Willkommen in einer Zeit exponentieller Veränderung – vielleicht die aufregendste Zeit in unserer Geschichte.
Auf den folgenden Seiten bietet Ihnen mein Kollege und Freund Salim Ismail, einer der führenden Denker und Praktiker für die Zukunft unserer Organisationen einen ersten Einblick in diese neue Welt – und wie Sie Ihre Arbeit und Ihr Leben verändern wird. Salim hat Geschäftsführer und Unternehmer interviewt, deren Unternehmen neue Externalitäten nutzen, und dadurch ihre Organisationen in einer vielfach höheren Rate skalieren können als herkömmliche Unternehmen. Aber noch wichtiger ist, dass er in eingehender Analyse ausführlich darüber nachgedacht hat, wie wir schon bestehende Organisationen diese Skalierung ermöglichen können. Aus diesem Grund kann ich mir für die Geschäftsführer und Führungskräfte, die in dieser Zeit disruptiver Veränderung erfolgreich sein wollen, keinen besseren Ratgeber vorstellen.
Haben Sie keinen Zweifel daran, dass Exponentielle Organisationen Ihnen den Weg in die Zukunft weisen kann. Sie erfahren aber auch, wie Sie diesen Weg konkret gehen können. Für die Erfolge, die Sie bis zu diesem Punkt Ihrer Karriere erreicht haben, möchte ich Sie beglückwünschen, aber ich möchte Sie auch vorwarnen, dass diese Fähigkeiten schon veraltet sein könnten. Die Konzepte in diesem Buch und die Gespräche, die sie anstoßen werden, sind die neue lingua franca, die Verständigungssprache für jeden, der konkurrenzfähig und im Business erfolgreich sein will. In der heutigen Wirtschaft gibt es eine neue Form institutioneller Organismen – die Exponentiellen Organisationen –, die sich in der Welt verbreiten. Nur wenn Sie diese Organismen verstehen, sich darauf vorbereiten und schließlich selbst solch einen Organismus schaffen oder zu einem Teil davon werden, werden Sie bestehen können.
Die Idee der Exponentiellen Organisation (ExO) entstand zunächst an der Singularity University (SU), die ich 2008 mit Ray Kurzweil, dem bekannten Zukunftsforscher, Autor, Unternehmer und Leiter der technischen Entwicklung bei Google, gegründet habe. Unser Ziel war, eine neue Form von Universität zu gründen, deren Lehrplan ständig erneuert wird. Aus diesem Grund wurde die SU nie akkreditiert – der Grund war nicht, dass es uns nicht wichtig war, sondern dass sich der Lehrplan zu schnell veränderte. Die SU konzentrierte sich nur auf die exponentiell wachsenden (oder sich beschleunigenden) Technologien, die sich in Verbindung mit dem Mooreschen Gesetz entwickeln – darunter unbegrenzte Rechenleistung von Computern, Sensoren, Netzwerke, künstliche Intelligenz, Robotertechnik, digitale Produktion, synthetische Biologie, digitale Medizin, Nanotechnologie. Unser Anliegen und unser Wunsch war, dass unter den Studierenden die besten Unternehmer der Welt und Führungskräfte aus VIden Fortune 500-Unternehmen sein sollten. Unser Ziel: Wir wollten den Studierenden helfen, das Leben von Milliarden Menschen positiv zu beeinflussen.
Die Idee für die SU entstand bei einer Gründungskonferenz im Ames Research Center der NASA in Silicon Valley im September 2008. Einer der lebendigsten Eindrücke von dieser Veranstaltung war ein spontaner Vortrag des Google-Mitgründers Larry Page zum Ende des ersten Tages. Page stand vor etwa 100 Teilnehmern und sprach begeistert darüber, dass sich diese neu gegründete Universität auf die größten Probleme der Menschheit konzentrieren sollte: „Ich nutze heute oft ein ganz einfaches Rechenmaß. Ich frage mich: Arbeitest du an etwas, das die Welt verändern kann? Ja oder nein? Für 99,99999 Prozent der Menschen ist die Antwort’Nein‘. Ich denke, wir müssen die Menschen lehren, wie sie die Welt verändern können. Natürlich sind dafür Technologien das Mittel der Wahl. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder erfahren, dass Technologien der Motor von Veränderung waren.“
Einer der Zuhörer im Publikum war Salim, der Brickhouse, den Inkubator von Yahoo, leitete. Auch er war von dieser Aussage angetan und innerhalb weniger Wochen kam er als Geschäftsführer an die SU. Salim hatte zuvor mehrere Startups geleitet und sich in den normalen Krisen bewährt, durch die ein neues Unternehmen manövrieren muss. Er hat großen Anteil daran, dass die SU heute so erfolgreich ist. Aber das Wichtigste war wohl, dass Salim die unterschiedlichen Gedanken und Fallstudien, die an der SU gelehrt wurden, zusammengefasst und zur Vision einer neuen Unternehmensform verbunden hat.
Es war mir eine Freude, den Eigenschaften, Konzepten und Praktiken Exponentieller Organisationen einen Rahmen zu geben und zusammen mit Salim, Yuri van Geest und Mike Malone an diesem Buch zu arbeiten. Wir erforschten gemeinsam, wie beschleunigende Technologien den Weg von Nationen, Industrien und der Menschheit verändern und unterstützen. Dadurch halfen wir Salim, seinen „Leitfaden“ für „Exponentielle Führungskräfte“ zu formulieren. Einige Inhalte, die auf den nächsten Seiten beschrieben werden, entstammen meinem Buch Überfluss: Die Zukunft ist besser als Sie denken (zusammen mit Steven Kotler). Es bietet einen Rahmen für die Richtung unserer Entwicklung und viele der darin beschriebenen Merkmale treffen auch für die heutigen Unternehmen zu und zeigen, wie sie sich in der Welt von Morgen zurechtfinden können.
Auch die Ko-Autoren dieses Buches verdienen Anerkennung. Yuri van Geest hat an der SU studiert und ist einer der weltweit besten Experten mobiler Technologie und erforscht das Gebiet exponentieller Trends. Yuri hat sich intensiv mit Organisationsdesign beschäftigt und war von Anfang an Teil dieses Buchprojektes. Neben Yuri hat der erfahrene High-Tech-Journalist Mike Malone zu diesem Buch beigetragen. Mike ist nicht nur ein erstklassiger Technologiereporter, sondern auch der Erfinder von zwei einflussreichen Organisationsmodellen, die als Vorläufer dieses Buches gelten können: die Virtuelle Organisation (mit Bill Davidow) und die Proteische Organisation.
