Mark Vollmer ist das Pseudonym eines Schweizer Autors. Seine langjährige Reisetätigkeit half ihm beim Verfassen des vorliegenden Romans.

Mit seinem Erstlingswerk Shania Yara ein geheimnisvoller Traum in Kanada beginnt er eine Romanreihe, in deren Mittelpunkt vom Aussterben bedrohten Kulturen stehen.

Der Autor ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern. Er lebt in der Nähe von Solothurn, Schweiz.

www.markvollmer.com

Prolog

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Der Weg des Einzelnen führt durch die Schlucht der Einsamkeit und am Ende siehst du die Kraft des Lebens.

Indianische Weisheit

Ich hatte einen Traum, meinen Traum von einem erfüllten Leben, fernab aller materiellen Zwänge, einem harmonischen Leben mit der Natur in der Natur. Ich träumte von Liebe, Hilfsbereitschaft, Vertrauen und Respekt, mir bis dahin wenig bekannte menschliche Eigenschaften. Die fantastische Natur Kanadas bildete meine perfekte Traumkulisse.

Der Traum gab mir die Kraft unüberbrückbare Klüfte zu überwinden. Ich schuf in dieser Traumwelt eine perfekte Verbindung zwischen der Realität und meinen persönlichen Wünschen und Erwartungen. Mein Traum fand aber nicht nur in einer Schlafphase statt, sondern vorwiegend im Wachzustand. Ich hatte all die lebhaften Bilder und intensiven Gefühle wirklich erlebt, sie waren echt und physisch greifbar.

Es gab keinen Anfang und kein Ende, mein Traum brachte mir immer wieder neue Erkenntnisse. Also war ich felsenfest davon überzeugt, dass er sich laufend erneuerte und deshalb ewig dauern würde. Und es gab auch keinen Grund, daran zu zweifeln. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr feststellen, ob er einen Wimpernschlag oder eine Ewigkeit lang gedauert hatte. Erst das Leben machte mir deutlich, dass jede Traumzeit begrenzt war.

Das Schicksal wendete sich gegen mich. Nach einem Zustand der höchsten Zufriedenheit und des vollkommenen Glücks erfolgte der brutale Absturz, das Aufwachen, die Rückkehr in die Welt der nüchternen Realität, und zwar ohne Vorwarnung und ohne Sicherheitsnetz. Gnadenlos und eiskalt gewannen die Dinge, die ich schon beinahe vergessen hatte, ihre eiskalte Dominanz zurück. Mein Leben in meiner perfekten Welt wurde jäh gestört.

Ich stellte mir immer wieder dieselbe Frage: War dies das endgültige Ende meines Traums? Von allem, was ich lieb gewonnen hatte? Ich redete mir ein, dass es sich nur um eine kurze Unterbrechung handeln würde, jeder Traum würde ja irgendwann von einem neuen abgelöst. Die erlebte Harmonie schrie förmlich nach ihrer Fortsetzung.

Mein Versuch, den Traum mit Gewalt zurückzuholen, scheiterte kläglich. Ich fand den Anschluss nicht mehr. Unverständnis für den abrupten Wechsel beherrschte mein Denken. Beinahe unerträgliche seelische Schmerzen signalisierten mir nun die Unausweichlichkeit des endgültigen Abschieds von meiner Traumwelt. Als Schutz vor weiteren Schmerzen reduzierte sich mein Wahrnehmungsvermögen. In diesem Zustande erlebte ich keine Träume mehr. Eine grosse unaufhaltsame Gefühlsleere breitete sich in mir aus.

In dieser Leere begann ein mir bis dahin unbekanntes Gefühl zu wuchern: Wut! Diese Wut bestimmte von nun an mein ganzes Denken. Wut auf alles und jeden, vor allem aber auf die langsam aufkeimende Erkenntnis, dass mein Traum unwiderruflich zu Ende war. Wut auf das Ende eines unbeschreiblichen, erfüllten Lebens und Wut auf meine Unfähigkeit, der neuen Situation zu trotzen. So begann ich, mein Umfeld für alles verantwortlich zu machen. Mein Verstand versagte, denn das Wutgefühl hatte mich vollständig unter Kontrolle.

Als die Wutaufwallungen zur Gewohnheit wurden, verloren sie ihre zerstörerischen Auswirkungen. Ich verstand meine Situation nicht mehr, also begann ich erneut zu fragen – zu hinterfragen. Aber diese Suche nach dem Grund meiner Lage erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Im Gegenteil, es stellten sich immer neue Fragen. Eine kluge Frau gab mir einmal den Rat: Wenn du meinst es geht nicht weiter, horche in dich hinein, du wirst eine Antwort erhalten. Diese Stimme sprach aber nicht zu mir. So sehr ich auch nach ihr rief, ich erhielt keine Antwort. Niemand erteilte mir einen Rat.

Ich sass im Langstreckenjet der Canadian International und fand trotz intensiven Nachdenkens keine Antwort auf die Frage, weshalb der Platz am Fenster neben mir leer blieb. Durch meine halb geschlossenen Augenlider sah ich, dass die letzten Passagiere ihre Sitzplätze suchten, ihr Gepäck im Ablagefach platzierten und sich anschliessend in die bequemen Sitze der Boeing 767 fallen liessen. Der Bildschirm über meinem Vordermann zeigte mir die Flugroute und die Entfernung bis zum Reiseziel an.

