Zu den prägenden Erfahrungen der Gegenwart gehört es, dass der ewige Zwiespalt von Freiheit und Kontrolle mit neuer Schärfe aufklafft: Individuum und Gesellschaft sehen sich mit einer nie gekannten Mannigfaltigkeit an Freiheitsoptionen konfrontiert. Andererseits eskalieren aber die technischen Möglichkeiten und die weithin empfundene Notwendigkeit zu immer mehr Kontrolle – sei es des eigenen Körpers, der Grenzen oder der gesamten Welt.
Ausgehend von den konkreten Erscheinungsformen dieser Dialektik in den jüngsten Debatten etwa über digitale Überwachung und Self-Tracking, Big Data und Bürokratie, fragen Markus Metz und Georg Seeßlen, bis zu welchem Grad die heute eklatanten Widersprüche zwischen Freiheit und Kontrolle letztlich unauflöslich und wo sie bloß Ideologie sind.
Markus Metz, geboren 1958 in Oberstdorf, Studium der Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft an der FU Berlin, freier Journalist und Autor, lebt in München.
Georg Seeßlen, geboren 1948 in München, Studium der Malerei an der Kunsthochschule München, freier Journalist und Autor, lebt in Kaufbeuren.
In der edition suhrkamp sind von ihnen bislang erschienen: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (es 2609), Kapitalismus als Spektakel (es digital) sowie zuletzt: Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld (es 2675).
Markus Metz/Georg Seeßlen
Freiheit und Kontrolle
Die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der edition suhrkamp 2730.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2017
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-74882-4
www.suhrkamp.de
Vorneweg
Freiheit
Vorspiel im Himmel
Freiheit: Das vergiftete Geschenk der Götter
Der Christenmensch und seine Freiheit
Ach, die Gefühle, oder Wie Freiheit zur Produktivkraft wird
Aus aller Liebe wird Verwaltung
Mehr zur Grammatik von Freiheiten und Kontrollen
Danebenbenehmen, oder Freiheit als Simulacrum und die Besetzung des intermediären Raums
Gegebene, gewährte, eroberte und leider auch verlorene Freiheit
Erstes Zwischenspiel von Macht und Ökonomie
Kontrolle, Geld und Freiheit: Lokale Ordnungen und kapitaler Universalismus
Freiheit und Demokratie
Aristoteles Unchained
Kontrolle
Der Blick der anderen: Aus der Geschichte der Kontrolle
Contre-rôle, oder die große Verzahlung
Die Angst vor der Freiheit
Erstes semantisches Zwischenspiel
Macht und Kontrolle
Soziale Kontrolle: Nie wieder einsam, nie wieder hilflos
Die Kontrolle der Emotionen: Die Geschlechter und die Sexualität
Sprache als Kontrolle/Kontrolle als Sprache (zweites semantisches Zwischenspiel)
Hysterie und Neurose als Ergebnis (fehlgeschlagener) Kontrolle
Die Kontrolle des Hauses
Sic transit der Mensch und seine Gesellschaft
Zwischenspiel: Der nicht zu Ende befreite Sklave stellt Vermutungen über negative Dialektik an
Von der Spur zum Muster
Freiheit + Kontrolle = Demokratie? Ein kleiner Krisenbericht
Erziehung 4.0, oder die Kontrolle der Gefühle
Himmlisches Zwischenspiel
Wohl in der Mitte unseres Lebensweges
geriet ich tief in einen dunklen Wald
so dass vom graden Pfade ich verirrte
Dante Alighieri, Die göttliche Komödie
Nein, dies ist nicht das nächste Buch über Überwachungskameras, Spionagesoftware, Datenraub und NSAGoogleAppleAmazon. Wir wollen in »Freiheit & Kontrolle« auch nicht ein für alle Mal klären, was Freiheit ist und was Kontrolle. Für eine solche Genealogie oder Archäologie des Wissens und des Anspruchs fehlen uns sowohl die Fähigkeiten als auch die Motivation. Der durchweg frivole Gebrauch von »Wissenschaft«, den wir pflegen, ist dem von Kindern vergleichbar, die auf der Suche nach der einen oder anderen Erklärung für die Widersprüche, Seltsamkeiten und Attraktionen des eigenen Lebens die elterliche Enzyklopädie oder, nun, die Wissensspeicher des Internet durchstöbern. Eine Abenteuergeschichte, ganz bestimmt.
In diesem größeren Essay geht es vor allem darum, was aus Freiheit und Kontrolle (einer sehr alten, ewig neuen, und einer jüngeren, rasch gealterten Vorstellung) geworden ist, was ihre Beziehung mit den Träumen und mit dem richtigen Leben, und vor allem, was sie mit der Demokratie und dem, was aus ihr wurde, zu tun haben könnte. Es geht darum, wie Freiheit und Kontrolle in unser Leben wirken, gerade so, wie es ist, in der merkwürdigen konformen Vielgestalt, die wir, offenkundig genug, nicht gerade als glücklich empfinden. Es ist, um an einen großen Vordenker zu erinnern, das Unbehagen in unserer Kultur der Freiheiten und der Kontrollen, was uns antreibt, nach Wurzeln und Aussichten zu suchen. Erst einmal, ohne genau zu wissen, wohin eine solche Suche führen kann. Nicht am Leitfaden eines Bescheidwissens, sondern an dem der Neugier. Und eben auch darum geht es: wie das Denken, Träumen und Hoffen mit dieser Dialektik von Freiheit und Kontrolle zusammenhängen.