VIISalims Vision einer Exponentiellen Organisation ist sehr kraftvoll. In der Welt erscheinen mächtige Kräfte – exponentielle Technologien, Do-it-yourself-Innovatoren, Crowdfunding, Crowdsourcing und die „Rising Billion“, neue Konsumenten in Afrika und Asien –, die uns die Möglichkeit geben, viele der größten Herausforderungen der Menschheit zu lösen. In ihnen liegt das Potenzial, dass innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte die Bedürfnisse jeder Frau, jedes Mannes und jedes Kindes erfüllt werden können. Die gleichen Kräfte ermächtigen heute immer kleinere Teams Dinge zu tun, die zuvor nur Regierungen und großen Unternehmen möglich waren.
In den nächsten Jahren werden drei Milliarden mehr Menschen in die globale Wirtschaft eingebunden. Das hat zweierlei Auswirkungen: Zuerst sind diese drei Milliarden Menschen eine Konsumentengruppe, die nie zuvor etwas gekauft hat. Somit stehen sie für eine langfristige Perspektive vieler Billionen Dollar neu entstehender Kaufkraft. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn diese Menschen nicht zu ihren Kunden gehören, wahrscheinlich sind sie unter den Kunden Ihrer Kunden. Zweitens, diese Gruppe der „Rising Billion“ ist eine neue Gruppe von Unternehmern, die mit der neuesten Generation von Internettechnologien ausgestattet ist – von Google über Künstliche Intelligenz bis hin zum 3D-Druck und synthetischer Biologie. Wir werden eine Explosion der Innovationsrate sehen, weil Millionen neuer Innovatoren experimentieren und ihre Produkte und Services online zur Verfügung stellen sowie neue Unternehmen gründen. Wenn Sie denken, dass die Innovationsrate in den letzten Jahren schnell gewesen ist, dann möchte ich Ihnen sagen: das war noch nicht einmal der Anfang.
Heute ist das einzig Beständige die Veränderung, und die Rate der Veränderung nimmt ständig zu. Ihre Konkurrenten sind nicht mehr die multinationalen Konzerne in Übersee, es ist der Mann oder die Frau in einer Garage im Silicon Valley oder in Bandra (Mumbai), der oder die die neuesten Online-Werkzeuge nutzt, um seine oder ihre neueste Innovation in die Cloud hochzuladen oder auszudrucken.
Aber die Frage bleibt: Wie können wir diese kreative Kraft nutzen? Wie kann man ein Unternehmen gestalten, das so schnell, anpassungsfähig und innovativ ist, wie die Menschen, die darin arbeiten werden? Wie können wir in dieser immer schneller werdenden Welt konkurrenzfähig bleiben? Wie werden wir die Skalierung organisieren?
Die Antwort sind Exponentielle Organisationen.
Sie werden kaum eine Wahl haben, denn in vielen (und bald in den meisten) Industriezweigen beginnt diese Beschleunigung schon. Seit Kurzem spreche ich über die 6 D’s: digitalisiert, dezeptiv (trügerisch), disruptiv, de-materialisiert, de-monetarisiert und demokratisiert.
VIIIJede Technologie, die digitalisiert wird (unser erstes „D“) tritt in eine Periode trügerischen Wachstums ein. In der ersten Phase exponentiellen Wachstums erscheint die Verdoppelung kleiner Zahlenwerte (0,01, 0,02, 0,04, 0,08) fast bei Null zu liegen. Aber wenn die Wachstumskurve erreicht wurde, dann bringen uns zehn Verdoppelungen zu einer 1000-fachen, zwanzig Verdoppelungen zu einer 1.000.000-fachen und dreißig Verdoppelungen zu einer 1.000.000.000-fachen Zunahme.
Diese schnelle Zunahme beschreibt das dritte D: disruptiv. Wie Sie auf den Seiten dieses Buches sehen werden, sobald eine Technologie disruptiv wird, dann wird sie auch de-materialisiert – das heißt, wir tragen nicht länger ein physisches GPS-Gerät, eine Videokamera oder eine Taschenlampe mit uns herum. Sie alle haben sich als Apps auf unserem Smartphone de-materialisiert. Und sobald dies geschieht, wird das Produkt oder der Service de-monetarisiert. Auf diese Weise de-monetarisiert das Unternehmen Uber die Taxi-Flotten und Craigslist de-monetarisiert Kleinanzeigen (was viele Zeitungen zum Aufgeben zwang).
Der letzte Schritt in diesem Prozess ist die Demokratisierung. Vor 30 Jahren konnten nur Firmen wie Coca-Cola oder General Electric mit Mitarbeitern in hundert Ländern Milliarden Menschen erreichen. Heute ist das einem Kind möglich, das eine App auf einige wichtige Plattformen hochlädt. Unsere Fähigkeit, die Menschheit zu berühren, wurde demokratisiert.
Salim und sein Team haben an der vordersten Linie der Entwicklung beobachtet – und Sie werden es beim Lesen dieses Buches verstehen lernen –, dass keine der gegenwärtigen kommerziellen Unternehmen, Regierungsorganisationen oder gemeinnützigen Organisationen mit der Geschwindigkeit dieser 6 D‘s mithalten kann. Dazu wird es etwas radikal Neues erfordern – eine neue Vision der Organisation, die so technologisch klug, anpassungsfähig und umfassend ist (nicht nur für die Mitarbeiter, sondern für Milliarden von Menschen in großen sozialen Netzwerken), wie die neue Welt, in der sie arbeiten – und sich schließlich transformieren.
Das ist die Vision der Exponentiellen Organisation.
Peter H. Diamandis
Gründer und Vorsitzender, XPRIZE Foundation
Mitgründer und Chairman der Singularity University
Santa Monica, USA
25. August 2014
In den späten 1980er Jahren gründete Motorola Inc. ein Tochterunternehmen namens Iridium, was damals als ein weitblickender Schritt galt, um die neu entstehende Mobiltelefonindustrie zu beherrschen. Bei Motorola erkannte man – vor allen anderen –, dass teure Mobiltelefontechnologien zwar in den Städten aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte relativ leicht installiert werden konnten, aber für die Regionen außerhalb der Städte und auf dem Land keine vergleichbaren Lösungen bereitstanden. Eine Kalkulation überzeugte Motorola davon, dass es aufgrund der Kosten für Mobiltelefonmasten – jeder würde 100.000 Dollar kosten, neben den hohen Ausgaben zur Produktion ziegelsteingroßer Telefone und den Grenzen bei der Nutzung der Bandbreite – zu teuer sein würde, große Landstriche abzudecken.
Schon bald zeigte sich eine radikalere und auch profitablere Lösung: Eine Konstellation von 77 Satelliten (Iridium ist die Nummer 77 im Periodensystem), die die Erde so nah umkreisten, dass Mobiltelefonie für einen Einheitspreis möglich war – unabhängig vom Ort. Bei Motorola dachte man, wenn nur eine Millionen Menschen in verschiedenen Industrieländern 3000 Dollar für ein Satellitentelefon bezahlen würden, zuzüglich einer Nutzungsgebühr von fünf Dollar pro Minute, dann würde das Satellitennetzwerk schon bald profitabel werden.
