Nicht lachen! Nicht lärmen!
Menschen, deren Verhalten von „Heiligkeits-Attitüden“ geprägt ist, scheint es in verschiedenen Kreisen zu geben. Katharina Ceming schildert in einem Buch über „Spiritualität im 21. Jahrhundert“ ein wenig spöttisch die „Entwicklung des spirituellen Über-Ichs. Selbiges kann an seiner besonders ehrfürchtigen und ernsthaften Haltung erkannt werden“. Der spirituelle Lebensstil werde durch Verhalten und Körpersprache zum Ausdruck gebracht, aber auch durch die Wahl der Kleidung, die „nicht so alltäglich und unspirituell aussehen“ sollte (beim Aikido-Training ergibt sich die alternative Bekleidung natürlich automatisch). Ein ernsthafter Gesichtsausdruck und eine ebensolche Körperhaltung versuchen zudem, der heiligen Sache gerecht zu werden.“ Cemings Gesamturteil: „Was Ausdruck spiritueller Ernsthaftigkeit sein soll, wirkt leider oft verkrampft und unnatürlich.“ (CEMING, 97f.; vgl. auch BUCHER, 162ff.)
Mit noch mehr Mut zum Klischee lässt sich ergänzen: Aikidoka von solcher Couleur sind meist auch Veganer oder Vegetarier, Zen-Adepten und Viel-Leser und -Surfer. Sie benutzen ihr spirituelles Vokabular auch in unpassenden Situationen und lassen so erkennen, dass sie in ihren Ideen mehr zuhause sind als in sozialen Milieus. Ihre Körper sind manchmal recht rigide, manchmal durch viel Yoga auch extrem durchlässig – jedenfalls ist es oft nicht leicht, mit ihnen einen Kontakt von Mitte zu Mitte herzustellen.
Gelegentlich ist aber auch die Atmosphäre eines ganzen Dojo in dieser Weise „eingefärbt“. Dort herrscht dann vielleicht ein (unausgesprochenes, aber durch die Mitglieder körpersprachlich kommuniziertes) Lachverbot, oder man stößt auf Lärm-Tabus, verbunden mit der Ablehnung von typischen Aikido-Übungen wie Yoko-Ukemi oder Kiai. Bricht jemand diese Regeln, erntet er schiefe Blicke, entrüstete Mienen und vielleicht auch ausdrückliche Zurechtweisungen – nicht nur bei bewusst, sondern auch bei versehentlich verursachtem Lärm.
Der Begriff „Heiligkeits-Attitüde“, der hier (nicht gerade sachlich, aber im Geiste Fushi Senseis) für diese Art von Mentalität und Verhalten gewählt wurde, ist ambivalent gemeint. Der Duden definiert den Begriff „Attitüde“ als „leere Pose“, setzt das Wort „leer“ aber in Klammern. Menschen mit den geschilderten Verhaltensmustern „posieren“ tatsächlich mit ihrem Verhalten. Sie versuchen sich in ein bestimmtes, besonders positives Licht zu rücken. Wird das von ihrer Umgebung recht einhellig als verkrampft, scheinheilig oder besserwisserisch erlebt, spricht manches dafür, dass die Pose leerer ist, als ihre Urheber selber denken. Und umgekehrt: Leer ist die Pose in Wahrheit wohl nicht. Die „Heiligkeits-Attitüde“ steht auch für die Wahrnehmung von etwas Kostbarem, das es verdient, nach Kräften angestrebt zu werden. Werfen wir einige Blicke auf beide Seiten der Medaille!
Die Heiligkeits-Attitüde als Problem
Verkrampftheit und Unnatürlichkeit sind gerade im Aikido problematisch, wo nicht nur lockere und natürliche Bewegungen angestrebt werden, sondern auch ein gelassener Geist. Aber es gibt solche Verkrampfungen immer wieder. Was vorhin etwas klischeehaft geschildert wurde, findet sich in Ansätzen tatsächlich oft in den Dojo: Lärm- und Lachtabus; energiegehemmte Angriffe und Würfe (s. Kap. 2.2.1 Aggressivität); moralinsaure, überhebliche Belehrungen von „Abweichlern“ usw.
Dass das hier kritisiert wird, bedeutet natürlich nicht, dass stattdessen Krawall, Ausgelassenheit oder gar Gewalt auf der Matte gepflegt werden sollten. Problematisch ist, wenn die nach außen getragenen Verbote Ausdruck innerer Hemmungen sind, wenn Lebendigkeit gezielt blockiert wird und Freiräume eingeschränkt werden. Was als idealistische Haltung daherkommt, ist dann in Wahrheit betont heilig, gemacht heilig, künstlich heilig, angespannt heilig, über-heilig und vielleicht auch scheinheilig – jedenfalls eine esoterisch verbrämte Form der Anhaftung.
Gegen solche Verhaftetheit und gegen das Anklammern an „Heiliges“ hatte man schon vor Jahrhunderten im Zen zu kämpfen. So jedenfalls kann eine berühmte Zen-Weisheit interpretiert werden, die mit einer drastischen Metapher zur Tabulosigkeit auffordert gegenüber dem, was den Menschen heilig ist:
FUSHI SENSEI zitiert den Zenmeister Rinzai:
„Wenn dir der Buddha auf dem Wege begegnet, so töte den Buddha! Wenn du deine Ahnen triffst, töte die Ahnen! Wenn du Vater und Mutter triffst, töte Vater und Mutter!“ (ENOMIYA-LASSALLE, 29)
Verweilt der Meditierende mit seinen Gedanken bei Buddha oder seinen Eltern – die selbstverständlich mit allem Recht geehrt werden –oder einem anderen respektablen Thema, so stellt sich nicht die Gedankenleere ein, die in der Kontemplation angestrebt wird. Übertragen aufs Aikido: krampft sich der Übende an Werten fest, statt sie gelassen zu leben, versperrt er sich seine eigene innere Weite und die Offenheit für eine unmittelbare Begegnung mit seinem Partner.
Tiefe Sehnsucht als Motiv
Schauen wir noch auf einen anderen Aspekt. Die Heiligkeits-Attitüde ist sicher oft Ausdruck einer tiefen Sehnsucht. In Berührung mit dem Heiligen zu kommen, das verleiht mir Tiefe, Bedeutsamkeit, Erwähltheit, Sinn, ein Mehr an Leben und an Wert. Wenn es mir also in meinem Leben an Orientierung fehlt, wenn es mir an Halt mangelt, wenn mir mein Wert nicht recht bewusst ist, liegt es für mich nahe, diese Art von Bedürftigkeit zu entwickeln. Die Heiligkeits-Attitüde ist eine Form der Haltsuche. Natürlich ist niemandem vorzuwerfen, dass er bedürftig ist. Doch es bedeutet eben, dass er noch wenig Kontakt zu seinem inneren Reichtum gefunden hat, der darauf wartet, wirksam werden zu dürfen.
