Stefan Ferdinand Etgeton
Das Glück meines Bruders
Roman
C.H.Beck
In einem beschwingten, fein ausgehörten Ton erzählt dieser Roman, angesiedelt in Belgien und Holland, Südhessen und Bochum, die paradoxe und komisch-berührende Geschichte zweier Brüder, von denen der gesündere am Ende eher der Verlorene ist, während der beschädigte sein Glück macht.
Botho und Arno van Dijk machen einen letzten Abstecher ins belgische Doel, wo ihre Großeltern lebten und sie viele Feriensommer und Weihnachtsfeste ihrer Kindheit und Jugend verbracht haben. Sie möchten das vor dem Abriss stehende Haus noch einmal erleben und Botho hofft außerdem, seine Jugendliebe Lenie wiederzusehen. Begleitet werden sie von Arnos zukünftiger Frau Anja. Der anfangs fröhliche Ausflug ruft bei den Brüdern alte Verletzungen wach und es wird so viel Verdrängtes aufgewirbelt, dass das Leben der Brüder und ihre Beziehung zueinander ins Wanken geraten.
Melancholisch und unterhaltsam, furios und liebevoll, der schmissige neue Roman von Stefan Etgeton.
Stefan Ferdinand Etgeton lebt in Berlin. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Köln, Warschau, Utrecht und Berlin. Er erhielt der Hauptpreis bei der «Wuppertaler Literatur Biennale» 2016, beim MDR-Literaturwettbewerb 2014 gewann er den Jury- und den Publikumspreis, 2013 den Evangelischen Literaturpreis. Er arbeitet in Berlin an seiner Dissertation zu Themen der Sozialpolitik und Arbeitsökonomik. 2015 erschien sein erster Roman «rucksackkometen» bei C.H.Beck.
Toastbrot und Käse
Drachen
Lenie
Tag am Meer
Mit der Säge im Wald
Spaghettieis
Kirschbaum
Futterknödel
Hamsterdam
Schnellzug
Arno
Schlagbohren
Kaffee
Abfahrt
Anja
Hausmeister
Zwischen Pfützen
Noch zwölf Tage
29.10.1979
Brüssel
Verschwinden
Hotel
Aufwachen
Ehe
Abflug
Scheitern
Alles beginnt im Grunde mit einem Haus, also der wichtige Teil der Story beginnt mit dem Haus, und es stand schon länger leer, und wir hatten auch gar nicht vorgehabt, da noch mal hinzufahren, weil es auch genauso gut hätte sofort abgerissen werden können, weil neun von zehn Häusern leer standen damals in der Straße und in ganz Doel. Eigentlich war das Leben fast gänzlich gewichen aus diesem Ort, und ob es ihn heute überhaupt noch gibt, das sage ich noch, doch es war ein feines Häuschen mit einem kleinen Garten dahinter und sogar noch einem Schuppen für Geräte und Hühner und einem Plumpsklo, das aber niemand mehr zu benutzen brauchte, und Hühner gab es auch keine mehr. Doch Warmwasser gab es, und direkt am Deich gelegen war all das, aber mit dem Dorf ging es bergab, denn Doel ist zwar der Geburtsort meiner Großeltern, und in der Liefkenshoekstraat stand deren Haus, in dem sie bis zum Ende gewohnt hatten, in dem mein Vater geboren wurde, in dem mein Bruder Arno gezeugt wurde und in dem überhaupt sehr viel passierte, was sich später mal als richtungsweisend für meine Familie herausstellen würde, aber dann starb Opa, dann starb Oma zwei Monate später, und seitdem vermoderte alles, und wenn man aus dem Küchenfenster sah, konnte man auf das mächtige AKW blicken, das dort am Fluss stand und manchmal einen Schatten warf über Doel, und selbst bei Nebel konnte man zumindest noch die roten Hindernisfeuer sehen, die oben am Rand der Kühltürme angebracht waren, und, godverdomme, das AKW war ein Pannenkraftwerk, und über die Jahre verabschiedeten sich fast alle Menschen aus Doel, aber nicht, weil sie keine Lust mehr auf Plutoniumpannen hatten, und das hätte ich sogar verstehen können, und ob sie den Meiler irgendwann endgültig heruntergefahren haben, weiß ich gar nicht, aber das ändert auch nichts mehr, sondern es ging um den Hafen, der erweitert werden sollte: der Hafen von Antwerpen sollte ein fünftes Containerdock bekommen und dafür musste Doel weg und es liefen Zwangsenteignungsprozesse oder der Hafenbetreiber kaufte die Häuser auf und Tristesse machte sich breit und sogar die Polizei schloss ihre Wache und überließ das Dorf sich selbst, und Opa hatte mal gesagt, dass es ein Gefühl des Nichtgewolltseins, der drohenden Beraubung und der Ungewissheit sei, aber er starb dann ja einfach, und wer von den anderen Bewohnern was Schönes woanders fand, zog schweren Herzens weg und vermied die stete Demütigung und wohnte dann lieber ein paar Kilometer weiter in Kieldrecht oder in einem der anderen Dörfer ringsherum oder in Antwerpen und ergab sich. Aber mein Bruder und ich, wir wollten noch mal hin nach Doel und ein letztes Mal schauen, und zu jener Zeit, 2010, waren meine Großeltern schon rund zwei Jahre tot, aber es gab noch immer das Haus, und vielleicht gab es ja etwas Spannendes dort, oder irgendetwas passierte oder nichts passierte, oder wie auch immer, so dachten wir und wollten hin, auch weil es Sommer war und wir keine Pläne hatten, und ich mag Belgien sehr, obwohl meine Eltern schon seit 1978 in Südhessen wohnten und arbeiteten. Erst jobbten sie beide im Baumarkt und dann eröffneten sie irgendwann ihre kleine Zoohandlung, für die sie krass blühen, und ich bin auch in Südhessen geboren und meinen Bruder Arno hatten sie mitgebracht, und ebenda wuchs ich auch auf, in Zwingenberg, um genau zu sein, aber nur, um ein paar Jahre später für den Zivildienst nach Bochum zu ziehen und dort zu bleiben und mein Abitur nachzuholen, und habe dann sogar studiert und bin Lehrer geworden und im Sommer 2010 hatte ich meine zweiten echten Schulferien aus Lehrersicht und war sogar Klassenlehrer gewesen, saß dann aber mit meinem arbeitslosen Bruder Spezi trinkend auf der Terrasse meiner Eltern, weil wir versprochen hatten, einmal im Jahr zu Besuch zu kommen, und das machten wir lieber im Sommer als zu Weihnachten, aber Südhessen ist lahm, Zwingenberg ist lahm und von allen Städten Südhessens vielleicht die lahmste, und Arno war eine ganze Nacht oben auf dem Speicher und fand dort dann Bilder, die unser Großelternhaus in Doel zeigten und uns als Kinder mit witzigen Klamotten.