Ich kannte die Regionen, die ich in den nächsten Stunden überfliegen würde. Während der vielen Reisen hatte mich mein Traum immer begleitet. Dieses Mal flog ich alleine und dennoch fühlte ich mich erstaunlicherweise nicht verlassen. Ein undefinierbares Gefühl liess mich nicht los, dass jemand im Hintergrund an meiner Seite war und gleich neben mir den Platz einnehmen würde. Ein kurzer Hoffnungsschimmer keimte in mir auf. Mit der besiegelnden Durchsage des Maitre de Cabin – »Boarding completed!« – erlosch aber auch dieser Funke.

Meine Anspannung fiel nun zusammen, jegliche Hoffnung war verschwunden und eine tiefe seelische Erschöpfung breitete sich in mir aus. Mein Traum war vorbei. In einigen Stunden wäre ich wieder zu Hause, in einem Zuhause, das es so, wie es einmal war, nicht mehr gab. Meine Reise in eine neue, unbekannte Zukunft hatte begonnen.

Von weit her realisierte ich noch die Sicherheitshinweise des Kabinenpersonals. Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig und liess mich treiben und treiben. Der gewaltige Schub der beiden Düsentriebwerke drückte mich tief in meinen Sitz. Ich verlor jeglichen Bezug zur Gegenwart und begann zu träumen.

Ein neuer Traum nahm seinen Anfang …

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Ein neuer Weg

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Menschen, die nur arbeiten, haben keine Zeit zum Träumen.

Nur wer träumt, gelangt zur Weisheit.

Indianische Weisheit

Am 24. August war unser Hochzeitstag, jener Tag, an dem wir vor fünf Jahren beschlossen hatten, gemeinsam unser künftiges Leben zu gestalten.

Irene war 38 Jahre alt, mittelgross, schlank, sportlich und wohlgeformt. Gewellte braune Haare umrahmten ihr hübsches Gesicht, das durch ein immerwährendes Lächeln geprägt wurde. Die graublauen Augen und der leicht bronzene Teint verliehen ihr zudem eine geheimnisvolle Aura.

Irene war 38 Jahre alt, mittelgross, schlank, sportlich und wohlgeformt. Gewellte braune Haare umrahmten ihr hübsches Gesicht, das durch ein immerwährendes Lächeln geprägt wurde. Die graublauen Augen und der leicht bronzene Teint verliehen ihr zudem eine geheimnisvolle Aura.

Ihre attraktive Erscheinung stand ganz im Gegensatz zu ihrem Wesen. Nicht Gefühle prägten sie, sondern ein übertriebener Hang nach Unabhängigkeit und Schnörkellosigkeit. Dementsprechend war unser Eheleben nicht immer auf soliden Pfeilern aufgebaut. So war für Irene immer klar, dass sie ihren Familiennamen behalten wollte – Stettler. Nie würde sie sich dem Verdikt einer Namensgemeinschaft unterwerfen. Sie war sehr intelligent. Mathematisch betrachtet gab es für sie immer nur eine Problemlösung. Es existierten also nur Schwarz oder Weiss, alles oder nichts.

All diese Eigenschaften liebte ich anfänglich besonders an ihr. Relativ rasch musste ich jedoch feststellen, dass eine Liebe immer durch Geben und Nehmen geprägt wurde. Ohne Kompromisse gestaltete sich unser Zusammenleben oft sehr schwierig.

Als Tochter aus gutem Hause – ihre Mutter stammte aus einer bekannten Fabrikantenfamilie, ihr Vater besass eine renommierte Unternehmensberatung – war sie an gewisse Mindeststandards gewöhnt. Geld war bei ihnen nie ein Diskussionsthema gewesen, ganz im Gegensatz zu unserem Haushaltsbudget, das immer wieder Defizite aufwies. Partys und ein eher ausschweifendes, oberflächliches auf materielle Errungenschaften ausgerichtetes Leben kennzeichneten Irenes Jugendjahre. Das Geschichtsstudium wurde mehrmals unterbrochen und schliesslich ganz aufgegeben. Eine eilends organisierte kaufmännische Ausbildung im familieneigenen Betrieb unterforderte Irene zwar, an eine Wiederaufnahme ihrer Studientätigkeit war jedoch nicht zu denken. Nach längeren Auslandaufenthalten in Spanien und Grossbritannien, gut ausgerüstet mit einem kaufmännischen Grundwissen, unterzog sie sich daraufhin einer mehrjährigen Marketingausbildung.

Mein Name ist Mark Vollmer, 35 Jahre alt. Als Kind eines Rechtsanwaltes und einer Modedesignerin, hatte ich eine überwiegend ausgeglichene Kindheit genossen. Als Einzelkind wurde ich besonders verwöhnt. Diese Kindheit war allerdings durch eine permanente Leistungserwartung geprägt. Nach dem Motto Ohne Fleiss kein Preis durchlief ich meine Jugendjahre. Meine Eltern erwarteten selbstverständlich, dass ich studieren würde, und zwar an derselben Fakultät wie mein Vater dies vor 20 Jahren getan hatte. Meine Entscheidung, nicht in die juristischen Fussstapfen meines Vaters zu treten, wurde mit Unverständnis, ja sogar als herbe Enttäuschung aufgenommen.