Gerade wegen der sich darin „äußernden“ Defizite kann eine solche Sehnsucht aber auch eine Form der Erkenntnis sein. Sie sagt mir eben: Du bist noch nicht angekommen. Deinem Leben fehlt noch etwas zur Erfüllung. Was du bis jetzt erreicht hast, reicht dir noch nicht aus. Da muss es noch mehr geben. Mehr Weite, mehr Tiefe. Mehr Sinn. Und so wird mein Blick auf das gerichtet, was mich und mein alltägliches Menschsein übersteigt. Man könnte sagen: Was auf der Ebene meiner Gefühle die Sehnsucht ist, das ist auf der Ebene meines Verstandes das Bewusstsein meiner Transzendenz.
Heiligkeits-Attitüden und „Das Heilige“
Aikido ist keine Religion und verlangt von den Schülern keine Religiosität. Und doch gehört etwas, das man „Das Heilige“ nennen könnte, mit dazu. Es ist unmöglich, das damit Gemeinte hier angemessen zu analysieren und erklären. Vielleicht lässt es sich schlicht umschreiben als dasjenige, was den Menschen zutiefst betrifft und anzieht und zugleich auch seinen tiefsten Respekt auslöst.
O-Sensei Ueshiba kommt immer wieder darauf zu sprechen. In seinem Sprachgebrauch heißt es meist „das Göttliche“, auf Japanisch „Kami“:
FUSHI SENSEI zitiert Morihei Ueshiba:
„Die Kunst des Friedens [= Aikido] entsprang der Göttlichen Form und dem Göttlichen Herzen der Existenz. Sie spiegelt das Wahre, Gute und Schöne und die absolute Natur der Schöpfung und die Essenz ihrer höchst großartigen Gestaltung.“ (UESHIBA 2007, 8)
„Verschmilz den Atem des Himmels und den Atem der Erde mit dem deines eigenen Körpers, werde der Atem des Lebens selbst.“ (EBD., 25)
„Leben ist ein göttliches Geschenk. Das Göttliche ist nichts außerhalb von uns; es ist mitten in unserem Zentrum; es ist unsere Freiheit.“ (EBD., 31)
„Schmiede den Geist
gemäß dem göttlichen Willen;
das göttliche Schwert soll
klar und hell scheinen und
die göttliche Gnade bekunden.“
(UESHIBA 1997, 34)
Ueshibas Redeweise entstammt einer Mentalität, die das Religiöse und das Profane nicht trennt (s. beispielsweise UESHIBA 2007, 178: „Vereinige dich mit dem Kosmos, und der Gedanke von Transzendenz wird verschwinden. Transzendenz gehört zur profanen Welt...“). Im viel weltlicher orientierten Westen klingen solche Worte irritierend. Vielleicht werden sie in den Dojo deswegen selten zitiert. Sie könnten Unverständnis oder gar Abwehr auslösen. Es wäre aber schade, wenn dem Aikido die Tiefe genommen würde, die aus den Lehren seines Gründers spricht. Dessen ganzheitliche Botschaft kann kaum durch das bloße Pauken von Techniken weitergetragen werden. Aber natürlich ist das naseweise Aufsagen von Ueshiba-Zitaten keine Alternative und kein Weg, der in die Tiefe führt.
Dass „Das Heilige“ im Aikido in angemessener Weise „zu seinem Recht kommt“, wird aber sicher durch eine entsprechende Dojo-Kultur begünstigt. Ein Dojo sollte ein „anderer Raum“ (s. FOUCAULT) sein. Wenn dem so ist, merkt man es an der Atmosphäre und am Benehmen der Besucher. Wie man in einem Sakralraum oder in einem Museum unwillkürlich die Stimme senkt und auf ein respektvolles Verhalten achtet, so ist es auch in einem Dojo. Denn hier wird die oft banale Sphäre des Alltags verlassen; die alltägliche, nicht selten dumpfe Betriebsamkeit soll draußen bleiben. Die Besucher werden mit sich selbst konfrontiert und auf „etwas Größeres“ verwiesen. Das Dojo als „anderer Raum“ lädt ein zu Sammlung, Stille, Konzentration, Bewusstheit, Innigkeit.
So wichtig eine solche Atmosphäre für die Übenden ist: Unmöglich lässt sich „Das Heilige“ mit Verboten umstellen. Am besten vermittelt wird es durch die unverkrampfte Ernsthaftigkeit der Lehrenden und der Sempai, durch gelassene Heiligkeit oder heilige Gelassenheit.
Nur Bewegung, nur Begegnung
So wird für die Aikidoka der mentale Boden bereitet. Doch in dem Moment, in dem das Üben beginnt, „muss Buddha sterben“, müssen das Heilige und das Göttliche, die Sehnsucht und die Bedürftigkeit, die Suche und das Wertebewusstsein losgelassen werden. Im Moment des „Angriffs“, im Moment der „Verteidigung“ ist nur noch Raum für dies: das Miteinander und Ineinander der Energien und die Begegnung von Mitte zu Mitte.
FUSHI SENSEI zitiert aus dem Bi-yän-lu:
„Wu-Di von Liang fragte den Großmeister Bodhidharma: Welches ist der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit? Bodhidharma sagte: Offene Weite – nichts von heilig.“ (BI-YÄN-LU, 37)
DIE STIMME spricht in mir:
Du bist gut.
Du bist wertvoll.
Du bist kostbar.
Du bist eine unfassbare Ansammlung von Potentialen.
Das ist keine Besonderheit.
Das ist keine Leistung von dir.
Das ist Grundlage und Sinn deines Daseins.
Es ist Grundlage und Sinn des Daseins aller Menschen.
Du bist nicht besser oder schlechter als andere.
Du kannst nicht wertvoller oder weniger wertvoll,
nicht kostbarer oder weniger kostbar sein.
Du bist so Maß-los wertvoll wie alle anderen.
Sag ja zu deiner Fülle
und zur Fülle der anderen und der Welt,
sag ja zur Kostbarkeit aller Geschöpfe.
Ohne Zögern, ohne Brechung,
ohne Zweifel, ohne Zwang:
Ja.
Die STIMME MEINER KAMPFBEREITSCHAFT feuert mich an:
Oh! Der stärkste Mann im Dojo! Was für ein Fleischberg! Jetzt kannst du mal so richtig beweisen, was du gelernt hast! Hau ruck! Mann, ist der stark! Aber Scheitern kommt nicht in Frage! Der MUSS einfach zu Boden! Gnnnnnnnnnng!!!
Kämpfen als übliches Verhaltensmuster
„Nicht kämpfen!“ Dieser Appell gehört zu den Sätzen, die Aikido-Lehrer ihren Anfängern immer und immer wieder sagen müssen. Wenn man auf den Dojo-Alltag schaut, ist die „Kampfkunst des Friedens“ durchaus nicht frei von Elementen des Kampfes. Bald hier, bald dort flackert das Kämpfen als psychische Struktur auf und drückt sich in bestimmten körperlichen Verhaltensmustern aus. Das Thema ist deswegen unübersichtlich, weil Aikido sozusagen eine „Kampfkunst des Nichtkämpfens“ ist. Kämpfen ist somit ein Thema, zu dem Aikidoka ein besonderes Verhältnis entwickeln müssen.