Natürlich wissen wir heute, dass Iridium spektakulär scheiterte, was den Investoren einen Verlust von fünf Milliarden Dollar einbrachte. In der Tat war das Satellitensystem schon zum Scheitern verurteilt, bevor es in Betrieb genommen wurde – es war eines der dramatischsten Opfer technologischer Innovation.
Für dieses Scheitern gab es verschiedene Gründe. Schon als das Unternehmen die Satelliten installierte, sanken die Kosten für Mobiltelefonmasten, die Netzwerkgeschwindigkeit stieg in riesigen Größenordnungen. Gerechterweise muss man sagen, dass Iridium mit diesem Fehlurteil nicht allein war. Die Konkurrenten Odyssey und Globalstar machten den gleichen Fehler. Schließlich gingen mehr als zehn Milliarden Dollar Investitionsgelder verloren, weil man darauf gewettet hatte, dass die Geschwindigkeit der technologischen Veränderung zu langsam war, um mit der Nachfrage des Marktes Schritt zu halten.
Ein Grund für dieses Debakel ist laut Dan Colussy, der 2000 den Aufkauf von Iridium begleitete, die Weigerung des Unternehmens, seine wirtschaftlichen Annahmen anzupassen. „Der Businessplan von Iridium war schon zwölf Jahre alt, bevor er ausgeführt wurde“, erinnert er sich. Das ist eine lange Zeit, lang genug, 2um eine Voraussage fast unmöglich zu machen, wo sich der neueste Stand der digitalen Kommunikation befinden würde, wenn das Satellitensystem endlich installiert war. Deshalb bezeichnen wir dies als einen Iridium-Moment – es wurden lineare Werkzeuge aus der Vergangenheit angewandt, um eine sich beschleunigende Zukunft vorherzusagen.
Einen weiteren Iridium-Moment erlebte Eastman Kodak. Das Unternehmen musste 2012 Insolvenz anmelden, nachdem es die Digitalkamera zuerst erfunden und dann verworfen hatte. Etwa zur gleichen Zeit als Kodak seine Tore schließen musste, wurde das Start-up Instagram, das erst drei Jahre im Geschäft war und nur 13 Mitarbeiter hatte, für eine Milliarde Dollar von Facebook gekauft. (Ironischerweise geschah das, während Kodak immer noch das Patent für die Digitalfotografie hatte.)
Die Fehltritte von Iridium und der epochale industrielle Wandel von Kodak zu Instagram waren keine isolierten Ereignisse. Für viele Fortune 500-Unternehmen in den USA kommt die Konkurrenz nicht mehr aus China und Indien. Wie Peter Diamandis bemerkt, kommt diese Konkurrenz heute mehr und mehr von zwei jungen Typen in einer Garage mit einem Start-up, das exponentiell wachsende Technologien nutzt. YouTube begann als ein Start-up, das durch die persönliche Kreditkarte von Chad Hurley finanziert wurde, bis es schließlich nach weniger als 18 Monaten für 1,4 Milliarden Dollar von Google gekauft wurde. Groupon sprang von der Gründung zu einem Wert von sechs Milliarden Dollar in weniger als zwei Jahren. Uber ist heute über 50 Milliarden Dollar wert. Wir beobachten eine neue Form von Organisationen, die Wert in einer Geschwindigkeit generieren und skalieren, wie wir es zuvor in der Wirtschaft noch nicht erlebt haben. Dieses Diagramm zeigt den sich beschleunigenden Metabolismus der Wirtschaft.
3Willkommen in der neuen Welt der Exponentiellen Organisationen oder ExO. Wie im Falle von Kodak garantieren hier weder das Alter, die Größe, der Ruf oder die gegenwärtigen Verkaufszahlen, dass ein Unternehmen auch morgen noch auf dem Markt konkurrieren kann. Andererseits ist es auch ein Ort, wo man eine Organisation aufbauen kann, die ausreichend skalierbar, schnell und intelligent ist, und dadurch einen Erfolg erreichen kann – exponentiellen Erfolg –, wie es nie zuvor möglich war. Und das alles mit minimalen Ressourcen und wenig Zeitaufwand.
Wir sind in das Zeitalter der Milliarden-Dollar-Start-ups eingetreten und schon bald wird es Billionen-Dollar-Unternehmen geben, wobei sich die besten Unternehmen und Institutionen scheinbar in Lichtgeschwindigkeit bewegen. Wenn Sie noch nicht den Übergang in eine Exponentielle Organisation vollzogen haben, dann kann es nicht nur so erscheinen, als würden die Konkurrenten an Ihnen vorbeiziehen, sondern Ihr Unternehmen könnte wie Kodak schon bald in die Belanglosigkeit abgleiten.
2011 sagte die Babson’s Olin Graduate School of Business voraus, dass in zehn Jahren 40 Prozent der heutigen Fortune 500-Unternehmen nicht mehr existieren werden. Richard Foster von der Yale University schätzt, dass die gewöhnliche Lebenszeit von Standard & Poor 500-Unternehmen1 von 67 Jahren in den 1920er Jahren auf heute 15 Jahre gesunken ist. Und in den nächsten Jahren wird dieser Lebenszyklus noch kürzer werden, weil diese großen Konzerne gezwungen werden, mit einer neuen Form von Unternehmen zu konkurrieren, die die Kraft exponentieller Technologien nutzen – von Gruppensoftware und Datengewinnung bis hin zu synthetischer Biologie und Robotik. Und viele der großen Konzerne werden durch diese neuen Konkurrenten scheinbar über Nacht verdrängt werden. Und wie der Aufstieg von Google zeigt, werden diese Unternehmen für die absehbare Zukunft in der Weltwirtschaft die Führungsrolle übernehmen.
Für die meiste Zeit der Geschichte war die Produktivität einer Gemeinschaft eine Funktion der menschlichen Körperkraft: Männer und Frauen, die jagten, sammelten und bauten und Kinder, die ihnen dabei halfen. Wenn man die Anzahl der Hände, die Früchte sammeln und Fleisch nach Hause bringen konnten, verdoppelte, dann konnte die Gemeinschaft ihren Ertrag verdoppeln.
Im Laufe der Zeit konnte die Menschheit Lasttiere wie Pferd und Ochse zähmen und dadurch steigerte sich der Ertrag weiter. Die Gleichung war aber weiterhin linear. Wenn man die Tiere verdoppelte, konnte man auch den Ertrag verdoppeln.
