Angefangen hat alles in der Fleischerei des Großvaters in Boston, Massachusetts, in der Cara bereits als Mädchen stapelweise Bücher verschlang. Später zog es sie nach New York, wo sie zwischen dem Bücherwälzen fürs Literaturstudium und der Arbeit in Brooklyns bekanntester Metzgerei schließlich auf die Idee kam, aus ihrer Doppelleidenschaft eine einzige zu machen – indem sie die kulinarischen Passagen ihrer Lieblingsbücher nacherzählte und die besten Rezepte kurzerhand nachkochte. Von Pippi Langstrumpfs »Buttermilchpfannkuchen« über das »perfekt gekochte Ei« von Jane Austen bis hin zu Jonathan Franzens »Schokoladen-Cupcakes mit Pfefferminz-Buttercreme« – Nicoletti lässt uns nicht nur das Wasser im Munde zusammenlaufen, sondern verführt uns auch zum Nachlesen und Nachkochen. Ein perfektes Geschenk für Lesewütige und ein Buch, das rundum glücklich macht.
Cara Nicoletti ist Metzgermeisterin, Köchin und Gründerin des literarischen Foodblogs Yummy Books. Sie kommt aus einer Metzgerdynastie aus Boston und lebt derzeit in Brooklyn, New York.
In 50 Rezepten
durch die Weltliteratur
Aus dem amerikanischen Englisch
von Tanja Handels und
Susanne Kammerer
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4776.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Copyright © 2015 by Cara Nicoletti
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie
der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Der Verlag weist darauf hin, dass dieses Buch farbige Abbildungen enthält, deren Lesbarkeit auf Geräten, die keine Farbwiedergabe erlauben, eingeschränkt ist.
Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg
Schwarzweiß Fotos © Justin Hogan, alle anderen Fotos © Cara Nicoletti
eISBN 978-3-518-75129-9
www.suhrkamp.de
Für Noodle und Mummo,
weil sie meinen verschlungenen Wegen immer vertraut haben
Vorwort
Teil I: Kindheit
Unsere kleine Farm: Laura im großen Wald: Frühstücksbratwurst
»Hänsel und Gretel«: Gewürzkuchen mit Lebkuchengewürz und Blutorangensirup
In der Nachtküche: Milch-und-Malz-Kuchen
Nancy Drew: Schokoladeneisbecher mit kandierten Walnüssen und Schoko-Fudge-Sauce
Kekse für die Maus im Haus: Chocolate Chip Cookies mit brauner Butter
Der Indianer aus der Hosentasche: Gegrilltes Roastbeef
Die Kinder aus dem Güterwagen: Schokoladenpudding
Pippi Langstrumpf: Buttermilchpfannkuchen
Anne auf Green Gables: Salzkaramellen mit Schokolade
Homer Price: Old-Fashioned-Donuts mit saurer Sahne
Hexen hexen: Eintopf mit Muscheln, Krabben und Dorsch
Der geheime Garten: Rosinenbrötchen
Wilbur und Charlotte: Erbsensuppe mit Speck
Wo der rote Farn wächst: Maisbrot aus der Pfanne mit Honigbutter
Der Zaubertopf: Pasta mit Parmesan und schwarzem Pfeffer
»Die Sage von Sleepy Hollow«: Buchweizenpfannkuchen
Teil II: Jugend und Studium
Wer die Nachtigall stört …: Biscuits mit Sirupbutter
Herr der Fliegen: Porchetta di Testa (Rollbraten vom Schweine-kopf)
Der Fänger im Roggen: Malzmilch-Eiscreme
Die Glasglocke: Avocados mit Krebsfleischsalat
Rebecca: Blutorangenmarmelade
Les Misérables: Schwarzbrot mit Roggenmehl
Große Erwartungen: Schweinspastete
Moby-Dick: Chowder
Erledigt in Paris und London: Rib-Eye-Steak
Stolz und Vorurteil: Weiße Knoblauchsuppe
Das Schweigen der Lämmer: Crostini mit Favabohnen- und Hähnchenleber-Mousse
Middlesex: Olivenöl-Joghurt-Kuchen
Wiedersehen mit Brideshead: Blini mit Kaviar
Die Korrekturen: Schokoladen-Cupcakes mit Pfefferminz-Buttercreme
Aeneis: Honig-Mohn-Kuchen
Mrs. Dalloway: Schokoladen-Éclairs
Anna Karenina: Austern mit Gurken-Mignonette
Teil III: Erwachsenenalter
Sehr blaue Augen: Sorbet aus Concord-Trauben
Die Verschwörung der Idioten: Donuts mit Geleefüllung
Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte: Forelle aus dem Backofen
Die Stunden: Geburtstagstorte
»Das Ende vom Lied«: Gegrillte Pfirsiche mit hausgemachtem Ricotta
Amerikanisches Idyll: Hot-Cheese-Sandwich
Emma: Das perfekte weichgekochte Ei
»Die Methode Doktor Theer und Professor Feddern«: Kürbis-Pie mit Ziegenkäse
Kaltblütig: Cherry-Pie
Der kleine Freund: Pfefferminz-Eiscreme mit Zuckerstangenstückchen
»Gimpel der Narr«: Challah (Jüdisches Hefebrot)
Grabesgrün: Digestive Biscuits mit Schokolade
Manchmal ein großes Verlangen: Haselnuss-Streuselkuchen mit Brombeeren
Gone Girl – Das perfekte Opfer: Crêpes mit brauner Butter
Odyssee: Rotweinbrot mit Rosmarin
»Die beste Freundin, die du nie hattest«: Red Flannel Hash
Die geheime Geschichte: In Rotwein geschmorte Lammkeule mit Wildpilzen
Danksagung
Kulinarischer Index
Literarischer Index
Bibliographie
Als Kind einer Metzgersfamilie, in der gern und gut gegessen wurde, war ich schon von klein auf beim Kochen dabei: Ich wusste, wie es ging, wie es klang, wie es duftete. Richtig ins Kochen verliebt habe ich mich dann aber erst über das Lesen – in der Küche fand ich die gleiche Muße, die mich erfüllte, wenn ich es mir mit einem guten Buch gemütlich machte. Während der ersten Hälfte meines Lebens war das eine wie das andere für mich die ideale Rückzugsmöglichkeit, um einer Welt zu entkommen, die mich oft genug überforderte. Ich fühlte mich den Figuren aus meinen Büchern tief verbunden, und wenn ich die Gerichte kochte, die sie aßen, erschien mir das als ganz natürlicher Weg, ihnen noch näher zu kommen, sie so real werden zu lassen, wie sie es für mich waren.