Nach einem Studium der Betriebswirtschaften, es war keine optimale Wahl, erhoffte ich mir eine blendende Karriere im Finanzsektor. Dass nach dem Studienabschluss viele Firmen warteten und sich mir die Tore der Welt öffnen würden, war eine Riesenillusion. Dennoch hatte uns die Universität diese irrige Meinung permanent eingeimpft.

Nach vielem Hin und Her verpflichtete mich die World Wide Bank AG, die bedeutendste Schweizerbank, als Finanzanalyst in ein Team von zehn jungen Leuten. Wir analysierten Unternehmensabschlüsse, prognostizierten die mögliche künftige Entwicklung der Kapitalmärkte und verfassten viele Kommentare. Unsere Schlussfolgerungen, wir waren ja blutige Anfänger, wurden jedoch je nach Interessenlage der jeweiligen Direktionen entsprechend uminterpretiert. Falschbeurteilungen waren dann natürlich unsere Fehler. Naja, damit konnte ich leben.

Nach den Gesellenjahren verliess ich den Weltkonzern, um in kleineren Bankinstituten mit viel Aufwand und etwas Taktik die Karriereleiter zu erklimmen. Heute bin ich verantwortlicher Direktor des Investment Banking der renommierten Privatbank Mischler.

Ich lernte Irene auf einer meiner vielen Auslandsreisen im Outback von Australien, genauer gesagt 300 Kilometer westlich von Port Johnson kennen. Sie hatte zusammen mit ihrer Kollegin und einem einheimischen Fahrer einen Ausflug zu einer Aboriginal Siedlung geplant. Der Achsenbruch ihres Fahrzeugs machte ein Weiterkommen jedoch unmöglich. So lag ihr Auto auf der Strasse und sie warteten auf den Abschleppdienst. Wer die Dimensionen von Australien jedoch kannte, wusste genau, dass es Stunden dauern würde, bevor mit Hilfe vor Ort gerechnet werden durfte.

Ich war unterwegs zu den Höhlenmalereien in den nahe gelegenen Red Mountains. Diese aussergewöhnlichen Kohlezeichnungen stammten noch aus der Urzeit der Aboriginal und überdauerten die Jahrhunderte dank des sehr trockenen Klimas. Ich traf die völlig verzweifelten jungen Damen etwa 20 Kilometer vor meinem Ziel. Die beiden nahmen mein Angebot, mit mir weiterzureisen, dankend und vor allem mit Erleichterung an. Sie hatten sich mit einem längeren Aufenthalt in irgendeiner Siedlung der Aboriginal abgefunden. Deshalb genossen sie die gemeinsame Entdeckungsfahrt ganz besonders.

Drei Wochen später verabredeten wir uns zum ersten Mal in Zürich, aber es dauerte noch drei Jahre, bis wir beschlossen zu heiraten. Irenes Vater bestand auf einer grossen Hochzeitsfeier und Irene stimmte dem jubelnd zu. Eigentlich wäre es unsere Hochzeitsfeier gewesen, aber wie das Leben so spielt: Die Kosten wurden von den Brauteltern getragen und somit hatten die das Sagen.

Die Zeremonie war schlicht und sehr bewegend. In der kleinen protestantischen Kirche des Nachbardorfes gaben wir uns das Jawort. Die Glocke am überdimensionierten Kirchenturm verkündete mit ihrem hellen Klang die frohe Botschaft. Das anschliessende Fest war berauschend. Irenes Eltern hatten keinen Aufwand gescheut um den Anlass pompös zu gestalten. Er später habe ich erfahren, dass unsere Feier gleichzeitig auch als Kundenveranstaltung diente, die Kosten waren deshalb voll steuerabzugsfähig.

Wie an jedem Hochzeitstag verabredeten wir uns nach Arbeitsschluss zu einem gemeinsamen Abendessen beim Italiener, dieses Mal in der Trattoria Alfredo. Wir beide liebten die italienische Küche; die Vielfältigkeit und die Verwendung von unzähligen frischen Zutaten faszinierten uns immer wieder.

Mit einer kleinen Verspätung erreichte ich, direkt von der Arbeit kommend, gegen 19 Uhr vollständig ausgepumpt das Nobelrestaurant. Der Blumengruss blieb angesichts des fortgeschrittenen Abends auf der Strecke. Ich gelobte mir diese Unterlassungssünde morgen auszubügeln.

In der Regel hätte ich mindestens eine halbe Stunde gewartet, da Irene es mit der Pünktlichkeit nie genau nahm. Welch eine Überraschung: Sie nippte bereits, leicht genervt und voller Ungeduld – ich konnte dies an ihrem Gesichtsausdruck erkennen – an einem Glas Prosecco.