4Als der Marktkapitalismus entstand und das Industriezeitalter seinen Lauf nahm, wurde der Ertrag um ein Vielfaches gesteigert. Jetzt konnte ein Mensch eine Maschine bedienen, die die Arbeit von zehn Pferden oder hundert Arbeitern verrichtete. Die Geschwindigkeit des Transports und damit auch der Verteilung verdoppelte sich und im Weiteren betrug sie zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Dreifache.
Die zunehmenden Erträge brachten Wohlstand für viele und schließlich eine mannigfaltige Verbesserung des Lebensstandards. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis heute hat die Menschheit – vor allem als Folge der Verbindung der Industriellen Revolution mit dem modernen wissenschaftlichen Forschungslabor – eine Verdoppelung der menschlichen Lebenserwartung und eine Verdreifachung des inflationsbereinigten Eigenkapitals pro Kopf in jedem Land der Erde erreicht.
Während dieser neuesten Phase menschlicher Produktivität war der begrenzende Faktor für das Wachstum nicht mehr die Körper (Menschen oder Tiere), sondern die Anzahl der Maschinen und das eingesetzte Kapital. Wenn man die Produktion in den Fabriken verdoppelte, konnte man doppelte Erträge erreichen. Die Unternehmen wurden immer größer und umspannen heute den ganzen Globus. Mit zunehmender Größe nahm der globale Einfluss zu und damit das Potenzial für Dominanz in einer Branche und damit auch dauerhafter und sehr lukrativer Erfolg.
Aber solch ein Wachstum braucht Zeit und erfordert meist eine enorme Kapitalinvestition. Das ist nicht leicht, und die Komplexität umfassender Neueinstellungen von Mitarbeitern und die Schwierigkeiten bei der Gestaltung, dem Bau und dem Versand neuer Ausrüstungsmittel und Maschinen bedeutet, dass die Umsetzung fast ein Jahrzehnt dauert. Mehr als einmal sahen sich Geschäftsführer und Vorstände in der Situation (wie bei Iridium), dass sie das Unternehmen als Einsatz auf eine neue Richtung gesetzt haben, die eine riesige Kapitalinvestition von hunderten Millionen oder Milliarden Dollar erforderte. Pharmazeutische Unternehmen, Luft- und Raumfahrtunternehmen, Automobilhersteller und Energieunternehmen tätigen immer wieder Investitionen, deren Ergebnis sie erst in vielen Jahren kennen werden.
Dies ist zwar ein funktionsfähiges System, aber kein optimales. Zu viel Geld und wertvolle Talente werden in jahrzehntelange Projekte gesteckt, deren Erfolgsaussichten kaum gemessen werden, bis sie schließlich scheitern. Dadurch entstehen enorme Verluste, wozu auch die verpasste Gelegenheit gehört, andere Ideen und Möglichkeiten zu verfolgen, die der Menschheit zugutekommen könnten.
Das ist eine unerträgliche und inakzeptable Situation, insbesondere weil die Herausforderungen, denen sich die Menschheit im 21. Jahrhundert gegenübersieht, die ganze Vorstellungskraft und Innovation brauchen wird, die wir aufbringen können.
5Wir müssen bessere Wege der Organisation finden. Wir haben gelernt, wie wir die Technologie skalieren können; nun ist es Zeit zu lernen, wie wir unsere Organisationen skalieren können. Dieses neue Zeitalter ruft nach einem anderen Ansatz beim Aufbau einer neuen Wirtschaft, verbesserten Erfolgskennzahlen und der Lösung der Herausforderungen, die vor uns liegen.
Diese Lösung sind Exponentielle Organisationen.
Beginnen wir mit einer Definition: Eine Exponentielle Organisation (ExO) ist eine Organisation, deren Wirkung (oder Ertrag) überproportional hoch – mindestens zehn Mal höher – ist, als bei vergleichbaren Organisationen. Der Grund dafür ist die Anwendung neuer Organisationsmethoden, die beschleunigende Technologien nutzen.
Statt mit vielen Menschen zu arbeiten oder große Fabriken zu bauen, basieren Exponentielle Organisationen auf Informationstechnologien, die das, was in der Natur einmal materiell war, in die digitale Welt bringen, in der es immer verfügbar ist.
Überall sehen wir diese digitale Transformation: 2012 waren schon 93 Prozent der Transaktionen in den USA digital; Unternehmen, die materielle Geräte herstellen, wie zum Beispiel Nikon, werden schnell von Kameras in Smartphones verdrängt; Hersteller von Karten wurden durch das GPS-System und entsprechende Geräte ersetzt, die wiederum durch GPS-Sensoren in Smartphones ersetzt wurden; und Bibliotheken mit Büchern und Musik wurden zu Apps auf Smartphones oder E-Readern. Gleichermaßen werden Einzelhandelsgeschäfte in China durch den Aufstieg des Internet-Giganten Alibaba ersetzt, Universitäten werden durch MOOCS (Massive Open Online Course), wie edX und Coursera, herausgefordert, und der Tesla S ist eher ein Computer auf Rädern als ein Auto.
Die Geschichte des Mooreschen Gesetztes – das besagt, dass sich die Leistung der Rechentechnik alle 18 Monate verdoppelt – wurde gut dokumentiert. Seit 1971 sind wir einen weiten Weg gegangen: Die erste Leiterplatte enthielt nur zweihundert Chips, heute gibt es Teraflops (FLOP: Floating Point Operations Per Second), die ein Vielfaches der Rechenleistung bei gleicher Größe ermöglichen.
Diese dauerhafte, außergewöhnliche und scheinbar unmögliche Geschwindigkeit hat den Zukunftsforscher Ray Kurzweil, der dieses Phänomen seit dreißig Jahren untersucht, dazu veranlasst, vier wichtige Beobachtungen zu formulieren:
• 6Erstens, das Muster der Verdoppelung, das Gordon Moore bei integrierten Schaltkreisen entdeckt hat, kann auf alle Informationstechnologien angewendet werden. Kurzweil bezeichnet dies als Law of Accelerating Returns, LOAR (deutsch etwa „Gesetz des sich beschleunigenden Nutzens“) und zeigt, dass die Muster der Verdoppelung in der Rechenleistung bis ins Jahr 1900 zurückreichen, also weit früher als Moores ursprüngliche Annahme.
• Zweitens, der Antrieb dieses Phänomens ist Information. Sobald ein Bereich, eine Disziplin, Technologie oder Industrie auf Informationen basiert und durch Informationsfluss gesteuert wird, sehen wir jährlich eine Verdoppelung der Leistung.
• Drittens, sobald das Muster der Verdoppelung beginnt, hört es nicht mehr auf. Wir nutzen die gegenwärtigen Computer, um schnellere Computer zu entwerfen, die dann wiederum schnellere Computer bauen usw.
