Ein feste Burg
Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind mit Ernst
ers jetzt meint;
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seinsgleichen.
1. Kapitel
Die Nikolauskapelle
»Engelein, Engelein, fliiieg«, riefen Anna und Friedrich Gontard wie aus einem Munde und schwangen das Kind in ihrer Mitte in die Lüfte.
Der Kleine jauchzte vor Vergnügen.
»Noch, noch«, bettelte er.
Das war sein neuestes Wort, und es bedeutete, mehr zu bekommen von etwas Köstlichem, sei es etwas Essbares, ein Spiel oder ein sonstiges Vergnügen. So viel verstand er mit seinen nun beinahe zwei Jahren.
Die Großeltern waren schon ein wenig außer Puste, aber Fredi schaute die beiden aus seinen großen blauen Augen so flehend an, dass sie es nicht übers Herz brachten, das Engelchen nicht noch einmal fliegen zu lassen.
»Das ist eher ein freches Bengelchen«, meinte Gontard.
»Und meine Mutter hätte ihn Putten-Engelchen genannt mit seinem rotblonden Lockenhaar. Schade, dass sie ihn nicht mehr erleben durfte. Sie wäre närrisch gewesen mit einem Urenkel.«
»Na ja, Anna, ich finde, wir sind schon als Oma und Opa närrisch genug mit dem Kleinen«, erwiderte Gontard. »So, und nun ist Schluss, Fredi. Oma und Opa sind müde und müssen sich ausruhen.«
Ohne Quengelei ging Fredi mit festen kleinen Schritten auf eine Bank zu und versuchte, hochzukrabbeln.
Mit dem Reden haperte es bei ihm noch, doch er machte dies durch erstaunliche Geschicklichkeit und einen großen Bewegungsdrang wett.
Anna schob den dunkelblauen Sportwagen des Kindes zur Bank hin und nahm aus der großen Tasche, die reichlich Proviant für einen ausgedehnten Spaziergang enthielt, eine Flasche mit Tee für den Kleinen und für sich selbst und ihren Mann eine Thermosflasche mit Kaffee und zwei Becher.
Die Großeltern genossen die kurze Verschnaufpause, um sich die wunderschöne Landschaft anzusehen. Sie waren vom Dorf Klingenmünster hier hoch gekommen und hatten von der Südseite her die kleine Kapelle passiert, die sich nahe dem Pfalzklinikum und unterhalb der Burg Landeck malerisch den Spaziergängern darbot. Die Kapelle war nun, im Spätsommer 2002, mit einem Gerüst umgeben. Arbeiter waren offensichtlich dabei, das Dach zu reparieren.
»Endlich wird mal etwas getan«, sagte Gontard. »Die schöne Nikolauskapelle hat es nicht verdient, so lange verwahrlost dahinzuvegetieren.«
»Du redest von der Kapelle wie von einem lebendigen Wesen. Typisch Friedrich«, mokierte sich Anna Gontard über ihren sensiblen und kunstsinnigen Ehemann.
»Mach dich nur lustig über mich«, lachte Gontard, der die Lästerreden seiner Frau mit Humor zu nehmen wusste. »Da haben sie schon 1964, glaube ich, den Magdalenenhof abgerissen, und die Kapelle daneben ist seit den siebziger Jahren in Vergessenheit geraten.«
Fredi begann, unruhig zu werden, und Anna holte eine Banane aus der Provianttasche, schälte sie und drückte sie dem Kind in die Hand. Er mampfte genüsslich.
