Eva-Maria Obermann
Ellas Schmetterlinge
Das Buch:
Voller Ehrgeiz kommt Jan mit seiner Freundin Mirijam nach Mingheim. Von hier aus kann er seine neue Stelle erreichen und das Dorf bietet eine wunderbare Idylle, um eine Familie zu gründen. Findet Jan. Mirijam ist weder mit Mingheim noch mit einem schnellen Ende ihrer Zweisamkeit einverstanden. Wie gut, dass die neue Nachbarin Ella jung und Mutter ist. Als er die Zickereien seiner Freundin nicht mehr aushält, sorgt Jan dafür, dass Ella Mirijam unter ihre Fittiche nimmt. Gleichzeitig wird er mit mehr konfrontiert als nur der neuen Arbeit. Alles ändert sich. Und auf einmal hat Jan Geheimnisse, die nie ans Licht kommen dürfen, vor allem nicht vor Mirijam, die endlich dabei ist, anzukommen.
Eine turbulente Geschichte um Freundschaft, Liebe und um die Kapriolen eines Dorfes.
Die Autorin:
Eva-Maria Obermann kam im Mai 1987 zur Welt. Erste literarische Schritte ging sie mit zwölf Jahren in der Lyrik und blühte dabei auf. Das Schreiben wurde ihr Halt in schweren Zeiten. 2009 erschien ihr Gedichtband »Seelentropfen – 100 Gedichte«, ein Jahr danach nahm sie ein Studium der Germanistik auf und kam zu Hause an. Im selben Jahr erschien das Kinder-Sachbuch »In Mamas Bauch«. Es folgten Veröffentlichungen in Anthologien und die Arbeit an größeren Projekten. 2017 erscheint außerdem ihr erster Fantasyroman »Zeitlose – Simeons Rückkehr«. Nachdem sie ihr Studium mit Bestnoten abgeschlossen hat, promoviert sie derzeit in der Literaturwissenschaft. Daneben betreibt sie einen Buchblog, schreibt ab und an für das Schifferstadter Tagblatt und regelmäßig für das face2face-magazin. Sie ist Mitglied der regionalen Dichtergruppe DichterZusammen, mit der sie als Herausgeberin und Autorin aktuell zwei Anthologien veröffentlicht hat, und Teil der BartBroAuthors. Mit ihrem Mann, drei Kindern und einer Katze lebt sie in einer kleinen Stadt in der Pfalz. Literatur ist ihr Leben.
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Eva-Maria Obermann
Roman
Ellas Schmetterlinge
Eva-Maria Obermann
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ISBNs: 978-9963-53-707-5 (Paperback)
978-9963-53-708-2 (E-Book .pdf)
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Urheberrechtlich geschütztes Material
Für meine Freundinnen Christine, Aylissa und Gülcin
Für meine Liebe und besten Freund Andreas
Für Keule, Nudel und Knopf
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Kapitel 1
Die Straßen stanken nach faulem Gemüse, die Brunnen waren überzogen mit schleimigen Algen, und aus der Ferne drang der Geruch von Dung und Wiesen heran. Dieses Kaff hatte nichts, wirklich nichts!
Ich hasste es. Der Natur näherte ich mich freiwillig auf keine zehn Meter. Ein Zoobesuch war das Langweiligste der Welt. Wie schafften es diese Leute stundenlang auf irgendwelche Tiere zu starren, wie sie sich selbst den Arsch ableckten, aus dreckigen Kübeln fraßen und die Reste in ihrem Wasser verteilten, das schnell einen fauligen Gestank durch das gesamte Gelände schickte? Auch an Pflanzen fand ich nichts, zu viel Aufwand für etwas fahles Grün und zu wenige Blüten, die bald verrottet und schließlich vom Boden jeder Wohnung gesammelt werden musste. Nein, danke.
Ich war in der Stadt aufgewachsen, und da wollte ich auch bleiben. Dort, wo ich die Geräusche einordnen konnte. Von diesem andauernden Vogelgezwitscher bekam ich höchstens Migräne. Um keinen Preis der Welt wollte ich dortbleiben.
Schon hatte ich mich umgewandt, die Autotür im Visier. Das konnte er sich abschminken!
Wie aufs Stichwort meldete sich Jan zu Wort. »Da ist es«, sagte er und zeigte auf ein halb verfallenes Häuschen in dreckigem Weiß.