Die lieblose Begrüssung »Hallo Irene.« – »Hallo Mark« – wurde durch einen flüchtigen Wangenkuss und ein paar belanglose Bemerkungen über den Tagesverlauf ergänzt. Dieses oberflächliche Ritual hatte sich in letzter Zeit bei uns etabliert. Die frühere Herzlichkeit war schleichend abhandengekommen. Was zurückblieb, waren leere Worte zwischen zwei Partnern, die sich in verschiedenen Welten weiterentwickelten. Die Gemeinsamkeiten reduzierten sich auf ein paar wenige Momente in unserm Leben. Aber wir beide hatten diesen Zustand akzeptiert.

Das Restaurant war bekannt für seine italienischen Spezialitäten. Eine grosse Anzahl von Meeresfischen und -früchten, täglich frisch eingeflogen von Blanco, einem europaweiten Lieferanten, zählten zu den besonderen Köstlichkeiten. Sie wurden auf Eis und frischem Seetang präsentiert. Die Fleischgerichte standen dem Fischangebot in nichts nach. In spannungsvoller Erwartung, leicht ausgehungert, bestellte ich den Ossobuco della Nonna mit Risotto ai funghi. Ich wusste, dass diese Kalbshaxe, in Olivenöl gebraten und mit frischen Kräutern aromatisiert, mit einer herrlichen Rotweinsauce serviert wurde. Meine Frau begnügte sich mit einem vegetarischen Menu. Irgendjemand hatte sie wieder einmal davon überzeugt, überflüssige Pfunde vernichten zu müssen. Dabei konnte sich Irenes Figur durchaus sehen lassen: Perfekt geformt und durch wöchentliches Fitnesstraining gestählt, war sie eine äusserst attraktive Erscheinung.

Nach einem kurzen Small Talk wechselte ihre Stimme übergangslos in eine nüchterne beinahe kühle Tonlage – so unterstrich sie üblicherweise, dass eine bedeutungsvolle Ankündigung folgen würde. Sie kam auch gleich zum Punkt und verzichtete auf jegliche Umwege:

»Mark, wir müssen etwas Grundlegendes besprechen.«

Die Bestimmtheit dieser Einleitung liess mich sofort aufhorchen. Ein geheimnisvoller Unterton mit einer leichten Vibration in ihrer Stimme riss mich jäh aus meiner Welt der kulinarischen Genüsse. Waren etwa wieder Vorwürfe angesagt? Oder wollte sie mir irgendwelche Entscheidungen bezüglich des nächsten Urlaubs offenbaren? Irenes Unart – ich hatte sie immer wieder, leider erfolglos, darauf hingewiesen – lag darin, dass sie während unserer Ehe ihre Entscheidungen immer selbstständig traf, ohne Rücksicht auf Partner und Freunde.

»Ich finde, dass wir uns in den vergangenen Jahren gründlich auseinandergelebt haben. Deine ständige berufliche Abwesenheit, meine anspruchsvolle Tätigkeit und die Ausbildung, deine kurze Affäre mit Daniela und ganz allgemein unser nachlassendes Interesse aneinander haben meines Erachtens das Fundament unserer Ehe stark erschüttert. Ehrlich gesagt betrachte ich ein Fortsetzen dieser Art von Ehe nicht mehr als sinnvoll. Bitte verstehe mich, dass ich die mir verbleibende Zeit so nutzen möchte, dass ich meine Karriere ohne Hindernisse realisieren und neue Wege beschreiten kann.«

Die beinahe philosophische Umschreibung dafür, dass unsere Beziehung zu Ende war, traf mich unvorbereitet. Der herrliche Ossobuco schmeckte nicht mehr. Dem schönen Barolo-Wein wurde die ihm gebührende Aufmerksamkeit verweigert. Ich trank ihn, als wäre es Wasser, und würgte damit das exzellente Risotto runter. Teilte mir Irene gerade mit, dass sie unsere Beziehung, die unter einem glücklichen Stern begonnen hatte, beenden wollte?

Okay, unser Eheleben reduzierte sich auf sporadische sexuelle Kontakte, denen seit Langem die gefühlsmässige Komponente fehlte. Die spärlich geführten gemeinsamen Gespräche zeugten von Oberflächlichkeit und unsere Beziehungen zu Freunden begannen einzuschlafen. Der geplante gemeinsame Urlaub musste immer wieder auf unbestimmte Zeit verschoben werden, da angeblich geschäftliche Verpflichtungen Vorrang hatten. Aber dies war nicht alleine meine Schuld. Die Karriere stand bei uns beiden im Vordergrund. Genügte das, um eine Gemeinschaft aufzulösen? Die mir vorgeworfene Affäre, wenn es überhaupt eine war, hatte ich vor einigen Jahren und Irene hatte sich nie durch diese Beziehung bedroht gefühlt. Alles Schnee von gestern. Im richtigen Moment wieder aufgewärmt, war dieses Vorkommnis allerdings durchweg geeignet, meine Position zu schwächen.

Jeder Angeklagte erhielt eine Chance, sich zu verteidigen und wenn möglich Busse zu tun. Wenn das gefährliche Abdriften unserer Gefühle nur an mir lag, so wollte ich Besserung geloben. Probleme konnten schliesslich besprochen werden. Zudem beschlich mich das Gefühl, dass Irene mit ihren 38 Jahren in einer echten Krise steckte, die nicht nur durch mich verursacht wurde.