»Mit deiner Pädagogik wird Fredi ein Dickmops«, frotzelte Gontard, doch Anna meinte nur: »So ein Unsinn, er hat erstens seit zwei Stunden nichts mehr zwischen die Zähnchen bekommen, und außerdem verarbeitet er das bei seinem Aktivismus.«
Dann fragte sie: »Magdalenenhof? Davon weiß ich nichts.«
»Das war der Hof beziehungsweise das Winzerhofgut, das direkt an die Nikolauskapelle angebaut war. Die Kapelle ist spätromanisch oder frühgotisch. Es wurde ja vermutet, dass sie als Burgkapelle der Burg Landeck gedient hat und dass später der Magdalenenhof dem Benediktinerkloster Klingenmünster unterstand. Die Kapelle wurde ab dem 18. Jahrhundert als Weinkeller benutzt, also profanisiert, und der Magdalenenhof, dem in mehreren Kriegen übel mitgespielt wurde, war so verkommen, dass man ihn dann abgerissen hat in den sechziger Jahren. Nur die beiden Türpfosten stehen noch, guck, da drüben. Es gibt noch Belege in der Kunst und der Literatur. Zum Beispiel hat Max Slevogt den Magdalenenhof gemalt, und August Becker hat ihn in Die Pfalz und die Pfälzer beschrieben.«
»Woher weißt du das alles?«
»Damals, 1957, als ich in Pfaffenbronn ermittelt habe, bin ich einmal hier gewesen. Und dann war in den späten siebziger Jahren der Sexualmord an dem geistig behinderten Mädchen passiert, den wir aufklären konnten. Damals war der Magdalenenhof schon längst abgerissen worden.«
Vom Baugerüst her hörte man Rufe der Arbeiter, und Gontard seufzte: »Hoffentlich machen sie ihre Sache gut und verhunzen es nicht, das schöne Bauwerk.«
»Oje, hier spricht der Antiquitätenfreund. Der Experte, der Bewahrer des Schönen und Guten«, begann Anna wieder zu spötteln, doch dann wurde sie ernst und schloss: »Du hast völlig Recht. Es wäre schade um das Kapellchen, wenn …«
Sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn Fredi hatte seine Banane verzehrt und wollte unterhalten werden.
Als spätberufener Opa hat man es nicht so leicht, dachte Gontard, so schön es auch ist, so ein Enkelsöhnchen zu haben. Ich wünschte, ich wäre zehn Jahre jünger. Anna hat es da leichter als relativ junge Oma mit Anfang sechzig.
Die junge Oma hielt den Kleinen auf dem Schoß und las ihm aus einem Pixie-Büchlein vor: Lisa und Lukas auf der Baustelle.
»Das ist ja ein bisschen merkwürdig«, bemerkte Gontard.
»Da drüben ist eine Baustelle zum Anfassen, und du liest Fredi aus einem Buch vor. Lass uns doch mal rübergehen.«
Anna setzte das Kind in den Sportwagen und sagte: »Wir gucken uns eine richtige Baustelle an, Fredi.«
»Lukas und Lisa?«
»Ja, wie bei Lisa und Lukas.«
»Ich war nie im Innenraum der Kapelle«, sagte Gontard. »Ich habe nur Fotos gesehen von den beiden gestohlenen Barockfiguren, einer herrlichen Madonna und einer Statue des Heiligen Nikolaus. Die Kollegen haben den Diebstahl nie aufgeklärt, schade, anders als wir von der Mordkommission den Sexualmord.«
Anna war versucht, das große Bedauern in der Stimme ihres Mannes über den unaufgeklärten Kunstdiebstahl zu bespötteln, doch sie verkniff sich den Kommentar.
Ein Handwerker im grauen Arbeitskittel und dunkelblauer Schirmmütze kam auf das Ehepaar zu, das abwechselnd den Kinderwagen schob. Im unverkennbaren heimischen Südpfälzer Dialekt fragte er, ob er helfen könne.
»Dürfen wir mal einen Blick in den Innenraum der Kapelle werfen?«, fragte Gontard.
»Klar doch, warum net?«, war die Antwort des freundlichen Mannes, der die Kappe abnahm. Er stellte sich als Dachdeckermeister Kehrt vor. Der Chef des Betriebs. Wo denn die Herrschaften herkämen? Sie seien doch nicht von hier?
»Nein«, erklärte Anna Gontard, »wir sind keine Einheimischen, aber unsere Tochter und der Schwiegersohn sind vor einem halben Jahr in den Nachbarort, nach Niederzell, gezogen, und wir hüten ab und zu das Enkelkind. Das ist natürlich prima, dass wir dadurch nun öfter in die schöne Südpfalz kommen. Wir wohnen im vorderen Odenwald. Bei Weinheim.«
Ja, dachte Gontard, es war eine wundervolle Fügung des Schicksals, dass Lilli nun in Landau als Lehrerin arbeitete und Fabrice in Wissembourg eine Anwaltspraxis hatte.