Jan hatte im Nachbardorf einen neuen, gut bezahlten Job gefunden, und in seiner anhaltenden Euphorie wollte er unbedingt auch in der Nähe wohnen. Zu blöd, dass außen herum nur eines war: Dorf und Feld. Die nächste größere Stadt war mehr als eine Stunde entfernt, und so musste ich mit diesem Kaff vorliebnehmen, das sich tatsächlich Stadt schimpfte. Außer dem Örtchen, in das er mich gerade verfrachtet hatte, stand noch ein weiteres zur Debatte. Etwas weiter weg, angeblich etwas größer. Missmutig folgte ich seinem Blick.
Statt vernünftiger Rollläden hatte das Haus hölzerne Klappdinger, und das Hoftor bestand aus diesen hässlich-grünen Plexiglaswellen. Doch Jan hatte recht, denn auf dem gräulichen Verputz, der schon am Herabfallen war, prangte hämisch die Hausnummer drei.
Panisch versuchte ich, diesen Albtraum zu beenden, ehe er in vollem Gange war. »Jan, ehrlich, das geht nicht. Ich find es jetzt schon scheußlich.«
Verdutzt sah er auf. »Warum das denn?«
»Hallo? Erde an Jan. Das hier ist die Ausgeburt des Kuhkaffs. Das kann nicht dein Ernst sein.«
Er lachte auf. »Ach Süße. Du mein Stadtmensch. Jetzt lass uns das Ganze erst mal von innen anschauen. Und dann fahren wir kurz durch die Stadt, da wirst du sehen, dass es hier alles gibt, was du brauchst.«
»Mannomann, musst du verpeilt sein, wenn du das hier als Stadt bezeichnest. Vermutlich kommt hier noch der Pastor zum Mittagessen und es ist völlig normal, wenn der Cousin sich an die Cousine ranmacht.«
Er nahm meinen Einwand offensichtlich nicht ernst, sondernd drückte lachend auf den oberen Klingelknopf dieses furchtbaren Hauses.
Ein schrilles Geräusch drang bis auf die Straße und hallte an den Häuserwänden entlang. Instinktiv sah ich mich nach Leuten um, die diese Peinlichkeit gehört hatten, als mir einfiel, dass hier ja keiner war, der hätte glotzen können.
Mit einem gewaltigen Knall wurde oben ein Fenster geöffnet, sodass der Rahmen an die Hauswand schlug. Ein weißer Lockenkopf lugte hervor, der zu einer Mumie zu gehören schien.
»Ja?«, schrie die Mumie mit einer schrillen Stimme, die Teil ihres Fluches sein musste.
Unbeeindruckt lächelte Jan hinauf. »Ja, hallo. Frau Weiskopf? Wir wollten uns die Wohnung anschauen. Wir hatten einen Termin vereinbart.«
Die Mumie, die Frau Weiskopf hieß, kniff die Augen zusammen. »Ja, ja. Ich komme.« Mit einem weiteren Rums schloss sie das Fenster wieder, und ich schätzte ab, ob sie es merkte, wenn wir jetzt schnell abhauten.
»Nette Frau«, murmelte Jan und unterbrach mein Fluchtplanplanen. Perplex starrte ich ihn an.
»Die Frau Weiskopf. Sie wirkt doch ganz nett.«
Fassungslos war ich zu keinem Satz fähig und murmelte etwas von Mumien und Fluch, das er nicht verstand. Also schüttelte ich den Kopf und starrte zu Boden.
Etwa eine Stunde unnötige Wohnungsbesichtigung und Kaff-Sightseeing lagen vor mir. Eine Stunde meines Lebens, die mir nie wiedergebracht würde. Aber was tut man nicht alles für den Mann, den man liebt. Und ich liebte Jan, das stand nicht zur Debatte. So sehr, dass ich überall mit ihm hingegangen wäre. Aber musste es ausgerechnet Mingheim sein?
Nachdem ich einen ungefähren Wert für die Anzahl der Backsteine im Fußweg ermittelt hatte und die Mumie immer noch nicht an der Tür war, wagte ich einen Vorstoß in Richtung Flucht. »Vielleicht ist sie auf dem Weg runter krepiert.«
»Miri!«
»Mal echt. Wir warten bestimmt schon eine halbe Stunde.«
»Fünf Minuten.«
»Gar nicht wahr.«
»Ich habe auf die Uhr geschaut.«
»Aha. Und wenn deine Uhr stehen geblieben ist?«
»Ist sie nicht.«
»Wenn aber doch?«
»Sie tickt noch.«
»Ja, vielleicht ist sie zwischendurch stehen geblieben und geht jetzt wieder. Oder es ist ein Phantomticken.«
»Sie ist nicht stehen geblieben!«
»Aber …«
Ich wurde grob unterbrochen, als zu hören war, wie sich die schwere Haustür öffnete. Schlurfende Schritte kamen auf das Hoftor zu, und einen Moment fürchtete ich, die Mumie würde uns gleich packen, doch dann raschelte ein Schlüsselbund. »Moment noch«, piepte eine Stimme.