Einige Angehörige meines Dojo waren so freundlich, mir von ihren Erfahrungen zu berichten. Das Thema spielt für sie beispielsweise eine Rolle bei der Frage nach der Effizienz der Aikido-Techniken. Ein Weggefährte bekannte, er habe sich auf der Matte zu „Wettkämpfen“ mit stärkeren Partnern verführen lassen: Kann ich mich seinem Wurf widersetzen bzw. schaffe ich es, ihn trotz seiner Muskelkräfte zu werfen? Vor allem unter Jugendlichen scheint es ein ausgeprägtes Bedürfnis zu geben, sich im Aikido körperlich zu messen – dies berichtete jedenfalls ein Angehöriger der Jugendgruppe. Als er noch völliger Anfänger war, fühlte er sich davon eingeschüchtert und hätte sich von den Fortgeschrittenen mehr Rücksicht gewünscht. Ein ganz anderes Problem teilte eine weitere Aikidoka mit: Ihr fehlt bei ihren Partnern manchmal das Kämpferische, die Uke seien in diesem Fall „zu nett“ und würden sie nicht fordern. So könne sie zu wenig üben, mit körperlichen Widerständen umzugehen.
Jedermann weiß, dass Kämpfen eine der natürlichen Reaktion auf Stress und Bedrohung ist. „Natürlich“ heißt hier soviel wie „als Verhaltensmuster angeboren“ und damit auch „nachvollziehbar“ oder auch „selbstverständlich“, „akzeptabel“, „gerechtfertigt“, „rechtzufertigen“. „Natürlich“ kann aber doch auch noch etwas anders bedeuten: „nicht kultiviert“, „nicht kulturell beeinflusst“ oder „nicht der Steuerung des bewussten Willens unterworfen“.
Das Thema dieses Kapitels überschneidet sich besonders stark mit anderen Themen dieses Bandes wie beispielsweise „Aggressivität“ (s. Kap. 2.2.1), „Konkurrenz“ (s. Kap. 2.2.5) oder „Samurai-Romantik“ (s. Kap. 2.2.11). Soziales oder politisches Miteinander-Ringen bleibt hier aber ausgeblendet, weil es dort schon gestreift wird. Im Mittelpunkt stehen auf den folgenden Seiten das unmittelbare physische Gegeneinander und seine innere Motivation.
In der Regel geschieht dies spontan und unwillkürlich: Der Aikidoka stemmt sich kraftvoll gegen die ankommende Energie des Partners; oder er zerrt am Uke, um ihn in eine Bewegung zu zwingen; oder er führt seine Technik schnell und mit starkem Muskeltonus aus, obwohl der Angriff eher zurückhaltend und wenig kraftvoll ist. Dabei merkt der Nage nicht, dass er mit seiner Aufmerksamkeit gar nicht beim Partner ist, sondern bei seinen persönlichen Vorstellungen von der Bewegung; und dass er ein Verhaltensmuster aktiviert hat, ohne mit seiner Wahrnehmung im Hier und Jetzt zu sein. Er kämpft reflexhaft gegen etwas an, weil ihn ein psychisches Muster dazu nötigt oder zumindest verführt. Im Unterschied beispielsweise zum Dominanzstreben (s. Kap. 2.2.2) ist Kämpfen in solchen Situationen ein weitgehend defensives Verhaltensmuster, motiviert aus dem Bemühen, den Angriff abzuwehren – nur leider nicht nach den Prinzipien des Aikido.
Aikido als Nicht-Kämpfen
Aikido ist ein Budo. Diesen Begriff, der wörtlich etwa „kriegerischer Weg“ bedeutet, übersetzen wir in den europäischen Sprachen meist mit „Kampfkunst“ – mangels einer besseren Vokabel. Denn die ostasiatischen Budo-Künste sind nicht so leicht in westliche Denkschemata einzuordnen. Den Budoka ist das ein vertrautes Paradox: In den Kampfkünsten geht es um das Nicht-Kämpfen. Interessanterweise lässt sich das Schriftzeichen „Bu“ auch lesen als „den Kampf anhalten und ihn beenden“ (DESHIMARU 1978, 24).
Der Erziehungsprozess des Menschen durch Budo zielt auf „die Erkenntnis ..., dass Aggression grundsätzlich ungeeignet ist, um Konflikte zu lösen“. Allmählich lernt der Budoka: „Wenn es einen Sieger gibt ..., so gibt es in Wirklichkeit zwei Verlierer.“ (STENUDD, 20) Oder, mit O-Senseis Worten: „Siegen oder verlieren oder sich in der Technik messen ist nicht das wahre Budo. Wahres Budo kennt keine Niederlage.“ (NOCQUET, 49)
Anders akzentuiert: mein eigentlicher Gegner in der Kampfkunst bin ich selbst. Zu den „Reliquien“ aus meinem Budo-Lebenslauf gehört eine kleine Kalligraphie, geschrieben von dem Iaido-Meister Hakuo Sagawa (1917–2004) auf eine fränkische Biergarten-Serviette. Ihr Text lautet:
niemanden schneiden
von niemandem geschnitten werden
unermüdlich gegen sich selber kämpfen
dann eröffnet sich der friedliche WEG
Das Bemühen um die eigene Integrität und um die des anderen – so könnte man die beiden ersten Verse wohl auch umschreiben. Ein wahrhaft humanitäres Ziel! Die Metapher des Kampfes gegen mich selbst (Vers 3) benutze ich selber nicht mehr so gerne. Sie suggeriert, dass „Teile von mir“ falsch, unberechtigt sind und unterdrückt, vielleicht sogar „getötet“ werden müssten. In dem Moment, wo ein Teil von mir siegte, würde zugleich ein anderer Teil von mir verlieren. Das klingt nach „gespaltener Persönlichkeit“. Lieber ist mir der weniger martialische Begriff „Auseinandersetzung“ (der ja auch für physische Kämpfe verwendet wird). Am Ende der Auseinandersetzung braucht nicht ein Sieg zu stehen. Ihr Ziel kann auch die einvernehmliche Lösung, die Integration, die Harmonisierung sein. Darum geht es im Aikido, auch in meinem „Aikido mit mir selbst“ und im Inneren Dojo. „Kämpfen“ wäre dafür ein ungeeignetes Verhaltensmuster oder aber der falsche Ausdruck für die richtige Sache.
Bemerkung von FUSHI SENSEI:
Wenn es gegeneinander ist, ist es nicht Aikido.
O-Sensei fasste die ganze Thematik in folgender Formel zusammen: „Masakatsu agatsu katsuhayabi“ – frei übersetzt: „Ein wahrer Sieg ist ein Sieg über mich selbst, ein Sieg genau hier und jetzt.“ (UESHIBA 2012, 10 u. ö.) Dies sei der „Kampfschrei“, auf den wir bauen sollten, und ein machtvolles Konzept (EBD., 10f.).
