Jonathan Gash
Schuldlos schuldig
Aus dem Englischen von Margitta de Hervás
FISCHER Digital
Jonathan Gash, eigentlich John Grant, wurde 1933 in Bolton, Lancashire, geboren. Er studierte Medizin und arbeitete später als Pathologe. 1977 veröffentlichte er seinen ersten Kriminalroman, in dem er seinen Helden, den schrulligen Antiquitätenhändler Lovejoy einführte. Diese Reihe diente später auch als Vorlage für eine britische TV-Serie. Ab 1997 begann Dr. Clare Burtonall in seinen Büchern zu ermitteln. Grant lebt mit seiner Familie im ländlichen Essex.
Antiquitätenhändler und Frauenliebling Lovejoy wird von einem Sammler gebeten, ein bestimmtes Paar Steinschloß-Pistolen zu besorgen. Darüber kann Lovejoy nur lachen, weiß er doch genau, daß von diesem einzigartigen «Judas-Paar» seinerzeit nur zwölf Stück angefertigt wurden.
Als er erfährt, daß gerade mit einer solchen Pistole ein Mord geschah, wird ihm klar, warum er den Auftrag erhielt ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
THE JUDAS PAIR
Copyright © 1977 by Jonathan Gash
Covergestaltung: buxdesign, München
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561764-9
Ich war gerade im Paradies, als das Telefon klingelte. Ich wußte schon, daß es Tinker Dill sein würde, und so schob ich sie schnell ins Bad, drehte alle Wasserhähne auf und schaltete das Radio ein, damit sie kein Wort verstehen konnte.
»Was ist denn das für ein Krach?« schrie Tinker durchs Telefon. Er schien ziemlich angetrunken, wie gewöhnlich.
»Du hast wieder einmal gestört, Tinker«, sagte ich mürrisch. »Woher soll ich wissen, daß du mit deiner Freundin im Bett liegst?« erwiderte er gekränkt.
Die einzige intakte Schallplatte, die es im White Hart gab – von dort rief er an –, übertönte in ungeheurer Lautstärke das Stimmengewirr im Hintergrund.
»Was ist?«
»Ich hab jemanden für dich«, sagte er.
Ich war ganz Ohr. Kennen Sie dieses Prickeln, das durch sexuelle Erwartungen ausgelöst wird? Wenn Sie es sich tausendfach verstärkt vorstellen, haben Sie eine schwache Ahnung von der fiebernden Erregung eines Antiquitätenhändlers, der einen Kunden wittert; sie läßt ihn alles vergessen, Erziehung, gesunden Menschenverstand, Vernunft – oh, und das Gesetz. Ich hätte beinahe versäumt, es zu erwähnen. Zwei Tage lang hatte mich nur Sheila interessiert (war es überhaupt Sheila, oder war das letzten Donnerstag gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern), und jetzt zitterte ich wie ein Pferd vor seinem ersten Rennen, nur weil einer meiner Kundenfänger etwas für mich aufgetan hatte.
In unserer Branche hat jeder ein paar Leute, die ihm Informationen zutragen. Ich habe, je nachdem, wie reich ich mir gerade vorkomme, drei oder vier solcher auf Provisionsbasis arbeitenden Mittelsmänner. Tinker war der beste. Nicht weil er viel getaugt hätte, sondern weil er loyal war. Und er war loyal, weil er jedes Geschäft danach beurteilte, was dabei an Whisky, Gin oder Rum für ihn abfiel.
»Will er kaufen oder verkaufen?« fragte ich lässig. Zwanzig Jahre bin ich schon im Antiquitätenhandel, und ich bekomme immer noch feuchte Hände bei derartigen Anrufen.
»Kaufen. Und es geht um höhere Beträge.«
»Hältst du mich zum besten, Tinker?« Diese dumme Gans hämmerte gegen die Badezimmertür.
»Es ist die reine Wahrheit, Lovejoy«, sagte er. Tja, ich heiße nun mal so. Immerhin vergißt man die Lovejoy-Antiquitäten-AG nicht so leicht. Das »AG« war pure Erfindung. Es klingt nach Dollars und bedeutenden amerikanischen Firmen, die dem genialen Antiquitätenexperten Lovejoy finanzielle Beteiligungen angetragen hatten.
»Hast du genug Münzen fürs Telefon?« fragte ich.