Aus der Nähe sah Frau Weiskopf weniger wie eine Mumie als wie eine Menschenfresserin aus. Ihre Haut hing am Hals ziemlich wabbelig hinunter und war übersät von dunklen Flecken. Erschrocken ergriff ich Jans Hand, der diesen Akt der Angst falsch verstand. Er zog mich hinter sich durch das Tor, als die Menschenfressermumie uns hereinbat. Knatternd schloss sich die Tür hinter uns, nun gab es keinen Ausweg mehr.
Der Hof war karg und trist. Das angerostete Garagentor verriet, dass dahinter kein Auto stand, das in letzter Zeit die Straße gesehen hätte. Ein paar Blumenkübel arbeiteten gegen das Grau, doch ihre Lage war ebenso hoffnungslos wie meine. Hinter Frau Weiskopf her zog mein Liebster mich immer weiter in das Haus des Grauens hinein.
Die Haustür war tatsächlich schwer. Als ich sie zumachen wollte, riss sie sich aus meinen Händen und knallte laut ins Schloss. Der Mumie machte es offensichtlich nichts aus, aber Jan warf mir einen vorwurfvollen Blick zu.
Eine breite Treppe führte in den ersten Stock, doch Frau Weiskopf wandte sich nach links. »Hier lang.« Sie überprüfte jeden Schlüssel an ihrem Bund, ehe sie den richtigen gefunden hatte, obwohl ich hätte schwören können, dass sie genau denselben schon als Erstes in der Hand gehalten hatte. Dann endlich kamen wir in die Wohnung, die Jan so hochgepriesen hatte, und standen direkt in der Küche. Links von der Tür befand sich eine schmale Küchenzeile mit einem alten Herd und Backofen.
»Hier können Sie dann auch essen«, kommentierte die Mumie und führte uns weiter in das angrenzende Wohnzimmer. Ein länglicher, kurzer Schlauch, dessen Fenster auf die Straße blickte. Davor hingen schwere Vorhänge, sodass der Raum dunkel und unheimlich wirkte.
Zwischendurch gab Jan immer wieder ein »Ja«, oder ein »Hm« von sich. Schnell endete die Besichtigung im sogenannten Schlafzimmer. Ebenso schmal, aber um einiges kürzer als das Wohnzimmer links davon, dafür mit zwei Fenstern, von denen eines zur Straße, das andere zum Hof gerichtet war. Im ersten Moment dachte ich, es müsste noch eine Tür in ein weiteres Zimmer geben, doch die Wand war durchweg mit einer gelbstichigen Tapete beklebt. Vielleicht hatte man ja vor Jahren einen Menschen eingemauert. Herr Mumie zum Beispiel. Allerdings war dieses Kaff so furchtbar idyllisch, dass Leichen im Keller selbst mir unglaubwürdig schienen.
So gräulich ich dieses dunkle Loch auch fand, die meiste Angst bereiteten mir Jans glühende Augen und sein begeistertes Gehabe. Das konnte unmöglich sein Ernst sein.
»Soll ich Ihnen noch mal die Küche zeigen?«, fragte die Mumie an mich gewandt.
Ich folgte ihr, allein um Jans freudigem Blick zu entkommen, und sie erklärte mir eindringlich, wie man Herd und Ofen benutzen sollte.
»Da müssen sie aber achtgeben, dass die Platten immer aus sind. Und den Ofen lassen sie mir nicht an, wenn Sie aus dem Haus gehen.«
Moment, dachte ich. Erstens hatten wir meines Wissens noch keinen Mietvertrag unterschrieben, zweitens konnte ich durchaus mit Herd und Ofen umgehen und drittens war ich doch nicht allein fürs Essen zuständig. Ich habe auch einen Job, na ja, zumindest hatte ich den mal.
Bis vor Kurzem hatte ich tatsächlich eine ganz nette Stelle in einer netten Großstadtbank gehabt. Bis die Filiale umzog und ihre Angestellten nicht mitgenommen hatte. Das war nun drei Monate her. Seitdem hatte ich nichts gefunden, und ausgerechnet in diesem Kaff wurde gerade eine Bankkauffrau gesucht, sodass Jan mich am liebsten schon zum Vorstellungsgespräch geschickt hätte. Trotzdem, in unserer Beziehung herrschte Gleichberechtigung.
