"Im Westen hat man jetzt rund 70 Jahre in Frieden gelebt" sagte mir Peter Scholl-Latour eines Abends, als wir zusammen in seiner Wohnung eines unserer vielen Gespräche führten. "Dadurch ist man heute der Meinung, der Frieden sei der Normalzustand. 70 Jahre bin ich auch schon als Journalist tätig und reise ständig an die Brennpunkte der Welt, so dass ich die Auffassung vertrete, oder leider vertreten muss, dass der Frieden nicht der Normalzustand ist, sondern der Krieg - und dass keine Gesellschaft sich einbilden sollte, sie hätte den Frieden für sich und für alle Zeiten gepachtet!"
Über die Gegenwart äußerte er damals: "Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung." Eine Aussage, die er in einem Interview mit mir im Auftrag von Telepolis anlässlich seines 90. Geburtstages tätigte – und eine Aussage, die bis heute unzählige Male zitiert wurde und wird.
Es war der 9. März 2014.
Zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Peter Scholl-Latour seinen beruflichen Durchbruch erlebte, hatte er bei seinen Reisen um die Welt (flankiert vom immensen Wissen eines Mannes, der noch in historischen Dimensionen zu denken verstand) erkannt, worauf wir uns zubewegen. Er war Zeuge davon, wie sich die neue Welt aus den Schatten des Zweiten Weltkrieges abzuzeichnen begann. Er war Zeuge der Dekolonialisierung, des beginnenden Ost-West-Konfliktes, in dem niemand mehr darauf gewettet hatte, dass es noch einmal so etwas wie eine Rückkehr der Religion geben könne oder dürfe.
Die Welt wurde eines Besseren belehrt - und spürt heute die Folgen.
Schon früh, schon nach dem Ende des Kalten Krieges, als die USA als triumphierende verbliebene Supermacht für ewig den Lauf der Erde zu bestimmen schienen, wies Peter Scholl-Latour auf die Gefährdung großer Imperien hin - und auf deren Vergänglichkeit im unerbittlichen Aufstieg und Fall großer Mächte. Den Thesen des amerikanischen Politologen Fukuyama, der damals das Ende der Geschichte verkündete, widersprach er heftig und wies in privaten Gesprächen gerne darauf hin, dass die "Brave New World" von Huxley, jene Karikatur einer hedonistischen Utopie, die denkbar erschien, kurz vor dem Auftauchen Hitlers veröffentlicht wurde.
Leben wir also in einem Zeitalter des Zerfalls, wie es der Titel dieses eBooks suggeriert?
Auf diese Frage wird es sicherlich keine eindeutige Antwort geben. Was auf der einen Seite zerfällt, das blüht auf der anderen Seite wieder auf.
Zerfallen ist aber die Gewissheit, dass wir uns am "Ende der Geschichte" befinden. Der Wandel ist sicher, der Ausgang ungewiss - und das Paradies bleibt eine Utopie: Geschichte kommt nicht einfach an ein "Ende".
Ramon Schack
Zeitalter des Zerfalls
Gespräche zu Entwicklungen unserer Epoche
Herausgeber der Reihe: Florian Rötzer
Umschlaggestaltung & Herstellung: Michael Schuberthan
ISBN 978-3-95788-086-4 (V1)
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Karl-Wiechert-Allee 10
30625 Hannover
Titel
Vorwort
"Es ging und geht um geostrategische Interessen"
Karin Leukefeld über die Geschichte Syriens und die beiden Assads
Vom Partner zum Problem
Sebastian Sons, der Saudi-Arabien-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, meint, dass das Land den Nahen Osten nicht mehr stabilisiert
"Ich halte Saudi-Arabien langfristig für noch gefährlicher als den Iran"
Der deutsch-ägyptische Autor und Islamkritiker Hamed Abdel-Samad musste wegen Morddrohungen untertauchen. Ein Gespräch mit ihm über die Gefahr, die von Islamisten ausgeht und wie Deutschland gegenüber Ägypten reagieren sollte
"Im Westen hat man noch immer nichts aus dem 'Arabischen Frühling' gelernt"
Peter Scholl-Latour über den Syrien-Konflikt, die Rolle der Türkei und die Rebellen
"Pakistan und Afghanistan sind schicksalhaft miteinander verbunden"
Ahmed Rashid glaubt, dass die Region eine Chance auf Stabilität hätte, wenn Peking, Teheran und Washington zusammenarbeiten würden
"Wir sollten von einem asymmetrischen dreißigjährigen Krieg ausgehen!"