Am Max-Slevogt-Gymnasium unterrichtete Lilli Kunst und Französisch und fühlte sich wohl. Fabrice Tavernier, der französische Schwiegersohn, hatte ein lukratives Angebot in Wissembourg bekommen, und so war die kleine Familie vom lothringischen Courcelles weggezogen und hatte sich im Dorf Niederzell an der südlichen Weinstraße ein altes Haus gekauft.
Der freundliche Dachdeckermeister hob den kleinen Fredi hoch und zeigte auf eine Wandmalerei in Rot und Grün an der Nordseite der Chorwand.
»Do, guck emol, Klääner«, sagte er in seinem gemütlichen Dialekt.
»Das ist wohl der heilige Nikolaus«, vermutete Gontard.
Das Fresko war reichlich verblasst.
»Und daneben die kleine kniende Männergestalt und der Schriftzug Anselm: der Schutzpatron der Kapelle und die Stifterfigur.«
Erstaunt fragte Herr Kehrt, ob Gontard Kunsthistoriker sei.
Anna war schneller mit der Antwort als ihr Mann: »Mein Mann ist Hobby-Antiquitätenexperte, aber eigentlich war er der Chef der Ludwigshafener Kripo.«
»Opa Kripo«, krähte ganz stolz von oben herab der kleine Fredi.
Wieder ein neues Wort, das er gelernt hatte. So erstaunt, ja fast erschrocken war der Dachdeckermeister, dass er Fredi abrupt und fast ein wenig unsanft auf den großen kalten Steinplatten der Kapelle absetzte. Dann fragte er zögerlich, ob der Herr Kripochef denn damals auch ermittelt habe, als in den siebziger Jahren das Mädchen …
Er stockte verlegen.
»Ja, das war ein schlimmer Fall«, antwortete Gontard. »Aber zum Glück waren wir erfolgreich. Das sind wir nicht immer.«
Ja, da gäbe es bestimmt noch den einen oder anderen ungelösten Fall, vielleicht auch hier in der Gegend, meinte Herr Kehrt, und kein Hahn krähe mehr danach.
Er wechselte das Thema. Die undichten Stellen im Dachstuhl, das war arg. Der Wasserschaden am Dach, eine große Herausforderung. Aber er und seine Leute bekämen das schon in den Griff. Und ein Glück, dass das Wetter so mitspielte. Ein Spätsommer wie im Bilderbuch. Aber die armen Leute »von drüben«. Das Hochwasser, und wo die Ostdeutschen doch erst alles so schön hergerichtet hatten.
»Ja, das Hochwasser an der Elbe ist wirklich schlimm«, stimmte Anna zu. »Ein Albtraum ist so was.«
Herr Kehrt meinte, das sei aber andererseits prima, wie die alle zusammenhielten. Und unser Herr Bundeskanzler Schröder. Na, er habe ja vom Schröder nicht viel gehalten, aber dann waren da die Bilder im Fernsehen. Der Bundeskanzler im sächsischen Grimma und in seiner grünen Wetterjacke und den Gummistiefeln. Ein ganzer Mann, der sogar selbst mit angepackt hatte. Hut ab.
Der kleine Fredi begann, unruhig zu werden. Die Gespräche der Großen langweilten ihn.
»Mama und Papa und Bemmi.« Bemmi, das war Belami, der braune Spanielmischling von Oma und Opa. Er war in Niederzell geblieben, denn er war etwas in die Jahre gekommen und war für den längeren Spaziergang, den die Gontards geplant hatten, zu schwach, zumal es ja nun bergauf gehen sollte.
»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben für das Gespräch, Herr Kehrt«, sagte Gontard. »Vielleicht trifft man sich mal wieder.«
Daraufhin kratzte sich der Dachdeckermeister am Kopf, setzte sich grinsend die dunkelblaue Mütze auf den Kopf und ging wortlos in Richtung Gerüst. Er drehte sich noch mal um und schnippte zum Gruß an seiner Kappe.
Als das Ehepaar Gontard sich mit dem Enkel schon in einiger Entfernung von der Kapelle befand, rief von ganz oben eine Stimme etwas zu der Gruppe hinunter.
»Was hat er da denn gerufen, der liebe Herr Kehrt?«, wollte Gontard, dessen Gehör nicht mehr das allerbeste war, wissen.