»Wie? Ja, natürlich!«
»Dann bleib dran.« Ich legte den Hörer hin, ging hinüber und schloß die Badezimmertür auf. »Was zum Teufel soll das …« stieß sie zornig hervor und versuchte, sich an mir vorbeizuzwängen. Ich stieß sie zurück, und sie landete auf dem Klo.
»Paß gut auf!« sagte ich. »Du wirst jetzt still sein, ganz still. Kapiert, Herzchen?« Sie reagierte auf den ungeheuerlichen Vorfall mit einem fassungslosen, gläsernen Blick. Ich kniff sie in die Wange. »Na, was ist? Hast du verstanden?«
»Ja«, hauchte sie mühsam.
»Ich habe ein Geschäft in Aussicht. Halt die Klappe und hör zu, wie mein schönes heißes Wasser verschwendet wird.« Ich knallte die Tür zu, sperrte wieder ab und kehrte zum Telefon zurück.
»Du meinst also, es handelt sich um eine große Sache«, sagte ich. »Wie groß?«
»Ein S und vier D«, antwortete Tinker mit unsicherer Stimme. »Ehrenwort, Lovejoy.«
»Gibt es so etwas überhaupt noch?«
»Der Mann ist hier im White Hart …«
Ich konnte das nicht so schnell verarbeiten. Schließlich bin ich ja kein Computer, wenn ich auch ein hervorragendes Gedächtnis besitze. Das und eine eingebaute Klingel, die läutet, sobald es im Umkreis von dreißig Metern eine echte Antiquität gibt, und die immer schriller wird, je näher ich herankomme. Sie hat sich noch nie geirrt. Verstehen Sie mich nicht falsch, – ich habe auch schon mal Plunder verkauft. Und Lügen gehen mir leicht über die Lippen. Eine kleine Halbwahrheit hier und da richtet keinen Schaden an. Schließlich verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt in der Hauptsache mit der Habgier. Nicht mit meiner Habgier – mit Ihrer Habgier, mit jedermanns Habgier. Ich werde es Ihnen erklären.
Nehmen wir einmal an, Sie sitzen ganz gemütlich zu Hause in Ihrem alten Schaukelstuhl. Da kommt ein Fremder herein. Er hat von Ihrem alten Schaukelstuhl gehört. Könnte es sein, keucht er, daß es jener Schaukelstuhl ist, den Lord Nelson auf seinem Flaggschiff, der Golden Hind, benutzt hat? Du lieber Himmel, schreit er, während seine Augen ekstatisch darauf haften. Er ist es!
Erstaunt legen Sie Ihre Pfeife hin. Was geht hier vor? fragen Sie. Und wer zum Teufel der Eindringling sei. Und was er da rede. Und – nehmen Sie sofort die Hände weg von meinem alten Schaukelstuhl!
Haben Sie mir bis hierhin folgen können?
Mit Ihrer Entrüstung konfrontiert, schaut Ihnen der Fremde offen und vertrauensvoll in die Augen. Ich habe mein ganzes Leben danach gesucht. Wonach? fragen Sie mißtrauisch. Und hier ist er nun. Ein Prachtstück. Endlich habe ich ihn gefunden.
Verstehen Sie, was ich sagen will? Daß in jedem Menschen eine gewisse Unredlichkeit steckt. In mir. Und in Ihnen. Nein? Doch! Lesen Sie weiter.
Wenn ich mich auf Sie verlassen könnte, würde ich Ihnen gestatten, die Geschichte selbst zu vervollständigen und zu schildern, wie Sie dem Fremden lächelnd erklären würden, daß der Stuhl von dem Sohn Ihres Vetters Harry in der Abendschule angefertigt worden ist und daß außerdem Nelson der letzte war, der einen Schaukelstuhl gebraucht hätte. Aber diese Version würde den wirklichen Verlauf der Dinge entstellen. Warum? Weil der Fremde in diesem Moment nach seiner Brieftasche greift und das magische Wort ausspricht: Wieviel?
Wie endet die Geschichte nun wirklich? Ich werde es Ihnen sagen. Sie springen von Ihrem – nein, von Lord Nelsons – Schaukelstuhl auf, holen den australischen Sherry heraus, der noch von Weihnachten übrig ist, und flechten in Ihren Trinkspruch ein, daß Sie der letzte lebende Nachkomme des Seehelden sind. Und es gelingt Ihnen, Ihre arme, unschuldige kleine Tochter zum Schweigen zu bringen, die von ihrem Geschichtsbuch aufschaut und erklären möchte, daß Nelson für die Golden Hind ein paar Jahrhunderte zu spät zur Welt kam. Sie scheuchen sie ins Bett, damit sie nicht sieht, wie ihr ehrlicher alter Papa diesen Trottel um jedes Pfund erleichtert, das er aus ihm herausholen kann.