Der ehemalige CIA-Agent Robert Baer über den gescheiterten Kampf gegen den Terror und warum Europa eine leichte Beute für den Terrorismus sein könnte
Gegenüber Russland wähnt sich der Westen noch immer im Kalten Krieg
Peter Scholl-Latour über das Verhältnis Russland-USA nach dem Asyl für Snowden, die Fehler, die gegenüber Russland begangen wurden, und die Entwicklungen in Ägypten und Syrien
"Europa befindet sich seit mehreren Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang"
Der belgische Historiker David Engels vergleicht den aktuellen Zustand der EU mitsamt der terroristischen Bedrohung mit dem Untergang der Römischen Republik
"Es geht nur um Männer in dieser Welt …"
Ein Interview mit Akif Pirinçci, der seinen Auftritt bei Pegida bedauert und vor einem Sex-Krieg warnt
"Pussycats"
Martin van Creveld glaubt, dass der Westen zu verweichlicht ist, um in Zukunft noch Kriege zu gewinnen
Scholl-Latour: "Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung"
Zu seinem 90. Geburtstag wirft der Journalist und Islamexperte, der Gott und die Welt kennt, einen Blick auf sein Leben und auch auf die Krise in der Ukraine
Pilgerfahrt durch die Welt des islamischen Mittelalters
Erich Follath über Ibn Battuta, den "König aller Reisenden"
Impressum
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Hg.: Tomasz Konicz, Florian Rötzer
Der halbe Hegemon Die Rückkehr der "deutschen Frage" und die Lage der EU mehr▶ |
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Kurt Gritsch
Nie wieder Krieg (ohne uns)! Die Rolle von Grünen, Linken und Medien im Kosovo-Krieg mehr▶ |
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Thomas Moser
NSU: Die doppelte Vertuschung Schauplätze und Schlüsselfälle, offene Fragen, Widersprüchliches und Grundsätzliches mehr▶ |
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Konrad Lehmann
Neues vom Gehirn Essays zu Erkenntnissen der Neurobiologie mehr▶ |
Karin Leukefeld über die Geschichte Syriens und die beiden Assads
Karin Leukefeld ist eine Journalistin, die den Orient aus eigener Anschauung kennt und auch dann in Länder wie Syrien oder den Irak reist, wenn dort Krieg herrscht. Dabei kommt sie oft zu ganz anderen Ergebnissen als das Gros der Kommentare in deutschen Mainstreammedien, die trotzdem immer wieder auf ihre Vor-Ort-Berichte zurückgreifen.
▶ Frau Leukefeld, beginnen wir unser Gespräch mit einer Frage zur geopolitischen Ausgangslage Syriens im 6. Kriegsjahr. Hat dieser Konflikt, der unzählige Menschenleben forderte und große Zerstörungen anrichtete, das ideologische Fundament, auf dem die regierende Baath-Partei ruht, das Konzept des arabischen Nationalismus säkularer Prägung eher gestärkt oder geschwächt?
Karin Leukefeld: Das sind mehrere Fragen in einer. Einmal die Frage nach dem arabischen Nationalismus, dann die Frage nach dem Säkularismus, dann die Frage nach der Baath-Partei.