• Viertens, einige Schlüsseltechnologien basieren heute auf Informationen und folgen der gleichen Richtung. Zu diesen Technologien gehören Künstliche Intelligenz (KI), Robotik, Biotechnologie, Bioinformatik, Medizin, Neurowissenschaft, Datenwissenschaft, 3D-Drucktechnik, Nanotechnologie und selbst einige Bereiche der Energiegewinnung.
Noch nie in der menschlichen Geschichte haben sich so viele Technologien mit solch einer hohen Geschwindigkeit entwickelt. Und heute, wo wir alles in unserer Umgebung mit Information verbinden, werden die Wirkungen von Kurzweils Law of Accelerating Returns sicher tiefgreifend sein.
Zudem werden Innovationen durch die Verknüpfung dieser Technologien (z. B. lernfähige Algorithmen künstlicher Intelligenz, um medizinische Krebsstudien zu analysieren) noch weiter beschleunigt. Jede Verknüpfung fügt einen Multiplikator zur Gleichung hinzu.
7Archimedes sagte einmal: „Gib mir einen Hebel, der lang genug ist, und ich kann die ganze Welt bewegen.“ Heute können wir sagen, dass die Menschheit noch nie einen längeren Hebel besessen hat.
Kurzweils Law of Accelerating Returns und das Moorsche Gesetz haben schon lange die Grenzen der Halbleiter verlassen und in den letzten 50 Jahren die menschliche Gesellschaft von Grund auf transformiert. Heute verändern Exponentielle Organisationen, die letzte Ausdrucksform der Beschleunigung in der menschlichen Kultur und Wirtschaft, den Handel und andere Aspekte des modernen Lebens. In atemberaubender Geschwindigkeit wird diese Entwicklung schon bald die alte Welt der „linearen Organisationen“ weit hinter sich lassen. Die Unternehmen, die nicht bald auf diesen Zug aufspringen, werden auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, neben Iridium, Kodak, Polaroid, Philco, Blockbuster, Nokia und vielen anderen Konzernen, die einst ihre Industriezweige dominierten, sich aber nicht an die schnelle technologische Veränderung anpassen konnten.
Auf den folgenden Seiten werden wir die wichtigsten internen und externen Merkmale Exponentieller Organisationen beschreiben, einschließlich Design (oder fehlendem Design), Kommunikationsströme, Entscheidungsfindungsprozesse, Informationsinfrastruktur, Management, Philosophie und Lebenszyklus. Wir werden untersuchen, wie sich eine ExO im Hinblick auf Strategie, Struktur, Kultur, Prozesse, operatives Geschäft, Systeme, Mitarbeiter und wichtigen Erfolgskennzahlen unterscheidet. Wir werden auch ansprechen, wie wichtig es ist, dass ein Unternehmen einen Massive Transformative Purpose (dt. etwa Umfassende Transformative Aufgabe) hat – wir werden diesen Begriff noch ausführlich definieren. Wir werden im Weiteren betrachten, wie man ein ExO-Start-up gründen kann und wie man ExO-Praktiken in Mid-Cap-Unternehmen (mit einem mittelhohen Börsenwert) anwenden und sie in großen Unternehmen nachrüsten kann.
Es ist nicht unser Anliegen, dies zu einem theoretischen Buch zu machen, sondern wir wollen unseren Lesern einen Leitfaden an die Hand geben, um herauszufinden, wie sie eine Exponentielle Organisation aufbauen und erhalten können. Wir werfen einen praktischen und beratenden Blick darauf, wie man ein Unternehmen organisieren kann, damit es in der Lage ist, angesichts der heutigen, sich beschleunigenden Veränderungsrate konkurrenzfähig zu bleiben.
Obwohl viele der Ideen, die wir präsentieren werden, radikal neu erscheinen, sind sie doch schon ein Jahrzehnt oder länger bekannt. Wir haben das ExO-Paradigma als ein schwaches Signal bereits 2009 wahrgenommen und innerhalb von zwei Jahren bemerkt, dass einige neue Organisationen einem bestimmten Modell folgten. 2011 bekam Salim von dem Zukunftsforscher Paul Saffo die Empfehlung, dieses Buch zu schreiben. Daraufhin haben wir in den letzten drei Jahren das ExO-Modell eingehend untersucht. Dafür haben wir:
• 860 Klassiker zum Innovationsmanagement von Autoren wie John Hagel, Clayton Christensen, Eric Ries, Gary Hamel, Jim Collins, W. Chan Kim, Reid Hoffman und Michael Cusumano gelesen;
• Führungskräfte der ersten Führungsebene (C-Level) von mehreren Dutzend Fortune-200-Unternehmen interviewt, wobei wir unsere eigenen Fragebögen und Bezugssysteme nutzten;
• 90 Top-Unternehmer und Visionäre interviewt oder erforscht, darunter Marc Andreessen, Steve Forbes, Chris Anderson, Michael Milken, Paul Saffo, Philip Rosedale, Arianna Huffington, Tim O’Reilly und Steve Jurvetson;
• die Merkmale der 100 Start-ups untersucht, die weltweit am stärksten wachsen und am erfolgreichsten sind, darunter auch die Start-ups, die im Unicorn Club aufgenommen wurden (die Bezeichnung von Aileen Lee für die Start-ups mit einem Börsenwert von mindestens einer Milliarde Dollar), um herauszufinden, welche vergleichbaren Strategien diese Unternehmen bei der Skalierung angewendet haben;
• Präsentationen der Dozenten an der Singularity University studiert und ihre wichtigsten Einsichten über die Beschleunigung untersucht, die sie an den Rändern ihrer Forschungsfelder erkennen, und wie diese Beschleunigung das Design von Organisationen verändern könnte.
Wir behaupten nicht, dass wir alle Antworten haben, aber basierend auf unseren eigenen guten und schlechten Erfahrungen glauben wir, dass wir Management-Teams einen wichtigen Einblick in die Ära einer sich ständig beschleunigenden Innovation und Konkurrenz geben, aber auch in die neuen Möglichkeiten (und Verantwortlichkeiten), die sich in dieser neuen Welt zeigen. Wir können Ihnen zwar keinen Erfolg garantieren, aber wir können Ihnen das richtige Spielfeld zeigen und Ihnen die neuen Spielregeln erklären. Diese zwei Vorteile und Ihre eigene Initiative sind eine gute Voraussetzung, um in dieser neuen Welt der Exponentiellen Organisationen zum Gewinner zu werden.
Moderne Unternehmen sind sehr stolz darauf, wie schnell sie im Vergleich zu den Unternehmen der Vergangenheit heute Produkte und Services auf den Markt bringen können. Jahresberichte, Werbung und Vorträge verkünden, dass Unternehmen virtuell geworden sind, die Vertriebskette beschleunigt haben, die Prozesse für die Genehmigung eines Produktes verkürzt und die Vertriebskanäle verbessert haben.