»Wir sollten unsere Beziehung noch mal von vorne beginnen«, gab ich etwas verdutzt von mir.

Postwendend kam die kategorische Antwort:

»Nein, ich habe mir auch diese Möglichkeit mehrmals überlegt. Aber alle meine Gedanken bestärkten mich in der Meinung, dass ohne eine ausreichend breite Basis jeder Neuanfang zum Scheitern verurteilt wäre. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich überhaupt noch liebe oder je geliebt habe. Unser gemeinsamer Freund, Rechtsanwalt Martin Petermann, hat mir geraten, dir eine schnelle, faire Trennung vorzuschlagen. So könnten wir Geld und langwierige nervenaufreibende Auseinandersetzungen sparen.«

Offenbar war mir Irene bereits viele Gedankenschritte voraus. Gut ausgerüstet mit juristischen Ratschlägen drängte sie auf eine rasche Lösung. Ich wollte aber fünf Jahre Ehe nicht einfach so vom Tisch fegen.

Sie fuhr jedoch unerbittlich fort:

»Martin hat mich informiert, dass in unserm Falle ein Aufteilen des Vermögens problemlos wäre und auch rasch vollzogen werden könnte. Unsere ererbten Bankkonten, Aktien und Immobilien sowie das Fehlen eigener Kinder, machen die Ausarbeitung einer Konvention zur reinen Formsache. Jeder kriegt die Hälfte des gemeinsam erarbeiteten Vermögens.«

Was gab es darauf zu erwidern? So beschloss ich zu schweigen. Niedergeschmettert sass ich auf dem Stuhl, der sich jetzt nicht mehr bequem anfühlte, sondern überall zu drücken begann. Ich nahm die hektische Atmosphäre um mich herum überhaupt nicht mehr wahr. Nebenbei erfuhr ich, dass sich unser gemeinsamer Freund, René Imoberdorf, in der letzten Zeit vorbildlich um die Belange meiner Frau gekümmert hatte. Der zweimal geschiedene Versicherungsberater war zweifellos ein Experte in solchen Dingen.

Der fünfte Hochzeitstag wurde zum Beerdigungstag für unsere Ehe, das gute Essen war der Leichenschmaus. Wir erreichten also nicht einmal das verflixte siebte Jahr. Keine Verhandlungsmöglichkeiten standen mehr offen, keine Gesprächsbereitschaft, wenn auch nur ansatzweise, war erkennbar. Von mir wurde ein konditionsloses Akzeptieren einer einseitigen Entscheidung verlangt. Ich bestellte uns noch zwei Espressos und verlangte die Rechnung.

Da Irene mit einem Taxi gekommen war, schlug ich ihr vor, mit mir nach Hause – oder eben in die noch gemeinsam genutzte Wohnung – zu fahren. Ich beabsichtigte, dort in aller Ruhe unser Problem weiter zu diskutieren. Dieses Ansinnen, obschon ich bemerkte im Gästezimmer zu nächtigen, wurde mit einem kurzen »Nein!« niedergeschmettert. Meinen letzten Versuch – »Ich gebe dir genügend Zeit, unsere Situation nochmals zu überdenken.« – überhörte Irene geflissentlich.

»Ich habe mir ein kleines Appartement in der Altstadt gemietet«, meinte sie, »das ist praktisch und ich brauche keinen Privatwagen mehr.«

Erst später erfuhr ich, dass die angegebene Adresse in der Zürcher Innenstadt der Sitz der Beratungsfirma von René Imoberdorf war.

»Gute Nacht, Irene«, hörte ich mich sagen, »ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft. Solltest du dennoch den Wunsch haben mit mir zu sprechen, so melde dich bitte. Martin soll mit mir gelegentlich Kontakt aufnehmen.«

In kühler Distanz und vom alleinigen Wunsch beseelt, möglichst bald ihren Neuanfang starten zu können, verabschiedete sich Irene. Die frostige Atmosphäre war körperlich spürbar. Ich konnte bei meiner Ehefrau keinen Schmerz oder irgendein leises Bedauern erkennen.

»Leb wohl Mark.« Ein Händedruck, ein hingehauchter Kuss, der Duft von ihrem Eau de Toilette – das war alles, was von meiner einstigen Liebe zurückblieb. Und so entschwand sie meinem Blick.

Total vernichtet realisierte ich, dass all unsere gemeinsamen Pläne, unsere Liebe, unser gemeinsames Leben zerstört waren.

Der Druck in meinem Innern wurde unerträglich und ich hatte das Gefühl zu zerspringen. Ich musste diesen Ort umgehend verlassen. Mein Auto liess ich im Parkhaus und wanderte kreuz und quer durch die Gassen der Altstadt. Ich sah nichts und niemanden. Nur ein einziger Autofahrer blieb mir in Erinnerung: Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn und kommentierte so meinen unkontrollierten Strassenseitenwechsel am Bellevueplatz.

