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IRIS HELL

KLECKERLÄTZCHEN

für Anfänger

MIT KARACHO IN DIE WINDELBERGE

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2017, Iris Hell, 80939 München

Korrektorat: Ursula Hahnenberg, www.ursula-hahnenberg.de Satz & Layout: PCS Books · Gabi Schmid, www.pcs-books.de Covergestaltung: Corina Witte-Pflanz, www.ooografik.de Autorenfoto: Privat

Grafiken/Illustrationen: Nanny. Woman walking with a ... # 117169358| Urheber: ty4ina; Princess Party logo # 1137897069 | Urheber: iraida-beariala; Nanny. Woman walking with a ... # 117169358| Urheber: ty4ina; rose pink background ... # 133931475| Urheber: abbiesartshop; Baby bib icon in simple ... #122941366 | Urheber: ylivdesign; Urban autumn landscape ... #117968699 | Urheber: paseven; Baby icons set #60728889 | Urheber: RainLedy; Baby shower outline ... #116423446 | Urheber: juliyas; Phone Message Template #87143969 | Urheber: Reservoir Dots; Login user interface ... #135583595 | Urheber: vasilyrosca; Green Sticks Header #129753983 | Urheber: StylePhotography, alle Fotolia.com

1. Auflage
Vers.1.2 (Dezember 2017)

978-3-7439-2218-1 (Paperback)

978-3-7439-2219-8 (Hardcover)

978-3-7439-2220-4 (eBook)

Für

Liv, Cleo, Vivien, Stella & Ferdinand

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der blaue Balken

Wedding Fever

Der ständige Begleiter

Herrenabend

Shop-Hopping

Mission Strumpfband

Brautmuffin statt Hochzeitsbob

Ich will

Die Beichte

Muttergefühle

Nestbau

Knet 1

Don't panic

Krippenkonkurrenz

Der Countdown läuft

Aaaaaaaaa

Willkommen im Leben

Homezone

Raus aus der Komfortzone

Cry Baby

Abschied

Einsame Zweisamkeit

Elterntage

Gleichgesinnte gesucht

Kursfieber

Mit Kleckerlätzchen gegen Flugspinat

Zehn Mängel

Knet 2

Frühlingserwachen

Doch noch Pekip

Geburtstagssause

Almenzauber

Loslassen

Teilzeitmutti

Epilog

Die Autorin

Prolog

PEKiP und Warteliste. Die mit Abstand meist vernommenen Worte aus den vergangenen zwei Jahren als frisch gebackene Mutter. Bis dato war mir der Terminus PEKiP unbekannt. Als Insider weiß ich jetzt, dass sich hinter der Abkürzung das Prager-Eltern-Kind-Programm verbirgt, ein Konzept zur Frühförderung von Babys im ersten Lebensjahr. Über eine Warteliste wundere ich mich mittlerweile nur noch, wenn sie fehlt.

Was erwartete mich Wickelanfängerin in der Welt der Windelberge? Bis auf die anfängliche Schwangerschaftsübelkeit und einen immensen Fundus an Kleckerlätzchen lief fast alles anders als vermutet. In die Rolle der perfekten Mutterglucke wurde ich jedenfalls nicht hineingeboren, musste erst langsam in das neue Dasein mit seinen emotionalen Achterbahnfahrten und bisher nie erlebten Situationen hineinwachsen.

Hausfrau und Mutter – mag für manchen nach Banalität oder Eintönigkeit klingen. Mit dem Begriff der Hausfrau assoziiere ich, da meine Mutter als Alleinerziehende, soweit ich zurückdenken kann, voll berufstätig war, die Generation meiner Großmütter, Jahrgänge 1911 und 1916, und diese trugen tagsüber altmodisch einen Putzkittel und nachts Lockenwickler.

Mein neues Leben als Alltagsheldin jenseits der beruflichen Karriereleitern ist alles andere als banal oder eintönig. Es gleicht einem in sämtlichen Farben schillernden Puzzle, zusammengesetzt aus großartigen Momenten und vielen kleinen, von denen ich nicht einen missen möchte. Mit meinem Minimenschen ist das Leben nie gleichförmig und ich verplempere nicht mehr wertvolle Lebenszeit, indem ich an langweilig verregneten Sonntagen stundenlang eine Heimwerkersendung nach der anderen ansehe oder den 73. Eierwärmer stricke.

Eine über alles liebenswürdige, unberechenbare, zu den unpassendsten Augenblicken hungrige oder wache, neugierige kleine Person, ohne die ich nie wieder sein möchte, schreibt täglich, manchmal stündlich das Drehbuch meines Mom-Real-Lifes. Ihr Regiestil ist flatterhaft, ungestüm, selten verlässlich. In ihrer unbeirrten Art, unbeeinflusst von Gesellschaftsregeln und erwünschten Verhaltensweisen, wirft sie lang erprobte Szenen um, testet an mir, der mit ihr verbundenen Marionette, gleich einem eigenwilligen Puppenspieler ihr Improvisationstheater und lässt mich in den unterschiedlichsten Geschwindigkeiten, Gangarten und Choreografien an den Schnüren tanzen.

Mit einem Schlag ist meine bislang schwarz-weiße Welt kunterbunt. Seit die kleine Chaosqueen in mein Leben getreten ist, fühle ich mich vollständig.

Der blaue Balken

Erscheint nach zwei Minuten ein senkrechter blauer Balken in dem Sichtfenster, sind Sie schwanger.

Mit verschränkten Beinen sitze ich auf meinem Bett, den Schwangerschaftstest in der linken, die Packungsbeilage in der rechten Hand; abwechselnd blicke ich mit starrer Miene von Text zu Test und wieder zurück. Ich könnte mir vorgaukeln, der senkrechte blaue Balken sei Illusion. Mal abwarten ... Nein, er verschwindet nicht, selbst wenn ich noch so oft den Kopf von rechts nach links bewege. Im Gegenteil: Es wirkt fast, als nehme der Balken an Breite zu, je öfter ich hinschaue. Daraufhin schießen mir Tränen in die Augen. Nicht vor Glück.

»Mensch, Irmgard, was mach ich denn jetzt?« Irmgard kenne ich seit meiner Kindheit. Außer mir kann sie niemand sehen oder hören. Natürlich nicht, denn sie ist kein existentes Wesen. Sie ist so etwas wie mein Unterbewusstsein, mein Alter Ego, meine innere Stimme mit der Besonderheit, dass ich ihr ein Eigenleben angedichtet habe, inklusive Aussehen und Charakter. Böse ausgedrückt könnte man sie als Hirngespinst bezeichnen, obwohl ich natürlich weiß, dass sie nur ein Produkt meiner Fantasie ist. Fühle ich mich alleine oder hilflos, rufe ich sie. Oder sie erscheint von selbst, wenn sie spürt, dass ich sie brauche, und verschwindet meist so schnell, wie sie aufgetaucht ist.

»Dreh den Test doch um neunzig Grad, dann ist der Balken nicht mehr senkrecht.«

»Ha ha. Und gegen das Blau setze ich eine rosa Brille auf, oder?«, pf laume ich sie schluchzend an. »Wenn das alles ist, was dir einfällt, kannst du gleich wieder gehen.«

»Scherz beiseite, Kindchen.« Irmgards Ton klingt wieder gewohnt fürsorglich. »Warum weinst du denn? Ein Baby ist doch etwas ganz Wunderbares.« Sie streicht mir aufmunternd über den Kopf. »Kindchen, ich muss leider weg, melde mich aber bald wieder!«

Und weg ist sie. Wahrscheinlich hat sie einen Termin bei der Kosmetikerin. In der Luft hängt noch der sie seit Jahren begleitende und stets gleichbleibende Duft, eine Mischung aus Haarspray und Chanel No. 5.

Damit hat Irmgard sicher recht: Ein Baby ist etwas ganz Wunderbares. Aber in diesem Moment? Den Test habe ich heute um 16.23 Uhr nur gemacht, weil mich Anni, eine ehemalige Kollegin, zu ihrem Geburtstag auf das Oktoberfest eingeladen hat und ich sicher sein wollte, dass die eine oder andere Maß Bier nicht schadet.

Wiesn ist herrlich. Bier, Hendl, gebrannte Mandeln. Wenn Tausende von Menschen in der Schützenhalle zum allabendlichen Abschied der Band auf den Bierbänken stehend mitgrölen, kriege ich immer wieder Gänsehaut. Egal wie oft ich schon dabei war und selbst lauthals mitgesungen habe, kullern bei mir bierselig sentimental die Tränlein. Gerade in solchen Augenblicken liebe ich mein München. Seit ich mit Markus zusammen bin, ist meine exzessive Partyphase vorbei, doch aufs Oktoberfest gehe ich nach wie vor gern.

Wegen des Balkens hänge ich mein eben erst gebügeltes Dirndl schweren Herzens zurück in den Schrank und lasse Wiesn Wiesn sein. Zum Feiern ist mir jetzt nicht zumute. Stattdessen begebe ich mich auf den Weg zu meinem künftigen Ehemann, dem Mitschuldigen an dem Schlamassel.

Während die U-Bahn den gewohnten Kurs durch dunkle Tunnel des Münchner Schienennetzes nimmt, pflichtgemäß an blau, rot oder orange gefliesten Haltestellen stoppt, Fahrgäste ausspuckt, neue aufnimmt, wirbeln durch meinen Kopf und Körper ungebändigte Gedanken und Gefühle. Sachlich spricht rein gar nichts gegen ein Kind. Ich bin 34, habe eine solide Ausbildung und einige Jahre Berufserfahrung als Juristin. Mein Sparbuch ist zwar nicht üppig, aber anders als zu Studentenzeiten bin ich nicht mehr gezwungen, im Supermarkt einen Wochenvorrat an Lebensmitteln mit zwanzig mühsam zusammengekratzten Mark zu kaufen. Seit Jahren führe ich mit Markus eine glückliche Beziehung, unser Hochzeitstermin in vier Wochen steht schon lange mit einem dicken Herz umrandet im Kalender.

Wir stecken mitten in den Vorbereitungen. Macht uns der frisch eingezogene Bauchbewohner einen Strich durch die Rechnung? Lässt er die Nähte des Brautkleids oder gar die Hochzeitspläne platzen? Nein! Nein! Nein! Im Kleiderschrank ist zwar schon ein Ehrenplätzchen für ein Brautkleid reserviert, aber noch nicht besetzt. Und zur Heirat hatten wir uns entschlossen, weil wir wollten, nicht weil wir mussten, selbst wenn wir jetzt, nach altmodischen Maßstäben, auch heiraten müssen.

Irmgard klopft mir auf die Schulter. »Alles im grünen Bereich, Herzchen.«

Emotional ist ebenfalls alles in Butter: Beim Anblick eines wenige Tage, Wochen oder Monate alten zahn- und manchmal auch haarlosen Wonneproppens hüpft jede auch noch so kleine Zelle meines Körpers jubelnd auf und ab: Ich will das auch haben! Ich will, ich will, ich will!

Aber warum ausgerechnet jetzt? Endlich habe ich meine Traumstelle gefunden, nach der ich jahrelang gesucht und an deren Existenz ich schon gar nicht mehr geglaubt habe. Diese soll ich jetzt sausen lassen wegen eines blauen Balkens?

Dass ich nach der Geburt mindestens ein Jahr zu Hause bleiben würde, steht für uns beide fest, nicht nur, weil mein Einkommen im Verhältnis zu Markus’ Rechtsanwaltsverdienst deutlich schlechter abschneidet. Vor Kurzem war ich schon einmal schwanger und wir haben uns ausgiebig mit dem Thema befasst. Obwohl ich gerne arbeite, würde ich ungern schon nach wenigen Wochen Mutterschutz Schreibtisch gegen Wickeltisch eintauschen, auch wenn es nur für ein paar Stunden täglich wäre.

Außerdem: Was ist, wenn es wieder schiefgeht? Dann habe ich gar nichts, weder Baby noch Traumjob.

Das Zurückbleiben bitte! reißt mich aus meinem Gedankenfluss. Ich schaffe es gerade noch, aus der U-Bahn auf den Bahnsteig zu springen, bevor sich die Waggontür wieder schließt.

In Markus’ Wohnung begrüßt mich ein etwas überraschter – schließlich hatte ich für den Abend andere Pläne – und vergnügter Ehemann in spe. »Grias di, Kim.«

Er weiß, dass mir breites Bairisch ein Lächeln entlockt. Menschen, die Dialekt sprechen, sind in meinen Augen bodenständig. Und bei bodenständigen Menschen fühle ich mich wohl. Karsten, Markus’ bester Freund und Mitbewohner, ist außer Haus, worüber ich ausnahmsweise erleichtert bin, schließlich habe ich eine sehr persönliche Mitteilung.

Fröhlich schwenkt Markus sein Weinglas, rührt hingebungsvoll in einem Topf mit Nudelsoße und berichtet gut gelaunt über seinen Arbeitstag. Er ist im Gegensatz zu mir mit Leib und Seele Anwalt, liebt juristische Konfrontationen, Gerichtstermine und alles, was sonst noch dazu gehört. Mich hingegen haben Leistungs- und Umsatzdruck in der Kanzlei über die Jahre krank gemacht. Nach Bandscheibenvorfall, Hörstürzen und diversen anderen körperlichen und seelischen Wehwehchen erscheint mir meine neue Stelle in der Rechtsabteilung eines Unternehmens wie der lang ersehnte Rettungsanker.

»Kim, mogst a a Glasl?« Der Strahlemann hält mir sein Weinglas entgegen.

Das ist mein Stichwort. »Setz dich bitte. Wir werden

Eltern.«

Als Reaktion auf die Neuigkeit springt Markus aufgebracht auf, rügt mich, diesmal in gewohntem Hochdeutsch: »Aber Kim! Du kannst mir doch nicht in diesem Aufzug solch eine Nachricht überbringen.« Vorwurfsvoll zeigt er auf seine Boxershorts. Trotz des dem Anlass nicht angemessenen Outfits, umarmt er mich liebevoll und grinst von einem Ohr zum anderen. »Kim! Das ist die beste Nachricht, die ich je in meinem Leben bekommen habe!«

Keine drei Minuten später gesellt sich zu Markus, Hochstimmung eine umtriebige Geschäftigkeit. Als Sofortmaßnahme zieht er sich etwas Anständiges an, denn hosenlos kann ein derart wichtiges Thema wie die Planung unseres Familienlebens nicht angegangen werden. Mit jeder in den Mund geschobenen Gabel Spaghetti Carbonara landet einer neuer Punkt auf der To-do-Liste des vom Tatendrang Getriebenen:

Karsten rausschmeißen, Kims Umzug organisieren, Steckdosen sichern, Lappenvorrat aufstocken, Wo soll der Windeleimer stehen? …

Zwischendurch schüttelt er beinahe mechanisch den Kopf, freut sich wie ein Schneekönig, und es ist ihm deutlich anzusehen, dass er sein Glück gar nicht recht fassen kann. Die Bestlaune des werdenden Vaters ist ansteckend, denn immer mehr Zellen meines Körpers verfallen wegen ihres neuen Mitbewohners in ausgelassene Freudentänze.

Am nächsten Tag.

Sie sind überglücklich! Die Überschrift scheint derzeit beliebig einsetzbar. Kriegen jetzt alle Promis Nachwuchs? Im Wartezimmer meines Frauenarztes habe ich eine Stunde Gelegenheit, mich in Bunte, Gala & Co. dem Klatsch und Tratsch der vergangenen Wochen zu widmen.

Dr. Rose begrüßt mich freundlich, fast überschwänglich, obwohl mein Zustand an einem Ort wie diesem sicher kein Einzelfall sein dürfte. »Ja, was höre ich denn? Da schauen wir doch gleich mal auf dem Ultraschall nach.«

Dort zeigt sich eine etwa einen Zentimeter große Blase. Wie hübsch. Das erste Foto meines angehenden Babys. Bild und Mutterpass werden mir fast feierlich vom Arzt überreicht. Jetzt bin ich offiziell etwas anderes als gestern: Jetzt bin ich eine werdende Mutter.

Nach Verlassen der Praxis kaufe ich in der Apotheke auf der gegenüberliegenden Straßenseite optimistisch eine Dreimonatspackung Schwangerschaftsvitamine.

Anders als tags zuvor werde ich auf meiner Heimreise in der ratternden U-Bahn nicht von Zweifeln geplagt, Euphorie und Neugier keimen in mir. Mein Gefühl sagt mir, dass alles gut gehen wird. Wie wird er wohl aussehen, der kleine Mensch? Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Wird er oder sie Markus’ oder meine Fußform erben? Wie werden wir ihn/sie nennen? Karl/Erika. Ein schöner Arbeitstitel. Den endgültigen Namen können wir uns ja dann in Ruhe überlegen.

Eine Stunde nach meiner Kür zur werdenden Mutter bin ich holterdiepolter zur Geburt angemeldet. Auf Anhieb. Keine Warteliste, obwohl das Krankenhaus, dessen Nummer ich gewählt habe, zu den beliebtesten Geburtskliniken der Stadt zählt. Bis zu welcher Schwangerschaftswoche ich mir mit der Anmeldung Zeit lassen könne, wollte ich von der Hebamme am anderen Ende der Leitung wissen. Bei Nennung des voraussichtlichen Geburtstermins wird mir mitgeteilt, dass noch zwei Plätze frei seien. In der 7. SSW? Hä?!

»Ach, wissen Sie, ich trage Sie gleich ein, Sie sind die Nummer acht.«

Hätte ich morgen oder gar übermorgen mein Glück versucht, wäre ich wohl auf der Warteliste gelandet.

Wedding Fever

Was für ein wundervoller Tag! Was für eine wundervolle Zeit! Trotz des tristgrauen Oktoberwetters. Ich heirate, bin in anderen Umständen und zur Geburt angemeldet. Und: Ich treffe mich abends im Hey Luigi zum Essen mit Clarissa und Dagmar, zwei Freundinnen aus Schulzeiten, die ich eine Ewigkeit nicht gesehen habe. Seit jede von uns beruflich stark eingespannt ist, wird es immer schwieriger, einen gemeinsamen Termin zu finden, was aber nichts an der Innigkeit unserer 25 Jahre währenden Freundschaft ändert – dachte ich.

Nach drei verschobenen Verabredungen hat es heute endlich geklappt. Juhu! Wie werden sie wohl auf meine Babynews reagieren?

Vier Begrüßungsbussis später sitze ich den beiden gegenüber. Die eine brünett, hyperdünn und meist spitzbübisch lächelnd, Dagmar hingegen fast platinblond, was ihr den liebevollen Spitznamen Blondie eingehandelt hat, vollschlank, mit einem Dekolleté zum Neidischwerden, das sie selbstbewusst zur Schau stellt. Aktuell ist sie in ein hautenges T-Shirt gezwängt, dessen Enge die Oberweite zu Fluchtversuchen zu animieren scheint.

»Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, entschuldige ich mich.

»Kein Problem. Blondie erzählt gerade von Giselas Hochzeit letzten Samstag.«

Dagmars Kollegin Gisela ist, soweit ich weiß, erst seit einem halben Jahr mit Stefan liiert. Und schon verheiratet?! Das ging aber fix.

»Na, wenn die Chemie stimmt, kann man schon mal heiraten!«, lautet Clarissas Statement. Schwingt da etwa ein Anflug von Neid mit? Sie würde auch gern in den Hafen der Ehe einfahren, doch ihr langjähriger Lebensgefährte Martin ist das, was man unter einem echten Heiratsmuffel versteht.

»Erzähl weiter!«, bitte ich Dagmar. Mit leuchtenden Augen setzt sie verzückt ihre Schwärmerei fort, Clarissa kommentiert fast jede Silbe mit einem wissenden Permanent-Lächeln und spielt verträumt an ihrem Strohhalm. Sie ahnt, was jetzt kommt. Ich staune.

Bei einem Tauchausflug in der Südsee habe der Romantiker Stefan der Nichtsahnenden den Heiratsantrag gemacht. Per Handzeichen! Schmacht.

»Hä, wie soll das gehen?«, wirft Clarissa in ihrer liebenswert ruppigen Art ein.

Die Schwärmerin übergeht den Einwand und setzt den Bericht mit unbeirrtem Entzücken fort. Ihre Wangen glühen hochzeitsfiebrig im Schein der flackernden Kerze. Bei dem Event selbst habe die Hochzeitsplanerin wirklich an alles gedacht: weiße Tauben, rosarote Luftballons, Blumenmädchen in Spitzenkleidchen, märchenhaft duftende Rosenbouquets, eine siebenstöckige Traumhochzeitstorte und pastellfarbene Petit Fours als Aufmerksamkeit für jeden einzelnen der 163 Gäste, Tüddelkram hier, Tüddelkram da. Seufz. Und das Brautkleid!!!

Die Begeisterung auf der Romantik-Skala ist nicht mehr zu toppen und das Wedding Fever hat auch Clarissa endgültig gepackt.

Das Brautkleid: Ein cremefarbener Traum aus Seide mit einer Schleppe, wie sie einer Fürstin würdig gewesen wäre. »Ich sag es euch: Mich würde es nicht wundern, wenn das Foto des perfekten Paars das Cover der nächsten Ausgabe von Happy Wedding, der Hochzeitszeitschrift schlechthin, ziert.« Schwelg. »Beim Jawort in der Kirche ist wirklich kein einziges Auge trocken geblieben. Das war die schönste Hochzeit in meinem Leben! Genauso würde ich mir meine eigene auch wünschen!« Seufz. Schmacht. Schwärm. Dagmar nimmt einen tiefen Zug aus ihrem Aperol Spritz.

Solche Sentimentalität hätte ich Dagmar gar nicht zugetraut, dachte ich doch bislang, sie fühle sich als Dauersingle recht wohl.

»Und, Kim. Was macht eure Hochzeit?«, fragt Clarissa nach Momenten des seligen Schweigens in trauter Dreisamkeit.

Anders als geplant behalte ich Karl/Erika – für heute jedenfalls – für mich. Das Thema des Abends ist Hochzeit.

Doch angesichts des zuvor geschilderten Mega-Events bin ich fast beschämt, von unseren bescheidenen Plänen zu berichten.

Beide hören mir zwar freundlich zu, doch etwas ist anders als in den Minuten zuvor. Irre ich mich oder ist das Lächeln meiner langjährigen Freundinnen schwächer geworden? An die Stelle der ungebremsten Hochstimmung ist verhaltene Höflichkeit getreten. Die Temperatur um uns herum scheint innerhalb von Sekunden um zehn Grad gesunken. Meine Gegenüber wirken spontan geheilt, vom eben noch herrschenden Hochzeitsfieber fehlt jegliche Spur.

Muss ich mich für das geplante kleine Fest im Kreis der Familie rechtfertigen? Ist es in ihren Augen langweilig, wenn eine langjährige Partnerschaft in eine Ehe übergeht? Sitzt die Vorstellung von einer bombastischen Hochzeitsparty so hartnäckig in ihren Hinterköpfen? Oder erwarteten sie eine Einladung?

Bei der Verabschiedung meine ich, ein leises Knacksen zu vernehmen, als sei ein Ast von einem Baum gebrochen. Bedrückt trotte ich nach Hause. Ich hätte mehr Anteilnahme erwartet.

Der ständige Begleiter

Oh Gott, ist mir schlecht. Der erste Gedanke jeden Morgen seit ich von meiner Schwangerschaft weiß. Seit zehn Tagen. Keine lange Zeit. Mir erscheint sie wie eine Ewigkeit. Zum Glück habe ich die kommenden fünf Tage bis Montag frei. In meinem aktuellen Zustand hätte ich mich keine zehn Sekunden auf Beinen halten, geschweige denn brauchbare geistige Arbeit verrichten können.

Auf meinem Programm steht nur, mich am morgigen Freitag mit Markus’ Mutter Fiona in der Stadt zu treffen, um etwas Passendes für die Hochzeit zu finden. Das werde ich ja wohl noch schaffen. Das muss ich schaffen.

Bis dahin ist noch Zeit und ich kann getrost im Bett liegen bleiben.

»Irmgard, kannst du bitte mal kommen?«

»Gleich, Kindchen! Mein Nagellack muss noch trocknen.«

Gut, dann warte ich eben. Kennengelernt haben wir zwei uns in den 1970er-Jahren, genauer gesagt im September 1976. Kurz nach unserem ersten Treffen erzählte ich meiner Mutter von Irmgard. »Mama, ich habe eine ganz tolle Dame getroffen! Sie ist so alt wie du, aber nur so groß wie Mascha.« Mascha war meine damalige Katze. »Sie hat ganz lange Nägel und super Haare.« Knallrot, auftoupiert mit viel Haarspray. Meine Mutter sah mich nur kopfschüttelnd an. »Erfinde doch nicht immer so einen Schmarrn, Kim.«

Seitdem behalte ich Irmgard für mich, obwohl streng genommen nicht ich sie erfunden, sondern sie mich gefunden hat. An meinem ersten Kindergartentag stand sie plötzlich neben mir. Ich erinnere mich noch genau an das f laue Gefühl, als mich meine Mutter dort hinbrachte und sofort ins Büro weiterfahren musste. Sanfte Eingewöhnung war damals offenbar ein Fremdwort. Mutterseelenallein saß ich an meinem Garderobenplatz, Symbol Maus, kannte niemanden. Irmgard sprach mir Mut zu, mich zu den anderen Kindern zu gesellen, und wich den ganzen Tag nicht von meiner Seite, bis mich meine Mutter nachmittags abholte.

Auch am nächsten und am übernächsten Tag war sie morgens wieder zur Stelle und blieb immer so lange, bis ich mich auch allein in der Kindergartengruppe wohlfühlte.

Schon als Kind wusste ich, dass Irmgard nicht existiert. Ich hielt sie nie für real, war und bin nicht verrückt und habe keine Wahnvorstellungen. Eine Irmgard zu haben, fand ich als Kind lustig, und bislang gab es keinen Grund, damit aufzuhören. Das Schöne an Fantasiegestalten ist, dass man sie her- und auch wieder wegträumen kann, gerade wie es einem beliebt. Brauche ich sie, ist sie zur Stelle. Meistens jedenfalls. Wenn sie nicht gerade bei der Nagelpf lege, beim Shoppen oder Friseur ist, kann ich mich darauf verlassen, dass sie mir mit Rat und Tat zur Seite steht.

Um auch hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: Irmgard legt zwar Wert auf ihr Äußeres und hat ein Faible für gewisse Konsumgüter, ist aber keinesfalls oberf lächlich. Sie ist tiefgründig und einfühlsam, kann unterscheiden, ob ich wirklich Hilfe brauche oder mein Ruf nach ihr gekünstelt ist, weil ich eine Situation eigentlich ganz gut allein bewältigen kann.

»So, Kindchen, jetzt habe ich Zeit für dich.« Irmgard wirkt etwas gehetzt. »Was ist denn los?«

»Mir ist so schlecht!«, jammere ich.

»Bist du verkatert?«

»Natürlich nicht! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich in meinem Zustand Alkohol trinke.«

»Wenn ich an früher denke, ist der Gedanke gar nicht so abwegig.«

»Die alten Geschichten brauchst du mir doch wirklich nicht mehr auf ’s Brot schmieren!« Nur, weil ich früher das eine oder andere Mal gern gefeiert habe. »Außerdem weißt du genau, dass ich extrem solide und bodenständig geworden bin, seit ich Markus kenne.«

»Ja, ja, ich weiß.« Irmgard pustet sanft über ihre Nägel, obwohl der Lack längst trocken sein müsste. »Für meine Begriffe vielleicht etwas zu bodenständig.«

Bitte nicht wieder dieses Thema! Irmgard findet mein Leben öde. Ausbildung, Arbeiten, Heiraten, Kinderkriegen. Viel zu geordnet.

Emanzipation, Selbstfindung, Affären. Das ist eher nach Irmgards Geschmack, zumindest war es in ihrer Sturm-und-Drang-Phase so. Eine Hardcore-Emanze oder gar Männerhasserin war sie nie. Sie hatte und hat nach wie vor ihre Ideale und findet es nur fair, wenn jeder die gleichen Rechte hat und auch gleich behandelt wird.

»In deinem Alter habe ich mich für die Frauenbewegung eingesetzt!«

»Weiß ich. Und ich habe mich schon oft genug aufrichtig dafür bedankt. Doch ich glaube nicht, dass ich heute noch irgendjemanden beeindrucken würde, wenn ich meinen BH verbrenne. Meine Generation ist mit anderen Problemen konfrontiert.«

»Sei bitte nicht herablassend. Außerdem würde mich wirklich interessieren, welche Probleme du und deine Generation habt?«

»Umweltverschmutzung, globale Erderwärmung, atomare Bedrohung, die nach wie vor bestehende Ungleichbehandlung von Mann und Frau …«

Irmgard winkt ab. »Kannst auf hören. Das würde in eine endlose Diskussion ausarten. Außerdem bin ich nicht gekommen, um mich mit dir anzulegen.«

»Das will ich hoffen. Hast du denn jetzt einen Tipp, was gegen die Schwangerschaftsübelkeit helfen könnte?« Irmgard hat drei mittlerweile erwachsene Kinder.

»Zähne zusammenbeißen und durch! Du bist nicht die Einzige in dieser Situation. Nach der zwölften Woche geht das meistens vorbei.«

Der Tipp reißt mich nicht vom Hocker.

Nachdem sich Irmgard verabschiedet hat, leide ich eine Viertelstunde leise vor mich hin. Wenigstens war ich gestern beim Friseur. Frische braune Farbe, Haare gleichlang bis zum Kinn und schön geglättet. Klasse Frisur. Der Gedanke heitert mich kurzzeitig auf. Doch Liegen macht die Sache auch nicht besser, weder die Frisur noch die Übelkeit. Meinem Zustand entsprechend langsam richte ich mich auf, hole tief Luft, entsteige vorsichtig dem Bett und schlurfe in die Küche, dem Kaffeeduft entgegen. Mein Zukünftiger sitzt in eine Zeitung vertieft am gedeckten Frühstückstisch. Offenbar sehe ich trotz neuer Haarpracht so furchtbar aus, wie ich mich fühle, denn aus Markus’ Gesicht spricht Mitleid, als ich den Raum betrete.

Den Kaffee empfinde ich nach einem kräftigen Atemzug nicht mehr als wohlduftend. Schlagartig überkommt mich ein Gefühl des Ekels, das mich zwingt, schnellstens ins Bad zu stürmen, wo ich mich gerade noch rechtzeitig in die Toilette übergeben kann. Allein der Anblick der Zahnbürste lässt mich gleich wieder würgen. Erst nach dem Duschen fühle ich mich nicht mehr ganz so mies. Das warme Wasser scheint zumindest einen Teil der Übelkeit weggespült zu haben.

Nach zwanzig Minuten schleiche ich zurück in die Küche. Ließen die lila Blümchen in der Vase vorhin auch schon derart schlaff ihre Köpfchen hängen? Geht es ihnen ähnlich elend wie mir? Die Kraft, dem traurigen Anblick ein Ende zu bereiten und die verwelkten Tulpen wegzuwerfen, fehlt.

Markus liest nach wie. »Du Arme.« Sein einziger Kommentar ohne aufzusehen und ohne die Miene zu verziehen.

Frische Semmeln, Obstsalat, Wurst, Käse. Auf nichts habe ich Lust, und ich verharre schweigend, regungsund bewegungslos auf meinem Stuhl. Nach Beendigung seiner Lektüre imitiert der künftige Gatte mehrfach meinen Übelkeitsausbruch, mal in Zeitlupe, mal im Schnelldurchlauf, legt dabei besonderen Wert auf korrekte Wiedergabe der Begleitgeräusche. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Wortlos kehre ich ins Bett zurück, schließe die Augen und döse selbstmitleidig vor mich hin. Wenig später streicht mir eine Hand sanft über den Kopf. Es dauert einige Zeit, bis ich schlaftrunken merke, dass sich Markus auf die Bettkante gesetzt hat. Er hält mir lächelnd eine Schachtel hin. »Laut Apothekerin hilft das am besten gegen Schwangerschaftsübelkeit.«

Und tatsächlich. Nach Einnahme des Safts aus Pfefferminzextrakt, fühle ich mich relativ gut. Gut genug, um mit Markus in unserer Stammkneipe eine Riesenportion Sahnehering mit Kartoffeln zu verdrücken, ohne gleich wieder von Übelkeit überrannt zu werden.

Herrenabend

Um 20 Uhr sind wir mit Karsten verabredet. Falsch. Markus ist mit Karsten verabredet. Auf der Agenda steht: Gediegener Herrenabend statt wildem Junggesellenabschied. Der Trauzeuge möchte den Bräutigam feudal zum Essen einladen und hat hierfür ein immens teures Restaurant ausgesucht.

Da wollte ich immer schon hin! »Ach wirklich? Da geht ihr hin?! Oh, wie schön! Und das Essen soll ganz vorzüglich sein! …«

Fünf Minuten übergeht Markus meine Aufdringlichkeit, versucht, mich mit einem Grundsatzurteil des BGH zur Bankenhaftung bei fehlerhafter Anlageberatung abzulenken. Nach weiteren fünf Minuten hat er meiner Penetranz nichts mehr entgegenzusetzen und fragt endlich, ob ich auch mitkommen möchte. »Karsten wird schon nichts dagegen haben.«

Hat er nicht, und wenn er es hätte, würde seine Höflichkeit verbieten, es zu zeigen. Karsten ist der höflichste Mensch, den ich kenne. Einige Studienjahre in England scheinen ihn geprägt zu haben. Beim Treffen vor dem Restaurant, begrüßt er mich wie üblich. »Schön, dich zu sehen.«

Meine Vorstellungen von dem edlen Restaurant werden nicht enttäuscht. Gleich nach Betreten nimmt uns ein Ober die Mäntel ab, ein weiterer geleitet uns zu Tisch. Offenbar wurde mein Erscheinen angekündigt,