Glücklicherweise kam Jan gerade aus dem Wohnzimmer zurück, sonst hätte ich der Mumie mal ein paar Fakten über Frauenemanzipation und Neuzeit erzählt. Sein Blick verriet, was ich schon befürchtete, er war von dieser Bruchbude total begeistert. Schnell hakte ich im Kopf mögliche Einwände ab und fand einen ziemlich guten, wie ich fand.
»Wo ist eigentlich das Bad?«, fragte ich zuckersüß, und aus Jans Augen wich etwas Euphorie.
»Ach das«, sagte Frau Weiskopf. »Da müssen Sie hier raus.« Sie wies auf die Wohnungstür, und ich triumphierte innerlich.
Gut möglich, dass es da draußen nur ein Plumpsklo und einen Gartenschlauch gab. Zugegeben, so ganz konnte ich es auch nicht glauben, also trottete ich artig hinter der Mumie her. Tatsächlich gab es auf dem Flur neben der Wohnungstür eine weitere, die durch ihre graue Farbe den Eindruck erweckte, zuvor Teil der Wand zu sein. Deswegen war das Schlafzimmer so kurz geraten. Hinter der gelbstichigen Tapete war nicht etwa Herr Mumie verborgen, sondern das, was in diesem Kaff offensichtlich Badezimmer genannt wurde. Eine Dusch-Badewanne und ein kleines Klo fristeten ein tristes Dasein in abgewaschenem Weiß. Ein Waschbecken mit Spiegelschrank darüber gab es auch noch.
»Sie müssen dann hier raus, wenn Sie baden oder auf die Toilette wollen«, erklärte Frau Weiskopf, was uns auch gerade klar geworden war.
Mittlerweile war Jans Gesichtsausdruck wieder ernster geworden. Mit leicht verschränkten Armen richtete er sich an die Menschenfressermumie, während ich auf dem Klodeckel Platz nahm. Dieser schlechte Film musste doch ein Ende haben.
»Ja, hm, und wie war das mit der Miete?«
Wieso fragte er das? Diese Informationen hatte er doch bereits im Internet gelesen, warum zum Teufel musste er jetzt noch mal alles aus ihrem Mund hören? Bei ihrem Alter konnte das Tage dauern.
»Also«, begann sie. »Heizung und Wasser geht über eine Leitung, da müssen Sie eine Pauschale zahlen. Da muss ich erst noch mal nachfragen, wie ich das machen kann. Wissen Sie, was Sie so verbraucht haben?«
Jan nickte todernst. »Ja, das kann ich auf den Jahresabrechnungen nachlesen.«
»Gut, und wenn dann der Schornsteinfeger kommt oder so was ist, dann müsste man das halt teilen.«
Immer noch nickte mein Freund mit einem Gesicht, als würde er gerade eine Versicherung abschließen.
»Ich glaub, das sind so achtzig Euro für die Nebenkosten, je nachdem, was Sie verbrauchen. Telefon und Fernseher müssen Sie selbst zahlen.«
»Aber Heizung ist dabei?«
»Jaja, Heizung, Strom, Wasser, Müll.«
Offenbar war Jan in seinem Element.
»Und die Kaltmiete. Was macht das dann?«
»Ja kalt sind’s zweihundertfünfzig, insgesamt also so dreihundertdreißig Euro.«
Ich zuckte zusammen, das war selbst für so eine Wohnung ein Spottpreis.
»Und was müssten wir da noch beachten?«, fragte Jan.
»Also, wenn Sie Haustiere haben, das muss ich wissen. Ein Hund geht nicht wegen dem Garten, und sonst müsste man drüber reden. Und dann müssen Sie alle zwei Wochen den Gehweg kehren. Manchmal auch öfter, ich bin oft bei meiner Tochter, die wohnt weiter weg. Und dann müssten Sie sich ein bisschen um den Garten kümmern, und vielleicht mal putzen.«
»Wie bald müssen wir uns denn entscheiden?«, fragte ich schnell, als ich Jans Nicken so verstand, dass er gleich mieten wollte.