Dass es im Aikido genau darum geht, wird auf verschiedenen Ebenen deutlich. Gänzlich fehlt hier der Aspekt des Wettkampfs. Es unterscheidet sich dadurch von den meisten anderen Kampfkünsten. Selbst dort, wo Budoka nicht physisch gegeneinander antreten wie im Kyudo oder Iaido, werden Wettbewerbe ausgetragen, in denen die Fähigkeiten der Akteure verglichen werden. Im Aikido wird das bewusst unterlassen.
Anti-kämpferisch ist auch die Mechanik der Aikido-Bewegungen. Richtig ausgeführt, wird der Angriffsenergie keine Energie entgegengesetzt. Man lässt dem Angreifer vielmehr seinen Willen und benutzt diesen. Der Nage gleicht seine Energie der des Uke an, begleitet und verlängert dessen Angriff und lenkt ihn in einer Kreis- oder Spiralbewegung zum Wurf um. Zumindest teilweise wirft sich der Uke also selbst. „Eine gute Weise, Aikido zu beschreiben, ist zu sagen, dass man nicht versucht, einen Angriff abzuwenden, sondern ihm zu seiner Vollendung zu verhelfen.“ (STENUDD, 20)
Und schließlich ist Aikido auch „mentales Nicht-Kämpfen“. Die Übenden treten sich dem Sprachgebrauch nach nicht als Gegner, sondern als „Partner“ gegenüber. Keinem von beiden geht es ums Siegen. Gelassen und energisch zugleich vertiefen sie sich in das gemeinsame Ritual des Miteinander-Übens im Wechsel der Rollen von Uke und Nage. Einer unterstützt so den anderen beim Voranschreiten in der körperlichen und mentalen Entwicklung.
Der letztgenannte Aspekt – das mentale „Nicht-Kämpfen“ – ist dabei ausgesprochen wichtig. Solche Widerstandslosigkeit darf aber nicht mit Passivität und Resignation verwechselt werden. André Protin erklärt es so: „Das Nicht-Kämpfen bezeichnet einen Geisteszustand höchster Bereitschaft, in dem Bewegungen und Handlungen nicht mehr unserer Vorstellung von Kampf entsprechen. Sich der Kraft des Gegners widersetzen, heißt die eigene Kraft binden, unbeweglich werden, sich versteifen, bis am Ende die Welt der Kraft und Gewalt sich behauptet ... Das Verlangen nach Sieg und Erfolg ist das erste Glied der Kette, die uns zu Gefangenen der Kräfte macht, gegen die wir ankämpfen und die uns eines Tages umbringen werden.“ (PROTIN, 106)
Darum also kann es im Aikido nicht gehen. Stattdessen geschieht, wenn eine Aikido-Begegnung gelingt, folgendes: „Alles bewegt sich, immer. Deshalb gibt es niemanden, der anfängt, und auch niemanden, der aufhört. Der Wirbel der Bewegungen ist unabgeschlossen, ständig und überall fließend. Im Aikidotraining kommt es nur dazu, dass zwei Personen das ab und zu sichtbar machen. Es kann keinen Gewinner oder Verlierer geben in diesem Kontinuum, nicht einmal einen Initiator! Was vor sich geht, ist lediglich, dass der Angreifer versucht hat, sich gegen die natürliche, harmonische Bewegtheit aufzulehnen, und deshalb sanft zu ihr zurückgeführt wird.“ (STENUDD, 23f.)
Kämpfen als Ausdruck von Realitätsferne
Trotzdem kommt es auf der Matte immer wieder vor, dass Aikidoka das Verhaltensmuster „Kämpfen“ aktivieren. Absichtlich und ernsthaft geführte Kämpfe sind in einem Aikido-Dojo allerdings nicht denkbar, Etikette und Lehrende würden das niemals zulassen. Doch immer wieder stellt man fest, dass das Unbewusste auch in diesem Bereich ein Eigenleben führt und uns vor anspruchsvolle Aufgaben stellt.
Obwohl die Rollenverteilung zwischen Uke und Nage klar ist, gibt es Nage, die gegen ihre Uke angehen. Obwohl die Bedrohung nicht echt ist, reagieren sie auf den Angriff mit dem psychischen Muster „dagegen ankämpfen“. Es geschieht wohl so gut wie nie aus bösem Willen oder auch nur aus Absicht. Vielmehr wird eine tief sitzende psychische Struktur unwillkürlich aktiviert. Das Unbewusste hat ja auch recht: Ein korrekt ausgeführter Aikido-Angriff hat dieselbe Mechanik und Energie wie eine reale Attacke. Es ist nur natürlich, wenn mein Instinktsystem in uralter Weise darauf reagiert. Mein psychomotorisches System hat in diesem Moment keine Zeit, die Intentionen des Angreifers zu interpretieren. Es muss spontan und (vermeintlich) angemessen reagieren.
Wenn also blutige Anfänger in der beschriebenen Weise mit Angriffen umgehen, ist das ganz normal. Allerdings sollte es so sein, dass das Aikido-Üben bald zu einem Lerneffekt führt, der es erlaubt, dem Angriff immer gelassener zu begegnen. Der Königsweg dorthin ist die kontinuierliche Routine des alltäglichen ritualisierten Übens. Aber auch noch nach Jahren kann es ein sehr fortgeschrittener, kräftiger oder schneller Aikidoka schaffen, mich durch Attacken zu überfordern, Ängste bei mir auszulösen und dadurch die alten Kampf-Muster meiner Psyche zu reaktivieren. Dann verschwimmt wieder die Trennschärfe zwischen „gespielten Rollen“ und echter Bedrohung, zwischen dem Dojo und der Welt draußen „im Neandertal“.
Der Partner hält mir den Spiegel vor
Dies ist mir aber nicht vorzuwerfen. Ich habe unwillkürlich so reagiert – und das Unbewusste ist dem Bewusstsein in seiner Reaktionsgeschwindigkeit stets voraus. Wichtig für meinen Realitätssinn ist nur, dass ich solche Situationen zumindest im Nachhinein bewusst betrachte, um zu erkennen, dass sich mein Unbewusstes hier aufs Glatteis hat führen lassen.
In einer solchen Situation hält mir der Uke einen Spiegel vor, in dem ich mich selbst erkennen kann. Der „Angreifer“ hat etwas ausgelöst, das in mir darauf gewartet hat, ausgelöst zu werden. Und ich sollte mich vielleicht fragen: Was lässt mich trotz meiner Erfahrung kämpfen, wo es gar nicht nötig ist oder wo es sogar stört?
Ist meine Kampfbereitschaft eine Grundeinstellung zur Wirklichkeit? Wartet etwas in mir darauf, kämpfen zu müssen? Oder vielleicht sogar: zu dürfen? Bin ich hier vielleicht ein Produkt meiner Vergangenheit? Vielleicht ein Opfer belastender Erfahrungen? Neige ich grundsätzlich dazu, mich bedroht zu fühlen? Oder ist meine innere Balance gegenwärtig beeinträchtigt? Stehen dem „Inneren Kämpfer“ keine anderen inneren Kräfte entlastend zur Seite? Verfolge ich immer noch Strategien der Schamvermeidung: „Wenn ich mich unterkriegen lasse, verliere ich mein Gesicht“?