Das Ergebnis ist, dass es heute durchschnittlich 250 bis 300 Tage dauert, bis ein typisches Unternehmen in der Verbrauchsgüterindustrie ein neues Produkt von der Erfindung in die Regale der Einzelhandelsgeschäfte gebracht hat – und ob Sie es glauben oder nicht, das erscheint vielen als extrem schnell.
Betrachten wir uns im Gegensatz dazu Quirky, eine innovative Exponentielle Organisation in der gleichen Verbrauchsgüterindustrie. Hier wird dieser Prozess in nur 29 Tagen durchlaufen. Das sind 29 Tage von der Idee bis zum Verkauf des Produktes im Supermarkt um die Ecke.
Ein traditionelles Unternehmen der Automobilindustrie investiert drei Milliarden Dollar, um ein neues Modell auf den Markt zu bringen. Local Motors, eine ExO, erreicht das gleiche Ziel mit nur drei Millionen Dollar – das ist eine tausendfache Verbesserung, wobei es aber nicht die gleiche Produktskalierung erreicht.
Oder denken wir an Airbnb, ein Unternehmen, das die zusätzlichen Schlafzimmer seiner Anwender nutzt. Airbnb wurde 2008 gegründet und hat heute 1324 Mitarbeiter und listet 500.000 Angebote in 33.000 Städten. Airbnb besitzt keine materiellen Wirtschaftsgüter, ist aber 10 Milliarden Dollar wert. Das ist mehr als der Wert von Hyatt Hotels mit 45.000 Mitarbeitern, die über 549 Gebäude verteilt sind. Das Geschäft von Hyatt ist recht stabil, während die Anzahl der gebuchten Übernachtungen bei Airbnb exponentiell wächst.
Uber, das Airbnb für Autos, das private Autos als Taxis nutzt, wird auf 17 Milliarden Dollar geschätzt. Wie Airbnb hat Uber keine Wirtschaftsgüter, keine (nennenswerte) Belegschaft und wächst ebenfalls exponentiell.
Wenn Sie die Bewertung dieser Unternehmen nicht erstaunt hat, dann lesen Sie noch einmal – nur dieses Mal unter Berücksichtigung der Tatsache, dass jede dieser Exponentiellen Organisationen weniger als zehn Jahre alt ist.
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Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, gibt es zwei Grundkräfte, durch die ExO’s dieses Maß von Skalierbarkeit erreichen. Die erste Grundkraft liegt darin, dass ein Aspekt des Produktes des Unternehmens durch Information ermöglicht wird und damit dem Mooreschen Gesetz folgt und eine Verdoppelung des Wachstums von Information erreichen kann.
Die zweite Grundkraft liegt darin, dass durch die fließende Natur von Information wichtige Geschäftsfunktionen nach außerhalb der Organisation gelegt werden – zu Nutzern, Fans, Partnern oder der allgemeinen Öffentlichkeit. (Wir werden dieses Konzept später noch genauer untersuchen.)
Nun können wir die wichtigsten Merkmale Exponentieller Organisationen untersuchen. Aufgrund unserer Recherche – die im Laufe der letzten sechs Jahre die 100 am schnellsten wachsenden Start-ups in der ganzen Welt umfasst –, haben wir gemeinsame Eigenschaften gefunden, die es in allen ExO’s gibt. Dazu gehören der Massive Transformative Purpose oder MTP und zehn weitere Merkmale, die die internen Mechanismen und Externalitäten beschreiben, die genutzt werden, um exponentielles Wachstum zu erreichen. Wir verwenden das Abkürzung SCALE, um die fünf externen Merkmale zu benennen, und die Abkürzung IDEAS für die fünf internen Merkmale. Nicht jede ExO verfügt über alle zehn Merkmale, aber je mehr sie hat, desto skalierbarer ist sie. Unsere Recherche zeigt, dass mindestens vier Merkmale implementiert sein müssen, damit die Bezeichnung ExO angemessen ist und ein Unternehmen in die Lage versetzt wird, die Konkurrenz hinter sich zu lassen.
In diesem Kapitel werden wir den Massive Transformative Purpose und die fünf externen Merkmale betrachten, aus denen sich SCALE zusammensetzt. Im 37nächsten Kapitel werden wir die fünf internen Merkmale vertiefen, aus denen IDEAS besteht. Eine gute Metapher, um die Merkmale der ExO’s zu beschreiben, sind die zwei Hemisphären des Gehirns. Die rechte Hemisphäre ermöglicht Wachstum, Kreativität und Unsicherheit, während sich die linke Hemisphäre auf Ordnung, Kontrolle und Stabilität fokussiert.
Es gehört eigentlich zur Definition Exponentieller Organisationen, dass sie GROß denken. Es gibt einen guten Grund dafür: Wenn ein Unternehmen in kleinen Kategorien denkt, dann wird es kaum eine Geschäftsstrategie verfolgen, die schnelles Wachstum erreicht. Selbst wenn es das Unternehmen irgendwie schafft, ein beeindruckendes Wachstum zu erreichen, wird das Ausmaß des Geschäfts bald das Businessmodell überholen, was das Unternehmen orientierungslos und richtungslos macht. Deshalb müssen sich ExO’s hohe Ziele setzen.
Und deshalb lesen wir in den Kurzbeschreibungen von bestehenden Exponentiellen Organisationen Aussagen über das Ziel der Organisation, die sich in der Vergangenheit übertrieben angehört hätten.
• TED: „Ideas worth spreading“ – Ideen, die es verdienen, verbreitet zu werden
• Google: „Organize the world’s information“ – Organisiere die Informationen der Welt
• X Prize Foundation: „Bring about radical breakthroughs for the benefit of humanity“ – Zum Wohle der Menschheit radikale Durchbrüche schaffen
• Quirky: „Make invention accessible“ – Erfindungen zugänglich machen
• Singularity University: „Positively impact one billion people“ – Eine Milliarde Menschen positiv beeinflussen
38Auf den ersten Blick scheinen diese Aussagen Teil des Trends der letzten Jahre zu sein, bei dem Firmenstatements kürzer, einfacher und allgemeiner werden. Aber wenn Sie diese Aussagen genauer betrachten, dann bemerken Sie, dass jede davon auch sehr zielgerichtet ist. Es wird nicht gesagt, was die Organisation macht, sondern was sie erreichen will. Die Ziele sind weder eng noch beziehen sie sich nur auf eine Technologie. Stattdessen versuchen sie, das Herz und den Geist – und die Vorstellungskraft und Bestrebungen – der Menschen innerhalb und (vor allem) außerhalb der Organisation zu erreichen.