Etwas überrascht, dass ich mich zu Wort meldete, sah die Mumie mich an. »Ja, äh. Also wie Sie wollen. Da kommen erst nächste Woche noch welche.«
Damit stand ich auf, hatte meine Entschlossenheit plötzlich wieder und griff nach Jans Hand. »Vielen Dank M… äh, Frau Weiskopf. Wir müssen jetzt schauen, die Unterlagen raussuchen und dann melden wir uns wieder«, flötete ich und zog den verdutzten Jan schnell aus dieser Horrorwohnung, in die Freiheit meines Autos. »Lass uns nie wieder darüber reden!«
Tatsächlich verstand Jan nicht, was ich meinte, doch kaum hatte er den Motor an, sah er nur noch auf die Straße. Manchmal ist es auch von Vorteil, wenn Männer kein Multitasking beherrschen.
Nachdem wir uns Aldi, Lidl und Real angeschaut hatten, besser gesagt, daran vorbeigefahren waren, bestand Jan allen Ernstes darauf, in die Innenstadt, wie er es nannte, zu fahren. Ein leeres Modehaus stand zwischen einer klapprigen Eisdiele und einem muffigen Dönerladen. Gegenüber erspähte ich einen Deko-Schreibwaren-Buchladen. Ein kleines Delikatessengeschäft schien ums Überleben zu kämpfen, denn große Schilder mit Rabattaktionen säumten das Schaufenster. Dem etwas weiter entfernt gelegenen Blumenladen ging es wohl auch nicht besser.
»Ach, und das ist dann wohl die Bank«, merkte Jan an und zeigte auf ein winziges Gebäude. Es war offensichtlich die Bank, auch wenn es mehr einem Leihhaus ähnelte. Klein und versteckt stand das Gebäude da und wirkte wenig einladend.
»Du … äh«, begann ich. »Ich habe furchtbare Kopfschmerzen. Äh … Periode, verstehst du? Können wir jetzt gehen?«
Gekonnt runzelte er die Stirn. »Tatsächlich? Etwas früh dran diesmal, oder?«
Herrgott, führte der Mann einen Zykluskalender?
»Ja, PMS.«
»Hä?«
»Prämenstruales Syndrom.«
»Ah, die Ausrede zwischen der Regel, um mies drauf zu sein.«
Ich boxte ihn auf den Arm und ging Richtung Wagen. »Nein wirklich, ich bin müde, hab Kopfweh und will einfach nur nach Hause.« Dass ich einfach nur raus aus diesem Albtraum Kleinstadt wollte, behielt ich lieber für mich.
Eine gute Stunde später kamen wir zu Hause an, und mittlerweile war auch Jan erschöpft.
»Echt, diese Autofahrt. Das würde ich keine Woche aushalten.«
Schon roch ich, wohin der Hase laufen wollte. »Können wir erst mal drüber schlafen, ehe wir was bereden? Ich habe jetzt echt keinen Kopf dazu.« Ehe er antworten konnte, schluckte ich ein paar Vitamine, die ich so aus dem Schrank geholt hatte, dass er es für Kopfschmerztabletten halten konnte und murmelte etwas von nur noch ins Bett wollen.
Zu meiner Überraschung nickte er, und eine weitere halbe Stunde später lagen wir nebeneinander in meinem Jugendbett, das ich mit in diese Wohnung gebracht hatte.
Doch im Gegensatz zu Jan, der in Sekundenschnelle wie ein Stein schlief, konnte ich kein Auge zumachen. Immer wieder sah ich diese Wohnung und die Menschenfressermumie vor mir und stellte mir vor, wie es wäre, dort zu wohnen. Morgens auf dem Weg zur Dusche würde ich Frau Weiskopf begegnen, die angesichts meines kurzen Badehandtuchs in Ohnmacht fiele. Einen Herzinfarkt bekäme sie bei meinem ersten Sommerminirock. Und ihr Gesicht, wenn sie mich beim Rauchen erwischte, erschrak mich schon in der Vorstellung so, dass ich tatsächlich überlegte, mit dem Rauchen aufzuhören.
Die nächste Wahnvorstellung betraf Jan, der sich zu einem richtigen Dorfspießer entwickelte. Er würde um sechs von der Arbeit kommen, »Was gibt’s zu essen« zur Begrüßung rufen und anfangen, Schlagermusik zu hören. Helene Fischer im Dauertakt. Das Grauen. Am schlimmsten aber war die Vorstellung dessen, was aus mir werden sollte. Schon sah ich mich in Hauskittel und Lockenwickler, den Backofen mit der Zahnbürste reinigend und den halben Tag aus Langeweile aus dem Fenster starrend, wobei ich die Dorfjugend auf jedem ihrer Streifzüge beobachten konnte.