In einem voranschreitenden „Aikido-Lebenslauf“ werden solche regressiven Verhaltensmuster aber immer seltener werden. Gelassenheit und Demut werden ihre Stimmen erheben, wenn der Kampfeswille sich zu Wort melden möchte. Das Wissen, dass nicht das Gegeneinander, sondern das Miteinander zum gewünschten Ergebnis führt, wird auf einem immer breiteren Erfahrungsfundament ruhen und immer unerschütterlicher werden.
Aikido im Alltag
Und nicht nur das: Auch im Alltag außerhalb des Dojo werden sich allmählich Wirkungen einstellen. Viele Aikidoka erleben es: Das, was ich auf der Matte in der Auseinandersetzung mit dem Thema „Kämpfen“ immer wieder erfahre, fließt allmählich in das übrige Leben ein. So verstehen beispielsweise Kropp und Barandun die verschiedenen Bewegungsformen des Aikido als „Modelltechniken“, als „Bewegungsübungen, bei denen wir uns zu einem klaren, friedfertigen Verhalten im Sinne des Aikido erziehen können. Anhand der praktischen Aufgabe, die defensiven Verteidigungstechniken jederzeit wirksam, aber gewaltlos einzusetzen, lassen sich zahlreiche körperliche, mentale und zwischenmenschliche Fähigkeiten entwickeln, die wir leicht in den Alltag übertragen können. ... Die Modelltechniken verkörpern das Herz des Aikido – die Übung der Harmonie. Aikido soll die Kunst lehren, nicht mit Kampfeskraft zu glänzen, sondern vielmehr mit Herzensstärke das genau rechte, ausgleichende Maß in der jeweiligen Situation zu finden.“ (KROPP/BARANDUN, 82f.) Und Winfried Wagner drückt es so aus: „Das ist das Besondere an Aiki-Do: Als interaktionales und spirituelles Verfahren zugleich eine allgemeine Kontakt- und Konfliktlösungsstrategie aufzuzeigen! In diesem Sinne läßt sich jede Aiki-Do-Übungssituation verstehen als eine Art komprimierte Lebensalltags-Situation, als eine auf die Ebene der Bewegung und des Handelns verlegte und dort eingeübte Metapher für zwischenmenschlichen Kontakt und Konflikt.“ (WAGNER 1999, 82)
DIE STIMME spricht in mir:
Sei dankbar für deinen Kampfeswillen!
Er ist die als Überlebensstrategie
mit auf den Weg gegeben worden.
Und stell ihm Klarheit zur Seite:
Lerne immer schärfer zu erkennen,
wo dein Kampfeswille nicht gebraucht wird!
Stell ihm Offenheit und Kreativität zur Seite,
den Blick für die Möglichkeiten, die jede Situation bietet.
Zentriertheit, die dir hilft,
bewusst bei dir zu bleiben!
Gelassenheit und Vertrauen:
Es gibt einen Weg
jenseits des Kämpfens!
Die STIMME DER KONKURRENZ flüstert in mir:
Ach, schau, Lukas geht gerade die Puste aus! Hm! Deine Pumpe hämmert ja auch schon ganz schön, halte bloß durch! Fatih hat eine super Kondition, aber heute zeigst du es ihm! Los, steh wieder auf, noch mal angreifen, nicht schlappmachen, die meisten anderen Paare sind auch noch munter dabei!
So, heute warst du richtig gut, hast am Schluss noch eine bessere Figur gemacht als die meisten anderen! Jetzt wird’s spannend. Wer soll alles zur Kyu-Prüfung angemeldet werden? Lukas? Naja, o. k. Katharina? Klar. Fatih? Wie bitte? Fatih? Der hat doch erst ein halbes Jahr nach dir angefangen. Sonst niemand? Und du? Warum hat der Lehrer dich nicht auf der Liste? Wie stehst du denn jetzt nur da?!!
Konkurrenz bereichert die Welt
Wir alle wissen, dass Konkurrenz ein unvorstellbares kreatives Potenzial darstellt. Die biologische Artenvielfalt ist das Ergebnis der Konkurrenz um die natürlichen Ressourcen im Lauf der Evolution. Und auch für die ungeheure Vielfalt menschlicher Kultur spielt sie eine enorme Rolle: in wirtschaftlicher Konkurrenz ebenso wie im Streben nach Spitzenplätzen in Charts, Rankings, auf Bestsellerlisten, bei Einschaltquoten oder im sportlichen Wettbewerb. Dass unsere Welt so bunt ist, hat sie nicht zuletzt der Konkurrenz zu verdanken.
Kommentar von FUSHI SENSEI:
Schrotts Veröffentlichung ist das siebtbeste von allen deutschsprachigen Aikido-Büchern!
Im modernen Sport war es dabei das Ideal der Fairness, welches die Konkurrenz kulturell legitimierte und in eine sozialverträgliche Form überführte. Wer mit Sportsgeist konkurrierte, der versuchte sich durchzusetzen, ohne dass dies auf Kosten der Kameradschaft zu den Mitbewerbern ging.
Jene asiatischen Wege, die sich stärker an der westlichen Kultur orientierten und zum Kampf-Sport wurden – viele Richtungen des Judo oder Karate beispielsweise –, haben sich in diesen kulturellen Bereich eingereiht. Doch wie ist es in den Wegen, die sich eher als Kampf-Künste verstehen, die statt der sportlichen Leistung eher den persönlichen Fortschritt in den Mittelpunkt stellen?
Die Allgegenwart der Konkurrenz
Um beim Aikido zu bleiben: Auf den ersten Blick könnte man wohl meinen, dass Konkurrenz hier eine untergeordnete Rolle spielt. Hier gibt es ja keine Wettkämpfe. Das hat seinen Grund nicht nur in der besonderen Übungsweise, bei der jeder „Angriff“ „automatisch“ damit endet, dass der „Verteidiger“ den „Angreifer“ wirft. Viel mehr noch kommt darin der Ansatz des Gründers Morihei Ueshiba zum Ausdruck, dass Aikido die Menschen versöhnt und jedes Gegeneinander nicht nur physisch, sondern ganzheitlich zum Miteinander wird.
Das Fehlen von Wettkämpfen bedeutet in den Aikido-Dojo aber beileibe nicht das Ende der Konkurrenz. Denn hier bieten sich noch zahlreiche andere Felder des Wettstreits an. Und in anderen Budo-Künsten ist es ebenso.
Was geschieht beispielsweise, wenn das Training in einem Dojo auf die Prüfungsvorbereitung ausgerichtet ist? Fast unweigerlich beschäftigen sich dann die Budoka verstärkt mit ihrer Position innerhalb des „Rankings“. Wer hat nach mir begonnen, hat aber schon denselben Kyu-Grad wie ich? Erhalten betagtere oder unbegabte Kameraden, die sich körperlich schwer tun, nach hinreichender Übungszeit eine „Gnaden-Graduierung“? Zählt die Übungsdauer mehr oder das Können und wer im Dojo hat wie viel davon vorzuweisen? Hat der Prüfer etwa Lieblinge, die er mehr fördert als andere?