Überzeugt? Nein? Warum haben Sie dann an den alten Stuhl auf Ihrem Speicher gedacht?
Jeder hat eine besondere Gabe. Man muß nur herausfinden, was für eine man hat. Ich hatte einen Freund, der sich sehr gut mit Pferden auskannte. Einmal erledigten wir in der Nähe eines Rennstalles etwas und blieben stehen, um zuzuschauen, wie die Gäule trainiert wurden. »Ich setze auf den großen«, sagte ich gelangweilt. »Und ich auf den komischen kleinen«, erwiderte er, und tatsächlich ließ dieses Pferd alle anderen hinter sich. Es hieß Arkle und war ein richtiger Champion, wie wir erfuhren. Sehen Sie, was ich meine? Ich fand dieses unansehnliche, plump wirkende Vieh abscheulich. Mein Freund erkannte sofort, daß es das beste Pferd war. Andererseits wäre ein Gemälde von Turner, bei dem jeder Quadratzentimeter Leinwand die Genialität seines Schöpfers in die Welt hinausschreit, für ihn ein widerliches Geschmiere aus ineinandergelaufenen Farben, während ich nur einen Omnibus mit dem Schild »Tate Gallery« zu sehen brauche, und schon läutet meine Klingel wie verrückt. Wie gesagt, eine Gabe.
Einmal kaufte ich eine schmutzige alte Monstrosität für zehn Pfund. Jeder hielt sie für ein kleines Puppenhaus mit aufgeklebten runden Fenstern, an dessen Rückseite aus unerfindlichen Gründen ein schräg abfallendes, abgebrochenes Stück Blech befestigt war. Meine Kollegen im Auktionslokal brachten ironische Hochrufe auf mich aus, die mein Gesicht feuerrot anlaufen ließen. Aber meine Klingel schrillte. Am Ende stellte sich heraus, daß es sich bei meiner Erwerbung um die einzige echte Congreve-Uhr handelte, die seit Menschengedenken in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen war, einer Uhr, bei der eine kleine Kugel in einer Rinne nach unten rollte und eine Feder betätigte, konstruiert vor fast zweihundert Jahren von dem großen Erfinder Sir William Congreve.
Verlaßt euch auf eure Klingeln, Leute. Sie sagen die Wahrheit. Wo war ich?
Ach so – Tinker Dill. Ein S und vier Ds, und er hatte ziemlich durchgedreht gewirkt. Zehntausend.
Wir benutzen Codes – alle sehr simpler Art. Einer der wichtigsten basiert auf einer Buchstaben-Zahl-Transposition. Jeder Code hat ein Schlüsselwort – zum Beispiel Sutherland. Wie Sie sehen, besteht es aus zehn Buchstaben. Statt S setzt man die Zahl eins ein, statt U die Zahl zwei und so weiter. Der letzte Buchstabe, D, steht für Null. Es gibt mehrere Zahlencodes, wie man schnell herausfindet, wenn man sich in Antiquitätengeschäften umschaut. Häufig benutzt man auch den Buchstaben X für die Null und zugleich als Zeichen für Pfund. Im übrigen gibt der verschlüsselte Preis auf den Etiketten oft die Summe an, die der Händler beim Kauf gezahlt hat, und natürlich wird er etwa fünfzig Prozent draufschlagen oder auch mehr, wenn Sie wie ein leichtgläubiger Trottel aussehen. Bei Antiquitäten zahlt man für den äußeren Schein – den Ihren, den der Antiquitäten und den Pelzmantel der Frau des Antiquitätenhändlers. Deshalb rate ich Ihnen: Handeln Sie! Zahlen Sie nie den angegebenen Preis, auch nicht, wenn man Ihnen sofort einen Preisnachlaß anbietet. Lassen Sie sich Zeit, runzeln Sie zweifelnd die Stirn, und feilschen Sie – höflich und gesittet. »Tinker, jetzt hör mal …«
»Ich weiß, was du sagen willst, Lovejoy. Daß die Geschäfte schlecht gehen, daß keine Gewinne mehr drin sind, daß kaum mehr etwas Vernünftiges aufzutreiben ist …«
»Wer hat heutzutage noch zehntausend?« unterbrach ich ihn. »Er hat sie. Und es ist eine tolle Chance für dich.«
»Wie ist er denn an dich geraten?«
»Er war auf der Suche nach Leuten aus der Branche, und irgend jemand erzählte ihm, daß das hier unsere Stammkneipe ist. Er war zuvor in verschiedenen Pubs in der Lane und auf dem Belly.«
Petticoat Lane und Portobello Road – die Londoner Straßenmärkte. Daß sich jemand nach vertrauensvollen Händlern erkundigte – und ich bin der vertrauenswürdigste von allen, Ehrenwort – war nur vernünftig.