Meine Selbstvorwürfe begannen zu wachsen und wucherten, bis sie vollständig von mir Besitz ergriffen hatten: Sicher hatte ich mir in letzter Zeit viel zu wenig Mühe gegeben, die ständigen Ungleichgewichte in unserer Ehe zu erkennen und wieder ins Lot zu bringen. Viele Kleinigkeiten waren mir in unserm Leben egal geworden und wichtige Termine, die uns beide betrafen, vergass ich oft. Unser Eheleben verkümmerte und mein Wunsch nach Kindern wurde mit Argumenten wie einseitiger Rollenverteilung und Ähnlichem niedergeschmettert. Ich war mir jedoch bewusst, dass gemeinsame Kinder in den meisten Fällen keine Rettung einer kriselnden Ehe darstellten. Berufliche Komponenten gewannen in der Folge immer mehr an Bedeutung. Aus der Lebensgemeinschaft war offensichtlich eine Zweckgemeinschaft, eine Zweckgemeinschaft bis zum bitteren Ende geworden.

Zu Hause angekommen realisierte ich, was Irene unter einer hälftigen Teilung verstand. Unsere gemütliche gemeinsame Wohnung im schönen Seefeldquartier im zweiten Stock fand ich teilweise ausgeräumt vor. Neidlos musste ich zugestehen, dass meine Noch-Ehefrau ein ausgezeichnetes Timing für ihre Aktionen gewählt hatte. Die knallharte Logistik war vermutlich mit dem anerkannten Experten aus dem Versicherungsbereich realisiert worden. Die gesamte Aktion zeugte von einem gewissen Mass an Dreistigkeit, Impertinenz und Rücksichtslosigkeit. Dieser Schritt war von langer Hand geplant gewesen. Zudem hatte Irene die hälftige Vermögensaufteilung recht grosszügig zu ihren Gunsten ausgelegt. Das Schlafzimmer blieb, jedoch die Wohnzimmereinrichtung fehlte. Meine B&O-Hi-Fi-Anlage mit allen CDs und DVDs fehlte. Die wollte ich Irene nicht kampflos überlassen. Auch sonst waren die wertmässig höher eingestuften Möbelstücke und Geräte verschwunden und der billigere Teil war zurückgelassen worden. Wenigstens der Laptop in meinem Zimmer war mir geblieben. Offensichtlich war mein Passwort eine unüberwindbare Hürde. Meine Münzen- und Briefmarkensammlung, ich hatte diese aus dem Nachlass meines Vaters erhalten, lag unangetastet im Wandschrank. Auf der alten Kaffeemaschine, eben meiner Hälfte – der neue Espressoautomat befand sich nun in Irenes Besitz – braute ich mir einen kleinen Schwarzen und begann den vollen Umfang der Katastrophe zu überdenken.

Ein Besuch bei der Bank am nächsten Tag zeigte mir, dass alle meine Vollmachten für Irenes Konten und Depot schon vor einiger Zeit gestrichen worden waren. Nach einer geballten Barabhebung durch meine Ehefrau herrschte auf dem gemeinsamen Haushaltskonto gähnende Leere.

Ich beauftragte den Bankbeamten, einige meiner Aktien zu verkaufen, um über die notwendige Liquidität für alle künftigen Ausgaben zu verfügen. Natürlich löschte auch ich Irenes Zugriffsmöglichkeiten auf meine Konten und Depots. Sinnigerweise beabsichtigte die Bank, alle Daueraufträge inklusive Krankenversicherung von Irene bis Ende des laufenden Monates noch meinem Konto zu belasten. Gemäss ihren allgemeinen Vertragsbestimmungen, dem altbekannten Kleingedruckten, konnten Änderungen nur bis Mitte des Monats akzeptiert werden. Diese Kröte musste ich schlucken.

Die beendete Beziehung zu Irene beschäftigte mich aus rechtlicher Sicht nicht besonders stark. Viel eher fürchtete ich mich vor der Zukunft. Der Verlassene hinkte gefühlsmässig immer hinterher. Ich fühlte mich verraten. Wut- und Ohnmachtsgefühle kamen auf. Schlussendlich beherrschten Selbstmitleid und echte Angst mein Denken. Als verlassener Teil wurde ich ins kalte Wasser gestürzt. Die aktive Partei hatte immer genügend Zeit ihre Schritte gründlich vorzubereiten. Mit Erschrecken bemerkte ich, dass meine verletzte Gefühlswelt zu rebellieren begann. Vorwürfe an Irene begannen sich herauszukristallisieren. Ich versuchte, das Aufkommen von Hass und den Wunsch nach Revanche zu verdrängen. Respekt und Niveau mussten gewahrt bleiben – ich wollte keinen Rosenkrieg anzetteln. Meine Beziehung, meine vergangene Beziehung zu Irene, sollte vor keinem Gericht verhandelt oder breitgetreten werden.

Zum Glück hatten wir gute Freunde. Mit ihnen konnte ich alles besprechen. Am folgenden Tag kontaktierte ich deshalb einige unserer engsten Freunde. Mit Überraschung musste ich feststellen, dass auch hier Irene vorbildliche Arbeit geleistet hatte. Niemand zeigte grosses Verlangen, mich zu treffen, im Gegenteil, sie äusserten grosses Verständnis für meine Noch-Ehefrau und sparten mir gegenüber nicht mit Vorwürfen.