Der Weg führt uns, vielleicht mehr, als uns manchmal geheuer ist, auch hinter die Mechaniken und die Rationalisierungen, hinter Politik und Gesellschaftslehre. Hinein in Mythos und Transzendenz. Unsere Geschichte von Freiheit und Kontrolle beginnt mit den Göttern, und sie wird wohl auch mit solchen enden. Mit neuen Göttern, die Freiheit und Kontrollen als vergiftete Geschenke bieten. Immer wieder kreuzen wir den Weg eines Sklaven, der, nach Vorstellung des Aristoteles, als Lohn für Arbeit und Treue in die Freiheit entlassen wird, weil das sowohl gerecht als auch nützlich sei. Wir empfinden uns, teils metaphorisch, teils aber auch ganz direkt (und mit heißem Herzen bei Django Unchained), als Nachkommen des nicht zu Ende befreiten Sklaven. Nicht ins Land der Freien, nicht in die Gemeinschaft der Gleichen sind wir gelangt. Sondern zwischen Traum und Ernüchterung immer wieder in Zwischenstationen, in innere und äußere Kriegsschauplätze, in Paradoxie und Verrat, in Projekte und Projektionen. Als müsste sich da etwas immer und immer wiederholen: ein Schritt in Richtung auf die subjektive Freiheit hin, der zu einer neuen Form der objektiven Versklavung führt. Wir folgen der Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven bis zum vorläufigen bitteren Ende, der globalen Ausbreitung der neuen Sklaverei, die ein nie geahntes Maß der Kontrollen mit nie geahnten Formen der subjektiven Freiheit verbindet.
Einmal war das eins, Freiheit und Kontrolle, in der Liebe der Götter zu den Menschen, in der Liebe der Eltern zu ihren Kindern, und einmal sollten sie auch wieder eins werden, in der wahren Demokratie, im wahren Menschen! In Utopia, wenigstens. Aber, nun ja, dazwischen liegt diese verdammte Wüste mit Namen »Wirklichkeit«. In ihr verändern sich die Verhältnisse von Freiheit und Kontrolle unentwegt, nur trennen lassen sie sich partout nicht voneinander, ebenso wenig, wie sie sich glücklich wiedervereinigen ließen. Es gibt keine Freiheit ohne Kontrolle, und es gibt keine Kontrolle ohne Freiheit. Die Beziehung, so scheint es, hat etliche Konstanten, aber auch eine Menge Variablen.
Die einzige Voraussetzung und der große Ansporn für diese Arbeit ist die Erkenntnis: Diese Beziehung ist verdammt vertrackt. Und sie ist das, was verschiedenste Formen der Macht – ja, was? – ermöglicht? – ersetzt? – ergänzt? – fortsetzt? – maskiert? Das, unter anderem, gilt es herauszubekommen. Auf der Suche nach den Widersprüchen, Seltsamkeiten und Attraktionen des Lebens, das manchmal reichlich dramatisch, oft aber auch ziemlich gewöhnlich daherkommt. Nur so viel ist sicher: Wie einer oder eine lebt, in jedem Augenblick, das hat mit den Freiheiten und den Kontrollen zu tun. Und wie eine Gesellschaft funktioniert oder auch nicht, das auch.
Die Beziehung von Freiheit und Kontrolle wird durch Mechaniken, Interessen und Ideen beeinflusst. Gewiss. Aber auch durch Gefühle, Wahrnehmungen und Träume. Und sie verbinden die eine Hälfte des Daseins mit dem anderen: zur Ökonomie der Gefühle, zum Beispiel, oder zur empfindsamen Maschine.
Wir schweifen ab; mehr kann man nicht tun, wenn man beim Schreiben frei sein will. Und wir sehen uns selbst beim Denken zu; mehr an Kontrolle kann niemand verlangen, der ins Offene hineinwill. Das ist Vorteil und Nachteil zugleich, dass ein Buch zu schreiben selber eine extreme und modellhafte Übung wahlweise der Herstellung oder der Erkenntnis einer Beziehung von Freiheit und Kontrolle ist. Ein Vorteil, weil die Theorie hier zugleich ihre eigene Praxis ist, ein Nachteil, weil man sich selbst beständig zur Vorsicht mahnen muss. Denn überall, für genaue Leserinnen und Leser überdeutlich, lauert der poetische Fall der Selbstwiderlegung. Der Ausweg ist der Essai, seine Autorschaft das »unreine Subjekt« am falschen Platz, von dem Roland Barthes spricht, seine Bewegung Widerspruch, Ausweitung und Abschweifung. Nichts Vollständiges und nichts Abgeschlossenes kann so entstehen, die Gedanken könnten, wenn alles gut hinausgeht, beinahe überallhin weiterfließen.
Wir könnten uns vielleicht auch mit der Aufforderung herausreden, den folgenden Text doch bitte schön ein wenig »wie einen Roman« zu lesen. Als Erzählung, in der Gedanken die Funktion von Protagonisten einnehmen. Unglücklicherweise aber fehlen dazu ein paar striktere Einheiten. Raum, Zeit, Subjekt und all das. Wege, immerhin, sind das, aus der fruchtbaren Ebene der Anschauung, der mal mehr, mal weniger verlässlichen Modelle von Psychologie, Ökonomie und Soziologie in die romantischen Anstiege der Ästhetik und hinauf in die dünne Luft französischer Meisterdenker (aber nicht lange genug, um dem Höhenrausch zu erliegen). Wenn dieser »Roman«, der keiner ist, funktioniert, dann soll er die Leserin und den Leser in die Lage versetzen, das Wirken von Freiheit und Kontrolle in der eigenen Biographie, in der eigenen Identifikation, am eigenen Leib spüren zu lassen. Wo sind wir gelandet, wir nicht zu Ende befreiten Sklaven? Und wo könnten wir hin?