Doch die Rangfolge der Graduierungen ist nur ein mögliches Konkurrenzfeld. Wessen Ego darauf aus ist, wird mühelos noch andere finden. Wer schafft es, effizienter, weicher, schärfer, schöner, schneller, genauer zu bewegen? Wer hält konditionell länger durch? Wer hat die bessere Körperhaltung? Wessen Gi sitzt schöner? Wessen Bokken pfeift lauter? Wen nimmt der Lehrer öfter als Uke? Wessen Kiai ist durchdringender? Wer hält sich genauer an die Dojo-Regeln? Wessen Knie bleiben länger gesund? Welches Dojo hat mehr Mitglieder? Wer unterrichtet das bessere, wer das „wahre Aikido“?
Kommentar von FUSHI SENSEI:
Das Aikido ist leider in zahlreiche konkurrierende Verbände zersplittert. Zum Glück haben sie aber alle eine Gemeinsamkeit: Jeder von ihnen überliefert als einziger das „wahre Aikido“.
Konkurrenz als Störfaktor
Da, wo Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, das Engagement für Frieden und Harmonie in den Mittelpunkt des Bemühens rücken, wird Konkurrenz aber zwangsläufig zum Störfaktor. Deswegen stehen viele Budoka dem Graduierungssystem mit einem gewissen Recht kritisch gegenüber. Manche verweisen darauf, dass es im Budo ursprünglich gar keine Graduierungen gegeben habe. Manche steigen aus dem Prüfungssystem ganz aus, um einfach nur ihre Kunst zu üben.
Mich am anderen und mit dem anderen zu messen bedeutet, dass ich Bewertungen vornehme und das Ziel verfolge, das Wertverhältnis zu meinen Gunsten zu verändern. Was nun, wenn ich bei einem dieser Vergleiche verliere? Heißt das, dass ich als Mensch weniger zureichend bin als andere? Was, wenn ich gewinne? Bin ich dann wirklich mehr wert als andere?
Ein so erworbener Wert steht jedenfalls nicht für sich selber. Denn er ist abhängig vom geringeren Wert des anderen. Er basiert darauf, dass andere „unter“ mir stehen.
Warnung von FUSHI SENSEI:
Du vergleichst dich mit anderen? Diesen Vergleich hast du automatisch verloren! Denn dann handelst du nicht mehr selbst-, sondern fremdbestimmt!
Das Konkurrenzgefühl als Lehrmeister
Es verstieße gegen die Dojo-Etikette, Konkurrenzbedürfnisse „auf der Matte“ auszuleben in Form von körperlichem oder verbalem Gerangel. Andererseits hat es keinen Sinn, solche Bedürfnisse unterdrücken oder verbieten zu wollen. Wenn sie da sind, sind sie da. Statt moralisierend dagegen anzukämpfen, könnte man sie auch als Chance zur Selbsterkenntnis nutzen. Nicht, indem man sie auslebt, aber indem man sie beobachtet. Dann wird man vielleicht feststellen:
Auf einer tieferen seelischen Ebene ist zwischenmenschliche Konkurrenz wohl in vielen Fällen das Symptom einer Bedürftigkeit. Wenn es mich drängt, im Vergleich zu anderen besser dazustehen, oder wenn man mir leicht das Gefühl vermitteln kann, dass ich schlechter bin als jemand anderes, kann das für mich ein Zugang zu meiner Unsicherheit sein, die sonst vielleicht unauffällig (un- oder halb bewusst) „im Untergrund“ agiert. Wenn es mich treibt, gegen andere zu bestehen und ihnen überlegen zu sein, scheine ich meinen derzeitigen Zustand als unbefriedigende Rangposition zu empfinden. Wohlgemerkt: es geht hier nicht um den „objektiven“ Unterschied im Können zwischen einem 5. Kyu und einem 1. Dan. Es geht um mein Gefühl und meinen Antrieb: Ich will unbedingt besser dastehen als XY.
Stelle ich mich bewusst meiner Selbstwahrnehmung, kann ich üben, bewusst loszulassen, wenn sich das Konkurrenzbedürfnis meldet. Etwa, wenn ich im Training auf einen „Kontrahenten“ treffe: Vielleicht fange ich unbewusst an, Kraftaufwand oder Tempo zu steigern, „um es ihm zu zeigen“. Ist mir bewusst geworden, dass ich dazu neige und was dahintersteckt, kann ich in diesem Moment selbstregulierend eingreifen. Ich kann mich bremsen und so anfangen, das Problem an der Wurzel zu packen und langsam zu verändern.
Etwas subtiler ist die Lage, wenn ich zwar nicht dazu neige, aktiv, sozusagen in Eigeninitiative zu konkurrieren, aber anfällig bin für „reaktive Konkurrenz“. Konkret: ich bemerke, dass ein anderer versucht, mit mir zu konkurrieren, und lasse mich dadurch anstecken und zur „Gegen-Konkurrenz“ verführen. Dann mischen sich zwei Versuchungen: Konkurrenz und eine Variante der Opferrolle. Sozusagen gegen meinen Willen werde ich in ein mentales Muster hineingezogen. Der Weg, daran zu arbeiten, wird auch hier am ehesten durch Sich-Bewusstmachen, Sich-Stellen und Loslassen gehen. Die Erfahrung zeigt: Oft verliert eine Fehlhaltung schon allein dadurch an Energie, dass ich beginne, sie bewusst wahrzunehmen.
Dahinter schimmert dann vielleicht immer deutlicher jene Gewissheit auf, die mir sagt: Konkurrenz trübt die Begegnung mit dem Partner und mit der Situation. Die Dinge sind nicht mehr sie selbst, sondern werden von mir mit Wichtigkeiten aufgeladen. Statt in der Begegnung mit den Partnern bewege ich mich in egoistischen Konzepten. Ich drehe mich um mich und verliere die Wahrnehmung und die Bereitschaft für das Miteinander.
Die Verantwortung der Lehrenden
In einem verantwortungsbewusst geführten Dojo mit einem guten menschlichen Klima ist es sicher kein Problem, eine ausgesprochene „Konkurrenzkultur“ zu vermeiden. Auch kann dort Konkurrenz auf „gesunde“ Weise als Motivation genutzt werden, um Tiefs zu überbrücken.
Es dürfte aber den Budoka eine Hilfe sein, wenn die Lehrenden Rang und Konkurrenz gelegentlich auch problematisieren. Die sanfteste und doch nachhaltigste Wirkung dürfte von einem bescheidenen Auftreten ausgehen, und eine vorbildhafte Selbst-Relativierung (zum Beispiel in Form von geerdeter Selbstironie) führt nie zu Gesichtsverlust, es sei denn, der Lehrer hat in der Gruppendynamik des Dojo eine angeschlagene Position.