Auf den Fotos war ein schönes Haus zu sehen, backsteinrot mit backsteingelben Verzierungen und zweistöckig mit winzigem Dach und vorne an der Küche ein Standerker und alles eingeklemmt zwischen weiteren Häusern und der ganze Straßenzug verblichen von der rauen Nordseeluft. Und dann war plötzlich alles wieder präsent und vertraut in meinem Kopf, und es war schnell beschlossene Sache, und wir luden am nächsten Morgen den nötigsten Kram und ein bisschen Werkzeug in den alten Drecksvolvo und riefen Anja an, die auch gerade bei ihren Eltern war, und fragten Anja, ob sie mitkomme, und holten sie gegen Mittag ab und fuhren zunächst nach Frankfurt, weil Vater wollte, dass wir bei einem Polstermöbelrestaurateur namens Arnold noch einen Gecko ablieferten, aber dann fuhren wir geradewegs nach Doel und rasten so auf der Autobahn und der fantastisch goldenen Abendsonne entgegen und quälten die Zylinder richtig und rechtslinks nur vorbeihuschende Bäume und Schlieren von Leitplanken und Froschzäunen, im Kassettendeck lief irgendeine Punkmusik rauf und runter und wir sangen mit und Arno trommelte auf dem Armaturenbrett.
Anja fragte mehrmals, ob es dort gefährlich sei, denn das mit dem AKW besorgte sie plötzlich sehr, und wir hatten ihr tatsächlich auch erst kurz vor der Grenze und ganz beiläufig erzählt, dass es in Doel ein AKW gab, aber Arno und mich kümmerte das kaum, weil wir als Kinder jedes Weihnachten in Doel verbracht hatten und auch jeden Sommer und häufig sogar noch die Osterferien und was sollten da schon ein paar Tage ändern und so schlimm würde es wohl nicht sein. Ich hatte keine Angst vor Kernspaltungen.
Anja war Arnos Perle und auch Lehrerin, an einer Schule in Kassel, wo sie und Arno gemeinsam wohnten, und dort waren ebenfalls Sommerferien. Ich war übrigens für Mathe und Kunst angestellt an einer Gesamtschule in Bochum. Die beiden kannten sich zwar noch von früher, waren aber erst seit Kurzem ein Liebespaar, und ich sag das alles nur schon mal, weil es später noch äußerst wichtig werden wird, und die beiden hatten sich kurz zuvor verlobt, und Anja ließ sich wegen des AKWs letztlich auch beruhigen, und die Punkkassette lief rauf und runter, und wir schenkten uns gegenseitig Kaffee aus der Thermoskanne ein und wurden angesaugt von der Sonne und unsere Haare wurden vom Fahrtwind aufgewirbelt, und erst gegen Abend kurbelten wir die Fenster wieder hoch, weil die Hitze endlich nachließ und unsere schweißnassen Rücken langsam trockneten, aber da waren wir auch schon durch Lüttich durch und an Hasselt vorbei und beinahe in Doel und an der Brutstätte meiner Existenz und dicht beim Grab meiner Großeltern, und ich fragte mich, ob sie die wohl irgendwann umbetten würden, wenn erst mal das neue Containerdock kam – und was wohl mit Lenie passiert war?
Lenie, die früher immer mit uns abhing, wenn wir zu Besuch waren, wo sie wohl steckte? Daran dachte ich, als wir über Entwässerungsgräben hinweg und an Feldern vorbei unserem Ziel und der Nacht näher kamen, und haben dann an einer Tanke und in der Dämmerung noch einen Kasten Malzbier und Toastbrot und Käse gekauft und sind dann auf den Antwerpener Ring abgebogen, um gar nicht durch die Stadt zu kurven, denn um nach Doel zu kommen, fährt man am besten auf den Ring und Richtung Scheldemündung, und dann sind wir von der Autobahn runter und Richtung Nordwesten und durchs Hafengelände und schließlich in den Engelsesteenweg eingebogen und am Horizont war dann schon das kleine und verdammte Doel zu erkennen mit seinen winzigen Straßenlaternen, und ein, zwei Kilometer weiter links ragt die Kerncentrale Doel aus der Landschaft. Angekommen in Doel, tuckerten wir am Deich entlang, über das klapprige Kopfsteinpflaster der Liefkenshoekstraat und dann zur Hausnummer 4 und erkannten das Haus erst gar nicht, weil alles verlassen wirkte, und parkten an der Straße, und der Bürgersteig war schon grün bewachsen und die Hausfront mit einem großen Rattenmotiv zugesprayt. Wir hebelten das Brett vor der Eingangstür mit einem Stemmeisen weg, gingen hinein und alles roch ein wenig verbraucht, aber die Fenster waren dicht und alles wie erwartet – es roch einfach nur streng und es war dunkel, aber das lag nur an der Sicherung: Wir drehten eine neue rein und plötzlich strahlten die meisten Birnen wieder hell und wir konnten unsere Taschenlampen einstecken, und dann war’s seltsam und ruhig und ich hab Arno umarmt und ganz fest gedrückt.