Das Konzept des arabischen Nationalismus ist unter den politischen Parteien in Syrien seit den 1950er Jahren - als es unter Gamal Abdul Nasser eine politische Union mit Ägypten gab (1959-1962) - umstritten. Angesichts der aktuellen massiven und destruktiven arabischen Einmischung in die ursprünglich innersyrischen Angelegenheiten, angesichts der Bewaffnung von Kampfgruppen usw. sehen sich Syrer, die nicht den Kampfgruppen oder der mit diesen verbündeten Auslandsopposition angehören, in ihrer Mehrheit von den arabischen Staaten eher verraten. Am ehesten dürfte man sich noch mit Ägypten verbunden fühlen, das sich um Vermittlung bemüht.
Das Konzept des Säkularismus in Syrien ist nicht allein ein Konzept der Baath-Partei, es ist ein Konzept, das parteiübergreifend von den Syrern seit ihrer Unabhängigkeit 1946 für richtig gefunden und respektiert wird. Das betrifft auch politische Gegner der Baath-Partei, beispielsweise die kurdischen Organisationen im Norden des Landes. Alle religiösen und ethnischen Minderheiten und eine große Zahl der sunnitischen Muslime in Syrien lehnen den politischen Islam ab. Die einzige Partei, die den Säkularismus ablehnt, ist die Muslimbruderschaft - die in Syrien verboten ist - und die aus ihr hervorgegangenen islamistischen Kampfgruppen. Diese Gruppen streben ein islamisches Kalifat in Syrien an.
Dann die Frage nach der Baath-Partei, die den aktuellen Konflikt bisher überlebt hat. Es gibt m.W. innerhalb der Partei starke Widersprüche. Es gibt Reformer, Kritiker hinsichtlich des Umgangs mit dem aktuellen Konflikt. In diese Debatten habe ich keinen Einblick.
Panarabismus
▶ Ist der Panarabismus, der ursprünglich eine Zielsetzung der Baath-Partei war, in der Bevölkerung Syriens noch als wünschenswerte Vision verbreitet?
Karin Leukefeld: Die Idee des Panarabismus ist eine Ideologie, die in den 1950er und 1960er Jahren große Unterstützung hatte. Nicht nur in Syrien. Die Palästinenser, die Ägypter, die Iraker - für sie alle war die Idee des arabischen Nationalismus eine starke Vision.
Das ist lange her. Es gab eine Fülle von Kriegen seither - und es hat sich gezeigt, dass sich die arabischen Staaten (vor allem die Golfstaaten) an das westliche Lager, an die USA, an die NATO anlehnen. Diese Haltung wird in Syrien - egal ob Baath-Partei oder nicht - mehrheitlich abgelehnt. Die Ideologie der Baath-Partei aus den 1950er Jahren, die vor allem die Jugend in den Städten angezogen hatte, ist zwar verblasst, aber die Ideen der Unabhängigkeit, des Säkularismus, der arabischen Solidarität - vor allem mit den Palästinensern - haben in weiten Teilen der Bevölkerung weiterhin Bestand.
Als Beispiel möchte ich auf die Aufnahme von einer halben Million Palästinenser in Syrien seit 1948 hinweisen, die rechtlich den Syrern weitgehend gleichgestellt waren. Auch die Aufnahme von 1,5 Millionen irakischer Kriegsflüchtlinge und von hunderttausenden libanesischen Kriegsflüchtlingen (zuletzt 2006) war für die Syrer eine Selbstverständlichkeit. Selbst Kriegsflüchtlinge aus dem Sudan waren in Syrien willkommen. Diese praktische Solidarität hat mit der syrischen Zivilisation und Kultur mehr zu tun, als mit der Ideologie einer Partei.
▶ In Ihrem Buch "Syrien zwischen Licht und Schatten" , beschreiben Sie die Herrschaft von Hafiz al-Assad ab 1971 und von dessen Sohn Baschar ab 2000 als eine Art doppelköpfiges Phänomen: einerseits fortschrittlich um alle Teile der Gesellschaft werbend, andererseits hart und autokratisch im Umgang mit ihren Gegnern, gestützt auf Militär und Geheimdienste. Handelt es sich nicht in Wirklichkeit um ein Herrschaftsinstrument der Alawiten, also einer religiösen Minderheit von etwa 12% der Bevölkerung Syriens, zu der auch Assad selbst zählt?