So kochte und las ich mich durch die schwierigen Jahre der Middle School, durch die erste Liebe, durch mehrfachen verheerenden Liebeskummer, durch Verluste und Veränderungen. Und je älter ich wurde, desto mehr entwickelten sich Lesen und Kochen zu den Kräften, die meinen Panzer aufbrachen, mich Bindungen eingehen ließen und mich zu der Welt, die mich umgab, in Beziehung setzten.
2004 zog ich nach New York, um an der New York University Literaturwissenschaft zu studieren, und kurz darauf fing ich an, in Restaurants zu arbeiten, erst als Kellnerin und Barista und schließlich dann als Köchin, Bäckerin und Metzgerin in einigen der beliebtesten Lokale von Brooklyn. Durch das Studium und die Arbeit in der Küche war ich zum ersten Mal im Leben von Leuten umgeben, die Bücher und Essen genauso sehr liebten, wie ich es tat, und so bemerkte ich allmählich, wie tief die Verbindung zwischen Essen und Literatur im Gefühlsleben der Menschen verwurzelt ist.
In den Personalräumen der Restaurants, in denen ich arbeitete, fiel mir auf, dass in den Rucksäcken meiner Kollegen lauter sichtlich zerlesene Romane steckten. Und wie sich herausstellte, gehörten Ernest Hemingway und William Faulkner, Toni Morrison und Sylvia Plath auch zu ihrem Leben, trösteten sie genau wie mich über die langen Tage der Brandblasen und wässrigen Mayonnaise hinweg. Während wir anrichteten, Kräuter zupften und Filets anbrieten, plauderten wir über die Kurzgeschichten, die wir zuletzt gelesen hatten, und über die halbfertigen Coming-of-Age-Romane, die bei uns allen in der Schublade lagen. Beim Abendessen in den Wohnungen meiner Uni-Freunde war ich dann angenehm überrascht, wie liebevoll das Essen zubereitet war und wie nahtlos das Gespräch von den aktuellen Neuerscheinungen zur neuesten gusseisernen Pfanne wechseln konnte.
Neben der üblichen studentischen Einheitskost wie Moby-Dick und Ulysses standen in den Bücherregalen meiner Freunde auch vielbenutzte Ausgaben von Mastering the Art of French Cooking von Julia Child und Das Omnivoren-Dilemma von Michael Pollan. Wenn sie nicht gerade selbst Gedichte schrieben oder an einem Essay saßen, waren sie überall in New York in Restaurants und Läden damit beschäftigt, Tische abzuräumen, Essen zu servieren, Kaffee zuzubereiten oder edle Pralinen zu verkaufen.
2008 gründete ich in meiner kleinen, überheizten Wohnung einen Lese-Supper-Club, der das Ziel verfolgte, die literarischen Lieblingsgerichte meiner Freunde zum Leben zu erwecken. Als ich mich schließlich vor Anfragen zu diesen Essenseinladungen kaum noch retten konnte, fing ich an, das Blog Yummy Books zu schreiben, und aus dessen Erfolg entstand die Idee zum vorliegenden Buch.
Während meiner Recherchen dafür fuhr ich zu meinen Eltern, um etwas Zeit mit den Büchern meiner Kindheit zu verbringen. Die meisten hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr gelesen, und im Bus nach Boston war ich seltsam nervös, so, wie man sich vielleicht vor dem Treffen mit einer Freundin fühlt, die man seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hat. Ob wir uns wohl wiedererkennen würden? Bei meinen Eltern angekommen, ging ich schnurstracks auf den Dachboden und blieb den Rest des Tages und einen Großteil der Nacht dort oben im Kreis meiner alten Freunde. Ich staunte, wie vertraut sie mir noch immer waren, wie erschreckend unmittelbar mich das Blättern darin in ganz konkrete Momente meines Lebens zurückversetzte – manchmal reichte es sogar schon, sie einfach nur in der Hand zu halten und den Einband zu betrachten. Am meisten aber beeindruckte mich, in wie vielen Büchern ich Essensszenen mit lila Buntstift unterstrichen, auf wie vielen Schutzumschlägen ich mir selbstausgedachte Rezepte notiert hatte. Ich hatte ganz vergessen, wie weit meine Faszination – meine Obsession – für Essensszenen in Romanen zurückreichte.
Dass ich literarische Dinner-Partys gab, von Büchern inspirierte Rezepte für mein Blog entwickelte und dieses Buch schrieb, hat die enge Verbindung zwischen Essen und Lesen für mich nur noch verstärkt. Und gleichzeitig durfte ich zu meiner großen Freude feststellen, wie viele der Menschen dort draußen diese Leidenschaft genauso empfinden, wie ich es tue.
Der Spielplatz meiner Kindheit unterschied sich grundlegend von dem meiner Altersgenossen. An ein paar Tagen pro Woche brachte meine Mutter mich nachmittags in die Metzgerei Salett’s, die meinem Großvater gehörte, damit ich dort Hausaufgaben machte und ihr in der Zeit zwischen Schulschluss und Abendessen nicht auf die Nerven fiel. Unter den Argusaugen der Kassiererin Betty spielte ich dann mit meinem Cousin eine adrenalinintensive Version von Verstecken, die wir »Runter! Runter!« nannten; Teil dieses Spiels war es, uns hinter den herabhängenden Rinderhälften im lagerhallengroßen Kühlraum zu verstecken oder uns hinter die Kübel mit dem ausgelassenen Schweinefett zu ducken und dabei die zur Pistole geformten Finger auf irgendwelche Phantasieschurken oder die aufgestapelten Lammkeulen zu richten.
An den meisten Nachmittagen allerdings rollte ich mich auf ein paar Milchkisten hinter der Kasse zusammen und verschlang ein Buch nach dem anderen, während mir mein Großvater in seinem blutverschmierten weißen Kittel kleine Snacks brachte, gepökelte Rinderzunge auf Toast zum Beispiel oder dick mit Hühnerleberpastete bestrichene Ritz-Cracker. Wenn er mir einen Kuss gab, war seine Wange immer ganz kalt, weil er so viel Zeit im Zerlegeraum verbrachte – einem Ort, der bei seinen Enkeln nur »Stinkeraum« hieß, den er selbst aber wundersamerweise immer gehüllt in eine Duftwolke Obsession von Calvin Klein verließ.
Eigentlich interessierte ich mich kein bisschen dafür, was mein Großvater und sein Bruder Bobby dort im Zerlegeraum trieben, bis ich in der zweiten Klasse anfing, Unsere kleine Farm von Laura Ingalls Wilder zu lesen. Ich hatte auf dem Bücherflohmarkt meiner Schule gleich die komplette Serie erstanden. Die Einbände mit der pastellfarbenen Karoborte und den Buntstiftzeichnungen engelsgleicher Siedlerkinder gefielen mir so gut, dass ich eine ganze Ecke meines Zimmers umräumte, damit sie auch gut zur Geltung kamen. In meiner Klasse waren damals alle Mädchen ganz verrückt nach den Büchern, und meistens spielten wir in der Pause »Unsere kleine Farm«. Ich fand das Spiel längst nicht so aufregend wie die Bücher, was auch an dem schmählichen Umstand lag, dass ich immer Vater Wilder spielen musste (der Fairness halber muss ich aber sagen, dass ich mit meinem Topfschnitt auch die einzig in Frage kommende Kandidatin für diese Rolle war).
Eines Tages tat ich beim Spielen so, als käme ich mit einem toten Schwein auf der Schulter zur Tür herein, das für das Abendessen nur noch zerlegt werden musste, so wie Vater Wilder es in Laura im großen Wald getan hatte. Die anderen Mädchen waren entsetzt. »Das Buch ist total alt«, sagten sie. »So was macht doch heute kein Mensch mehr.« Ich wäre am liebsten im Boden versunken, denn schließlich wusste ich ja, dass es durchaus noch Menschen gab, die »so was« machten – und zwar Menschen aus meiner Familie.
An diesem Tag beobachtete ich meinen Großvater und meinen Großonkel nach der Schule ganz genau – die fließenden Bewegungen, mit denen sie die Schweine vom Laster nach drinnen trugen, das andächtige Schweigen, das einsetzte, sobald alle Tiere auf dem Zerlegetisch lagen, die Perfektion, mit der die beiden ganz synchron ihre Messer umgriffen, sorgfältig durchchoreographiert –, und ich empfand Stolz. Ich sah zu, wie aus den Schweinen kleinere, leichter zuzuordnende Stücke wurden, und blätterte dabei in meinem Buch, um bestimmte Stellen noch einmal nachzulesen: »Es gab Schinken und Schulterstücke, Speckseiten und Rippen- und Bauchfleisch. Da waren auch das Herz, die Leber und die Zunge, und aus dem Fleisch des Kopfes konnten sie Sülze machen. Außerdem gab es noch eine große Pfanne voll kleinerer Stücke, aus denen Würste gemacht werden sollten.«
Ich sah mir auch die Ringelschwänze im Eimer an und überlegte kurz, meinen Großvater um einen davon zu bitten, um ihn dann, so wie die Wilder-Mädchen, über dem Lagerfeuer zu braten, doch ich bekam schon bei der Vorstellung weiche Knie und beschloss, mich stattdessen auf die Wurst zu konzentrieren. Als ich klein war, aßen wir zu Hause viel Wurst und holten sie immer aus dem Gefrierschrank, wo sie in großen Mengen lagerte, abgepackt in die schwarzweißen Schachbrettmustertüten aus dem Laden meines Großvaters. Er machte immer nur drei Sorten: eine pikante italienische, mit roten Tupfen aus Paprika und Cayennepfeffer darin, eine süßliche italienische, gewürzt mit dicken Fenchelsamen, und eine Leberwurst, die mein Vater nicht im Haus haben wollte. Nachdem ich Laura im großen Wald gelesen hatte, fragte ich meinen Vater, ob Großvater nicht auch mal eine Frühstücksbratwurst machen könne, so wie Mutter Wilder, mit »Salz, Pfeffer und getrocknete[n] Salbeiblätter[n] aus dem Garten«.
Von unseren gelegentlichen Besuchen im Bickford’s Pancake House wusste ich, dass mein Großvater Frühstücksbratwurst liebte. Er bestellte sich immer eine Portion als Beilage zu seinem Western-Omelette, um sie dann in sämigem Ahornsirup zu ertränken und sie mit dem Rand seiner Gabel sorgfältig zu zerteilen, anstatt sie mit zwei Bissen herunterzuschlingen wie mein Vater. Aber obwohl wir sie alle so gern aßen, stellte mein Großvater in seiner Metzgerei keine Frühstücksbratwurst her. Salbei war teuer, und er wusste längst, was seine Kunden bei ihm kauften und was nicht. Wenn die Wurst liegen bliebe, wäre das Verschwendung gewesen, und das Vermeiden von Verschwendung war schließlich der natürliche Daseinszweck von Wurst. Damit hatte er natürlich völlig recht, und so bevölkerten auch weiterhin die eingeschweißten Wurstpakete der Firma Jimmy Dean unseren Gefrierschrank, die mein Vater im Supermarkt kaufte, um seine Lust auf Frühstücksbratwurst zu stillen.
Heute arbeite ich selbst in einer Metzgerei, und wir stellen achtzig verschiedene Wurstsorten her. Sie sind mit Käse versetzt und mit Unmengen fein gehackter Kräuter, mit eingelegtem Gemüse, mit Wein und getrockneten Gewürzen. In meinen Workshops bringe ich Menschen das Wurstmachen bei, die dem Thema mit Leidenschaft und Sachverstand begegnen, und jedes Mal, wenn ich vor einem vollbesetzten Kurs stehe, bin ich wieder erstaunt darüber, wie sehr sich die Dinge seit meiner Kindheit verändert haben. Aber trotz all der heutigen Vielfalt gehört die Frühstücksbratwurst noch immer zu meinen absoluten Favoriten.
Genau wie Ma Wilder, verwende ich für diese Variante ausschließlich Salz, Salbei und reichlich schwarzen Pfeffer, jedoch auch eine ordentliche Portion guten alten Ahornsirup, der für das gewisse Etwas sorgt.
Ergibt 20 flache Frikadellen à ca. 115 g
2,3 kg Hackfleisch vom Schwein aus der Schulter
2½ EL Salz
3½ TL frisch gemahlener schwarzer Pfeffer
1½ TL getrockneter Salbei
60 ml Ahornsirup
60 ml eiskaltes Wasser
Das Hackfleisch in die Rührschüssel der mit dem Flachrührer bestückten Küchenmaschine geben. Die Küchenmaschine auf niedrigster Stufe anschalten, dann das Salz, den Pfeffer und den Salbei hinzufügen. Genau 1 Minute rühren lassen (dafür unbedingt den Kurzzeitwecker stellen!). Den Ahornsirup zugeben und erneut exakt 1 Minute untermischen, danach das eiskalte Wasser zugießen und nochmals genau 1 Minute unterrühren.
Aus der Fleischmasse flache Frikadellen von etwa 115 g formen und bei mittlerer Temperatur etwa 5 Minuten pro Seite in einer gut eingebratenen Gusseisenpfanne anbraten.
Anmerkung: Falls Sie die Frühstücksbratwurst nicht sofort anbraten, sollten Sie sie einfrieren. Da der Zuckergehalt im Ahornsirup so hoch ist, fermentieren die Zucker im Laufe von drei Tagen, wodurch sich in den Frikadellen ein saurer Geschmack entwickelt, wenn sie im Kühlschrank aufbewahrt werden. Daher ist es am besten, wenn Sie sie entweder sofort anbraten oder einfrieren. Stapeln Sie die Frikadellen – durch zurechtgeschnittenes Backpapier getrennt – aufeinander und verpacken Sie sie in einer wiederverschließbaren Gefriertüte. Tiefgekühlte Frikadellen sind 6 Monate haltbar.
In den Annalen der Bücher, die mich verstört und mir Angst gemacht haben, fehlen komischerweise die Märchen der Brüder Grimm. Eigentlich hätte man doch erwarten sollen, dass mich diese gruseligen und schrecklich gewalttätigen Geschichten als Kind um den Schlaf brachten, doch aus irgendeinem Grund bekam ich einfach nicht genug davon. Ich war in der dritten Klasse, als ich oben auf dem Dachboden, wo ich mit meinen beiden besten Freundinnen Christie und Meg nach der Schule herumstöberte, eine alte, verstaubte Ausgabe der Märchen entdeckte. Wir waren gerade sehr in Kriminal- und Geistergeschichten vernarrt, und als wir das Buch fanden, waren wir sofort überzeugt, auf ein dunkles Geheimnis gestoßen zu sein, das meine Eltern vor uns verschlossen halten wollten.
Es war ein wunderbares altes Buch, mit Goldschnitt und Illustrationen, die von hauchdünnem Transparentpapier geschützt wurden, und voller schöner Worte wie »Hungersnot«, »Prophezeiung« oder »Lindwurm«. Von nun an schlichen wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf den Dachboden, machten es uns auf ein paar abgenutzten Packdecken bequem und lasen im Schein der Taschenlampe darin.
In Wirklichkeit hatten meine Eltern das Buch von einer entfernten Verwandten zur Geburt meiner älteren Schwester geschenkt bekommen und es auf dem Dachboden verstaut, weil es ihnen – aus gutem Grund – als Gute-Nacht-Lektüre nicht ganz geeignet schien. Ich habe an diese Verwandte nur die Erinnerung, dass ich, als ich noch ganz klein war, bei Familienfeiern immer auf ihrem Schoß sitzen musste und sie mir dann erklärte: »Wenn du dir nicht ordentlich die Haare kämmst, fallen dir die Daumen ab!« Es überrascht also nicht weiter, dass ausgerechnet sie meinen Eltern das Buch geschenkt hat. Grimms Märchen wimmeln nur so von Kindern, die ein gewaltsames Ende finden, Gliedmaßen verlieren, sich im Wald verirren oder wahlweise von Hexen oder Wölfen gefressen werden – aber es wimmelt darin auch von Essen.
Jacob und Wilhelm Grimm wussten sehr genau, was es hieß, nichts zu essen zu haben. Ihre ersten Lebensjahre verbrachten sie zwar noch in behaglichen Verhältnissen, doch schon als Jugendliche waren sie verwaist und mussten sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern. In der Zeit, als ihre Märchensammlung entstand, nahmen sie oft nur eine Mahlzeit am Tag zu sich, damit ihre Brüder und Schwestern genug zu essen hatten, es ist also nur folgerichtig, dass das Essen in fast allen Geschichten eine tragende Rolle spielt. Entweder ist es in Hülle und Fülle vorhanden, oder es fehlt komplett; es heilt und zerstört, es lockt, piesackt, nährt und rettet, und es ist immer Teil der Erzählung.
Nachdem wir ein paar Märchen gelesen hatten, bekamen Christie, Meg und ich jedes Mal schrecklichen Hunger, und wenn wir dann unsere Vollkornkekse mit Erdnussbutter mampften und dazu eiskalte Milch tranken, hatten wir oft ein leise schlechtes Gewissen beim Gedanken an die halb verhungerten Figuren, von deren Schicksal wir gerade erfahren hatten. Passenderweise war es kurz vor Weihnachten, als wir das Märchen von Hänsel und Gretel lasen. Wir hatten etwas Weihnachtsdekoration auf den Dachboden geschmuggelt, von der wir glaubten, dass unsere Eltern sie nicht vermissen würden, und statt beim Schein der Taschenlampe lasen wir nun beim Schein elektrischer Adventskerzen.
Wir hatten alle drei zu irgendeinem Zeitpunkt schon eine veränderte, kinderfreundliche Version der Geschichte gehört. Umso schockierender war es jetzt, das Original zu entdecken. Wir waren angewidert von Hänsels und Gretels Vater, der einfach so dem Drängen seiner fürchterlichen neuen Frau nachgibt und den Tod seiner eigenen Kinder in Kauf nimmt, und wir empörten uns heftig darüber, dass er am Ende ungestraft davonkommt. Mich allerdings entsetzte am meisten die Stelle, als Hänsel und Gretel das Hexenhaus finden, sofort ganz selbstvergessen anfangen, daran zu knabbern, und sich nicht einmal davon stören lassen, dass die alte Frau von drinnen fragt, wer da an ihrem Häuschen knuspert! Ich war dazu erzogen worden, Erwachsene respektvoll zu behandeln, und war fassungslos, dass Hänsel und Gretel sich gegenüber einer alten Dame so ruppig und unhöflich benahmen, selbst wenn sie eine Hexe war.
Wir kamen zu dem Schluss, dass sich diese abscheuliche Untat nur wieder ausbügeln ließ, indem wir unser eigenes Hexenhaus bauten, und so machten Christie, Meg und ich uns daran, aufwendige und hochkomplizierte Entwürfe für das ultimative Lebkuchenhaus zu zeichnen. Bei Meg gab es Wendeltreppen und Balkone, von deren Brüstung Eiszapfen aus Zuckerguss hingen, Christies Haus hatte farbenfrohe Buntglas-Zuckerfenster, über meinem schwebten rosa Zuckerwattewölkchen, und das Haus grenzte an einen Sumpf aus Pistaziencreme. Als es dann an die Umsetzung ging, mussten wir allerdings feststellen, dass erhebliche Abstriche nötig waren.
Schließlich einigten wir uns darauf, unsere Anstrengungen zu bündeln und lieber ein großes Haus zu bauen als drei kleine. Wir zeichneten, schnitten aus und pausten durch, auf Papier und auf Teig, korrigierten und überarbeiteten unsere ursprünglichen Einfälle, und während wir anrührten, ausrollten und darauf warteten, dass alles abkühlte, redeten wir über das Märchen. Im Grunde unterschied es sich nicht groß von den vielen beruflichen Küchenerfahrungen, die ich Jahre später machen sollte: Man tauscht Ideen mit anderen Köchen aus, entwirft und misst ab, baut riesige Luftschlösser, nur um sie dann immer weiter und weiter zu vereinfachen. Viele Stunden später traten wir mit müden Augen und steifen Fingern einen Schritt zurück und betrachteten stolz unser windschiefes Meisterwerk. Und obwohl uns der Magen knurrte und wir den Duft von Sirup und Nelken in der Nase hatten, aßen wir nicht das kleinste Stück davon, noch nicht einmal ein abgebrochenes Eckchen.
Ich fand es immer schon frustrierend, dass Lebkuchenhäuser, die doch gerade deshalb so großartig sind, weil man sie komplett vernaschen kann, trotzdem nicht zum Essen gedacht sind. Da schwitzt und schuftet man stundenlang, schnuppert die köstlichsten Düfte, rührt mit vom Teig ganz klebrigen Fingern süße Zuckerglasur zusammen, und zur Belohnung darf man das Ergebnis dann nur anschauen! Das ist doch einfach falsch. Der folgende Lebkuchen ist nicht nur insofern etwas Besonderes, als er tatsächlich zum Verzehr gedacht ist, sondern auch, weil es sich um einen ernsthaften, erwachsenen, dunklen Lebkuchen handelt, von dem ich glaube, dass er auch den Brüdern Grimm geschmeckt hätte. Der Blutorangensirup passt perfekt zur schweren Würze des Kuchens und sieht auch noch schön gruselig aus.
Dieser Kuchen schmeckt schon wunderbar, wenn er aus dem Ofen kommt – und wird im Laufe von ein paar Tagen sogar noch besser.
Für 8 Personen
300 g Weizenmehl
2 EL gemahlener Ingwer
1½ TL Backpulver
1 TL gemahlener Zimt
1 kräftige Prise Salz
1 Msp. geriebene Muskatnuss
1 Msp. gemahlene Gewürznelken
1 kleine Msp. gemahlener Kardamom
240 ml ungeschwefelte Melasse
240 ml dunkles Stout-Bier (z. B. Guinness)
½ TL Natron
170 g Butter, geschmolzen
180 g dunkler Rohrzucker
200 g Kristallzucker
3 große Eier
Blutorangensirup (Rezept folgt)
Den Backofen auf 180 °C vorheizen. Eine Gugelhupfform sorgfältig mit Backtrennspray einsprühen. (Wenn Sie eine Form mit ca. 1,5 l Inhalt verwenden, erhalten Sie einen höheren Kuchen, wenn Sie eine Form mit ca. 2 l verwenden, wird der Kuchen flacher.)
Das Mehl mit dem Ingwer, dem Backpulver, dem Zimt, dem Salz, der Muskatnuss, den Gewürznelken und dem Kardamom in eine große Schüssel sieben und beiseitestellen. Die Melasse mit dem Stout-Bier in eine Kasserolle mit schwerem Boden füllen und bei mittlerer bis hoher Temperatur zum Kochen bringen. Die Kasserolle vom Herd nehmen. Das Natron mit einem Schneebesen unter die Melasse-Bier-Mischung rühren und beiseitestellen.
Die geschmolzene Butter in die Rührschüssel der mit dem Flachrührer bestückten Küchenmaschine geben. Beide Zuckersorten zur Butter hinzufügen und glattrühren. Die Eier einzeln nacheinander unterschlagen, bis eine locker flaumige Masse entstanden ist. Abwechselnd die trockenen Zutaten und die Melasse-Bier-Mischung zur Buttermasse hinzufügen und nur so lange mischen, bis sich alle Zutaten gerade eben miteinander verbunden haben.
Den Teig in die eingefettete Gugelhupfform füllen und 40-50 Minuten backen, bis ein mittig in den Kuchen eingestochener Holzspieß sauber wieder herausgezogen werden kann. Den Kuchen mindestens 10 Minuten in der Form abkühlen lassen, dann auf eine Kuchenplatte oder einen Teller stürzen. Kurz vor dem Servieren die einzelnen Kuchenstücke mit dem abgekühlten Blutorangensirup beträufeln.
Ergibt etwa 480 ml
200 g Zucker
240 ml Wasser
Fein abgeriebene Schale und ausgepresster Saft von 2 unbehandelten Blutorangen
Den Zucker mit dem Wasser in eine Kasserolle geben und bei mittlerer Temperatur erhitzen, bis sich der Zucker auflöst. Die Schale und den Saft der Blutorangen hinzufügen und zum Kochen bringen. 10 Minuten sanft köcheln lassen. Dann den Sirup durch ein Sieb abseihen und vollständig abkühlen lassen.
Im Februar 2010 ging einfach alles schief. Inmitten echter Notfälle und tausend anderer Unannehmlichkeiten verlor ich auch noch meine Stelle als Bäckerin in einem kleinen Restaurant und fand nirgendwo sonst Arbeit. Die Zeit zwischen November und Februar war in einem einzigen Taumel aus Bestellungen für Thanksgiving- und Weihnachtsfeiern vergangen, mitsamt den dazugehörigen Nachtschichten: Hunderte Kürbis-, Pekannuss- und Apfelkuchen, Geschenkkörbchen mit würzigen Honigkuchen, dazwischen die ein oder andere Bûche de Noël – und jetzt, mit einem Mal, nur noch Stille.
Einen Monat lang hatte ich mir meine Stelle trotz nachweihnachtlicher Flaute noch bewahrt, aber dann kam ich eines Morgens zur Arbeit und sah den Dienstplan, auf dem mein Name dick und rot durchgestrichen war, und die Blicke meiner Kollegen – voller Mitgefühl, aber auch voller Erleichterung, weil sie meinem Schicksal entronnen waren. Ich gab mir größte Mühe, es nicht persönlich zu nehmen. Schließlich war ich als Letzte eingestellt worden, da war es nur fair, dass ich auch als Erste eingespart wurde. Ich packte meine Backutensilien weg, faltete meine Schürze zusammen und trat aus dem gemütlich warmen Restaurant hinaus in die klirrende Februarkälte von Brooklyn.
Weil ich es nicht über mich brachte, nach Hause zu gehen und meinem Freund und meiner Schwester, die gerade beide verzweifelt Arbeit suchten, zu erzählen, dass ich entlassen worden war, lief ich einfach weiter. Ich war überzeugt, dass sich irgendwo in einem anderen Restaurant gerade eine Bäckerin mit mangelnder Arbeitsmoral die Schürze vom Leib gerissen hatte und davongestürmt war, begleitet von wilden Schwüren, nie wieder etwas zu sieben, zu kneten oder zu glasieren. Und ich wäre gerade rechtzeitig zur Stelle, um in die Bresche zu springen, und alles wäre so, als hätte ich niemals meinen Job verloren.
So kam es natürlich nicht. Nicht einmal annähernd. In jedem Restaurant, das ich betrat, bekam ich das Gleiche zu hören: Sie hätten schon zu viel Personal, befänden sich ebenfalls in der Nachweihnachtsflaute und bräuchten sowieso nur den Brotpudding mit Schokolade, den ihr Chefkoch zubereite. Gegen neun Uhr abends gab ich mich schließlich geschlagen und machte mich auf den Heimweg. Als ich ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt an einem Fabrikgebäude vorbeikam, fiel mir zum ersten Mal auf, dass durch das offene Tor der Lagerhalle ein Duft von Hefe und Zucker nach draußen drang. Ich schaute durchs Fenster und sah ein gutes Dutzend chassidischer Männer, die über riesige Rührmaschinen mit Fünfzig-Liter-Trögen gebeugt oder an Backblechwagen gelehnt standen, die weißen Hemden wölbten sich über den dicken Bäuchen, die gekräuselten Schläfenlocken streiften ihre Ohren. Sie redeten und lachten und schufteten vor sich hin, und die Fensterscheiben beschlugen von den dampfenden Brotlaiben.
Eine halbe Sekunde lang überlegte ich, ob ich vielleicht Halluzinationen hatte, weil ich den ganzen Tag mit leerem Magen durch die Stadt gelaufen war, ob ich schon so verzweifelt nach einer neuen Stelle suchte, dass ich diesen Ort durch reine Willenskraft heraufbeschworen hatte. Ich konnte es nicht fassen, dass dieses geschäftige Treiben fast jeden Abend direkt vor meiner Nase stattgefunden haben sollte, ohne dass ich davon gewusst hatte. Vor allem aber rieb ich mir so ungläubig die Augen, weil die geheimnisvolle Backstube eine fast schon unheimliche Ähnlichkeit mit der aus Maurice Sendaks In der Nachtküche hatte.
Als ich klein war, hatten meine Eltern mir das Buch oft vor dem Einschlafen vorgelesen, und ich war jedes Mal fasziniert davon gewesen, aber auch ein wenig verängstigt. Wenn sie mich dann zugedeckt hatten, schaute ich mir noch eine Zeitlang die Bilder an und versuchte, sie zu verstehen: ein etwas schmuddeliger, nackter kleiner Junge, der in eine drei Meter hohe Milchflasche fällt und von einem Grüppchen zwielichtiger Bäcker in den heißen Kuchenteig gerührt wird, bis er schließlich der Rührschüssel entsteigt, gekleidet in ein Gewand aus Kuchenteig, das an den Schlafanzug von Max aus Wo die wilden Kerle wohnen erinnert.
In der Nachtküche heißt der kleine Junge Micky, und er träumt, er falle aus seinem Bett mitten hinein in die Welt dieser nächtlichen Küche, einen mysteriösen Ort, an dem, während wir anderen schlafen, alle Backwaren der Welt hergestellt werden. Ein Ort wie der, den ich an jenem Abend passierte, und sicher auch wie die Orte, an denen Sendak selbst als Kind oft vorbeigegangen sein musste, in dem jüdischen Teil von Brooklyn, wo er aufgewachsen war. Bis heute gehört In der Nachtküche zu den umstrittensten Kinderbüchern, die jemals veröffentlicht wurden: Alle Jahre wieder wird es aus den unterschiedlichsten Gründen angegriffen und auf den Index gesetzt. Manche Kritiker stören sich an Mickys scheinbar grundloser Nacktheit, andere haben etwas an der »phallischen« Milchflasche auszusetzen und an der milchigen Flüssigkeit, die dem nackten kleinen Jungen alles Unschuldige raubt. Und einige lesen sogar unterschwellige Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg hinein, indem sie auf die angeblichen »Hitlerbärtchen« der Bäcker verweisen und auf ihren Versuch, Micky als Kuchen in den Ofen zu schieben.
2011 hörte ich in der Radiosendung Fresh Air ein Interview, das Terry Gross mit Maurice Sendak führte. Darin erzählt Sendak von einem besonders eindrucksvollen Briefwechsel mit einem Fan, den ich einfach nicht vergessen kann und der mir jedes Mal wieder durch den Kopf geht, wenn ich besonders große Lust habe, ein Rezept zu entwickeln. Der Fan, ein kleiner Junge namens Jim, hatte Sendak eine »reizende Postkarte mit einer kleinen Zeichnung« geschickt, und Sendak antwortete entsprechend und schickte dem kleinen Jim eine Karte, auf die er einen Wilden Kerl gezeichnet hatte. Darauf erhielt er von Jims Mutter folgende Antwort: »Die Karte hat Jim so gut gefallen, dass er sie aufgegessen hat.« In dem Interview sagt Sendak zu Gross: »Das war für mich das größte Kompliment, das mir je gemacht wurde. Es war ihm völlig egal, dass es eine Originalzeichnung von Maurice Sendak war. Er hat sie gesehen, er fand sie toll, und da hat er sie aufgegessen.«
Ein Buch oder ein Bild in einem Buch so sehr zu lieben, dass man es am liebsten aufessen würde – das ist ein Gefühl ganz nach meinem Herzen. Nichts anderes habe ich im Grunde mit diesem Buch hier im Sinn. Sendak selbst hat die Idee auch in Wo die wilden Kerle wohnen verarbeitet, wenn die Wilden Kerle Max drohen: »Geh bitte nicht fort – wir fressen dich auf – wir haben dich so gern!«
Maurice Sendak hatte keine leichte Kindheit. Er wuchs in Brooklyn auf, als kränkliches, ängstliches Kind armer jüdischer Einwanderer, und war sich schon früh klar darüber, dass er homosexuell war. Als kleiner Junge, Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre, war sein Leben von Krieg, Tod, Wirtschaftskrisen und nicht enden wollender Gewalt gegen Kinder überschattet. Vor allem die Entführung des kleinen Sohnes von Charles Lindbergh verstörte den jungen Maurice und sollte sich später in etlichen seiner Bücher niederschlagen. Seine Geschichten stecken voller Albträume, seine Kinder sind stets verwundbar und Gefahren ausgesetzt. Die Erwachsenen erdrücken sie entweder mit ihrer Liebe, oder sie sind völlig abwesend. Sendaks Kinderfiguren sind dickköpfig und häufig richtige kleine Rotzlöffel; sie widersetzen sich den Vorschriften ihrer Eltern, stürzen sich kopfüber in Gefahr und Abenteuer, landen aber am Ende meist – zur allgemeinen Erleichterung – dann doch wieder zu Hause im eigenen Bett.
Als Kind liebte ich Sendaks Bücher genau aus diesem Grund. Eltern befürchten immer, ihre Kinder könnten durch etwas, das sie lesen, sehen oder hören, verstört werden, doch Geschichten, die das Gehirn in Gang bringen und das Herz bis zum Hals klopfen lassen, das sind Geschichten, die uns die Kraft des geschriebenen Wortes vor Augen führen, die dafür sorgen, dass wir uns ins Lesen verlieben. Es sind Geschichten, an die wir uns später besonders lebhaft erinnern, die uns auch noch trösten, wenn wir längst erwachsen sind und spätabends durch die Straßen des eigenen Viertels irren wie eines von Sendaks verlorenen Kindern, in fremde Fenster spähen und arbeitslos und niedergeschlagen und verängstigt sind, aus allen möglichen Erwachsenengründen.
Für 8 Personen
200 g Butter (bei Raumtemperatur)
150 g Kristallzucker
45 g dunkler Rohrzucker
1 Vanilleschote, längs aufgeschnitten, das Mark ausgekratzt, die Schote aufbewahrt
120 ml Vollmilch
2 große Eier plus 1 großes Eigelb
210 g Weizenmehl (Type 405)
35 g Malzgetränk-Instantpulver (z. B. Ovomaltine)
2 TL Backpulver
1 kräftige Prise Salz
150 g Puderzucker
3 EL Malzgetränk-Instantpulver (z. B. Ovomaltine)
1 TL Vanilleextrakt
1½ EL Vollmilch oder süße Sahne (nach Bedarf etwas mehr verwenden)
1 Msp. Salz
Den Backofen auf 190 °C vorheizen. Eine Gugelhupfform sorgfältig mit Backtrennspray einsprühen. (Wenn Sie eine Form mit ca. 1,5 l Inhalt verwenden, erhalten Sie einen höheren Kuchen, bei einer Form mit ca. 2 l Inhalt wird der Kuchen flacher.)
Die Butter mit den beiden Zuckersorten und dem Vanillemark in die Rührschüssel der mit dem Flachrührer bestückten Küchenmaschine füllen und bei mittlerer Geschwindigkeit etwa 3 Minuten hell-cremig aufschlagen.
Währenddessen die Milch in eine Kasserolle mit schwerem Boden gießen, die Vanilleschote hinzufügen. Die Milch bei mittlerer Temperatur unter ständigem Schlagen mit dem Schneebesen erhitzen, bis eine Temperatur von 82 °C erreicht ist. Unmittelbar vor Erreichen der Temperatur sollten am Rand Bläschen und von der Oberfläche Dampf aufsteigen. Sobald die Milch 82 °C erreicht hat, die Kasserolle vom Herd nehmen und beiseitestellen, die Vanilleschote weiter in der Milch ziehen lassen.
Die Eier und das Eigelb nacheinander einzeln zur Butter-Zucker-Mischung geben, nach der jeweiligen Zugabe kräftig rühren und Teigreste an den Seitenrändern der Schüssel nach unten abschaben, damit sich alles zu einer homogenen Masse verbindet.
In einer zweiten Schüssel das Mehl mit dem Malzpulver, dem Backpulver und dem Salz vermischen.
Die Vanilleschote aus der erhitzten Milch nehmen. Die Küchenmaschine auf niedriger Stufe einschalten und abwechselnd die trockenen Zutaten und die aromatisierte Milch zur Buttermischung geben, bis sich alle Zutaten gerade eben miteinander verbunden haben – die Masse darf nicht zu lange gerührt werden.
Den Teig in die eingefettete Gugelhupfform füllen und etwa 45 Minuten backen, bis ein mittig in den Kuchen eingestochener Holzspieß sauber wieder herausgezogen werden kann.
Den Kuchen 45 Minuten in der Form abkühlen lassen, dann zum vollständigen Abkühlen auf einen Gitterrost stürzen.
Die Zutaten für die Glasur in eine kleine Schüssel füllen und mit einem Schneebesen glattrühren. Falls die Glasur so dickflüssig ist, dass sie sich nicht gießen lässt, einen zusätzlichen Teelöffel Milch oder Sahne zugeben. Den Kuchen mit der Glasur übergießen, wenn er auf Raumtemperatur abgekühlt ist.
Als ich in der vierten Klasse die ersten zehn Bände der Reihe Ein Fall für Nancy Drew zu Weihnachten bekam, war ich wild entschlossen, zum größten Nancy-Drew-Fan aller Zeiten zu werden. Im Jahr davor hatte ich Harriet – Spionage aller Art acht Mal hintereinander verschlungen und weigerte mich seither, etwas anderes als orangefarbene Schlaghosen und gestreifte Sweatshirts anzuziehen oder etwas anderes als Sandwiches mit Tomate und Mayo zu essen. Die Großtante, die mir die Nancy-Drew-Bücher schenkte, war Mitte siebzig, und in den ersten Band hatte sie mit ihrer zittrigen und trotzdem eleganten Handschrift geschrieben, dass sie mit dieser Reihe wunderschöne Kindheitserinnerungen verbinde und ich mich auf einen echten Leckerbissen freuen könne. Ich konnte es kaum erwarten, endlich in mein Zimmer zu kommen und mich in die Bücher zu vertiefen, und war so aufgeregt, dass ich beim Weihnachtsfrühstück kaum das Zimtbrötchen mit Zuckerguss herunterbekam, auf das ich mich eigentlich schon das ganze Jahr gefreut hatte.
Zehn Tage lang las ich täglich eines der Bücher, und jeden Abend, wenn ich das Licht ausgemacht und mich unter die Bettdecke gekuschelt hatte, lag ich wach und fragte mich, warum sie mich nicht mehr begeisterten. Nancy war schlau, sie war mutig, waghalsig und charmant – sie hatte also eigentlich alles, was ich von einer jungen Protagonistin erwarten durfte, und trotzdem fand ich sie irgendwie hohl. Aus Pflichtgefühl meiner Großtante gegenüber, die schließlich in die Buchhandlung gegangen war und die Bücher mit viel Liebe für mich ausgesucht hatte, hielt ich durch, las alle zehn und wurde mit jedem weiteren nur noch ärgerlicher und ratloser.
Anders als Harriet, die stur ihr eigenes Ding durchzog, war Nancy eine Art »Allerweltsmädchen«, ausgestattet mit einem so breiten Spektrum an Talenten und Tugenden, dass sich auch wirklich jedes kleine Mädchen mit ihr identifizieren konnte. Das war auch genau das Ziel, das das Autoren-Syndikat um Edward Stratemeyer mit der Reihe verfolgte: kleinen Mädchen zu zeigen, dass sie absolut alles sein, dass sie perfekt sein konnten – schlau, mutig, modebewusst, schön, liebenswert und dazu auch noch verflixt gute Köchinnen und Hausfrauen. Ein hehres Ziel, für das Mädchen wie ich, die ohne den geringsten Zweifel daran aufwuchsen, alles tun und sein zu können, was sie wollten, eigentlich auf ewig dankbar hätten sein müssen. Als junge Leserin überforderte mich aber schon die bloße Vorstellung, nach einem solchen Maß an Perfektion zu streben.
Wahrscheinlich war ich deswegen auch so erleichtert, als im fünften Band, Geheimnis um die Shadow Ranch, Nancys Freundin Bess Marvin auf den Plan trat. Im Gegensatz zu Nancy und Sarah Fayne, die fast schon zwanghaft darauf aus sind, in jede dunkle Gasse hineinzurennen, in der zwielichtige alte Männer lauern, ist Bess ängstlich und vorsichtig und legt die angemessenen Bedenken eines ganz normalen Menschen an den Tag. Und während viel davon die Rede ist, wie »besonders hübsch« Nancy ist, und Sarah als »attraktiv und temperamentvoll« geschildert wird, heißt es von Bess, sie sei »etwas mollig« – und mit dieser Beschreibung wird sie dann für den Rest des Buches in jedem zweiten Satz belegt.
Als Jugendliche mochte ich in Büchern eigentlich das burschikose Mädchen immer am liebsten: Jo March, Scout Finch, Caddie Woodlawn. In diesem Fall war ich aber sofort auf Bess’ Seite, wollte sie in Schutz nehmen, weil sie so ein leichtes Opfer war, die Außenseiterin, die Nancy und Sarah ständig Anlass gab, sich unterm Tisch gegenseitig anzustupsen oder heimlich die Augen zu verdrehen. Sarah mag zwar temperamentvoll sein, doch im Gegensatz zu den anderen unerschrockenen Mädchen, die ich so mochte, kann sie auch richtig bösartig sein und ständig darauf herumreiten, wie viel Bess schon wieder gegessen hat und wie langsam sie ist, während Nancy pflichtschuldig dazu kichert.
Die Mädchen unterscheiden sich nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Verhältnis zum Essen. In allen Büchern ist das Essen omnipräsent, und die jeweiligen Reaktionen der Mädchen darauf verraten viel über ihre Persönlichkeit. Nancy kocht für ihr Leben gern und selbstverständlich auch ganz großartig, interessiert sich aber kaum für das Ergebnis. Sie ist ungeheuer beherrscht. Ständig bestreicht sie ofenwarmen Kuchen mit Schokoladenglasur, leckt dabei aber nicht einmal den Löffel ab und erklärt Bess und den hungrigen Cowboys, für sie gebe es Grahambrot statt Kuchen zum Abendessen. Sarah ist das Essen gänzlich gleichgültig: Sie vergisst es oft und isst nur, wenn es gar nicht anders geht. Dafür ist sie stets diejenige, die sich darüber lustig macht, wie viel Bess verputzt, korrigiert sie bei der Frage, wie viele Sandwiches sie gegessen habe, und quält sie mit Bemerkungen wie: »Noch nie gehört, dass Gefräßigkeit sich auf den Hüften niederschlägt?« Für Bess ist Essen der Dreh- und Angelpunkt: Ihr knurrt ständig der Magen, sie ist halb verhungert oder könnte einen ganzen Wolf verspeisen.
Das erste Mal begegnen wir Bess in einem Café, wo die drei Mädchen die seltsamen Vorkommnisse auf der Shadow Ranch besprechen. Nancy und Sarah bestellen Limonade, Bess studiert die Speisekarte und erklärt, die Aufregungen hätten ihr den Appetit verschlagen, um dann hinzuzufügen: »Ich nehme nur einen großen Eisbecher mit Schokolade und Walnüssen.« Und weiter heißt es: »Nancy und Sarah grinsten. ›Arme Kleine‹, sagte Sarah. ›Sie fällt ganz vom Fleisch.‹ Bess schaute verständnislos drein. ›Kümmere dich nicht um mich‹, sagte sie.« Dieser Eisbecher ist Bess’ Leibgericht. Er begleitet sie durch alle weiteren Bücher, und fast immer verzehrt sie ihn, während Nancy und Sarah grinsend an ihrer Limo nippen.
Das schambesetzte und insgesamt recht merkwürdige Verhältnis zum Essen in diesen Büchern hat mich schon als Kind gestört. Es ist mir noch jahrelang im Kopf herumgegangen, und jedes Mal, wenn ich sie in einem fremden Bücherregal stehen sah, fragte ich mich, ob ich eigentlich das einzige Kind war, das so darauf reagiert hatte. Erst an der Uni, als ich eine Seminararbeit über Essstörungen in der Literatur schrieb, beschloss ich, mich näher mit der literaturwissenschaftlichen Interpretation und den feministischen Lesarten von Nancy Drew zu befassen.
Beim Einstieg in die komplizierte Entstehungsgeschichte der Nancy-Drew-Reihe machte ich als Erstes die schockierende Entdeckung, dass die angebliche Autorin Carolyn Keene gar nicht existierte, sondern nur ein von Edward Stratemeyer erfundener Name war. Tatsächlich wurden die Bücher von diversen Ghostwritern verfasst, die für ihre Leistungen ein Pauschalhonorar erhielten und sämtliche Rechte auf Tantiemen und Anerkennung an das Stratemeyer-Syndikat abtreten mussten. Genauso überrascht war ich, herauszufinden, dass die ursprünglichen Bücher ab 1959 komplett überarbeitet wurden, um sie von rassistischen Ausdrücken zu befreien und sie so aufzupeppen, dass sie auch eine moderne Leserschaft ansprachen. Mit anderen Worten: Die Nancy Drew, mit der ich es zu tun hatte, war eine ganz andere als die, mit der meine Großtante vertraut gewesen war.