»Hat er dich als ersten angesprochen?«
»Nein«, antwortete Tinker eifrig. Es war offenkundig, daß er sehr stolz auf sich war. »Ich stand an der Bar und hörte, wie er Ted fragte, ob irgendwelche Antiquitätenhändler da wären …« Ted ist der Barmann. »Und da hab ich mich gleich vorgestellt.«
»Das hast du gut gemacht, Tinker.«
»Ich sagte ihm, daß ich für dich arbeite. Er will dich sehen. Er hat sich deinen Namen notiert.«
»Es wird doch kein Steuerfahnder sein?« meinte ich ein wenig beunruhigt. »Meine Buchführung läßt zu wünschen übrig.«
»Nein, nein, bestimmt nicht.«
»Was sucht er?«
»Steinschloßwaffen«, verkündete Tinker fröhlich.
»Wenn das nur so eine Schnapsidee von dir ist …« drohte ich. »Ich bin stocknüchtern«, tönte es aus dem Telefon. Den Tag würde man im Kalender ankreuzen können, dachte ich. In zwanzig Jahren hatte ich Tinker Dill noch nie ohne Schlagseite gesehen. »Sprich selbst mit ihm, ich halt ihn hier fest.«
»Na gut.« Immerhin war es eine Chance. »Laß ihn nicht aus den Augen, Tinker. Hörst du einen Wagen kommen?«
Er stutzte eine Sekunde lang. »Ja. Es fährt gerade einer auf den Parkplatz«, antwortete er erstaunt. »Warum?«
»Das bin ich«, sagte ich und hängte grinsend ein.
Zu meiner Überraschung lief im Bad das Wasser, und die Tür war abgeschlossen. Ich öffnete und sah mich einem schmollenden, von Dampfschwaden umgebenen blonden Mädchen gegenüber.
»Was um alles in der Welt …« begann ich, denn ich hatte sie völlig vergessen.
»Du Schwein«, sagte sie.
»Ach, jetzt erinnere ich mich.« Sie hatte Spektakel gemacht, als ich telefonierte. »Du bist Sheila.«
»Du mieses Schwein!«
»Es tut mir leid«, eröffnete ich ihr, »aber ich muß noch etwas erledigen. Kann ich dich irgendwo absetzen?«
»Das hast du bereits getan«, fauchte sie, schoß aus der Badewanne und begann, ihre Sachen zusammenzusuchen.
»Weißt du, es ist ein Käufer aufgetaucht. Hast du meine Wagenschlüssel gesehen?«
»Was interessieren mich deine gottverdammten Schlüssel!« schrie sie, während sie unter dem Diwan ihre Schuhe hervorkramte.
Frauen können existentiellen Problemen gegenüber ungeheuer gleichgültig sein. Sie lieferte mir einen Tränenstrom, einige weitere Temperamentsausbrüche und attackierte dann – typisch weiblich – auf höchst unlogische Weise meine absolut logischen Gründe dafür, daß ich sie wegschickte.
»Wer ist sie?«
»›Sie‹ ist ein Typ, der etwas kaufen will«, sagte ich.
»Und einen Käufer ziehst du mir vor, wie?«
»Ja«, antwortete ich, verblüfft über ihre merkwürdige Denkweise. Sie ging auf mich los, schleuderte ihre Handtasche, einen Schuh und ein Kissen nach mir und hob die Krallen. Ich wehrte sie mit einem Rückhandschlag ab, um die Dinge etwas friedlicher zu gestalten, worauf sie heulend zusammensackte, während ich ihren Mantel holte. Ich bin unbedingt für die Gleichberechtigung der Geschlechter.
»Komm, hilf mir doch, die Schlüssel suchen«, beschwor ich sie. Frauen scheinen manchmal überhaupt keine Vernunft zu besitzen.