Das ist der Massive Transformative Purpose (MTP) – der übergeordnete, zielgerichtete Sinn der Organisation. Jede ExO, die wir kennen, hat einen solchen Sinn. Einige wollen den Planeten verändern, andere nur eine Branche. Aber immer geht es um eine radikale Transformation. Und während sich in der Vergangenheit Unternehmen geschämt hätten, solche Ansprüche zu erheben, erklären die ExO’s von heute ernsthaft und mit Überzeugung, dass sie fast Wunder hervorbringen wollen. Sogar ein Unternehmen in einem vergleichsweise kleinen Markt kann „nach einem MTP denken“: Dollar Shave Clup zum Beispiel transformiert die Rasur-Industrie mit dem Mantra: „Ein Dollar im Monat.“
Es ist wichtig, zu wissen, dass ein MTP kein Mission Statement ist. Denken wir zum Beispiel an das Mission Statement von Cisco, das weder inspirierend noch zielgerichtet ist: „Die Zukunft des Internets verändern, indem wir für unsere Kunden, Mitarbeiter, Investoren und Ökosystem-Partner bisher nicht vorhandene Werte und Möglichkeiten schaffen.“ Darin wird ein Ziel erwähnt und es ist auch in gewisser Weise „massiv“, aber es ist ganz sicher nicht transformativ. Zudem könnte dieses Statement mindestens von einem Dutzend Internetunternehmen benutzt werden. Wenn wir den MTP von Cisco formulieren würden, dann würde die Aussage eher lauten: „Connecting everyone, everything, everywhere – all the time“ – Jeden, alles, überall miteinander verbinden – jederzeit.“ Das wäre eine aufregende Aussage.
Das wichtigste Ergebnis eines echten MTP’s besteht darin, dass er eine kulturelle Bewegung auslöst, die John Hagel und John Seely Brown als „Power of Pull“, „die Macht des Zugs“ bezeichnen. Das bedeutet, dass der MTP so inspirierend wirkt, dass sich um die ExO eine Gemeinschaft bildet und spontan selbstständig funktioniert und schließlich eine eigene Gemeinschaft, einen Tribe oder eine Kultur bildet. Denken Sie an die Schlangen vor dem Apple Store oder die Wartelisten für die jährliche TED-Konferenz. Diese Unternehmen haben ein emergierendes Ökosystem, das sich so stark mit dem Produkt oder den Dienstleistungen verbunden fühlt, dass die Produkte und Services buchstäblich aus dem Kern der Organisation herausgezogen werden. Dieses Ökosystem nimmt das Produkt in Besitz und übernimmt Marketing, Support und sogar Design und Produktion. Ein Beispiel ist das Apple iPhone: Es umfasst ein ganzes Universum von unterstützenden Produkten und Millionen Applikationen, die von Nutzern geschaffen wurde – wem gehört es?
39Dieser kulturelle Wandel, der durch den MTP inspiriert wird, hat seine eigenen Nebenwirkungen. Zum einen bewegt es den Schwerpunkt eines Teams von den internen politischen Verhältnissen zur externen Wirkung. Die meisten großen Unternehmen der Gegenwart fokussieren sich stark auf interne Verhältnisse und haben den Kontakt mit ihrem Markt und den Kunden verloren – außer durch rigide und formelle Fragebögen zum Marketing und durch Fokusgruppen.
In unserer zunehmend unbeständigen Welt kann diese Perspektive fatale Folgen haben. Für ein modernes Unternehmen ist es lebenswichtig, den Blick immer nach außen zu richten – nicht zuletzt, um eine schnell herannahende technologische Bedrohung oder neue Konkurrenz zu erkennen. Wenn man bei Google arbeitet, dann fragt man sich ständig (aufgrund des MTP’s des Unternehmens): „Wie kann ich die Informationen der Welt besser organisieren?“ An der Singularity University stellen wir uns an jedem Wendepunkt die Frage: „Wird dies eine Milliarde Menschen positiv beeinflussen?“
Der größte Imperativ einer wertvollen MTP ist das Ziel oder der Sinn. Basierend auf der bahnbrechenden Arbeit von Simon Sinek muss der Sinn zwei wichtige „Warum“-Fragen beantworten:
• Warum funktioniert das?
• Warum existiert diese Organisation?
Ein starker MTP schafft vor allem für die Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil, die als „First Movers“ einen neuen Industriezweig eröffnen. Wenn der MTP umfassend genug ist, dann können die Konkurrenten nur darunter bleiben. Schließlich wäre es ziemlich schwierig für ein anderes Unternehmen, einfach zu sagen: „Wir organisieren auch die Informationen der Welt, nur viel besser.“ Wenn die Unternehmen diesen einzigartigen Wettbewerbsvorteil verstehen, können wir in naher Zukunft eine starke Konkurrenz um authentische MTP’s erwarten.
Ein starker MTP wirkt zudem als ein exzellenter Attraktor für neue Talente und als ein Magnet, um Toptalente zu halten – beides zunehmend schwierige Aufgaben auf dem heute stark umkämpften Markt der Talente. Zudem wirkt ein MTP als eine stabilisierende Kraft in Zeiten zufälligen Wachstums. Durch einen MTP können Organisationen auch leichter und problemloser skalieren.
Der MTP ist nicht nur ein effektiver Attraktor und ein starkes Magnet für Kunden und Mitarbeiter, sondern auch für das größere Ökosystem des Unternehmens (Entwickler, Start-ups, Hacker, Nichtregierungsorganisationen, Regierungen, Zulieferer, Partner usw.). Das führt dazu, dass weniger Kosten anfallen, um diese Interessengruppen zu finden, mit ihnen im Austausch zu sein und sie beim Unternehmen zu halten.
40MTP’s wirken nicht isoliert. Stattdessen schaffen sie um sich herum einen Halbschatten, der jeden Bereich der Organisation beeinflusst. Ein früher Hinweis darauf ist Red Bull mit seinem MTP „Giving You Wings“ – verleiht dir Flügel.
Deshalb können wir erwarten, dass im Laufe der Zeit Marken immer mehr mit MTP’s verschmelzen und dabei zunehmend zielgerichteter werden. Warum? Weil zielgerichtete Marken in der Gemeinschaft der ExO’s positive Feedbackschleifen kreieren: Die Kunden fühlen sich mit den Produkten immer besser und ihr Stolz, Teil einer größeren, moralisch bewussten Bewegung zu sein, wächst. Zielgerichtetes Branding hilft bei einer Senkung der Kosten, bei der Verbesserung der Effektivität und beschleunigt das Lernen, weil intrinsische statt externe Motivation unterstützt wird.
Die Annahme eines MTP bringt auch einen wirtschaftlichen Vorteil. Die Welt steht vor vielen großen Herausforderungen und wie Peter Diamandis sagt, „die größten Probleme der Welt sind die größten Märkte der Welt.“ In den nächsten Jahren erwarten wir, dass selbst Aktionäre MTP’s in ihre Börsenstrategien integrieren.
Analog zu den MTP’s sehen wir weltweit auch eine Zunahme von sozialen Unternehmen. Eine Studie der G8 aus dem Jahre 2013 schätzt, dass es 688.000 soziale Unternehmen weltweit gibt, die jährlich 270 Milliarden Dollar umsetzen.3 Diese Unternehmen können verschiedene Formen annehmen (Benefit oder B Corporations, Triple Bottom Line, L3C’s, die Bewegungen des Conscious Capital oder Slow Money) und nutzen ihre MTP’s, um – neben dem Gewinn – soziale und ökologische Themen in ihre Geschäftsprozesse zu integrieren. Dieser Trend begann mit der Einführung von Programmen für Corporate Social Responsibility (CSR) in Organisationen. 2012 haben 57 Prozent der Fortune 500-Unternehmen einen CSR-Bericht veröffentlicht – doppelt so viele wie im Jahr zuvor.4 Der Unterschied ist hierbei, dass CSR-Initiativen bei den meisten Unternehmen dem Kerngeschäft hinzugefügt werden, bei sozialen Unternehmen sind CSR-Initiativen das Kerngeschäft.
Martin Seligman, ein führender Experte für positive Psychologie, unterscheidet drei Glückszustände: das angenehme Leben (hedonistisch, oberflächlich), das gute Leben (Familie und Freunde) und das sinnvolle Leben (einen Sinn finden, das Ego transzendieren, für das größere Gute arbeiten). Forschungen zeigen, dass junge Menschen aus der Millennial-Generation oder Generation Y – die zwischen 1984 und 2002 geboren wurden – die Tendenz zeigen, dass sie in ihrem Leben einen Sinn und eine Berufung finden wollen.5 Weltweit treten diese jungen Menschen mit ihren Zielen immer stärker in Erscheinung und werden 41als Kunden, Mitarbeiter und Investoren von ebenso zielgerichteten und sinnerfüllten Unternehmen angezogen – also Unternehmen, die MTP’s haben und ihre Grundsätze auch leben. Wir gehen davon aus, dass auch Individuen ihren MTP finden und formulieren werden, die dann den MTP der Organisation ergänzen, sich damit überschneiden und eine Symbiose eingehen.
Laut den Vereinten Nationen hat sich in den letzten 30 Jahren die Armut um 80 Prozent verringert, das betrifft auch die fünf Milliarden Menschen, die bis 2020 Zugang zum Internet haben werden. Wir gehen davon aus, dass sie alle die Maslowsche Bedürfnispyramide hinaufsteigen werden, um nach Selbstverwirklichung zu streben. (Und ist das nicht nur eine kompliziertere Umschreibung des MTP?)
Warum ist ein MTP wichtig? |
Abhängigkeiten und Voraussetzungen |
• ermöglicht kohärentes exponentielles Wachstum • verbindet kollektive Ziele • zieht Toptalente im Ökosystem an • unterstützt eine kooperative, nicht politisch geprägte Kultur • ermöglicht Agilität und Lernen |
• muss einzigartig sein • Führende müssen ihre Worte in Taten umsetzen • muss alle drei Buchstaben in der Abkürzung repräsentieren |
Wenn wir den Sinn und Zweck des Massive Transformative Purpose verstehen, können wir die fünf externen Merkmale untersuchen, die eine Exponentielle Organisationen kennzeichnen – wir verwenden dafür die Abkürzung SCALE:
• Staff on Demand (Mitarbeiter nach Bedarf)
• Community & Crowd
• Algorithmen
• Leveraged Assets (genutzte Wirtschaftsgüter)
• Engagement
In einem White Paper des Aspen Institute beschreibt Michael Chui, ein Partner am McKinsey Global Institute, die Theorie der Erwerbstätigkeit im 20. Jahrhundert folgendermaßen:
Der beste Weg, um das Talent der Menschen zu nutzen, sind exklusive Arbeitsbeziehungen in einer Vollzeitanstellung, wobei die Mitarbeiter für die Zeit bezahlt werden, die sie an einem gemeinsamen Ort verbringen. Sie sollten in stabilen Hierarchien organisiert sein, wo sie vor allem durch die Beurteilung ihrer Vorgesetzten eingeschätzt werden. Was sie tun und wie sie ihre Arbeit verrichten, wird ihn vorgeschrieben.
42Chui nimmt dann in seinem Text jede dieser Formulierungen auseinander und zeigt, wie grundlegend veraltet diese Theorie in etwas weniger als einem Jahrzehnt geworden ist. Buchstäblich nichts davon trifft heute noch zu. Für jede ExO ist Staff on Demand ein notwendiges Merkmal, um in einer immer schneller werdenden Welt Geschwindigkeit, Funktionalität und Flexibilität zu erreichen. Personal außerhalb der Kernbelegschaft der Organisation nutzen zu können, ist die Voraussetzung, um eine erfolgreiche ExO zu schaffen und zu erhalten. Egal, wie talentiert Ihre Mitarbeiter sind, wahrscheinlich werden die meisten im Laufe der Zeit überflüssig und nicht mehr konkurrenzfähig sein.
Wie John Seely Brown angemerkt hat, die Halbwertszeit einer erlernten Fähigkeit lag früher bei 30 Jahren. Heute liegt sie bei nur noch fünf Jahren. In seinem Buch The Start-Up of You schreibt Reid Hoffman, der Gründer von LinkedIn, dass die Menschen zunehmend lernen, sich selbst wie Unternehmen zu organisieren, wobei das Brand-Management (MTP!), das Marketing und der Verkauf auf das Individuum angepasst werden. In eine ähnliche Richtung geht die Ausssage von Ronald Coase, der 1991 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hat, wonach Unternehmen eher wie Familien als wie Industrien funktionieren und dass Konzerne eher ein soziales als ein ökonomisches Konstrukt sind.
Jedes Unternehmen, das heute eine permanente Belegschaft in Vollzeittätigkeit beschäftigt, stößt immer wieder auf Probleme, weil die Mitarbeiter ihre Fähigkeiten nicht auf dem neuesten Stand halten können, weshalb das Personal mehr Führung benötigt. In einem schnelllebigen globalen und vom Internet beeinflussten Markt wenden sich zunehmend verzweifelte Organisationen an externe und vorübergehende Mitarbeiter, um diese Lücken im Fachwissen zu füllen. Ein Beispiel: Um die allgemeinen Fähigkeiten der Organisation auf dem neuesten Stand zu halten, wurde bei AMP, dem größten Versicherungsunternehmen Australiens, festgelegt, dass die Hälfte der IT-Abteilung mit 2600 Mitarbeitern aus freien Mitarbeitern besteht. Laut Annalie Killian, Führungskraft bei AMP, ist diese Forderung nicht nur hilfreich, sondern heute eigentlich obligatorisch.