Heinz, ein langjähriger Kamerad aus der Studienzeit – wenigstens dachte ich, er wäre einer meiner engsten Freunde –, brachte es auf den Punkt: Er warf mir vor, dass ich in den vergangenen Jahren meine Ehefrau vernachlässigt, die eheliche Treue nicht ernst genommen hätte. Mehrmals hätte er mich mit anderen Frauen gesehen und diese Informationen an Irene weitergeleitet.

Ich verspürte keine Lust, mein Eheleben mit ihm zu diskutieren. Offensichtlich musste er selbst von seinen eigenen Eheproblemen ablenken oder er hatte einfach zu viel Zeit. Abschliessend erklärte er mir, dass er und seine Gattin kein Verlangen zeigten mit mir weiterhin zu verkehren.

Was sollte ich antworten? Stumm legte ich auf. Nummer eins auf meiner Liste musste gestrichen werden.

Bis zum Abend konnte ich alle Namen abhaken. Niedergeschlagen dachte ich über das geflügelte Wort nach: … Weshalb braucht man Feinde, wenn man gute Freunde hatte

In den kommenden Wochen organisierte ich einen Nothaushalt. Einige der fehlenden Möbelstücke, eben Irenes Hälfte, beschaffte ich mir kostengünstig im nahegelegenen Möbelmarkt. Die Besprechungen mit Dr. Martin Petermann beanspruchten einige Stunden. Dies war auch verständlich, da Ehescheidungen zu den Haupteinnahmequellen dieses Anwaltes gehörten. Auch einfache Fälle mussten detailliert und individuell vorbereitet werden, selbst wenn die gleichen Schreiben und Formulare immer wieder verwendet werden konnten. Und alles hatte seinen Preis – einen stolzen Preis!

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Der tiefe Fall

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Behalte immer mehr Träume in deiner Seele, als die Wirklichkeit zerstören kann.

Indianische Weisheit

Vor sechs Jahren, kurz vor unserer Hochzeit, begann ich meine berufliche Karriere bei der Privatbank Mischler. Dr. Henry B. Mischler, ein sportlicher Endfünfziger mit leicht angegrauten Schläfen und stets sonnengebräunt, immer in massgeschneiderten dunklen Anzügen, fungierte als Verwaltungsratspräsident und CEO der kleinen Vermögensverwaltungsbank an der Bahnhofstrasse in Zürich. Er entpuppte sich als kommunikativer und stets vorbildlicher Vorgesetzter. Neben all seinen internen Tätigkeiten gehörte er noch verschiedenen Verwaltungsräten an, war Präsident der schweizerischen Finanzvereinigung, Mitglied des kantonalen Finanzausschusses und bekleidete auch einen höheren Rang bei einem der Service-Klubs. Eine Vorlesung als Privatdozent an der Universität in Zürich stand in Vorbereitung. Kurzum: Diesem Mann konnte es nie langweilig werden. Mit etwa 200 Angestellten zählte seine Bank zu den Kleinunternehmen, aus dem Blickwinkel der verwalteten Kundenvermögen jedoch zu den bedeutenden Instituten in der Schweiz.

Ich wurde von einer Regionalbank abgeworben, mein Headhunter verdiente eine horrende Summe mit dem Transfer, wie er mir später einmal mitteilte. Ich war verantwortlich für das gesamte Privatbanking, also jenes Segment, das sich um die ertragsbringende Anlage der Kundenvermögen bemühte. Quasi als Nebenjob war ich mit der Verwaltung der bankeigenen Wertpapiere beschäftigt. Das entsprechende Depot stellte einen Teil der sogenannten Sekundärliquidität dar. Diese Liquidität wurde gebraucht, um die Zahlungsfähigkeit der Bank jederzeit zu garantieren.

Soweit ich zurückblicken konnte, war mein Wirken von Erfolg geprägt gewesen. Viele der früheren Fehlspekulationen – diverse verkorkste Devisenengagements – konnten ausgebügelt werden. Der Kreis zufriedener Kunden wurde regelmässig grösser. Soweit so gut. Der jährliche Bonus trug wesentlich zu meiner Zufriedenheit bei. Als Direktor hatte ich bereits eine Sprosse der Karriereleiter erklommen, die für meine 35 Jahre als echter Leistungsausweis betrachtet werden durfte.

Ende November bat mich die Sekretärin von Dr. Mischler, Karin Ebner – eine gepflegte Erscheinung, Mitte 40 –, um Punkt 16 Uhr beim Chef vorzusprechen. Ein Telefonat mit ihr war jedes Mal ein Genuss, da ihre warme Stimme mir schmeichelte. Guten Mutes, auf dem neuesten Stand bezüglich der letzten Börsenentwicklungen und versehen mit dem letzten Erfolgsausweis der Bank, betrat ich das Heiligtum, den Bürotempel meines Vorgesetzten. Dies war das erste Mal, dass wir eine Geschäftssitzung in seinem Elfenbeinturm abhielten. Böse Zungen behaupteten auch, dass sich darin ein komplettes Schlafzimmer befände. Tanzsaalähnliche Dimensionen offenbarten sich mir. Ausgestattet mit teuren Gemälden – ich meinte, mehrere alte Meister erkennen zu können – und einem überdimensionierten Mahagonieschreibtisch, Perserteppiche und der Kristallleuchter rundeten das Bild eines museumsähnlichen Raumes ab. Ein Bett konnte ich allerdings nirgendwo entdecken.