»Du hast mich geschlagen«, schluchzte sie. »Du denkst an nichts anderes als an Antiquitäten.«
Ich fand die Schlüssel unter einem Holzschnitt, der einen thailändischen Tempel darstellte, scheuchte sie hinaus und dachte auch noch daran, ein Licht brennen zu lassen und die mit der örtlichen Polizeiwache verbundene Alarmanlage an der Tür einzuschalten.
Mein alter Armstrong-Siddeley stand, der Nachtluft ausgesetzt, unter den struppigen Bäumen, und man konnte den Rost abblättern hören. Zu meiner Erleichterung sprang er sofort an und setzte sich keuchend in Bewegung.
»Ich glaube, du spinnst, Lovejoy«, sagte Sheila schniefend. »Wofür sind Antiquitäten überhaupt gut?«
So sind die Frauen. Alles außer ihnen selbst erscheint ihnen reine Zeitverschwendung. Sehr egozentrische Wesen.
Sie lehnte sich zurück und starrte schmollend den sich nähernden Lichtern des Dorfes entgegen. Ich trat den Gashebel durch. Die Tachometernadel kletterte auf fünfzig Meilen, während der Motor sein Letztes hergab. Mit Südwestwind im Rücken hatte ich auf der Cambridge Road einmal sechzig geschafft.
»Vielleicht ist er Sammler«, sagte ich. Sie schnaubte. »Sammler …«
»Sammler sind die einzigen Fanatiker, die der Welt noch verblieben sind«, verkündete ich voll Eifer. »Wer sonst würde seine Frau verkaufen, seine Ehe ruinieren, seinen Job drangeben, pleite gehen, zum Spieler, Dieb und Betrüger werden, sich ein Dutzend Hypotheken aufladen, nur um irgendwelche Dinge – Streichholzschachteln, Teetassen, Künstlerfotos, Fahrräder, Dampfmaschinen, Fächer, Bahnhofslaternen und zweihundert Jahre alte Korsette – zusammenzutragen?« Ich blickte ihr verzückt in die Augen. »Sammeln, das ist mächtiger als Sex, mächtiger als Religion. Niemand«, so dozierte ich scheinheilig, »hat größere Liebe denn der, der sein Leben läßt für seine Sammlung.« Ich wünschte jetzt, das hätte ich nicht gesagt.
»Und du leerst ihnen die Taschen«, bemerkte sie bissig.
»Ich bin ihnen behilflich.« Mir standen schon fast die Tränen in den Augen. »Natürlich muß ich etwas dabei verdienen, aber nicht um des Gewinns willen, sondern damit ich meinen Service aufrechterhalten kann.«
»Lügner«, fauchte sie und schlug mir ins Gesicht. Da ich am Steuer saß, konnte ich mich nicht revanchieren, und so versuchte ich ihr gut zuzureden.
»Niemand bedauert mehr als ich, daß wir uns jetzt trennen müssen«, war das Beste, was mir einfiel, doch sie ließ sich nicht besänftigen und hackte bis zum Dorf auf mir herum. Es war ungefähr neun Uhr, als wir vor dem Pub ankamen. Der Armstrong keuchte inzwischen beängstigend. Die Hinterräder rauchten wieder. Ein unerklärliches Phänomen. Ich hielt und drückte ihr ein paar Pfund in die Hand.
»Bis bald, Liebling«, sagte ich hastig.
»Was soll ich jetzt tun?« jammerte sie.
»Bestell dir ein Taxi zum Bahnhof, sei ein gutes Mädchen.«
»Schwein!«
»Es fährt bald ein Zug; wenigstens nehme ich das an.«
»Wann seh ich dich wieder?« rief sie mir nach, während ich auf die Kneipe zusteuerte.
»Ich ruf dich an«, antwortete ich über die Schulter hinweg.
»Bestimmt?«
»Wirklich«, versicherte ich ihr.
Frauen haben keinen Sinn für Prioritäten. Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?
An der Theke herrschte Gedränge. Das Lokal war voll. Mit einem schnellen Blick klassifizierte ich die Anwesenden. Ein Dutzend Stammgäste einschließlich dieser Mittdreißigerin, die in dekorativer Pose auf einem Barhocker saß und ihre Schenkel zeigte. Wir waren uns einmal nähergekommen – zweimal, um die Wahrheit zu sagen. Jetzt beschränkte ich mich darauf, ihr mit lüsternem Grinsen über die Köpfe ihrer Bewunderer hinweg bescheiden zuzunicken, und erntete dafür einen rauchverhüllten, eisigen Blick. Es waren schon drei Händler da: Jimmo – korpulent, beginnende Glatze, Steinzeug aus Staffordshire; Jane Felsham, blond, um die Dreißig, gute Figur, begehrenswert, wenn sie sich einen anderen Beruf ausgesucht hätte, englisches Silber aus dem achtzehnten Jahrhundert und frühe Aquarelle; und Adrian, Geschlecht unbekannt, elegant, teuer, hauptsächlich englische Möbel und Hausgeräte aus der Regency-Epoche. Ich entdeckte vier Fremde und ein oder zwei Kundenfänger, die auf sie einredeten, und sie für antike skandinavische Messingplatten zu interessieren suchten, deren Herstellung allenfalls ein paar Monate zurücklag. Probieren kann man es ja.