Jede böse Idee, die ich je von einem Dorf oder einer Kleinstadt gehabt hatte, vereinigte sich in diesem Kaff. Und noch war mir keine plausible Erklärung eingefallen, Jan die ganze Sache auszureden, außer, dass ich dort nie im Leben einziehen wollte. Dessen war ich mir jedenfalls sicher.
Natürlich hasste ich nicht die Natur an sich, ich konnte nur nichts mit ihr anfangen. Ferien auf dem Bauernhof sind das eine, in ein Dorf zu ziehen, etwas ganz anderes. Die Anonymität der Großstadt war mein Zuhause, was sollte ich in einem Kaff, wo jeder den anderen kennt? Genauso wenig können sich echte Landkinder im Stadtdschungel zurechtfinden, oder? Außerdem verstand ich nicht, warum Jan ausgerechnet diesen Job nehmen musste, warum er unbedingt umziehen wollte und mich in diese winzige Bank stecken. Sah er darin unsere Zukunft? Und gerade dieses Wort war es, das mir am meisten Angst machte. Hatten wir eine Zukunft? War er der Mann meines Lebens? Und wollte er tatsächlich ein Häuschen auf dem Dorf mit weißem Lattenzaun und Dutzenden Kindern? Wo ich doch nie wirklich einen Zugang zu diesen Minimenschen hatte, und ihn auch nicht vermisste. Ich war glücklich gewesen mit meiner Arbeit in der Bank und seinem Studium an der Uni. Meinetwegen hätte er nie seine Abschlussarbeit schreiben müssen. Alles war perfekt. Und nun sollte alles anders werden.
Am nächsten Tag ging ich Jan tunlichst aus dem Weg. Noch vor dem Frühstück verschwand ich ins Fitnessstudio mit der Ausrede, dass ich vor dem Training ohnehin nichts essen könne. Danach traf ich mich mit Liza, meiner besten Freundin, auf einen Kaffee und klagte ihr mein Leid. Nach ausgiebiger Bemitleidung ging ich heim, wohl wissend, dass Jan unterwegs war, um für seine neue Stelle wichtige Formulare zu beschaffen. Kaum war er zu Hause, schob ich den leeren Kühlschrank vor und brachte vom Einkaufen Fast Food mit, durch das sein Mund erst mal gestopft wurde. Als er sich schließlich gemütlich aufs Sofa setzte, flüchtete ich ins Bett und stellte mich zwei Stunden später schlafend, als Jan leise ins Zimmer geschlichen kam. Schlaf fand ich wieder kaum. Wenn man weiß, dass man sich einer Angst stellen muss, wird es auch nicht leichter, und ich wusste, dass ich um die Wohnungsdiskussion nicht herumkam.
Zu meinem Befremden war es Jan, der am nächsten Morgen gleich davondüste. Er musste sich noch mal beim Abteilungsleiter des Konzerns melden, der ihn in Zukunft bezahlen sollte. Um meinen inneren Konflikt zu bearbeiten, wusch ich Geschirr und Wäsche, saugte auf und hörte dabei Melody Gardot. Ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich unwillkürlich an die Schlagerhitparade denken musste. So etwas konnte ich mir wirklich nicht antun.
Gegen Abend kam Jan zurück, ziemlich zermürbt und todmüde. Diesmal war er es, der gleich nach dem Abendessen ins Bett fiel, nur, dass er tatsächlich einschlief. Mit leicht schlechtem Gewissen kuschelte ich mich an seinen warmen Körper. Sachte fuhr ich durch seine schwarzen Locken, die er meinetwegen etwas länger trug, als er es eigentlich mochte. Nur, weil ich es liebte, mit diesen Ringeln zu spielen, und fand, dass es ihm besser stand. Zwar beschwerte er sich oft genug über seine störrische Frisur, doch nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, sie abzuschneiden.
Liebte er mich vielleicht mehr als ich ihn? Immerhin war er bereit, sein Aussehen meinen Vorlieben anzupassen, während ich es nicht mal in Erwägung zog, eine Zeit lang in dieser kleinen Wohnung zu hausen. Gewissensbisse plagten mich, doch wenigstens konnte ich diesmal ziemlich erschöpft schlafen.
Erst am dritten Tag nach der Wohnungsbesichtigung frühstückten Jan und ich wieder zusammen. In unserer winzigen Küche stand ein schmaler Tisch, auf den gerade mal unsere zwei Teller und die Kaffeetassen passten. Genüsslich tunkte Jan sein Croissant in den heißen Kaffee und grinste mich an. Ich lächelte verlegen zurück und schmierte Konfitüre auf mein halbes Brötchen.