Dr. Peter Mischler, ein Freund kurzer prägnanter Worte, begann entgegen seiner Gewohnheiten mit einem allgemeinen Wirtschaftsexkurs:

»Immobilien sind die Basis jeden Vermögens. Nun gibt es Immobilien im Inland und solche im Ausland, wobei Letztere sehr hohe Renditen abwerfen, aber auch schwierig zu bewerten sind.«

So viel hatte ich bisher auch gewusst und in der von uns verfolgten konservativen Strategie jegliche diesbezüglichen Anlagen vermieden. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Chef mich wegen mangelnder Investitionen im Immobilienbereich tadeln wollte.

Er fuhr nach kurzer Pause fort:

»Wir haben aufgrund eingehender Analysen und Empfehlung von Spezialisten Immobilien und Immobilienoptionen in den USA und im Fernen Osten erworben.«

Diese Entwicklung war mir allerdings neu.

»Zudem haben wir viele Hypotheken von US-Banken aufgekauft«, fuhr Dr. Mischler fort.

Seine Stimme sank dabei auf ein geheimnisvolles Niveau. Auch glaubte ich, gewisse Unsicherheiten erkennen zu können. Wie aus heiterem Himmel begannen bei mir alle Alarmglocken zu läuten. Die noch nicht ausgestandene weltweite Immobilienkrise liess den Schluss zu, dass mit Problemanlagen zu rechnen war. Einmal mehr würde ich gefragt sein, die verlustbringenden Investitionen wieder gerade zu rücken. Doch es kam viel schlimmer:

»Unsere teilweise ungedeckten Engagements belaufen sich auf über vierhundert Millionen Franken. Die interne Revisionsstelle hat nun festgestellt, dass aufgrund der Pleiten diverser Immobilienbanken, Anlagefonds und Broker unsere Anteile mehrheitlich wertlos oder masslos überbewertet sind. Infolge ungenauer Übersetzungen der unterzeichneten Verträge müssen wir sogar mit Nachschüssen rechnen. Unsere eigenen Mittel reichen nicht mehr zur Verlustdeckung aus.«

Die Bombe war geplatzt! Was dies bedeutete, war nicht schwer zu erraten: Bankrott! Aus! Ende! Meine Karriere war vorbei.

Im Laufe der Besprechung erfuhr ich, dass die World Wide Bank AG, das mammuthafte Bankengebilde gegenüber der Bahnhofstrasse gelegen, auch Arbeitgeber meiner Noch-Ehefrau, bereit wäre, unsere Aktivitäten zu übernehmen, um so einen drohenden Konkurs zu vermeiden.

»Die ausserordentliche Generalversammlung von gestern Nachmittag hat beschlossen, die Offerte bedingungslos zu akzeptieren. Die gesamte Belegschaft wird in die World-Wide-Organisation integriert. Mark, es tut mir persönlich leid, aber ihre Position wurde gestrichen«, meinte der niedergeschlagene Bankier.

Und ich glaubte ihm seine ehrliche Anteilnahme. Der stets gerechte und geradlinige Banker sass geknickt vor mir. Für ihn bedeutete die Situation mehr als nur ein Verlust des Arbeitsplatzes.

»Selbstverständlich werden sie in Anerkennung ihrer Leistungen die vertraglich festgelegte Abgangsentschädigung erhalten«, hörte ich ihn weiter ausführen.

Dies hiess gemäss Anstellungsvertrag, dass mein Gehalt in voller Höhe für die nächsten 24 Monaten bezahlt werden musste. Meine Optionen auf die eigenen Bankaktien wurden bei einer Entlassung vertragsgemäss zu einem genau fixierten Preis übernommen. Im Gegensatz zu meinen Arbeitskollegen, die von der World Wide Bank übernommen wurden, war meine Beteiligung wenigstens wertmässig gesichert.

»Wir wären ihnen dankbar, wenn Sie den Arbeitsplatz umgehend räumen würden. Bitte vermeiden Sie jeglichen Kundenkontakt. Wir werden unsere Klientel in den kommenden Tagen informieren.«

Diese stereotypen Phrasen waren mir nicht neu, allerdings betrafen sie zum ersten Mal mich selbst.

Der Zugang zum Computer war bereits gesperrt. Nach gut 30 Minuten hatte ich meine persönlichen Dinge weggeräumt und mich von meinen engsten Mitarbeitern verabschiedet. Worte des Bedauerns fielen und immer wieder auch versteckte Entschuldigungen, wie: »Du weisst ja, ich brauche den Job. Deshalb habe ich das Angebot der World Wide angenommen.«

Sie wussten jedoch nicht, dass ich diese Option nie hatte.

Karin verabschiedete sich ebenfalls mit der ihr angeborenen Zurückhaltung und einem eigenartigen Ton in der Stimme. Lange drückte sie meine Hand und sagte:

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann, ruf mich bitte an.«