»Er hofft, dass wir da oben an der Burg im Wald keine Leiche finden.«
Fredi hatte das Wort »Burg« aufgeschnappt. Anna hatte ihm erst gestern eine Ritterburg im Bilderbuch gezeigt. Nun wies sie nach oben, wo die Stauferburg Landeck aus den Bäumen herausragte.
»Burg, ja, ja. Burg«, rief das Kind. Ein neues Wort.
Anna und Friedrich Gontard nahmen den Kleinen in ihre Mitte und schwangen ihn hoch in die milde angenehm frühherbstliche Luft.
»Engelein, Engelein, fliiieg.«
Fredi quietschte vor Vergnügen.
»Noch, noch. Oma. Opa. Noooch.«
Ein schöner Tag, dachte Gontard.
So sollte es immer sein, dachte Anna Gontard. Wunderbar, solch ein kleines Putten-Engelchen zu haben. Und früher habe ich mich insgeheim über unsere närrischen Bekannten mokiert, die mit begeisterten Berichten über ihre Enkel und mit deren Fotos genervt haben. Alles Wunderkinder. Aber ich kann es nicht leugnen: Omasein ist ein schönes Hobby.
Und sie setzte Fredi in den blauen Sportwagen und schob ihn energisch bergan.
2. Kapitel
Der Mann mit der Baskenmütze
Der Weg zur Burg Landeck hoch erwies sich als steiler und länger und anstrengender als erwartet. Während Anna kraftvoll den Wagen mit dem Enkelsohn schob, war ihr Mann hinter ihr doch ziemlich am Schnaufen. Der beträchtliche Altersunterschied machte sich bemerkbar.
Sie mussten mehr als einmal pausieren, was Fredi zugutekam, der dann kurz aussteigen durfte und Steinchen, Stöckchen, Schneckenhäuser und andere Schätze am Wegrand entdeckte.
Etwas oberhalb des Wegs stand eine Bank, aber sie war schon besetzt. Ein alter Mann, schwarz gekleidet und mit einer Baskenmütze auf dem Kopf, saß da und war in ein Buch vertieft. Er schaute nicht hoch und reagierte nicht auf das laute Grüßen des Ehepaars Gontard.
»Der sieht aus wie ein ehemaliger Lehrer oder Pfarrer oder wie ein Künstler«, flüsterte Anna zu ihrem Mann hin.
»Wieso das? Du hast aber manchmal Ideen.«
»Na ja, dieses dunkle Outfit und die Baskenmütze, das tragen pensionierte Pfarrer und Lehrer oft, zumindest die ganz alten, und dann das Buch …«
»Jetzt sagst du gleich, es ist eine Bibel, oder?«
»Dafür ist das Buch zu klein, würde ich sagen«, antwortete Anna, indem sie den Spott in der Stimme ihres Mannes ignorierte.
»Vielleicht ist er ja ein ehemaliger Bäcker oder ein Handelsvertreter oder Weinhändler?«
»Mach dich nur lustig über deine Frau, aber ehrlich. Der Mann erinnert mich an jemanden aus der Vergangenheit.«
»Nanu, normalerweise bin doch ich derjenige, der immer Ähnlichkeiten zwischen irgendwelchen Leuten feststellt. Und wer mokiert sich darüber, seit wir verheiratet sind?«
»Du hast Recht. Wahrscheinlich ist alles nur Einbildung. Außerdem: Ich weiß nicht einmal, an wen der Mann mich erinnert. So, und nun zur Landeck. Es ist schon spät geworden mit unserem Plausch in der Nikolauskapelle.«
So klein Fredi noch war, so sehr begeisterte ihn die Burg.
»Und in einem Jahr wird er noch mehr davon haben«, sagte Anna. »Wenn er die Ritter und die Burgfräulein in seinen Bilderbüchern entdeckt und sich nicht mehr vor Drachen fürchtet.«
Lilli hatte für Fredi eine Gutenachtlampe mit einem Drachenmotiv gekauft, und die Lampe hatte Schatten an die Wände des Kinderzimmers geworfen. Fredi war davon alles andere als begeistert gewesen, und Lilli hatte die Lampe umgehend zurückgebracht. Doch hier gab es keine fürchterlichen Drachen, sondern ein Eis für den Kleinen und für die Großeltern Kaffee und Kuchen im Burgrestaurant.