Wir haben die Küche notdürftig entstaubt und die Bretter vor den Frontfenstern entfernt und gelüftet und die Sommernacht hereingeholt, saßen am Tisch und machten die erste Flasche auf und Anja fragte: «Wart ihr gern hier?» und ich sagte: «Was denkst du denn? Ja! Klar waren wir gern hier, war immer toll, Oma und Opa waren hier und die besten Leute, das war die stärkste Zeit: abhängen, umherwirbeln, Sonne und Süßigkeiten oder Schnee und Orangen, es war immer was los, oooh, Anja, was waren wir für naive Geschöpfe auf umfassender Erkundungstour und im Abenteuermodus, und Wilde waren wir und haben unsere Räder geritten hier durch die Straßen oder manchmal waren wir mit Opa und Lenie in Antwerpen, um frietjes zu essen und durch die Fußgängerzone zu tollen und Kaugummis am Automaten zu ziehen. Das war gut, jawohl, das war eine große Bestäubung!», und ich sah meinen Bruder an, der ganz verloren aus dem Fenster schaute, und da stotterte ich faserig und ungenau weiter und sagte doch selig und glücklich: «Jene Sommer und auch die Winter und Osterfeste waren das Beste, weil es Unikate waren und wir rollten und schrien oder saßen, und schauten Oma beim Kartoffelschälen zu und überhaupt dieses Gefühl, hier zu sein im kleinsten Dorf und direkt daneben ein großer Fluss, und Tanker und Kähne kamen da vorbei mit Hunderttausenden von Containern oder Öl – das können wir dir morgen mal zeigen, da staunst du, Anja, man muss nur den Deich hochgehen und dann sieht man’s!» – Ich sah auf Anja und sie lächelte und nickte und lauschte weiter gespannt: «Wir standen also früher am Ufer und haben gewunken und gezittert, wenn einer dieser Giganten sein kolossales Horn geblasen hat, und unsere Körper vibrierten vom Schall, und dazu noch der turbulente Wind, der uns manchmal wegwehen wollte, das sind intensive Erinnerungen, und rund um Weihnachten gab es diese Abende nah am Kachelofen, und an Heiligabend kriegten wir Geschenke, und jeder war immer satt und wurde abends eingewickelt in sattes Tannengrün, und dann konnten wir aber nicht schlafen, weil wir wachgehalten wurden von dieser Feiertagsaufgedrehtheit. Das stimmt doch, Arno, oder? Wir waren doch glücklich hier, oder?» Arno nickte und fügte hinzu: «Glücklich, irgendwie waren wir glücklich hier, klar, aber vielleicht ist das auch die falsche Kategorie und letztlich kann ich all die Gefühle nicht mehr haargenau auseinanderklamüsern, oder das wäre müßig, wo ich doch die allgemeine Richtung, das Gierige und Wilde und furchtbar Krasse, niemals vergessen werde, das mich immer prägen wird, und da war auch Glück dabei, sicherlich, aber die Details sind nach hundertfachem Zurückerinnern aufgegangen in einem großen milchigen Seelenrefugium oder sind nun ein allgemeingültiger Anker, der mich, in Gott vertrauend und an das Leben glaubend, hier in dieser Welt festhält. Irgendwas ist hier passiert, und selbst wenn dieser Ort mal verschwindet, bin ich immer noch da. Das habe ich daraus mitgenommen, und als ich später dann mal richtig runter war, war es wichtig, an Doel zu denken, weil diese Jugend hier mir sehr wohl bewiesen hat, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben, ihr wisst, was ich meine, und danke noch mal, Botho, ich weiß, was du für mich getan hast und noch tust, und es hat auch gedauert, aber ich komme immer wieder, mich besiegen sie nicht mehr, und hier und heute geht es ja um die Zukunft, die wundervolle Zukunft, oder einfach nur darum, etwas zu essen: es geht im Grunde doch nur um eine Scheibe Toast, das würde reichen, das wäre die größte Köstlichkeit.»