»Ach, was ich dir noch sagen wollte«, murmelte Jan mit vollem Mund. »Der Typ von der anderen Wohnung hat angerufen, der Vormieter zieht jetzt doch nicht mehr aus.«
»Also der Mieter«, verbesserte ich.
»Was?«
»Na, wenn er gar nicht auszieht, ist er ja kein Vormieter, sondern ein Mieter.«
»Ah, ja, natürlich, Frau Deutschlehrerin.«
»Und jetzt?«
»Bitte?«
»Na, was ist jetzt, wo der Typ nicht auszieht?«
»Ach so, na, die Wohnung fällt jedenfalls flach. Der Typ meinte, er könne uns eine andere Wohnung zeigen, aber die wäre teurer.«
»Hm«, brummte ich unschlüssig, was zu antworten war.
»Aber eigentlich können wir das auch lassen.«
Nun wurde ich doch sehr hellhörig. »Was meinst du damit?«
»Na, die Wohnung bei Frau Weiskopf wäre doch fürs Erste wirklich gut. Da komme ich schnell zum Bahnhof, und du könntest das Auto haben. Außerdem ist die wirklich günstig, und die Vermieterin ist doch sehr nett.«
So, nun lagen die Karten auf dem Tisch. Jetzt kam es drauf an, was ich auf der Hand hatte. Und das war nicht viel. »Sie wohnt im selben Haus.«
»Aber sie ist doch meistens überhaupt nicht da.«
»Und dann sollen wir für sie putzen, besser gesagt ich als Frau.«
»Ach komm, ein bisschen Saugen und das Blumengießen. Dafür ist da ein Garten dabei, ein richtiger Garten.«
»Als würdest du je im Garten was machen.«
»Wer weiß, bis jetzt hatte ich nur keine Gelegenheit.«
Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Das Bad liegt außerhalb der Wohnung.«
»Ja, schon, aber wir dürfen alles so streichen, wie wir wollen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe Frau Weiskopf gestern noch einmal angerufen.«
»Einfach so.«
»Da wusste ich das mit der anderen Wohnung schon.«
»Aha.«
»Ja, und mal ehrlich, ich kann doch nicht jeden Tag über fünf Stunden im Zug oder im Auto sitzen. Das mach ich nicht. Vorher quartier ich mich dort im Hotel ein.«
»Da gibt’s Hotels?«
»Na ja, oder eben auf dem Bauernhof«, sagte er spöttisch.
»Ich will da nicht wohnen.«
»Komm, das ist nicht für lange. Wir schauen nebenbei immer wieder, ob wir was anderes finden.«
»Aber wo? Da ist doch nichts außer Wald und Dorf.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht.«
»Nein, noch viel schlimmer.« Das sollte doch wohl ein Scherz sein?
»Miri, ich bitte dich. Wir haben da keine Kündigungsfrist. Wir können von heute auf morgen wieder ausziehen.«
»Das hast du wohl auch gestern besprochen.«
»Genau.«
»Du bist furchtbar!«
»Komm schon. Der Konzern hat doch noch den Mutterbetrieb, der ist in Frankfurt. Und Außenstellen in England, China und Bolivien sind auch drin. Wenn ich mich gut anstelle, kann ich mich vielleicht bald dafür bewerben. Das wäre doch was.«
Diese Aussicht hörte sich tatsächlich verlockend an. Frankfurt war zwar nicht der Hit, aber besser als Kuhkaff. Und England hätte ich mir auch gefallen lassen können. »Und du meinst, das geht so schnell?«
»Wir schaffen das schon. Das ist einfach eine einmalige Gelegenheit. Die suchen tatsächlich grade nach Leuten mit meinen Voraussetzungen. Da brauch ich nur etwas Glück. Und wer weiß, vielleicht ist die Kleinstadt gar nicht so schlimm.«
»Oh, glaub mir, das ist sie.« Grübelnd aß ich mein Brötchen auf und rief meine Mutter an, um sie über die neusten Aussichten zu informieren.