Karin Leukefeld: Zunächst sind Hafez al-Assad und sein Sohn Baschar nicht zu vergleichen. Das habe ich versucht, in meinem Buch deutlich zu machen. Beide sind völlig unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlicher Ausbildung und Erfahrung. Zudem stehen beide für völlig unterschiedliche Phasen der syrischen Geschichte.
Was beide gemein haben, ist, dass weder Assad Senior noch der amtierende Präsident Baschar al-Assad sich als Herrscher einer Minderheit verstanden haben. Diese Interpretation, die ja auch eine Stigmatisierung einer bestimmten Gruppe darstellt, bedient eine Sicht auf Syrien, die der vielschichtigen und komplexen Realität und Geschichte des Landes nicht gerecht wird.
Syrien lebt in und von seiner religiösen und ethnischen Vielfalt. Ob Mehrheit oder Minderheit, alle gehören zu Syrien und zur Kultur des fruchtbaren Halbmondes. Wenn bestimmte Gruppen aktuell eine besondere Rolle spielen, kann und muss das zuerst aus der Geschichte heraus erklärt werden.
Während der Herrschaft des Osmanischen Reiches und in den Jahrhunderten der vorherigen sunnitisch-muslimischen Herrscher zählten die Alawiten - eine Strömung des schiitischen Islam - zu den Unterprivilegierten. Sie durften Schulen und Universitäten nicht besuchen.
Unter dem französischen Mandat wurden die Alawiten - wie übrigens auch die Kurden - instrumentalisiert, um den starken arabischen Nationalismus in Aleppo und Damaskus zu brechen. Die Franzosen teilten Syrien 1922 in fünf Kleinstaaten auf, darunter war ein Staat für die Alawiten. Sie ermöglichten ihnen den Schulbesuch und eine Karriere in der neuen Armee. So wurde Hafez al-Assad, der als erster seines Dorfes die Oberschule in Lattakia und dann die Militärakademie in Aleppo besuchen konnte, ein Offizier.
Mit der Machtübernahme 1973 sah Assad sich mit vielen Erwartungen seitens der Alawiten konfrontiert. Wie die Kurden Salaheddin nach Damaskus folgten und die Turkmenen während des Osmanischen Reiches sich in Aleppo, Homs und Damaskus niederließen, folgten die Alawiten Assad nach Damaskus. Sie erwarteten und erhielten - wenn auch nicht alle - Arbeitsmöglichkeiten im Regierungsapparat.
Das "Regime", das Hafez al-Assad in den 1970er Jahren nach einer langen Zeit politischer Unruhen und Putschen durchgesetzt hat, war kein Machtinstrument seiner Familie, sondern der Versuch, alle Schichten, alle Gruppen, alle Interessen einzubeziehen: Stämme, Händler, Kleriker, einflussreiche Familien - alle sollten ihre Interessen vertreten können und so zur Stabilisierung Syriens beitragen.
Die Aussage, dass eine Minderheit, die Alawiten, und der "Assad-Clan" Syrien "wie eine Farm" regieren würden - eine häufige Darstellung von Oppositionellen - ist unpolitisch, unhistorisch und soll die syrische Regierung und Baschar al-Assad abwerten. Ja, es gibt Vetternwirtschaft und Korruption - aber nicht nur unter den Alawiten oder der Familie Assad. Von Baschar al-Assad heißt es übrigens, er sei "nicht hungrig", also nicht korrupt. Viele nicht-alawitische Syrer unterstützen ihn, weil er für ein tolerantes, modernes und vor allem für ein säkulares Syrien steht.
Strategische Partnerschaft
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