Tinker Dill saß mit diesem Mann mittleren Alters in der Ecke neben dem Kamin. Ich zwängte mich zu ihnen durch.
»Ach«, sagte Tinker mit dem gekünstelten Gehaben eines schlechten Schauspielers. »Ja also, das ist mein Freund Lovejoy, von dem ich Ihnen erzählt habe.«
»Abend, Tinker.« Ich nickte dem Fremden zu, und wir gaben uns die Hand.
Er wirkte ziemlich alltäglich, und seine Kleidung war nicht neu, aber gepflegt. Möglich, daß er sich zehntausend zusammengespart hatte. Doch ein echter Sammler …? Nein.
»Mr. Field, darf ich Ihnen Mr. Lovejoy vorstellen …« Tinker übertrieb wirklich; man hatte das Gefühl, einen schwanzwedelnden Hund vor sich zu haben. Wir wechselten ein paar Begrüßungsworte und setzten uns.
»Heute bin ich dran, Tinker«, sagte ich und gab ihm einen Geldschein, um ihn loszuwerden. Er schoß sofort zur Theke. »Mr. Dill erzählte mir, Sie hätten sich auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert, Mr. Lovejoy.«
»Ja«, bestätigte ich und fügte so beiläufig wie möglich hinzu: »Die Entwicklung auf dem Antiquitätenmarkt hat es natürlich mit sich gebracht, daß ich mich auch mit einigen anderen Bereichen befasse.«
»Natürlich.«
Der Bursche war kein Händler, und wenn er eine antike Schnupftabakdose von einem Rolls-Royce unterscheiden konnte, dann, weil er richtig geraten hatte.
Die Aufgabe eines Kundenfängers ist, Verkäufer und vor allem Käufer zu finden. Er darf nicht sagen, oh, bedaure Sir, aber mein Händler interessiert sich nur für Ölgemälde der Flämischen Schule, wenn dieser beispielsweise ein Eßgeschirr aus der Zeit Williams IV. haben möchte. Egal, was das Opfer – Verzeihung, der Käufer – will, ein Kundenfänger wird behaupten, daß sein Händler es hat und überdies eine Kapazität von Weltgeltung auf dem fraglichen Gebiet ist. Dazu kommen noch ein paar zweckdienliche Bemerkungen über die mangelnde Ehrlichkeit anderer Händler.
Wenn nun der Händler zu diesem Zeitpunkt auf der Bildfläche erscheint und nur für Hochräder Interesse bekundet, ist die ganze Vorarbeit zunichte gemacht. Der Klient merkt, daß er getäuscht worden ist, und wendet sich verärgert an die National Gallery oder ähnliche Amateurvereine. Überdies wird der Mittelsmann, da Loyalität für seinesgleichen nicht die höchste aller Tugenden ist, den eindeutig vom Hungertod bedrohten Händler gegen einen besseren eintauschen. Anschließend verhungert der Händler wirklich, und diejenigen von uns, die zurückbleiben, sprechen ein kurzes Gebet für sein Seelenheil, während wir bereits dem Klienten hinterherjagen, weil wir alle wissen, wo wir ein guterhaltenes Speiseservice aus der Zeit Williams IV. auftreiben können.