Bergab machten sich die Kniebeschwerden bei Gontard bemerkbar. Jedes Jahr mehr, das man auf dem Buckel hat, merkt man, dachte er, doch er verkniff sich einen Kommentar. Der da oben sitzt ja immer noch auf seiner Bank. Der ist noch ein paar Jahre älter als ich, würde ich vermuten. Ob ich mal hochgehen und ihn ansprechen soll?
Anna drängte zum Weitergehen, zumal das »Putten-Engelchen« begann, sich eher wie ein Teufelchen zu benehmen.
»Mama. Papa. Bemmi«, rief er und fing an, vor sich hin zu weinen.
Unten vom Dorf her ertönte das Abendläuten. Sechs Uhr.
»Komm, Friedrich, Lilli wartet bestimmt schon mit dem Abendessen.«
Beim Abstieg, so rasch er nun auch absolviert wurde, gab es dennoch immer wieder Gelegenheit, kleine Ausblicke auf die wunderschöne Gegend rund um Klingenmünster zu erhaschen.
Die Dächer des Dorfs erstrahlten in der spätsommerlichen Sonne, man erkannte das Kloster und die Kapelle und in der Ferne die in Weinberge eingebetteten Nachbardörfer. Die Blätter der Rebstöcke begannen sich schon zu verfärben. Es leuchtete in Gold und Purpurrot. Herbst lag in der Luft.
Ein Sonnenstrahl fiel auf das gelockte Haar des Kindes im Sportwagen. Wie Lilli, dachte Anna. Blond mit einem leichten Stich ins Rötliche.
Am Parkplatz angekommen, warf Gontard unwillkürlich einen Blick zurück auf den bewaldeten Berg mit der Burgruine und blieb an der Stelle hängen, wo er den alten Mann auf der Bank vermutete. Er öffnete die Wagentür, und während Anna den Kleinen hinten auf dem Kindersitz verstaute, griff er ungewohnt nervös ins Handschuhfach, wo er seine Zigarillos aufbewahrte. Aber nein, er hatte es Lilli und Fabrice versprochen, nicht zu rauchen, solange das Kind in der Nähe war. Er rauchte nur noch, wenn er alleine war, zum Beispiel beim Autofahren oder beim Lesen, oder in Gegenwart von Anna, die, selbst Nichtraucherin, sich gerne über die heutigen fundamentalistischen »Non-Smoker«-Fundamentalisten amüsierte.
Ein letzter prüfender Blick hoch zum Wald, und Gontard startete das Auto. Als sie am Klingbach entlang die Ortsmitte von Klingenmünster durchfuhren, kamen sie am Denkmal des pfälzischen Schriftstellers August Becker vorbei, dessen in hellem Stein gemeißelte Büste mit dem bärtigen Gesicht oben auf einem Brunnen thronte.
Der Renaissance-Erker und die blumengeschmückte Wand des feudalen Weinguts boten mit dem Denkmal zusammen einen malerischen Anblick.
»Da, guck mal, Anna, der August Becker, der den Magdalenenhof und die Nikolauskapelle beschrieben hat. Die Pfälzer haben ihren Dichter, der wie kein anderer diese schöne Gegend hier besungen hat, gar nicht wahrgenommen zu Lebzeiten.«
»Ja, ich weiß«, sagte Anna. »Ein tragisches Künstlerschicksal. Der Prophet gilt halt nichts im Vaterland. Es ist schon was dran an dem alten Spruch.«
»Bei der Beerdigung von August Becker soll ein Freund des Dichters gesagt haben, dass er an gebrochenem Herzen gestorben sei.«
»Ein bisschen pathetisch, oder?«, meinte Anna, die das Leben von einer weniger emotionalen Seite sah als ihr sensibler Mann.
»Meine Haare werden grau«, sagte sie unvermittelt mit einem Blick in den kleinen Spiegel der Sonnenblende. Sie hatte mal wieder den Übergang ins Heute geschafft mit ihrer Bemerkung.