Als ich in die Küche zurückkam, strahlte Jan übers ganze Gesicht. Ich ahnte Böses. »Was ist denn los? Hast du im Lotto gewonnen?«
Er umarmte mich überschwänglich. »Wir haben die Wohnung!«
Energisch befreite ich mich aus seiner Umarmung. »Welche Wohnung?«
»Du bist lustig. Die Wohnung. Bei Frau Weiskopf. Darüber haben wir doch gerade geredet.«
»O nein. Nein, Nein, Nein. Hast du mich sagen hören: Okay, wir nehmen sie? Nein, denn das habe ich nie gesagt und niemals gemeint. Ich war nur etwas besänftigt, dass du diesen Job im Kaff überhaupt angenommen hast. Aber ich habe auf keinen Fall zugestimmt, dieses Horrording, das du Wohnung nennst, zu beziehen!«
»Miriam!«
»Nichts Miriam, und nichts Miri. Das machen wir nicht! Dann fährst du halt einen Monat mit dem Auto oder so, bis wir was Besseres finden. Das kann doch nicht alles sein.«
»Also hör mal.«
»Das kannst du vergessen. Da zieh ich nicht ein.«
»Ich sitze nicht den halben Tag im Auto, nur, weil die Autobahn dauerverstopft ist. Wann soll ich denn dann schlafen?«
Mir gingen eindeutig die wenigen Argumente aus, die ich hatte.
»Verdammt Jan, dann kauf der Straße ein Abführmittel und dir Schlaftabletten, aber ich zieh nicht in dieses Kaff.«
Die Hoffnung, mit dem miesen Witz die Spannung zu lösen, verschwand so spontan, wie sie gekommen war. Jan sah mich beängstigend ruhig an und sprach geduldig weiter, wie mit einem kleinen Kind.
»Bitte, dann bleib hier. Ich jedenfalls zieh um. Zum nächsten Ersten.«
»Das ist nächste Woche!«
»Ja und?«
»Ich dachte, du willst erst nächsten Monat umziehen.«
»Nächsten Monat fang ich an zu arbeiten. Umziehen will ich erstens schon früher, und zweitens will ich vorher noch tapezieren.«
»Auch das noch. Du machst es dir dort also gemütlich. Dann hast du gar nicht vor, so schnell wieder auszuziehen.«
»Ich? Nein. Aber ich weiß, dass du es da nicht so toll findest. Darum will ich tapezieren, damit dir wenigstens die Wohnung besser gefällt, solange wir dort wohnen. Und ehrlich, wenn wir in zwei Monaten was Besseres finden, sind wir da sofort weg, auch wenn es mir da gefällt. Dir muss es schließlich auch ein bisschen gefallen.«
Ich war den Tränen nahe. Er war so lieb, und ich konnte einfach nicht nachgeben.
»Es gefällt mir aber überhaupt nicht dort.«
»Darum die Tapete.«
»Die wird das nicht ändern.«
»Du bist so ein Kind.«
»Ich bin ein Kind? Hallo? Du willst ins Land der Hinterwäldler. Die kennen Internet nur vom Hörensagen und Kabel bekommst du da schon zweimal nicht. Ich will nicht in einem Kaff wohnen, wo es eine Telefonzelle, aber dafür zehn Kirchen gibt. Das ist Lummerland für Arme.«
»Miri, bitte. Bitte, bitte, bitte. Für mich. Wir versuchen es einfach. Wir schauen uns weiter Wohnungen an und ich schau, ob ich mich nicht bald versetzen lassen kann. Vielleicht, wenn meine Probezeit vorbei ist. Dann bin ich im Gefüge drin, dann geht das bestimmt.«
»Und wie lang ist die Probezeit?«, fragte ich vorsichtig.
»Generell drei Monate, wenn alles gut klappt, hat man mir gesagt, auch zwei.«
Ich schluckte tief. Das Grauen bekam einen Rahmen. Einen viel zu großen meiner Meinung nach, aber immerhin.
»Drei Monate?«
»Höchstens.«
»Und dann lässt du dich versetzen?«
»Sobald es geht. Indianerehrenwort!«
»Ich habe was gut bei dir!«
»Aber so was von.«
Ehe ich noch etwas erwidern konnte, war Jan bei mir, nahm ich fest in den Arm und drückte mich, dass mir die Luft wegblieb.
»Danke, Miri. Wirklich. Ich brauche dich doch. Ich liebe dich.«
»Ich brauche dich auch, sonst würde ich das nie tun!«, flüsterte ich unhörbar und atmete seinen vertrauten Geruch ein.
Kapitel 2
Somit sah ich mich bereits zwei Wochen später an jenem Ort wieder, den ich nie wieder hatte betreten wollen. Jan hatte kräftig vorgearbeitet. In Wohnzimmer und Küche prangte bereits neue Tapete an den Wänden, blau im Wohnzimmer, orange in der Küche. Ich war mir fast sicher, dass er sogar Bad und Küche blank poliert hatte. Der Herd miefte nur noch unscheinbar, und die Toilette sah wenigstens so aus, dass ich mich ohne Angst daraufsetzen konnte.