»Er hat eine sehr hohe Meinung von Ihnen«, informierte mich Field. »Sie haben eine Sammlung für das Victoria-und-Albert-Museum aufgebaut, Mr. Lovejoy?«
»Na ja …« Innerlich zuckte ich zusammen, und während ich eine bescheidene Miene aufsetzte, nahm ich mir vor, Tinker zu erdrosseln; sogar unbedarfte Kunden wissen, wie man so eine Geschichte nachprüft. »Dazu möchte ich mich nicht äußern«, sagte ich zögernd und bemühte mich, verlegen auszusehen. »Sie müssen verstehen … ich handelte da im Auftrag eines Klienten, und in solchen Fällen dürfen weder Dill noch ich die Interessen des Kunden preisgeben.«
»Oh. Ich begreife«, antwortete er ernst. »Eine sehr verantwortungsvolle Haltung.«
»Das ist nur fair«, meinte ich. Vielleicht hatte ich doch etwas zu dick aufgetragen, denn er schien über etwas nachzugrübeln. Gerade als es aussah, als faßte er einen Entschluß, kam Tinker mit einem Rum für mich und einem Bier für Field zurück. Ein verstohlener Wink von mir genügte, um ihn sofort wieder zu verscheuchen.
»Betreiben Sie Ihr Geschäft allein, Mr. Lovejoy?« fragte Field. »Ja.« Ich dachte nach und fand dann, daß ich diesem Burschen gegenüber etwas offener sein sollte. Er sah so harmlos und einfältig aus wie ein frischgebackener Polizist. »Dazu muß ich allerdings noch etwas sagen, Mr. Field.«
»Ja?« Er blickte mich interessiert an.
»In manchen Fällen ist das benötigte Kapital oder das Risiko so groß, daß man sich mit einem Kollegen zusammentun muß.«
»Ich verstehe.« Er lächelte.
»Bei diesem einen Geschäft sind wir dann Partner zu gleichen Teilen.«
»Aber danach nicht mehr?«
»Nein.« Und ich fuhr in eindrucksvoller Rechtschaffenheit fort: »Ich arbeite am liebsten allein, weil … na ja, weil ich nicht weiß, ob andere Händler bei sich die gleichen strengen Maßstäbe anlegen wie ich.«
»Natürlich, ganz verständlich.«
Aus irgendeinem Grund war er erleichtert darüber, daß ich keinen Partner hatte.
»Und Dill?« fragte er.
»Er ist lediglich ein freier Mitarbeiter. Er erfährt nichts, es sei denn, Sie wünschten es.«
»Und andere Angestellte?«
»Ich hole mir nur im Bedarfsfall jemanden.«
»Es ist also möglich …« murmelte er vor sich hin.
»Was denn, Mr. Field?«
»Man kann also mit einem Antiquitätenhändler eine vertrauliche Abmachung treffen.«
»Gewiß.« Ich hätte ihm sagen sollen, daß sich mit Geld fast genauso leicht Schweigen erkaufen läßt wie Informationen. Achten Sie bitte auf das Wort »fast«.
»Dann möchte ich Sie gern unter vier Augen sprechen, wenn es geht.«
»Jetzt?«
»Bitte.«
»Mein Cottage ist ganz in der Nähe. Wir können uns dort unterhalten.«
»Fein.«
Ich ging zu Jimmo hinüber und fragte ihn ein wenig über seine chinesischen Porzellanhunde aus. Er sprach geradezu verzückt von seinem wunderbaren Fund.
»Haben mich ein Vermögen gekostet«, erklärte er dramatisch. »Absolut identische Stücke. Sogar die Kugeln sind gleich.«
Aus purer Höflichkeit (und für den Fall, daß ich ihn demnächst einmal brauchte), hörte ich noch eine Weile zu, doch ich hatte bereits jegliches Interesse verloren. Selbst wenn die Porzellanhunde aus der K’ang-hsi-Periode stammten, wie Jimmo sagte – und wäre dann genau richtig, durften sie sich nicht völlig gleichen, um ein Paar zu ergeben. Beim männlichen Tier ruht eine Pfote auf einer Kugel, beim weiblichen auf einem kleinen Hündchen. Jimmo hatte also von zwei verschiedenen Paaren jeweils die eine Hälfte erwischt. Ich verdrückte mich bei der ersten Gelegenheit.
Adrian mit seinen Locken und seiner Handtasche war der nächste. Es war gerade eine freundschaftliche Auseinandersetzung zwischen ihm und Jane Felsham im Gange, bei der es um ein paar Schönheitspflasterdöschen ging. »Bilston-Email«, sagte Adrian zu ihr. »Zauberhaft und absolut echt. Oh.« Er sah mich und stampfte unwillig mit dem Fuß auf. »Warum hört das dumme Stück nicht zu, Lovejoy? Sprich du mit ihr.«
»Wie viele?« fragte ich.
»Er hat sechs«, antwortete Jane gelassen. »Hallo, Lovejoy.«
»Hallo. Das hört sich ja nach einer hübschen Sammlung an.«
»Siehst du!« schrie Adrian.