Anja lächelte und sprang auf und ihr Lächeln war wirklich schön, obwohl sie manchmal überfordert wirkte, und ich dachte auch noch darüber nach, was Arno gesagt hatte, weil ich das so noch nie gehört hatte, und war leicht verwirrt, und Anja meinte, dass wir sitzen bleiben sollten, obwohl sowieso niemand aufstand, und kramte nach Tellern und ließ erst mal lange das Wasser laufen, weil es anfangs bräunlich schimmerte, und ich drehte mich zur Wand und obwohl ich auch lächeln wollte, weil es in mir leuchtete, liefen nur ein, zwei Tränen, aber das war mir egal, ich strich über die schmockige Tapete und betrachtete meine schwarzen Fingerkuppen, und dann hatte Anja das Messer und Teller abgewaschen und Ketchup-Käse-Toasts gemacht und auf den Tisch gestellt und gefragt, wer Lenie ist, und sich dann noch ein Malzbier aufgehebelt und umhergeblickt und sagte: «Auf euch!», ging um den Tisch herum und küsste Arno, und ich war entzückt, weil Anja genau das war, was Arno brauchte, und ein guter Mensch, aber um ihre Frage zu beantworten, erzählte ich von Lenie, die aus dem Dorf war und in unserem Alter und immer dabei war, wenn wir glimmend über die Felder zogen und uns den Pelz verbrannten oder nach den Sternen griffen und polternd und alles erforschend durch Doel zogen, und war später das allererste Mädchen, das ich in meinem Leben küsste, und schnell waren die Sommerferien vorbei und darauf folgte dann die längste Unendlichkeit, die es gab, bis ich sie im Winter wiedertreffen konnte und schneeumhüllt vor ihrer Tür stand, und angestrahlt vom gelben Laternenlicht zitterte ich und klingelte, ein Geschenk unter dem Arm, an Heiligabend bei Lenie an der Haustür, und Gunther, ihr Vater, holte mich rein und wollte mir einen Schnaps geben, aber ich wollte keinen Schnaps, weil ich nur Lenie sehen wollte und ihren Zopf und das beste Lächeln und die größten Zähne. Den Folgesommer das Gleiche noch mal oder vielleicht noch intensiver und wir kamen uns wirklich näher und alle meinten, dass wir bestimmt mal heiraten würden, aber dann wurde es immer seltsamer, und in meiner Seele breitete sich etwas Graues aus, und passend dazu sagten auch alle Leute nicht mehr, dass wir heiraten sollten, und Gunther trank mehr denn je und genau bekomme ich das auch nicht mehr zusammen, aber es ging um den Hafen, und alle hatten Streit im Dorf, und mein Opa und Gunther hassten sich plötzlich, und weil ich schon immer ein zartes Gemüt gewesen war, quälte mich das, und sowieso hat Liebe mit fünfzehn oder sechszehn oder siebzehn immer bloß eine Halbwertszeit und dann war es plötzlich auch schon vorbei, und ich hatte sie fast vergessen und noch mal zwei Jahre später kam ich schon überhaupt nicht mehr nach Doel, weil ich nämlich tausend andere Dinge im Kopf hatte, aber die Dinge hatten nichts zu tun mit Belgien, mit Lenie, meinen Großeltern oder Doel, sondern nur mit mir und meinen Freunden in Zwingenberg, und ich empfand dann auch alles, was mit diesem Ort zu tun hatte, als Ballast, und das lag nicht an Lenie, sondern daran, dass meine Kindheit und Unschuld aufgebraucht waren und ich nichts mehr von diesem Ort brauchte, auch wenn der Ort niemals nur ein Ort gewesen war, und weil Opa immer grausamer wurde – nicht gegen mich, aber gegen das Leben im Allgemeinen – gab es nichts mehr, das mich dorthin zog, und vielleicht lag Opas Unleidlichkeit auch an seinem Alter, aber irgendwann war die Stimmung wirklich gekippt, weil man ihn nicht mehr ertragen konnte. Er war ein verbitterter alter Mann geworden. Und der Enthusiasmus, der mich lange nach Doel getrieben hatte, war fort, und plötzlich war selbst Lenie nur noch irgendeine Person. Das hier ist zwar meine Jugendheimat und meine Sommerheimat gewesen, aber als mir sogar meine Elternheimat in Zwingenberg irgendwann zu viel wurde, brach alles zusammen, und ich wollte gar keine Heimat mehr und nicht mal mehr eine Lenieheimat und brauchte auch keinen Schutz mehr, weil all das auch kein Schutz mehr sein konnte, und brauchte Doel nicht mehr und niemanden, obwohl Lenie eigentlich eine wundersame Person war! Damals wollte ich nur noch nachmittags mit Freunden rauchend neben dem Schwimmbad stehen und außerdem die Schule rumkriegen, und zur Feuerwehr ging ich immer seltener und irgendwann wollte ich nur noch weg.
Ich sah aus dem Fenster und es war nun tiefste Nacht und die Luft strömte kalt in die Küche, sodass ich mir einen Pullover anzog, und dann stützte ich mich mit den Händen auf den Tisch und ein paar Zentimeter über mir baumelte die Lampe und ich grübelte und sah zu Anja und sagte: «Lenie hat so lange den Unterschied gemacht, bis sie später gar nichts mehr machte, weil sie plötzlich für mich verschwunden war, weil ich für sie verschwunden war, aber trotzdem ist nun alles wieder lebendig, weil wir jetzt wieder zurückgekommen sind. Und in der modrigen Küche zu stehen und Malzbiere in den Händen zu halten und daran zu denken und die Vergangenheit herbeizufühlen, zeigt mir, dass es niemals ein Doel ohne Lenie gegeben hat und dass sie ein guter Mensch ist, und obwohl das zehn oder noch mehr Jahre her ist, fühlt es sich seltsam vertraut und wohlig an, und ob sie noch hier wohnt? Ich weiß es nicht.»
Wenn man bedachte, dass Lenie mir immer nur in Doel und in Doel jedes Mal begegnet war, konnte es gut sein, dass sie noch dort war, aber ich war skeptisch, weil ja fast niemand mehr geblieben war, doch es wäre aufregend und erfrischend gewesen, sie zu sehen und zu berühren und ihre Existenz nochmals zu erfahren, und am nächsten Morgen wollte ich einfach mal gucken gehen und wahrscheinlich wäre sie nicht da, weil Gunther Vermeylen, ihr Vater, der größte Hafenverfechter gewesen war und Lenie da mit reingezogen hatte, und da hätte es schon etwas Ironisches gehabt, wenn gerade die Vermeylens bis zuletzt geblieben wären, und außerdem war Lenie schon lange nicht mehr in einem Alter, in dem man noch bei seinem Vater wohnte.
«Ich glaube nicht, dass sie noch hier ist, aber wenn ich morgen hingehe, dann weiß ich’s sicher», sagte ich, «und wenn ich ehrlich bin, würde ich in just diesem Moment ungefähr alles geben dafür, noch mal mit ihr auf dem Deich zu sitzen und in die Ferne zu schauen! Ich glaube, ich vermisse sie!» Und dann war’s erst mal ruhig, weil ich da gerade ein Stück Seele aus mir hervorgekramt hatte und tief in den Marianengraben meines Daseins hinabgetaucht war, aber Arno lächelte, und immer, wenn er lächelt, weiß ich, dass alles gut ist, dann ist er da und zufrieden. Da sagte Anja: «Ähm, aber dann geh doch besser jetzt, dann weißt du es schneller, oder?», und ich habe keine Ahnung, warum ich da nicht selbst drauf gekommen war, aber ich zögerte nur kurz, schaute die beiden abwechselnd an, wie sie mich mit einem freundlichen und stillen Nicken ermunterten, zog meine Schuhe an und sprang zur Türe, rannte mit hungrigen Augen am königlichen Deich lang und an zumeist düsteren Fenstern vorbei und sah nur hinten im Mondschein noch ein weiteres Auto auf der Straße, lief in die Camermanstraat, Katzen kamen mir entgegen, und versuchte dann noch mal, das Tempo zu erhöhen und schnell zu sein und furchtlos und kolossal zu sprinten, und das Haus mit der Nummer 13 hatte immer schon den Vermeylens gehört, da wohnten Lenie und Gunther und Gonzo Vermeylen, wobei Gonzo Lenies Bruder war, aber mir war schon aus einiger Entfernung klar, dass das unbewohnt war, und ich wurde langsamer und spürte das Dunkle dieses Ortes mit Wehmut, und dann, die Tür verrammelt, die Fenster mit Sperrholz versiegelt, sah ich an der Dachrinne ein Bettlaken mit großen gesprayten Lettern hängen, «Eind goed, al goed!» – aber sonst war da nichts. Bestimmt auch keine Lenie, denn da wohnte überhaupt niemand mehr. Dort, wo im ersten Stock im linken Fenster vor Ewigkeiten manchmal Lenies Gesicht geleuchtet hatte, hing eine große Pressspanplatte. Auch die Vermeylens waren also weg, was ja auch nur konsequent war, weil der alte Gunther, im Gegensatz zu allen anderen, ja wirklich einen Job bei der Hafengesellschaft hatte und selbst am allermeisten und energisch gefordert hatte, dass Doel verschwand, und meine ursprüngliche Ekstase war, all das bedenkend, in Sekundenschnelle in eine Ermattung umgeschlagen, und im spärlichen Licht der Laternen war das pure Tristesse und völlige Kapitulation.
Ich lachte traurig, drehte um, schaute auf die vernagelten Häuserfassaden und fragte mich ernsthaft, warum denn der Rest der Leute ebenfalls verschwunden war? Wo war der Knall geblieben? Dann machte ich noch einen Schlenker und erklomm den Deich und im kniehohen Gras stolperte ich fast und schrie in die verdammte Stille: «DANN HALT NICHT, WAR JA NUR EIN ANGEBOT, ABER ICH HÄTTE LENIE GERN NOCH MAL GESEHEN!» Und ich war echt so enttäuscht, wie eigentlich nur Kinder enttäuscht sein können, und bin dann wieder in die Küche, wo Arno und Anja eng umschlungen zu Schlagermusik tanzten, die knarzend aus dem Küchenradio kam, und ich sah ihnen zu, obwohl ich gar nicht wollte, und war ganz schön verwirrt.
«Ist das nicht Juliane Werding?», fragte ich und sie wandten sich mir zu, und Anja sagte: «Weiß nicht, vielleicht! Haben wir auf der Mittelwelle gefunden, den Sender. Stark, oder? Aber ich wusste ja gar nicht, dass du dich für so alte Kamellen interessierst.» – Ich grinste, und sie versuchten, wieder in den Takt zu kommen, und tanzten ruhig und gefühlvoll weiter. Ich sah ihnen zu und war beeindruckt. Ich wusste nicht mal, welcher Tanz das war, ich hatte das nie gelernt. Als der Song zu Ende war, setzten wir uns an den Tisch und ich sagte: «Ach, nein, ich mach mir mittlerweile auch nichts mehr aus Schlagern, aber ich hab sie früher mal nächtelang gehört. Halb freiwillig auch nur, denn ich war ja mal Nachtportier am Schauspielhaus in Bochum, zwei Tage die Woche …» – «Du warst mal Nachtportier im Schauspielhaus?», fragte Arno und ich sagte: «Ja, hab ich das denn nie erzählt? Fast drei Jahre lang habe ich das gemacht, aber viel zu erzählen gibt’s da auch nicht, ist echt ein langweiliger Job. Immerhin ist man dort zu zweit, das macht es irgendwie erträglich. Wobei auch niemand weiß, warum man eigentlich zu zweit ist. Es passiert ja nichts.» – Und dann erzählte ich ihnen von Wolfgang und vom Schauspielhaus und wie ich Schlager, zumindest für eine Zeit lang, sehr zu schätzen lernte.
Zunächst hatte ich den Job für einen Tag angenommen, weil ich was dazuverdienen wollte, aber dann stockte ich auf zwei Tage auf, weil sie mir irgendwann das BAföG gestrichen hatten. Ich war weder der Beste noch der Jüngste oder Schnellste an der Uni. Ich konnte schon verstehen, dass sie mir das BAföG strichen, auch wenn es hart war. Fleißig war ich allerdings, da kann mir keiner was vorwerfen. Jedenfalls mussten wir damals immer pünktlich um 23 Uhr im Schauspielhaus anfangen, ich arbeitete sonntags und donnerstags und kam dort schon in Uniform hin und löste die Kollegen ab. Wolfgang und ich gossen dann erst mal Blumen, überprüften die Listen, sortierten die abgegebenen Schlüssel und nahmen auch die Schlüssel von den Nachzüglern entgegen, die noch im Gebäude waren. Falls es an dem Tag eine Vorstellung gegeben hatte, waren nämlich auch um 23 Uhr noch einige Leute da, die sich nach und nach abmeldeten. Schlimmer war’s, wenn das Stück noch lief, das gab’s ab und an mal. Dann dauerte alles viel länger. Besonders Shakespeare war immer für eine Überlänge gut. Aber irgendwann war der Trubel vorbei, und wenn wir den Eindruck hatten, dass keiner mehr im Gebäude war, machte einer von uns den Rundgang, während der andere in der Pförtnerloge blieb und auf die Monitore sah oder auf die Tür achtete, aber es kam dann auch niemand mehr, der rein wollte. Warum auch? Wir hätten ihn eh nicht reingelassen. Der Rundgang war das Herzstück unserer Arbeit. Wenn ich ihn machte, sah ich nach, ob auch wirklich niemand mehr im Gebäude war, ich überprüfte, ob jede einzelne Tür verschlossen war, drehte die Heizkörper in den Treppenhäusern runter, die sollten nachts nicht heizen, die Stadt war schließlich pleite. Dann prüfte ich von außen nach, ob alle Fenster verriegelt waren, ging wieder rein und sah nach, ob das Bühnenlicht abgeschaltet war, ging in den Keller und schaute, ob die Heizung normale Druckwerte hatte, aber das war noch nie anders gewesen, und dann noch ein paar kleinere Aufgaben, und die Sache war getan. Alles in allem dauerte der Rundgang eine Dreiviertelstunde, und falls nichts Weiteres zu tun blieb, konnte man unsere Schicht danach schon als beendet betrachten. Von da an mussten wir nur noch die Zeit absitzen.
Wolfgang, der meist mit mir zusammen Dienst hatte, holte dann das Radio aus dem Schrank, packte die Thermoskanne aus, und wir tranken erst mal einen Kaffee und er schaltete das Radio ein, lehnte sich zurück und sah in die Nacht hinaus, und weil mir WDR4 wirklich auf die Nerven ging, bat ich ihn in den ersten Wochen häufig, einen anderen Sender zu suchen, aber Wolfgang, ansonsten der weltfreundlichste Typ überhaupt, sagte dann nur bestimmt: «Nein, heute leider nicht, Botho. Vielleicht ein anderes Mal.»
Tagsüber durfte man in der Pförtnerloge kein Radio hören, die beneideten uns Nachtwächter geradezu dafür, dass wir Musik hatten. Aber andererseits konnten die nachts schlafen, während wir unsere Stunden absaßen, und, WDR4, ich weiß gar nicht, wie ich das nennen kann, das ist so ein Sender für Schmuser und Träumer und Trauernde, zumindest nachts, glaube ich. Da läuft spätabends bis Mitternacht ganz viel Ruhiges, Instrumentelles und immer mal wieder eine langsame, aber triefende Schnulze, und den Rest der Nacht lassen sie zumindest die Instrumentalmusik weg, aber ich konnte das trotzdem zunächst kaum ertragen, viel zu viele Schlager und Folk- und Blueszeug aus den Siebzigern.
Eines Nachts, vielleicht um drei herum, es war ganz ruhig und dunkel und draußen leuchtete der Vollmond über den Neonreklamen, es war Herbst, wollte ich es dann doch wissen und entschied mich, der Sache auf den Grund zu gehen! Ich wollte wissen, was Wolfgang an diesem Sender fand, und legte mein Buch weg und begann, aufmerksam zuzuhören, drehte ein wenig lauter, lehnte mich zurück und schloss die Augen, und nach einer Weile öffnete ich die Augen wieder, sah nach draußen, sah den Mond, sah die Bäume, wie sie mitschwangen im Wind, sah zwei winzige Autos in einiger Entfernung vorbeisausen, die Wasser verspritzten, als sie durch eine Pfütze fuhren. Es nieselte und im Radio sang jemand, dass ein weißes Schiff nach Hongkong fuhr, es die wahre Liebe aber nur hier gab – oder so was Ähnliches! Und da packte es selbst mich, und ich verlor mich in Gedanken und ließ mich berieseln und war dann auch auf dem Schiff nach Hongkong, faltete meine Hände hinter dem Kopf, atmete tief ein und aus und träumte und wurde umnebelt und geistig schlief ich bereits und dachte nichts mehr: Mein Kopf war leer. So harmonisch und elegant waren diese Songs! Das war Musik zum Wach-Schlafen, Musik, um den Puls zu senken. Manchmal lief auch Tom Waits und krächzte etwas rum, aber insgesamt war das seicht, ABBA kam oft, und das war auch gut so. Plötzlich machte das Spaß. Das war Gegengift für all die Hässlichkeit der Welt.
Seitdem las ich zwar immer noch Bücher an der Pforte, aber versuchte nicht mehr, über die Musik im Hintergrund hinwegzuhören, und manche Songs pfiff ich nach einer Weile sogar unwillkürlich mit.
Ein paarmal lachten Anja und Arno, während ich erzählte, und als ich auserzählt hatte, legten sie mir die Hände an die Brust und versuchten, den aktuellen Song mit Inbrunst mitzusingen, der aber leider überhaupt nichts mit dem zu tun hatte, was ich gerade erzählt hatte: «Flieg, junger Adler, hinaus in die Freiheit, schau nur nach vorn, nie zurück, hör auf dein Herz und folg nur den Gefühlen!», übrigens ein Song von Tom Astor – falls es wen interessiert.
Auch im Referendariat versuchte ich, Wolfgang alle paar Monate nachts im Schauspiel zu besuchen, um ein bisschen zu reden. Zeit hatten wir ja genug. Als ich kurz vor den Ferien noch mal am Schauspielhaus vorbeikam, war er aber nicht mehr dort. Da saßen nur so zwei junge Burschen in der Pförtnerloge, kifften und wussten von nichts.
Anja und Arno und ich inspizierten schließlich gründlich alle Räume und fanden einen Besen und scheuchten all den Staub und Dreck der letzten zwei Jahre aus der Tür und ich beruhigte mich. Arno und Anja legten sich ins Ehebett und ich auf die Wohnzimmercouch, weil das Obergeschoss ein wenig klamm wirkte, und ich war fast schon eingeschlafen, da hörte ich gar nicht so weit entfernt noch wen rufen, aber habe ich dann ignoriert und fort war ich und entschwunden in meine tumulthaften Träume.
Am nächsten Morgen räumten wir weiter auf und putzten und schrubbten und tauschten noch ein, zwei Glühlampen aus, hebelten die restlichen der verrammelten Fenster auf und richteten was her und als ich später zum kleinen Kaufladen lief in der Hoffnung, dass es ihn überhaupt noch gab, und aus der Ferne schon Gabriel erblickte, der mittlerweile fast hundert sein musste, aber anscheinend immer noch den Laden betrieb, bedauerte ich, dass es mich so viel Zeit gekostet hatte, um noch mal nach Doel zu kommen. Aber dann stand ich schon vor Gabriel und redete mit ihm, im Laden gab’s kaum noch was und Gabriel war tattrig und verwirrt und erkannte mich auch nicht, aber schüttelte mir kräftig die Hand, und mir fiel auf, dass seine Finger und Handrücken rot, aufgequollen und verkrustet waren, und er sagte noch irgendwas von Bulldozern und dass auch er bald wegziehe in eine Villa am Strand, eine große Villa mit drei Dienern und einem Wachhund irgendwo in Frankreich, und ich kaufte Brot und Marmelade und wollte noch Gemüse oder etwas Obst, aber das war gar nicht zu kriegen, und Gabriel zählte die ganze Zeit laut Preise zusammen und schlug mir vor, was ich noch kaufen könnte, dann würde es soundso viel kosten, und schließlich nahm ich noch Kaffee und einen Liter Apfelsaft, blickte auf seine haarigen Arme und die zwei Zentimeter dicken Brillengläser und den ganzen Staub, der den Laden mittlerweile einhüllte, und als ich dann bezahlen wollte, bat er um einen Augenblick und sagte: «Een momentje, nog efkes m’n handen wassen!» – und obwohl ich kein Experte war, was das betraf, dachte ich, dass er diesen Laden wahrscheinlich nicht mehr alleine betreiben sollte und schon sehr hinfällig war oder irgendwelche Zwänge hatte. Ich konnte mich aber auch nicht erinnern, dass er mal eine Familie gehabt hatte, wahrscheinlich war er jetzt, wo es nicht mehr viele Kunden gab, noch viel einsamer. Wie viele Leute wohnten noch in Doel? Vielleicht zehn, wohlmöglich zwanzig, keine Ahnung. War der Apfelsaft überhaupt noch haltbar? Wen kümmerte es! Ich verabschiedete mich mit den besten Wünschen und ging dann zurück – blieb allerdings auf dem Rückweg vor Tanteke Mullers Haus stehen, das noch sehr bewohnt aussah, und klopfte ans Fenster und guckte rein und konnte kaum etwas erkennen, aber die Tür war nicht abgeschlossen, also ging ich hinein, und dabei rief ich: «Tanteke Muller, Botho is hier, Botho van Dijck!» Dann trat ich in die Stube und erblickte einen faltigen Menschen, der allmählich im Sessel zu versinken drohte und nur noch leise zu sprechen vermochte, und redete dann kurz mit ihr und versprach, ein paar Besorgungen im Kaufladen zu machen, weil sie an dem Tag nicht so auf dem Damm war, wie sie sagte. Sie war echt ein wenig verwirrt, aber wusste noch, dass sie mir und Arno oft Limo gegeben oder Brote geschmiert hatte, sie war wie eine Oma für uns gewesen und auch die beste Freundin meiner richtigen Oma. Irritiert hat mich aber sofort der Vogelkäfig, zwei Zebrafinken hockten darin, wie auch früher immer schon Vögel im Wohnzimmerkäfig gesessen hatten, Tanteke Muller liebte die Tiere, aber heute sangen sie nicht, ganz still saßen sie auf ihren Stangen und schauten mich an, schauten sich gegenseitig an und schauten die Schrankwand an.
Dann bin ich wieder zurück zum Kaufladen und habe gründlich eingekauft und alles noch bei Tanteke vorbeigebracht und sie gefragt, ob ich was zubereiten sollte, aber sie meinte nur: «Neen, neen, manneke, dat is niet nodig, dat kan ik zelf ook nog wel doen. Ik kook later wel iets. Gaat gij nu maar terug naar uw broer! En doe de groetjes aan uw oma!» Und dann kochte ich eben nicht für sie und sagte ihr auch nicht, dass Oma schon lange tot war, weil sie das ja wahrscheinlich schon wusste, nur eben mal vergessen hatte, sondern räumte nur die Einkäufe in den Kühlschrank und den Vorratsraum und verabschiedete mich bei dieser gutherzigen, zarten Frau und machte mich tatsächlich auf den Heimweg, um endlich Frühstück zu machen, aber dann war Arno verschwunden, und Anja sammelte Blumen im Garten und wusste auch nicht, wo er hingegangen war, etwas mit einem Dach, glaubte sie, seinen Worten entnommen zu haben, und dann kribbelte es in mir, ich stellte alles ab und lief durchs Dorf und rief ihn und sah ihn dann auf dem alten Haus der van Broeckhovens stehen mit einer Schnur in der Hand und im Himmel über ihm leuchtete etwas Rotes wie eine Fackel und dann erkannte ich, dass das ein Drachen war, und kletterte auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einem Hoftor hoch auf den Fenstersims und hievte mich dann an der Regenrinne aufs Dach, lief die ganze Havenstraat auf den Reihenhausdächern entlang und am Ende auf das Grundschulflachdach und mein Bruder lief parallel auf der anderen Straßenseite entlang und weit über ihm flog der Drachen an der Schnur und wir konnten weit entfernt Antwerpen sehen mit den vielen Kirchtürmen und den Containerkränen und aufs löchrige Kirchdach der kleinen Onze-Lieve-Vrouwekerk in Doel schauen, und das AKW erschien uns größer und unantastbarer als jemals zuvor, und die Felder ringsum waren noch flacher, und als wir am Ende der Straße ins grüne Hinterland blickten, begannen die Grachten plötzlich, eine Struktur zu formen, die viel weniger chaotisch war, als ich immer gedacht hatte, und der verdammte Himmel, ich konnte ihn fühlen, de hemel was dichtbij, konnte ihn fast greifen und langte nach oben und wollte irgendwas fassen und war glücklich und schwitzte und streichelte meinen Bauch und konnte bloß abwechselnd lachen und grinsen und versuchte, der Sonne Paroli zu bieten, und als ich wieder zur gegenüberliegenden Seite blickte, war Arno schon lange hinuntergeklettert, hatte sich bestimmt am Balkon entlanggehangelt, um dann auf das Hausnummernschild zu treten und von dort auf den Gehweg hinunterzuspringen, und zog nun, mitten auf der Straße laufend, den Drachen hinter sich her, der manchmal kurz vom Asphalt aufzufliegen versuchte, sich dann aber wieder seinem Schicksal ergab und sich schleifen ließ, und ich dachte, wie gut es war, dass wir Anja noch mal zeigten, was Doel eigentlich gewesen war, bevor alles verschwindet, und kletterte selbst dann auch auf den Gehweg runter und folgte Arno, machte mich auf den Rückweg, sprang ein paarmal hoch und klatschte in die Hände oder rannte mit ausgebreiteten Armen in Schlangenlinien die Straße hinab und auch hier: Beinah alle Fenster waren dunkel oder verrammelt, viel Wildwuchs auf den Bürgersteigen, viele Graffiti. Nur einmal dachte ich, dass das Haus vielleicht noch wen beherbergte, weil unter einem Anarchostern ein Schild mit «Doel moet blijven!» angebracht war und Blumenkästen mit blühenden Primeln vor den Fenstern standen, aber dann kamen wir schließlich beide wieder in die Küche und zu meiner Verzückung war schon gedeckt worden und Arno blickte glückselig durch den Raum und man konnte ihm seinen Stolz und seine Freude ansehen, als er von dem Drachen und von Auftrieb und all solchen Sachen erzählte, und er zitterte und war gierig und dann nahm er Anja, die Verdutzte, mit seinen feuchten Händen und küsste sie, um zu beweisen, dass es das Gute war, das ihn antrieb und gerade jetzt durchströmte, und kniff ihr in den Hintern und dann aßen wir alle erst mal. Ich hatte Mordshunger und Kaffee wurde gebrüht und dann war alles richtig und es tat gut, dort in der Küche zu sein, weil ganz Doel in seiner Verlassenheit auch befreiend wirkte, und dann klingelte es, und wir gingen gemeinsam an die Tür und öffneten und dort standen so Alternative mit kaputten Hosen vor der Tür und grüßten und erzählten dann ein wenig und schließlich verabschiedeten sie sich wieder, und zu Anja, die das alles nicht verstand, sagte Arno: «Oh, die waren aus der Havenstraat, wo ich gerade mit dem Drachen war, den haben sie gesehen und haben da ein Haus besetzt, die wollen was Neues machen aus Doel, wollen Freiraum schaffen oder so was und sich gegen den Untergang und das beschissene Hafenbecken stemmen und selbstbestimmt leben, du weißt schon.» Und ich sagte: «Jedenfalls haben sie für heut Abend zum Essen und auf ’nen Drink und so weiter eingeladen.» – «Weiß nicht, sollen wir hin?», fragte Anja. «Ja, voll gerne», sagte ich und Arno nickte und Anja nickte dann auch, aber ich konnte spüren, dass sie eigentlich nicht wollte, aber wir griffen wieder nach unseren Kaffeetassen, sahen nach draußen und auf den Deich oder nach links auf das goldene AKW, das eindrücklichste Denkmal, das eine Gesellschaft sich hätte ausdenken können, um die Moderne zu feiern, aber da rief jemand auf meinem Handy an und ich wollte erst nicht rangehen, weil ich die Nummer unserer Eltern erkannte, sagte dann aber zu meiner Mutter, die fragte, ob das Haus noch stehe und wir gut schlafen könnten, dass alles gut sei, und stellte auf Lautsprecher und alle redeten durcheinander und weil unsere Eltern doch jetzt auch nicht mehr anzufangen brauchten, sich wegen uns zu sorgen, legten wir irgendwann unvermittelt auf und gingen nach dem Frühstück in den Garten, pflückten Kirschen vom Baum, und plötzlich malträtierte ein Welt zerschneidendes Knarren meinen Gehörgang, als Arno auf der rostigen Schaukel Schwung holte, und das ließ er dann schnell auch wieder bleiben, aber ich konnte ihm ansehen, dass er schon bald alles auf der Suche nach Drahtbürste und Öl auf den Kopf stellen würde, und so war es dann auch, weil in ihm bestimmt etwas brannte, und das war die Sehnsucht nach Kindheit, weil sie ihm dieses Kindliche einst möglichst gründlich hatten abtrainieren wollen, er aber hatte sich immer gewehrt und tat das noch heute.