Tipps für Lehrende von SHIKYO SENSEI:
Die folgenden Tipps könnten helfen, die Gefahr zu verringern, dass sich bei Ihren Schülern Rang-Rivalitäten und Konkurrenzdenken breitmacht:
DIE STIMME beruhigt mich:
Du brauchst dich nicht aufzuwerten.
Dein Wert ist bereits
einzigartig hoch und unerschütterlich.
Du kannst den anderen nicht abwerten.
Sein Wert ist
einzigartig hoch und unerschütterlich.
Ihr könnt nicht konkurrieren.
Euer beider Wert ist
einzigartig hoch und unerschütterlich.
Konkurrenz ist eine Illusion.
Jeder ist gut, wie er ist.
In mir meldet sich immer wieder die STIMME MEINES KONTROLLBEDÜRFNISSES:
So – sitzen die Jacke und der Knoten richtig? Dann ab auf die Matte! ... Oh, Ikkyo, sehr schön! Ich liebe Haltetechniken! Mit Timo als Partner? Interessant, der ist ja viel stärker als du, aber dein Ikkyo ist besser geworden in letzter Zeit. Heute wird ihm das Blockieren nichts mehr helfen! Haha! Siehste, Timo? ... O weh! Jetzt Kote-Gaeshi mit Vorwärtsrolle! Und Lena fordert dich auf! Die zieht immer so durch, da kommst du kaum mit! Na, erst mal bist du Nage. ... Aber jetzt Uke. Wie ich diesen Moment immer hasse! Gleich kommt ihr Hebel, los, schnell, spring schon mal! Aaaaaah! Sie war wieder schneller und hat dich erwischt. Jedes Mal so ein Scheiß-Gefühl, wenn es dir die Füße wegzieht! ...
Kontrolle bestimmt unseren Alltag
Unser ganzer Alltag – unsere alltägliche Lebensbewältigung – steht unter dem Vorzeichen des Kontrollbedürfnisses: die Sicherung unseres Lebensunterhalts, gesundheitsbewusste Ernährung, das Absperren von Türen; die Rechtsprechung und das Abschließen von Versicherungen ebenso wie die Isolierung von Stromkabeln und das Anbringen von Geländern. Wir grüßen Bekannte auf der Straße und sichern so den sozialen Frieden. Wir leinen unsere Hunde an und benutzen im Auto den Sicherheitsgurt. Das meiste ist so selbstverständlich, dass wir es gar nicht mehr als Kontrollhandlung empfinden. Gewohnheiten und Rituale entlasten unser Gehirn und geben uns das Gefühl von Vertrautheit, Sicherheit, Kontrolle. Dann gehen wir zum Aikido-Training.
Kontrollbedürfnis und Kontrollverlust im Aikido-Alltag
Jeder von uns bringt seine Kontrollbedürfnisse und -gewohnheiten mit ins Dojo. Hier aber erlebt er eine Auseinandersetzung eigener Art mit diesem Lebensthema. Körperliche und mentale Alltagsroutinen werden plötzlich in Frage gestellt und müssen neu justiert werden. Keine ganz leichte Aufgabe!
Die innere Stimme des Kontrollbedürfnisses meldet sich unweigerlich in jedem Aikido-Lebenslauf zu Wort. Sie kann schon die Entscheidung beeinflusst haben, überhaupt das Training aufzunehmen. Wenn als Motivation die Selbstverteidigung eine größere Rolle spielte, dann eben das Bedürfnis, bedrohliche Situationen, sprich: einen oder gar mehrere Angreifer unter Kontrolle bringen zu können.
Auf der Matte findet dieses Anliegen den sichtbarsten Ausdruck in den Osae-Waza-, also den Haltetechniken (Ikkyo, Nikyo, Sankyo, Yonkyo, Gokyo, aber auch Kote-Gaeshi und bestimmte Shiho-Nage- und andere Varianten). Aber natürlich geht es auch bei allen Wurftechniken darum, sich einer körperlichen Bedrohung zu entledigen. Voraussetzung für diese Fähigkeit ist ein sehr hohes Maß an Selbstkontrolle, bestehend in einer ausgefeilten, durch langjährige Übung erworbenen Disziplin des Körpers und der Psyche.
Der Weg dorthin ist weit. Anfänger sind, was das Thema Kontrolle betrifft, meist zunächst in der Uke-Rolle gefordert. Der kleine (und manchmal auch große) Schreck, wenn der Nage sich etwa durch Ikkyo oder Irimi-Nage der Kontrolle über das Zentrum des Uke bemächtigt und ihm dabei das Gleichgewicht nimmt, ist in Anfängerkursen häufig zu beobachten und nicht selten auch zu hören – wenn plötzliche Schreckensrufe ertönen.
Eine Lernschwelle stellt außerdem immer wieder die Fallschule dar. Ohne Weiteres verständlich ist es, dass sich die Neulinge ohne Budo-Vorerfahrung in die Vorwärtsrolle langsam hineinfinden müssen. Hier besteht immerhin ein gewisses Risiko von Schulterverletzungen bei technischen Fehlern. Es geht aber nicht nur um Technik, sondern auch um die Psyche. Aufschlussreich ist beispielsweise die Beobachtung, dass bei nicht wenigen Aikidoka anfangs Ushiro-Ukemi mehr Schwierigkeiten bereitet als Mae-Ukemi. Gespräche über das Problem ergaben: Während man bei Mae-Ukemi zumindest sehen kann, wohin man rollt, ist das bei Ushiro-Ukemi nur beschränkt möglich.
Insgesamt ist das Verhaltensmuster „Sich fallen lassen“ gegen unsere Instinkte gerichtet, und es braucht Zeit, bis der Genuss am Geworfen-Werden die anfänglichen (bewussten oder auch gar nicht wahrgenommenen) Ängste ablöst.
Zwischenruf von FUSHI SENSEI:
Die Matte ist dein Freund!
Ein anderes Problem mit dem Fallen ist eine Einstellung, die wir wohl in der Regel aus der Kindheit mitbringen, aus der Zeit, in der wir das Gehen gelernt haben: Fallen bedeutet scheitern. Es ist ein Zeichen von Unbeholfenheit. Wer am Boden liegt, hat daher ein Problem. Wohl auch deswegen wehren sich Aikidoka selbst dann reflexhaft gegen überraschende Attacken auf ihr Gleichgewicht, wenn sie die Fallschule eigentlich schon gut beherrschen. Es reicht also nicht, die Technik des Ukemi zu lernen. Um diese ungeplant anwenden zu können, braucht es auch die psychische Fähigkeit, sich auf das Fallen einzulassen.
Zwischenruf von FUSHI SENSEI:
Fallen ist keine Schande!
Beim technischen Training „stört“ anfangs oft ein alltägliches motorisches Muster: Wenn wir etwas physisch kontrollieren wollen – Kinder, Hunde, Getränkekästen, umkippende Zimmerpflanzen –, halten wir es fest und spannen zu diesem Zweck die Muskeln an. Im Aikido-Training kommt nun ständig der Lehrer vorbei und ruft mir zu: „Schultern runter! Locker! Bleib aufrecht! Entspann dich!“ Die im Aikido übliche Körperspannung unterscheidet sich sehr von der, an die wir im Alltag gewöhnt sind. Wir müssen lernen, dass physische Kontrolle auch anders funktionieren kann.