»Ach, das ist doch egal«, erwiderte Gontard und schaute seine Frau von der Seite her liebevoll an: »Das wäre ja auch ungerecht, wenn nur ich alt würde.«
»Mama, Papa, Bemmi«, rief es ungeduldig vom Kindersitz her.
Gontard bog am August-Becker-Denkmal links in die Bahnhofstraße ein und fuhr am ehemaligen Kloster mit der katholischen Kirche St. Michael und am Stift Keysermühle hoch und an der Napoleonsbank vorbei Richtung Heuchelheim. Seine Gedanken waren noch bei dem alten Herrn auf der Bank nahe der Burg und beim Dichter August Becker.
»Wenigstens ehren sie ihren Dichter heutzutage. Nach über hundert Jahren nach seinem Tod.«
»Ja, ein Museum und ein Denkmal sollen es dann richten«, bemerkte Anna trocken. »Aber besser spät als nie.«
Das Dorf Niederzell war in Sicht. In der Mühlgasse am Klingbach angekommen, klatschte Fredi laut in die Hände und war nicht mehr zu bändigen.
»Bemmi«, rief er, und »Mama und Susel.«
Hund Belami und Lilli standen schon erwartungsvoll am steinernen Hoftor der historischen ehemaligen Mühle. Oben auf dem Torpfosten, der mit einem großen steinernen Pinienzapfen gekrönt war, turnte die rot-weiß-schwarze Katze Susel, eine sogenannte Glückskatze, herum. Sie scherte sich nicht um die Neuankömmlinge. Sie hatte im dichten Gebüsch am Klingbach eine fette Maus entdeckt und stürzte sich vom Torpfosten aus jäh auf ihre Beute.
Fredi bekam zum Glück die blutrünstige Szene nicht mit, abgelenkt von »Bemmi«, der ihn nach Hundeart überschwänglich begrüßte und vor lauter Begeisterung seine Hundearthrose vergaß.
»Fabrice hat noch in Wissembourg zu tun. Wir sollen schon mal anfangen mit dem Essen und nicht extra auf ihn warten«, sagte Lilli und schloss den kleinen Sohn in die Arme.
»Wir essen draußen, solange es noch geht. Die letzten schönen lauen Abende muss man ausnutzen. Ich hab schon gedeckt. Es gibt Flammkuchen und Rucolasalat.«
»Colasalat«, krähte Fredi. Er hatte schon wieder ein neues Wort gelernt.
Nach dem Abendessen, das Gontard sehr unkonzentriert zu sich nahm, und nachdem der kleine Fredi endlich ins Bett gebracht und eingeschlafen war, sagte Anna: »Wie Lilli damals. Die hat auch immer einen solchen Zirkus veranstaltet, wenn sie schlafen sollte.«
Sie schaute in Erinnerungen versunken vor sich hin, plötzlich rief sie: »Apropos Vergleiche. Nun ist es mir eingefallen. Der alte Mann auf der Bank im Wald heute Nachmittag. Der hat mich an Luther erinnert.«
»Nein, Anna. An Dr. Martinus Luther, unser aller großen Reformator? Das ist doch absurd. Da hat es doch etwas an, na ja, an Leibesfülle gefehlt, und so alt wie der Mann auf der Bank ist Luther doch nicht geworden.«
»Nein, nicht an den Reformator, sondern an unseren Religionslehrer damals in der Nordpfalz. Der hat einen ausgesprochenen Lutherfimmel gehabt und hat uns mit Daten aus Luthers Leben getriezt. Wir erfuhren alles aus seinem Leben und konnten alle Jahreszahlen vorwärts, rückwärts und seitwärts herbeten. Die Lebensdaten 1483 bis 1546. 1517: die 95 Thesen, die er an der Schlosskirche zu Wittenberg anschlug. Der Reichstag zu Worms 1521, seine Heirat mit Katharina von Bora 1525 …«
»Stopp«, rief Gontard. »Das reicht. Beeindruckend, muss ich schon sagen.«
»Ach, das ist nur ein Bruchteil dessen, was man uns eingetrichtert hat«, sagte Anna. »Dass ich Luther immer noch schätze, ist ein Wunder.«
»Wie hieß dein alter Religionslehrer denn?«
»Gottlieb Schellhorn. Aber er ist mir doch eher als ›Luther‹ in Erinnerung, sein Spitzname war das. Er trug damals schon eine Baskenmütze wie ein älterer Herr, dabei musste er erst um die vierzig gewesen sein. Die Baskenmütze hat mich vielleicht an den Schellhorn erinnert. Aber es sind ja wahrscheinlich nur Hirngespinste.«
»Anna, bist du mir böse, wenn ich jetzt noch mal wegfahre? Zur Landeck hoch? Es lässt mir keine Ruhe.«
Es war eine rhetorische Frage, denn Gontard war schon verschwunden. Anna stand kopfschüttelnd auf und räumte den Tisch ab. Kurz darauf hörte sie, wie ein Auto davonbrauste.
Oben vom Kinderzimmer her erklang Lillis Stimme. Fredi war entweder doch noch nicht eingeschlafen oder schon wieder aufgewacht.
»Schlaf, Kindlein, schlaf«, sang Lilli. Ihre Stimme klang etwas genervt. Dazwischen fröhliches Kinderlachen. Fredi hatte es sich wieder anders überlegt mit dem Einschlafen.
Fast ein wenig schadenfroh grinste Anna vor sich hin und dachte, dass sich doch alles im Leben früher oder später rächt.
Und welches Unheil Friedrich wohl wieder gewittert hatte? Einmal Kripochef, immer Kripochef. Hinter jeder Ecke vermuten diese alten Spürnasen ein Verbrechen.
»Die Mutter schüttelt’s Bäumelein,
fällt herab ein Träumelein,
schlaf, Kindlein, schlaf.«
Nun scheint er aber endlich eingeschlafen zu sein, dachte Anna. Eine müde Lilli kam langsam die Holztreppe heruntergeschlurft und ließ sich neben ihrer Mutter aufs Sofa plumpsen.
»War ich auch mal so anstrengend als Kind früher, Mama?«
»Mindestens, wenn nicht noch anstrengender«, war die lakonische Antwort.
»Ich hab immer mehr Hochachtung vor dir, Mama. Aber wo ist Papa eigentlich?«
»Nur mal eben auf der Pirsch. Nach einem alten Herrn gucken, der oben an der Burg auf einer Bank saß, als wir vorbeigingen. Und auf dem Rückweg immer noch dort saß wie festgewurzelt.«
Lilli wollte eine Frage stellen, aber die Tür ging auf und Fabrice trat ein.
Er begrüßte zuerst seine Schwiegermutter und gab der chère maman einen Kuss. Dann ging er auf Lilli zu und nahm sie in die Arme.
»Wie war dein Tag, chérie?«, fragte er, doch ein Blick auf seine ermüdete Frau, und er fügte hinzu: »Pauvre Lilli, Frédéric était énervant?«
»Ja, Fabrice«, antwortete Anna an Lillis Stelle, »er war ziemlich anstrengend. Aber das war früher nicht anders, als Lilli klein war.«
Alle lachten, und dann fragte Fabrice nach dem cher papie, dem lieben Opa.
»Der ist auf Verbrecherjagd oben auf der Burg Landeck«, erklärte Anna.
»Quelle blague«, lachte Fabrice.
»Nein, es ist kein Scherz, fürchte ich, er wittert mal wieder Unheil und ist noch mal weggefahren, um nach einem alten Herrn zu sehen, der heute Nachmittag allein im Wald unterwegs war.«
Fabrice wollte noch etwas fragen, aber von oben hörte man ein fröhliches Rufen: »Papa, papa, Fredi fait dodo.«
Das zweisprachig erzogene Kind war wieder aufgewacht.
»Oh, wenn er nur endlich Heia machen würde«, sagte Lilli. »Aber er hat nach dir verlangt, ganz deutlich. Pack mal dein Repertoire an französischen Wiegenliedern aus.«
Damit schubste sie Fabrice die Treppe hinauf.
Von oben hörte man bald darauf eine dunkle wohlklingende Männerstimme singen: »Au clair de la lune …«, begleitet von munterem Kinderlachen.
Fabrice versuchte es mit einem anderen Schlaflied: »Fais dodo, Colas, mon p’tit frère.«
Bei »papa est en bas qui fait du chocolat« war Fredi endlich eingeschlafen.
Er träumte bestimmt von Schokolade.