»Nur zwei sind gekennzeichnet.« Jane schüttelte den Kopf. »Und zur Zeit ist bei Sammlern der Herstellungsort gefragt.« Die winzigen Döschen dienten im achtzehnten Jahrhundert der Aufbewahrung jener schwarzen Pflästerchen, mit denen sich die vornehmen Leute das weißgepuderte Gesicht schmückten. Eine widerliche Sitte.
»Sind blaue darunter?«
»Eine. Ich bemühe mich die ganze Zeit, Jane dazu zu bewegen, sie zu nehmen. Sie ist unfähig, ein gutes Geschäft zu wittern, Lovejoy.«
»Haben sie Spiegel in den Deckeln?«
»Zwei von ihnen.«
»Trotzdem, vierhundert ist kein verlockendes Angebot, mein lieber Adrian«, erklärte Jane unbeirrbar.
»Zeig mal her«, sagte ich, denn ich wollte fort. Field wartete geduldig neben dem Kamin.
Adrian entnahm seiner Tasche sechs emaillierte Döschen. Eines wirkte etwas gröber und glänzte auch weniger als der Rest. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl. Meine Klingel.
»Ich muß Jane beipflichten«, log ich achselzuckend. »Aber sie sind hübsch.«
»Dreihundertachtzig dann«, schlug Adrian vor, der irgend etwas spürte und meine Reaktion ermutigend fand.
»Abgemacht.« Ich nahm ihm die Döschen aus der Hand. »Komm morgen vorbei.«
Adrian schwenkte zu der überraschten Jane herum. »Da hast du’s. Geschieht dir ganz recht, du dumme Kuh!« Ich ließ die beiden allein und ging zu Field.
»Mein Wagen steht direkt vor der Tür.«
Ich zeigte Tinker durch ein Nicken, daß er gute Arbeit geleistet hatte. Er strahlte und trank mir mit einem dreistöckigen Gin zu.
In meinem Cottage herrschte ein grauenhaftes Durcheinander. Man sah dem Diwan an, daß ich ihn für Fälle »gemeinschaftlicher Nutzung« besaß. Ich lächelte etwas verlegen.
»Sie müssen entschuldigen – eine, äh, Kusine von mir hat ein paar Nächte hier geschlafen.«
Ich stopfte ein paar von Sheilas Dessous unter die Kissen und klappte die Seitenpolster hoch. Als dann nur noch die Tischlampe brannte, erinnerte der Raum schon weniger an ein Schlachtfeld. Ich zog die Küchentür zu und plazierte Mr. Field in einen Sessel vor dem Kamin.
»Sehr hübsch haben Sie es hier, Mr. Lovejoy«, sagte er.
»Danke.« Und weil ich merkte, daß es ihn stutzig machte, kaum etwas Antikes zu sehen, erklärte ich: »Mein Antiquitätenlager habe ich auf verschiedene sichere Orte verteilt. Die Einbruchsgefahr ist zu groß.«
Lager! Das einzige, was ich besaß, waren sechs emaillierte Döschen, für die ich bis morgen eine beachtliche Summe aufbringen mußte.
»Da haben Sie recht«, meinte er. In seinen Augen war ich jetzt vorsichtig, vertrauenswürdig, zuverlässig, sachkundig und die Diskretion selbst. Ich untermauerte diesen Vorteil noch, indem ich mich für meine geringe Auswahl an alkoholischen Getränken entschuldigte.
»Ich selbst trinke nicht viel«, verkündete ich. »Möchten Sie vielleicht Kaffee?«
»Sehr gern.«
»Mich nennt alle Welt ganz einfach Lovejoy, Mr. Field«, sagte ich. »Das ist mein Warenzeichen.«
Er lächelte. »Ich werde es mir merken.«
Ich goß Kaffee auf. Bis jetzt hatte er noch nicht von Steinschloßwaffen gesprochen. Unsere Unterhaltung während der Fahrt war ganz allgemeiner Natur gewesen. Er machte einen sympathischen Eindruck und schien von den etwas unfeinen Tricks meiner Branche keinerlei Ahnung zu haben. Nichtsdestoweniger hatte er – Tinkers Bericht zufolge – keine Mühe gescheut, um einen Händler zu finden, der sich vornehmlich für Steinschloßwaffen interessierte.
»Wie lange wohnen Sie schon hier?«
»Seit ich in das Antiquitätengeschäft eingestiegen bin. Ich habe es von Freunden übernommen.«