Auf einer intensiveren Stufe des Aikido treten oft Ängste des Kontrollverlusts auf, mit denen Anfänger wahrscheinlich gar nicht rechnen würden: Wenn es dazu kommt, dass das Miteinander darin besteht, – als Nage wie als Uke – immer deutlicher und tiefer in den Körper des Partners hineinzufühlen, den Kontakt von Mitte zu Mitte zu gestalten, kann Aikido zu einer sehr intimen Sache werden, in einer eigentümlichen Mischung aus Zartheit und Wucht. Nicht jeder Mensch hat aber mit körperlicher Intimität immer nur gute Erfahrungen gemacht. Außerdem ist körperliche Intimität in unserem Kulturkreis oft sexuell besetzt. Zumindest ist sie in der Regel auf Personen beschränkt, mit denen eine große persönliche Vertrautheit durch familiäre oder freundschaftliche Bande besteht. Aber für ein genaues Aikido – genau im Ineinander von Wahrnehmung und Bewegung – gibt es keinen Weg um diese Intimität herum. Die Begegnung der Partner wird unabhängig vom Grad persönlicher Nähe oder vom Geschlecht gesucht und gestaltet. Gelingt dies, so kann selbst mit völlig Fremden ein intensiver Grad von Innigkeit erlebt werden. Auch deswegen ist Aikido eine „Kampfkunst der Liebe“ – als Sich-Zeigen, Offenheit, Rücksicht, Fürsorge ....
Der Wert der Kontrolle
Das Kontrollbedürfnis verdient unbedingten Respekt. Es muss hier kaum erwähnt werden, dass es in unserem Selbsterhaltungstrieb wurzelt und die große Aufgabe hat, unsere körperliche und psychische Integrität zu wahren. Frauen und Männer, die wenig Chancen hatten, ein starkes Urvertrauen auszubilden, brauchen für ihr Sicherheitsgefühl mehr Kontrolle, um die Unwägbarkeiten des Lebens aushalten zu können. Aber auch für alle anderen Menschen ist Kontrolle ein fortwährendes Thema. Kontrolle über mich und meine Umwelt schenkt mir die Erfahrung von Selbstmächtigkeit und stärkt so meine Selbstsicherheit. Sie bereitet den Boden dafür, dass ich in mir zu ruhen lerne, womöglich auch dann, wenn es mal brenzlig wird.
Das Dojo ist ein Ort des Experimentierens mit Erfahrungen in dieser Richtung. Dabei stellen sich auf jedem Level andere Aufgaben. Langjährige Aikidoka sind so sehr daran gewöhnt, dass sie das Spezielle ihrer Kampfkunst oft gar nicht mehr bemerken: Einen anderen Menschen umzuwerfen ist ein besonderes Erlebnis von Macht, das man im Alltag nie machen kann. Wenn sich Anfänger also allmählich ihr technisches Können erarbeiten, machen sie zuhauf solche außeralltäglichen Erfahrungen und beziehen daraus nicht selten ein gestärktes Selbstwertgefühl. Zumindest von Kindern und Jugendlichen habe ich das oft gehört.
Langfristig wichtiger ist in der Aikido-Realität aber wohl die Erfahrung zunehmender Selbstkontrolle: Die körperlichen Abläufe werden immer genauer und effizienter; die Atmung immer tiefer; die Fähigkeit, Konzentration und Präsenz in einem Augenblick zu aktivieren und nachhaltig fortzuführen (s. Kap. 3.3.3 Zanshin – fortwährende Bewusstheit), wird immer ausgeprägter.
Und doch: Kontrolle allein macht noch kein gutes Aikido aus. Sie hat nämlich auch eine „dunkle“ Kehrseite, die mehr stört als hilft.
Kontrolle als Problem
Es ist nachvollziehbar, wenn manche Menschen Aikido vor allem unter Kontrollaspekten betreiben wollen. Dauerhaft praktikabel ist dies aber nicht. Irgendwann wird ihr Üben zum Stillstand kommen. Das Kontrollbedürfnis wird dann zur Störung und auch zum Risiko, und zwar aus mehreren Gründen.
Es wurde schon das Beispiel genannt, dass der Versuch der Kontrolle von Partnern mittels starker Muskelanspannung ein typisches Anfängerproblem ist. Es dauert eine Weile, bis sich die Wahrnehmung entwickelt, dass eine Verbindung „von Mitte zu Mitte“ viel effizienter ist und dass jede Aikido-Technik sie anstrebt. Hierin liegt eines der Geheimnisse, warum auch Menschen mit wenig Muskelkraft sehr gute Aikidoka werden können. Manche brauchen aber lange, bis sie aus dem alten Muster in das neue finden. Bis dahin sind sie als Übungspartner nicht unbedingt besonders beliebt ...
Ist eine gewisse Routine entstanden, machen die Übenden die Erfahrung, dass es tatsächlich gelingt, durch adäquat ausgeführte Aikido-Techniken die Kontrolle über andere zu erlangen. Eine Gefahr, die nun auftreten kann, ist das einseitige Steckenbleiben in technischen Kontroll-Aspekten; dann nämlich, wenn beispielsweise der technische Perfektionismus (s. Kap. 2.2.9) oder die Dominanz (s. Kap. 2.2.2 Dominanzstreben) über den anderen zum Haupt-Interesse des gesamten Trainierens wird.
Aus einer eher martialischen Sicht ist in diesem Zusammenhang zu sagen: Die Art, wie Aikido fast immer geübt wird, unterscheidet sich wesentlich von einer realen Bedrohungssituation. Während der Uke im Dojo bei den meisten Übungsformen nach einem festen Muster „attackiert“, ist ein echter Angreifer natürlich an keinerlei Regeln gebunden. Zudem ist die Palette der Angriffsformen im Aikido-Training ausgesprochen begrenzt im Vergleich zu den vielfältigen realen Möglichkeiten. Und wenn man – wie auf der Matte – auf Angriffe nach festen Mustern reagierte, würde das Ritual zur taktischen Gefahr: Die Vorhersehbar- und Durchschaubarkeit meiner Reaktionen wäre ein Vorteil für meinen Gegner. Zu denken, das Aikido-Training diene direkt und hauptsächlich einer Vorbereitung auf reale Angriffe, wäre also naiv. Dafür ist es viel zu wenig „praxisorientiert“. Die Kontrolle über reale Angreifer lernt man nicht oder jedenfalls nicht allein durch technisches Aikido-Training.
Ein anderes Problem für das Kontrollbedürfnis ist die Komplexität der Aikido-Bewegungen. Durch willkürliches, vom Bewusstsein gesteuertes Tun ist sie nicht angemessen zu bewältigen. Das viel strapazierte Gleichnis vom Tausendfüßler illustriert das Problem sehr treffend. Für diejenigen, die es nicht kennen sollten, hier sein Inhalt:
FUSHI SENSEI erzählt das Gleichnis vom Tausendfüßler: