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KAROLINE EISENSCHENK, geboren 1975, veröffentlichte bereits die Niederbayern-Krimis »Walpurgisnacht« (2012) und »Der letzte Tanz« (2014) sowie unter dem Pseudonym Katelyn Edwards die Kriminalromane »Der Shakespeare-Mörder« und »Pfadfinderehrenwort« (beide 2011). Nach ihrem Studium der englischen Sprach- und Literaturwissenschaft lebt sie heute in Geiselhöring und arbeitet in München.

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www.allitera.de

Mai 2017
Allitera Verlag
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2017 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Johanna Conrad unter Verwendung eines Fotos
von © marsj / photocase.de
E-Book-Herstellung: Open publishing GmbH
Printed in Europe · 978-3-86906-962-3
ISBN ePub: 978-3-86906-995-1
ISBN PDF: 978-3-86906-996-8

Du bist das Grab, wo alle Liebe lebt,
und alle Lieben sind ihm eingeschrieben,
und all ihr Teil an mir mit dir verwebt,
und alles ihre ist nur dir verblieben.

(Auszug aus William Shakespeare, Sonett 31)

Das eben ist der Fluch der bösen Tat,
dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.

(Friedrich Schiller, Wallenstein, Die Piccolomini, 5. Akt, 1. Szene)

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Personen

Markus Baumgartner, Bauunternehmer aus Altenberg
Ralf Baumgartner, sein Bruder, Architekt aus Altenberg
Dominik Baumgartner, sein Neffe, Sohn von Ralf Baumgartner

Theresa Buchberger, pensionierte Bibliothekarin aus Neukirchen
Claudia Buchberger, ihre Tochter

Professor Gregor Cornelius, emeritierter Geschichtsprofessor, auf
Kurzurlaub in Neukirchen
Ramona Cornelius, seine Ehefrau
Tabea Cornelius, ihre gemeinsame Tochter

Anton Eichinger, Großbauer aus Neukirchen
Eva Eichinger, seine Ehefrau
Sascha Eichinger (†), ihr gemeinsamer Sohn

Roswitha Förster, Besitzerin des Dorfladens in Neukirchen

Professor Richard Freiherr von Greifenberg, Geschichtsprofessor,
ehemaliger Kollege von Gregor Cornelius
Freifrau Caroline von Greifenberg, seine Ehefrau, Freundin von
Ramona Cornelius

Leon Gruber, Hotelierssohn aus Altenberg
Ferdinand Gruber, sein Vater

Maximilian Lechner, Landwirt aus Neukirchen
Marie Lechner, seine Frau
Julia Lechner, ihre gemeinsame Tochter

Anna Leitner, Gastwirtin aus Neukirchen

Denis Limmer, Landmaschinentechniker aus Altenberg

Freiherr Adrian Clemens Philipp Alexander von Neuhaus, Tenor
an der bayerischen Staatsoper, auf Kleineich bei Neukirchen aufgewachsen

Freifrau Magdalena Alexandra Elisabeth von Neuhaus (†), seine
Schwester
Helena Stern, seine Lebensgefährtin
Dr. Benedikt Rehberg, Besitzer einer Apotheke in Altenberg,
wohnt in Neukirchen
Konrad Stadler, wohlhabender Landwirt aus Neukirchen
Waltraud Stadler, seine Ehefrau
Thomas Stadler, ihr gemeinsamer Sohn
Franz Stadler (†), sein Bruder
Matthias Stadler, sein Neffe, Sohn von Franz Stadler und Patensohn
von Anton Eichinger
Esther Lamarque, Malerin, Witwe von Franz Stadler und Mutter
von Matthias
Yannick Lichtenberg, Freund von Thomas Stadler

Das Kommissariat in Landshut:
Katrin Abel, Kriminalkommissarin
Korbinian Bäumel, Kriminalkommissar
Ellen Buchholz, Kriminalhauptkommissarin, Leiterin der Vermisstenstelle
Martin Gerlach, Kriminalhauptkommissar, Leiter des Drogendezernats

Toni Kornbichler, Kriminalkommissar
Torsten Maiwald, Kriminalkommissar
Robert Thorwald, Kriminalhauptkommissar, Leiter der Mordkommission
Florian Weber, Kriminalkommissar

Weitere Figuren:

Dr. Grünberg, Arzt am Klinikum Landshut
Felix Hartl, Pfarrer in Neukirchen
Tanja Rohrbach, angehende Friseurmeisterin, arbeitet in einem
Altenberger Salon
Carola Schäfer, Schwester von Anna Leitner

Prolog

Wie gelähmt stand sie in der Dunkelheit, unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Obwohl die Worte noch immer in ihren Ohren dröhnten und einem Echo gleich nachhallten, hatte sie Mühe, das Gesagte zu begreifen. Alles an ihr wehrte sich dagegen, es bis zu ihrem Verstand vordringen zu lassen. Denn das hieße, diese furchtbaren Worte zu akzeptieren, aufzugeben, loszulassen. Ihre Kehle schnürte sich zusammen und sie spürte Übelkeit aufsteigen.

»Was ist los? Geht es dir nicht gut?«

Hörte sie nicht Sorge und Angst in der Stimme? Sorge um sie? Der Gedanke ließ sie Hoffnung schöpfen und sie zwang sich, tief durchzuatmen. An ihrem Handgelenk spürte sie kaltes Metall. War das nicht der beste Beweis? Ihre Augen wanderten über das vertraute Gesicht und suchten nach einem Anzeichen, dass alles nur ein Irrtum, ein böser Traum war, der jede Sekunde zu Ende sein würde.

»Morgen fährst du dorthin. Hast du mich verstanden?«

Die wenigen Worte machten alles zunichte. Nein, dieser Albtraum war noch lange nicht vorbei. Er hatte gerade erst angefangen und sie wusste nicht, ob er jemals wieder aufhören würde. Sie versuchte etwas zu sagen, aber kein Laut kam über ihre Lippen.

»Ob du mich verstanden hast?«

Jetzt klang keine Sorge mehr aus der Stimme, sondern nur noch Wut. Blanke, kalte Wut, gepaart mit tiefer Verachtung.

Doch die Augen sprachen eine andere Sprache. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, so hatte sie darin deutlich die Angst erkannt. Nicht Angst um sie, sondern die Angst, kurz vor dem Ziel alles zu verlieren und mit leeren Händen dazustehen. Denn nur darum war es stets gegangen. Nicht um ihr kleines, kümmerliches, unbedeutendes Leben. Wie hatte sie nur die ganze Zeit so blind sein können?

Ein nie gekanntes Gefühl von Triumph überkam sie. Triumph und … Macht. Sie würde den Preis dafür nicht allein zahlen.

»Das wirst du bereuen«, zischte sie.

Dann drehte sie sich um und rannte zu ihrem Fahrrad, das nur wenige Meter entfernt am Straßenrand stand. Die Nacht war frisch und klar und am Himmel prangte eine Mondsichel wie aus dem Bilderbuch.

»Was soll das heißen?«

»So lasse ich mich von dir nicht abspeisen. So ganz bestimmt nicht«, schrie sie, ehe sie auf ihr Fahrrad stieg.

Wie besessen trat sie in die Pedale. Weg, nur weg von hier. Ihre Wangen glühten und die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, bahnten sich jetzt ungehindert ihren Weg. Der Wind blies ihr entgegen, zerrte an ihren Haaren und ihrer Kleidung. Aus ihrem Zopf begannen sich erste Strähnen zu lösen. Doch sie fuhr sich nur kurz mit der Hand über das Gesicht und trat weiter in die Pedale.

Sie hatte das Anlassen des Motors nicht gehört. Erst als sie sich im Lichtkegel der Scheinwerfer befand, drehte sie sich um. Der Wagen fuhr dicht hinter ihr, dann scherte er aus und rollte neben ihrem Fahrrad. Das Fenster der Beifahrerseite wurde heruntergelassen.

»Jetzt warte! Wir können doch über alles reden.«

»Ich wüsste nicht worüber. Es ist alles gesagt. Du hast es nicht anders gewollt.«

Unbeirrt fuhr sie weiter. Sie würde nicht stehen bleiben. Dafür war es zu spät.

Der Wagen wurde langsamer und blieb einige Meter hinter ihr zurück. Noch einmal drehte sie sich um. Die Scheinwerfer wirkten wie Irrlichter in der Dunkelheit. Verloren, fehlgeleitet. Gleichsam eine Metapher für ihr eigenes Leben. Plötzlich lenkte sie das Fahrrad in das Bankett. Die schmalen Reifen kamen auf dem unebenen Untergrund sofort ins Trudeln. Der Lenker begann zu vibrieren und sie drohte zu stürzen. In letzter Sekunde gelang es ihr, das Gleichgewicht zu halten und auf die Straße zurückzukehren. Ihr Herz raste und ein Adrenalinschub jagte durch ihren Körper. Wie leichtsinnig, wie unachtsam von ihr. Dabei wusste sie doch, was es zu bewahren und zu beschützen galt.

In diesem Augenblick heulte der Motor laut auf und der Wagen schoss mit Vollgas die Straße entlang. Entsetzt wandte sie sich um. Die Scheinwerfer kamen immer näher. Geblendet von ihrem grellen Licht schloss sie instinktiv die Augen. Der Knall, als die Motorhaube das Fahrrad erfasste, hallte durch die Nacht. Doch niemand hörte ihn. Niemand sah ihren schmalen Körper durch die Luft schleudern.

Sie war tot, ehe sie auf dem Asphalt aufschlug.

Kapitel 1

Dilegua, o notte! Tramontate, stelle! Tramontate, stelle! All'alba vincerò! Vincerò! Vincerò!

Noch während Adrian Neuhaus den Schlussakkord sang, brandete der Applaus um Gregor Cornelius herum auf. Die Zuschauer erhoben sich von ihren Sitzen und spendeten dem Tenor begeistert Beifall.

»Bravo, bravo!«

Diesen Enthusiasmus hätte Cornelius dem verwöhnten und bisweilen arg reservierten Münchner Konzertpublikum nicht zugetraut. Erste Rufe nach einer Zugabe wurden laut und einige Damen warfen Rosen auf die Bühne, die auf der Rückseite des Nymphenburger Schlosses aufgebaut war. Seine Gartenanlage bot den perfekten Schauplatz für die Inszenierung: eine sternenklare Sommernacht, dezente Beleuchtung in Form von Fackeln und Lampions und das imposante Schloss im Hintergrund. Cornelius hätte sich für das Konzert, das mit dem Auftritt von Startenor Adrian Neuhaus soeben seinen finalen Höhepunkt erreicht hatte, kein besseres Ambiente vorstellen können.

Auch er hatte sich Neuhaus' Aura nicht entziehen können. Er sang die Arien nicht nur, er lebte sie. Jede Faser seines Körpers schien in diesen Momenten der Musik zu gehören und mit ihr zu verschmelzen. Seine stimmliche Präsenz stellte alles in den Schatten und erfüllte auch den hintersten Winkel des Schlossgartens mit Leben.

Jetzt verstummte der Star, schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch, ehe er sich vor seinem begeisterten Publikum verbeugte. Der Auftritt hatte ihn sichtlich angestrengt. Diese nur allzu menschliche Reaktion ließ Cornelius an Neuhaus' Aussage in einem Zeitungsinterview anlässlich seines Debüts an der Bayerischen Staatsoper vor einigen Jahren denken. Schon damals hatte der Tenor ihn damit sehr beindruckt. »Singen ist wie Hochleistungssport. Nach einer mehrstündigen Probe ist man so erschöpft, als hätte man an einem Hochofen gearbeitet.«

Das nüchterne Fazit eines Ausnahmetalents, das die harte Arbeit hinter dem Erfolg nie vergessen hatte. Die Bayerische Staatsoper konnte sich glücklich schätzen, diesen Fang gemacht zu haben.

Neuhaus hob einige der Rosen vom Bühnenboden auf und wies dann mit der rechten Hand auf den Dirigenten und die Musiker, die sich ebenfalls von ihren Sitzen erhoben. Noch mehr Beifall kam auf.

»Ist er nicht wunderbar?«

Ramona hatte sich zu Cornelius gebeugt. Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Er hatte seine Frau lange nicht mehr so gerührt erlebt.

»Ja, ein grandioser Auftritt.«

»Du bereust es also nicht, mitgekommen zu sein?«

»Nein.«

Der Konzertabend hatte im Vorfeld einige Diskussionen im Hause Cornelius ausgelöst, da ausgerechnet Caroline von Greifenberg dazu eingeladen hatte. Cornelius fand nicht nur das Wesen dieser Frau an sich schon unerträglich und hatte nie nachvollziehen können, warum Ramona so viel an der »Freundschaft« lag, die in erster Linie darin bestand, dass die Baronin den Ton angab. Weitaus unangenehmer war für ihn dabei, ihrem Ehemann Richard von Greifenberg über den Weg laufen zu müssen. Cornelius war in seinen letzten Jahren an der Münchner Universität in den zweifelhaften Genuss gekommen, Tür an Tür mit diesem Großmaul verbringen zu müssen, hatten sie doch beide einen Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte inne. Da Cornelius seit über einem Jahr im Ruhestand weilte, gehörte dieses Kapitel glücklicherweise der Vergangenheit an.

Anders als Ramona versuchte er deshalb jeglichen Kontakt mit den von Greifenbergs zu vermeiden, doch nicht immer waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt. So auch an diesem Abend. Natürlich hatte Richard von Greifenberg seine Frau begleitet, ein Umstand, der Cornelius schon nach wenigen Minuten die vertraute Ablehnung verspüren ließ. Dass gerade jemand anderes gewürdigt wurde, schien nicht so recht zum egozentrischen Weltbild des Barons passen zu wollen. Während das Publikum Adrian Neuhaus noch immer begeistert applaudierte, hatte Richard von Greifenberg bereits wieder Platz genommen und saß mit verschränkten Armen abwartend in seinem Stuhl. Sogar seine Frau warf ihm einen säuerlichen Blick zu.

Caroline von Greifenberg war in den vergangenen Monaten einem regelrechten Wohltätigkeitswahn verfallen, anders konnte Cornelius ihren Aktionismus nicht bezeichnen. Eine Sportveranstaltung, ein Galaabend, bei dem sie im Organisationskomitee saß, jagte den nächsten. Cornelius bezweifelte, dass sie überhaupt noch wusste, wer die Empfänger dieser Beifall heischenden Großzügigkeit waren, und versuchte ihr tunlichst aus dem Weg zu gehen. Er mochte die medienwirksamen Inszenierungen nicht, bei denen sich die Anwesenden in erster Linie den Bauch vollschlugen und sich unter viel Blitzlichtgewitter selbst feierten. Die meisten Klatschblätter interessierte ohnehin nur, von welchem Designer die anwesenden Damen ausstaffiert wurden und wer in wessen Begleitung erschien.

Deshalb hatte er auch sehr ungehalten auf die Konzerteinladung reagiert, mit der Ramona ihn vor zwei Tagen regelrecht überfallen hatte, vor allem nachdem er erfahren musste, dass sie hinter seinem Rücken bereits zugesagt hatte. Das zugegeben ausgezeichnete Programm hatte ihn etwas milder gestimmt. Und nachdem Ramona ihm versprochen hatte, das anschließende Schaulaufen beim Stehempfang auf ein Minimum zu reduzieren, willigte er schließlich ein. Ein Seitenblick auf Caroline von Greifenberg, die sich soeben mit einem Taschentuch die stark geschminkten Augen betupfte, ließ ihn jedoch Böses ahnen. Sie würde sich mit ein wenig Smalltalk nicht zufrieden geben und wie er seine Frau kannte, würde Ramona sich schließlich davon anstecken lassen und ihn von Tisch zu Tisch schleifen. Der nächste Kommentar der Baronin bestätigte ihn in seinen Befürchtungen.

»Adrian hat mir versprochen, beim Stehempfang vorbeizuschauen. Er wird zwar nicht lange bleiben, aber diese Bitte konnte er mir einfach nicht abschlagen«, sagte sie und fächerte sich so heftig mit dem Programmheft Luft zu, dass die zahlreichen Silberreifen an ihrem dürren Handgelenk aufgeregt klimperten.

Von Ramona wusste Cornelius, dass Adrian Neuhaus entfernt mit Caroline von Greifenberg verwandt war und man seinen Auftritt bei diesem Galaabend wohl vor allem ihren Beziehungen zu verdanken hatte. Ramona bemerkte seinen Unmut und berührte ihn sanft am Arm. »Jetzt sei nicht so brummig. Du kennst sie doch.«

»Allerdings! Und weil gnädige Frau gerade Lust auf Charity und den ganzen Klimbim hat, haben alle anderen mitzuziehen. Warum lässt du dich immer so von ihr einwickeln?«

Das Publikum und auch das Orchester hatten wieder Platz genommen. Ein junger Mann sammelte die letzten Rosen auf. Das Stimmengewirr um sie herum ebbte allmählich ab.

»Ich lasse mich von überhaupt niemandem einwickeln«, flüsterte Ramona. »Wenn es für den guten Zweck ist, kann man durchaus etwas Zeit opfern. Außerdem hast du selbst gesagt, wie gut dir das Konzert gefallen hat.«

»Hat es auch. Aber deshalb werde ich noch lange nicht an diesem lächerlichen Golfturnier teilnehmen. Sie hat heute Abend schon wieder damit angefangen. Dabei habe ich ihr bestimmt schon fünfmal gesagt, dass wir nächste Woche in Neukirchen sind.«

Seit Cornelius im vergangenen Jahr Bekanntschaft mit dem kleinen niederbayerischen Dorf gemacht hatte, war er immer wieder gern dorthin zurückgekehrt. Vor einigen Monaten hatten Ramona und er sogar beschlossen, eine Ferienwohnung zu mieten, deren Renovierung nun allmählich zum Ende kommen sollte. Ein guter Grund, Niederbayern erneut einen Besuch abzustatten.

»Du bist in Neukirchen«, antwortete Ramona knapp und ohne den Blick von der Bühne abzuwenden, wo Adrian Neuhaus sich gerade für die Zugabe bereitmachte.

»Was soll das heißen?«

Doch das Einsetzen der Musik bewahrte Ramona vor einer Erwiderung.

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Leon Gruber saß im schwarzen Kleinwagen seiner Schwester und fühlte sich äußerst unwohl, um nicht zu sagen vollkommen fehl am Platz. Aber in seinem roten Porsche auf der Anhöhe hinter einigen Sträuchern zu warten, wäre der pure Selbstmord gewesen. Es herrschte nahezu Vollmond und nicht weit von seinem Versteck entfernt ernteten zwei Mähdrescher mit eingeschalteten Scheinwerfern gerade das Getreide ab. Seine Luxuskarosse war in der Gegend nicht weniger bekannt als der Besitzer und wenn es etwas gab, das Leon ausnahmsweise nicht gebrauchen konnte, war es Aufmerksamkeit. Umso besser, dass seine Schwester momentan auf einer Exkursion in Griechenland weilte und in der Erde wühlte, wo sie altes Gerümpel ausgrub. Dann konnte sie wenigstens keine neugierigen Fragen stellen. Darin waren sie und seine Mutter wahre Meister.

Aus seiner Jackentasche ertönte ein kurzer Signalton. Leon starrte auf das hell erleuchtete Display seines Mobiltelefons und die acht Wörter in der kleinen Sprechblase. Seine Kehle wurde trocken, als er die Antwort eintippte und abschickte. Obwohl er es kaum mehr im Wageninneren aushielt, blieb er noch einen Moment sitzen und zwang sich, ein paar Mal tief durchzuatmen. Er durfte nicht so nervös sein, er musste abgebrühter werden. Warum fühlte er sich immer wie ein kleiner dummer Schuljunge, wenn es wieder so weit war? Einer der beiden Mähdrescher hatte mittlerweile abgedreht und fuhr in die entgegengesetzte Richtung weiter. Der andere kam dagegen unaufhaltsam näher. Sein Scheinwerferlicht erinnerte Leon an die Flutlichtmasten eines Fußballstadions. Die unmittelbare Umgebung des gewaltigen Gefährts wurde taghell erleuchtet.

»Scheiße«, murmelte er. Was während der Getreideernte auf den Feldern rund um Neukirchen los war, konnte einer vielbefahrenen Autobahn Konkurrenz machen. Von frühmorgens bis tief in die Nacht waren die Mähdrescher zugange. Hatte er dem Treffen zu leichtfertig zugestimmt? Er wusste, sie mussten vorsichtig sein. Aber wie konnte er ahnen, dass ausgerechnet jetzt, keine zweihundert Meter von ihm entfernt, eines dieser verdammten Ungetüme herumkurven würde!

Seine Hand griff instinktiv nach dem Telefon. Er würde das Ganze verschieben. Hier und heute war nicht der richtige Ort und nicht der richtige Zeitpunkt. Noch war es nicht zu spät umzukehren und ungesehen in der Dunkelheit zu verschwinden.

Seine Entscheidung würde nicht auf Gegenliebe stoßen, das war ihm klar. Sekundenlang schwebte sein Daumen über der Tastatur. Was sollte er schreiben? Seine Nerven fuhren Achterbahn und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Mähdrescher war jetzt fast am Ende des Feldes angekommen. Durch eine kleine Lücke im Strauchwerk hatte Leon eine gute Sicht auf das Geschehen, während er selbst im Verborgenen blieb.

»Verdammt noch mal, dreh endlich um!«, fluchte er.

Er wollte keine neue Nachricht schicken und alles abblasen. Er wollte und würde es durchziehen, genau hier und genau jetzt. Seine Handflächen waren schweißnass und er fixierte das Gefährt so intensiv, dass er unbewusst den Atem anhielt. Wenn der Fahrer sah, was er hier tat, war er verloren. Und er würde es sehen, wenn er nicht schleunigst umdrehte. Leon und sein Besucher würden im grellen Scheinwerferlicht wie auf dem Präsentierteller liegen. Seine Augen wanderten zum Handschuhfach.

Aber das war die allerletzte Möglichkeit … und gleichzeitig der pure Wahnsinn. Bei dem bloßen Gedanken daran wurde ihm speiübel.

Dreh um, dreh um. Gebetsmühlenartig wiederholte er die beiden Worte.

Endlich wurde der Mähdrescher langsamer. Doch anstatt eine Wende zu vollziehen und in die Gegenrichtung weiterzufahren, hielt er an.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?

Im Scheinwerferlicht sah Leon Matthias Stadler aus der Fahrerkabine klettern und zum Schneidwerk des Mähdreschers gehen. Leon stieß erneut einen lauten Fluch aus. Er kannte Matthias und Matthias kannte ihn. Der Kerl würde keine drei Sekunden brauchen, um herauszufinden, was hier vor sich ging. Wie gebannt starrte Leon auf die Gestalt, die jetzt an irgendeinem Grünzeug zog und zerrte, das sich offenbar im Schneidwerk verfangen hatte. Er würde Matthias genau eine Minute Zeit geben, dann …

Doch gerade als er mit zittrigen Händen das Handschuhfach öffnen wollte, hatten Matthias' Bemühungen Erfolg. In hohem Bogen warf er den Störenfried über die Feldkante. Leon atmete auf. Er wartete, bis Matthias wieder in der Fahrerkabine saß und den Mähdrescher gewendet hatte. Dann stieg er lautlos aus, schob sich durch zwei Sträucher hindurch und ging einige Meter auf dem Feldweg entlang. Noch einmal drehte er sich in Richtung Acker. Doch Matthias war mittlerweile zu weit entfernt, um zu bemerken, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Auf einmal konnte Leon es kaum mehr erwarten. Suchend blickte er sich um. Die Nacht war durch den Mond hell erleuchtet und schon erkannte er die vertrauten Umrisse seines nächtlichen Besuchers, der rasch näherkam. Fast zärtlich betrachtete Leon sein Gegenüber.

»Hallo, Kleiner«, flüsterte er.

Und dann brach es ohne Vorwarnung aus ihm heraus. Ein unkontrolliertes, fast schon hysterisches Lachen. Sein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt und er spürte, wie die Anspannung der letzten Stunden von ihm abfiel.

»Weißt du, wie knapp es gewesen ist?«, keuchte er. »Wie verdammt knapp?«

Er erhielt keine Antwort auf seine Frage. Stumm und unbeweglich stand der andere neben ihm.

»Nein, das weißt du nicht. Gar nichts weißt du«, schrie er.

Erneut wurde er von einem Lachkrampf gepackt. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte. Jeder einzelne Muskel tat ihm weh und sein Körper fühlte sich an wie Blei. Aber er ignorierte den Schmerz und beugte sich zu seinem Besucher hinab. Der Anblick ließ sein Herz höherschlagen. Jetzt war alles gut. Und bald schon würde es immer gut sein. Der bloße Gedanke daran versetzte ihn in ein Hochgefühl und beinahe hätte er fröhlich vor sich hin geträllert. Auch in seinem Leben gab es noch Glücksmomente. Er hatte schon nicht mehr daran geglaubt. Erleichtert ging er einige Minuten später zum Wagen zurück, als er plötzlich in der Ferne Hundegebell hörte, das rasch näher kam.

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Ramona nahm zwei Champagnergläser vom Tablett eines Kellners. »Jetzt schau nicht so niedergeschlagen. Sobald wir das Golfturnier über die Bühne gebracht haben, komme ich doch nach.« Nachdem das Konzert mit der obligatorischen Zugabe zu Ende gegangen und Adrian Neuhaus unter viel Beifall von der Bühne verabschiedet worden war, strömten die Gäste an die zahlreichen Bistrotische, die, in elegante weiße Hussen gehüllt, rund um die Fontäne im hinteren Teil der Parkanlage aufgestellt waren. Das aufmerksame Servicepersonal kredenzte Getränke und kleine Häppchen und überall herrschte ausgelassene Stimmung. Doch Cornelius wollte sich davon nicht anstecken lassen, ebenso wenig wie er Lust auf den Champagner verspürte, den Ramona vor ihm auf den Tisch gestellt hatte. Und auch die Kanapees des Kellners quittierte er mit einem sparsamen »Nein, danke«.

»Nach diesem Golf-Kokolores steht doch schon das nächste Gartenfest auf dem Programm, danach eine weitere Vernissage und was weiß ich nicht alles. Und jedes Mal braucht sie eine Dumme, die ihr die Arbeit abnimmt und dafür alles andere stehen und liegen lässt.«

Ramona trank einen Schluck Champagner. »Du übertreibst wie immer maßlos. Auf die paar Tage früher oder später kommt es doch nun wirklich nicht an.«

»Wir sind ja auch nur miteinander verheiratet. Da verbringe ich meine Zeit gern ohne meine Frau.«

Cornelius verspürte große Lust einen Streit anzufangen, was jedoch, umgeben von zahlreichen Konzertbesuchern und den Journalisten und Fotografen, die sich unter das Publikum gemischt hatten, unmöglich war, vorausgesetzt, sie wollten nicht als Aufmacher für die nächste Titelstory herhalten.

»Hattest du eigentlich von Anfang an vor, mir deine Entscheidung heute Abend mitzuteilen?«

Ramona schürzte die Lippen. »Caroline hat mich erst vor Konzertbeginn um meine Unterstützung gebeten. Wann hätte ich dir also davon erzählen sollen?«

»Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich das Nachsehen habe.«

»Jetzt werde nicht dramatisch.«

Doch bevor Cornelius etwas erwidern konnte, kam die Wurzel allen Übels samt Göttergatten im Schlepptau an ihren Tisch.

»Na, ihr beiden«, flötete Caroline von Greifenberg. »Welche Laus ist euch denn an diesem wunderbaren Abend über die Leber gelaufen?«

Keine Laus, sondern eine geliftete Dampfwalze.

»Leider musste ich gerade erfahren, dass ich meine Reise nach Neukirchen vorerst allein antreten werde«, sagte Cornelius scharf.

Die Baronin tätschelte seinen Oberarm. »Das werden Sie schon überleben. Ich verstehe ohnehin nicht, was Sie ständig in diesem gottverlassenen Kaff zu suchen haben.«

Cornelius musterte sie eisig. Doch die Baronin hatte sich bereits von ihm abgewandt und winkte in die Menge. »Huhu, Adrian. Hier sind wir.« Dann rammte sie ihrem Mann unsanft den Ellbogen in die Seite. »Jetzt organisiere doch endlich etwas zu trinken für uns.«

Richard von Greifenberg war schon den ganzen Abend erstaunlich zurückhaltend gewesen. Auch jetzt schien er sich geradezu erleichtert auf die Suche nach einem Kellner zu machen. War es womöglich die Begeisterung über Adrian Neuhaus und seine Gesangskunst, mit der er nicht mithalten konnte und die ihn die Flucht ergreifen ließ?

»Ich hatte gehofft, dass er ohne Anhang erscheint. Dieses junge Ding, mit dem er sich seit einigen Monaten abgibt, ist einfach nur peinlich«, presste Caroline von Greifenberg hervor, ehe sie die Schultern straffte und ihre kirschrot geschminkten Lippen zu einem breiten Lachen formte.

Jetzt hatte auch Cornelius die blond gelockte Frau am Arm von Adrian Neuhaus entdeckt. Gemeinsam bahnten sie sich den Weg zu ihrem Tisch. Immer wieder wurde spontan Applaus gespendet und Neuhaus um ein Autogramm oder ein gemeinsames Foto gebeten. Eine walkürenhafte Konzertbesucherin mit abenteuerlicher Hochsteckfrisur drängte sich ungestüm nach vorn, um ihm zwei rote Rosen zu überreichen. Während Neuhaus routiniert in die Menge lachte, ließ sich seine Begleitung nur ab und zu ein Lächeln entlocken. Laut Programmheft war Neuhaus sechsundvierzig, die Frau an seiner Seite schätzte Cornelius dagegen auf höchstens Ende zwanzig.

Nachdem Caroline von Greifenberg Adrian Neuhaus überschwänglich mit Wangenküsschen begrüßt und sich vor den Fotografen wirksam in Szene gesetzt hatte, war ihr Pulver an Freundlichkeit auch schon verschossen. Für seine Begleitung blieb nur ein kurzes Kopfnicken übrig.

»Darf ich dich mit guten Freunden von mir bekannt machen?«, sagte sie, nachdem die Journaille sich endlich zurückgezogen hatte.

Adrian Neuhaus war groß gewachsen und hatte einen festen Händedruck. Für sein gewaltiges Stimmvolumen war er erstaunlich hager, wie Cornelius schon während des Konzerts festgestellt hatte. Die pechschwarzen Haare, der sonnengebräunte Teint und ein beginnender Drei-Tage-Bart verliehen ihm ein fast schon verwegenes Äußeres. Helena Stern, wie er ihnen die junge Frau vorstellte, wirkte dadurch noch blasser und zierlicher. Das Gespräch plätscherte eine Weile belanglos dahin und geriet mehr und mehr zu einem Monolog der Baronin. Neuhaus war zu höflich, um ihren Worthülsen Einhalt zu gebieten, und begnügte sich mit einem gelegentlichen Kopfnicken oder einer kurzen Zustimmung. Vielleicht war er nach seinem Auftritt auch einfach zu erschöpft. Dennoch konnte ihm nicht entgangen sein, dass sie Helena Stern wie Luft behandelte und auch Cornelius und Ramona zu bloßen Statisten degradiert wurden. Cornelius sehnte das Ende dieser krampfhaften Veranstaltung herbei. Ausnahmsweise war er daher froh, als Richard von Greifenberg und ein Kellner mitsamt Champagnergläsern auftauchten und die nervtötende Konversation zumindest für kurze Zeit zum Erliegen kam. Von Greifenbergs Augen blieben dabei sofort an Neuhaus' attraktiver Begleitung hängen, wie nicht nur Cornelius feststellen durfte.

»Und, lieber Adrian, wann geht es Richtung Ibiza?«, fragte Caroline von Greifenberg, nachdem sie – erfolglos – einige Giftpfeile in Richtung ihres Mannes abgeschossen hatte.

Cornelius hätte sich ob des Versuchs der Baronin, den Inselnamen betont spanisch auszusprechen, fast an seinem Champagner verschluckt. Auch über Helena Sterns Gesicht huschte ein amüsiertes Lächeln, das bei Neuhaus' nächsten Worten jedoch schlagartig erlosch.

»Dieses Jahr überhaupt nicht«, sagte er nach einem kurzen Zögern. »Ich muss mich dringend um unseren Familiensitz in Niederbayern kümmern.«

»Ich dachte, wir fliegen kommende Woche?«, entfuhr es Helena.

Neuhaus räusperte sich. »Lass uns das bitte zu Hause besprechen.«

»Aber …«

»Bitte!«, sagte er eine Spur schärfer.

Helena Stern musterte ihn mit versteinerter Miene. Trotz des Stimmengewirrs um sie herum begann sich an ihrem Tisch plötzlich eine lähmende Stille auszubreiten. Verlegen drehte Cornelius das Champagnerglas in seinen Händen. Mit Ausnahme von Richard von Greifenberg, der Helena Stern nach wie vor unverhohlen anstarrte, bemühten sich drei Augenpaare krampfhaft in eine andere Richtung zu sehen. Caroline von Greifenberg hüstelte nervös.

»Wo in Niederbayern liegt denn Ihr Anwesen?«, durchbrach Ramona schließlich das Schweigen.

Dankbar ergriff Adrian Neuhaus den Strohhalm. »Nicht weit hinter Landshut. Altenberg ist die nächstgelegene Stadt.«

»Dann kennen Sie bestimmt auch Neukirchen!«, rief Cornelius. »Wir haben dort schon einige Male Urlaub gemacht. Ich werde nächste Woche wieder hinfahren.«

»Natürlich. Unser Weiler liegt nicht weit davon entfernt.«

Cornelius drehte sich zu Caroline von Greifenberg. »Erst vor ein paar Minuten haben wir davon gesprochen. Wie haben Sie Neukirchen doch so treffend genannt, Gnädigste? Dieses …«

Der Gesichtsausdruck der Baronin erstarrte. Cornelius gönnte sich noch ein paar Sekunden des stillen Triumphs, ehe er sie erlöste. »Dieses … malerische Örtchen. So sagten Sie doch, nicht wahr?!«

Neuhaus' Züge hellten sich auf. »Das trifft es auf den Punkt. Ich wusste gar nicht, dass du Neukirchen kennst.«

»Nur flüchtig«, krächzte Caroline von Greifenberg und sah ihren Mann warnend an.

Doch Richard von Greifenberg war viel zu sehr damit beschäftigt, Helena Stern in ein Gespräch zu verwickeln, als dass er der Konversation am Tisch hätte folgen können. Deren gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände, aber Adrian Neuhaus hatte offenbar nicht vor, ihr zu Hilfe zu kommen.

Cornelius konnte sich nicht daran erinnern, dass Anna Leitner, die Pensionswirtin in Neukirchen, jemals von den Freiherren von Neuhaus gesprochen hatte. »Entschuldigen Sie meine Neugier, aber wo genau liegt denn Ihr Anwesen?«

»Kleineich liegt an der Landstraße nach Ebersbach. Bis vor fünfzehn Jahren gehörte der Weiler zu Neukirchen, aber seit der Gemeindegebietsreform ist er offiziell ein Teil von Ebersbach.«

Vor Cornelius' geistigem Auge erschien ein etwas in die Jahre gekommenes zweistöckiges herrschaftliches Gebäude mit Erkerfenstern, ein weitläufiger Garten und ein kleiner Fichtenwäldchen. »Den Weiler kenne ich. Ein wunderschönes Anwesen. In Ebersbach ist man auf seinen berühmten Einwohner bestimmt sehr stolz.« Cornelius wusste um die innige Feindschaft der beiden Nachbardörfer, die mitunter weit über die sportliche Rivalität bei Fußballspielen und das Stehlen eines Maibaums hinausging. Dass Ebersbach neben einem alten Jagdschloss auch noch mit einem prominenten Dorfbewohner aufwarten konnte, dürfte den Neukirchnern nicht sonderlich schmecken.

Doch Neuhaus winkte ab. »Ich wohne schon seit so vielen Jahren nicht mehr in der Gegend, dass ich mir nicht vorstellen kann, überhaupt noch als Einheimischer wahrgenommen zu werden. Ich weiß nicht einmal mehr, wann ich das letzte Mal dort war. Meine Schwester und ich haben uns meistens hier in München getroffen.« Seine Stimme zitterte plötzlich.

»Ach Adrian, das ist alles so furchtbar.« Caroline von Greifenberg war offenbar wieder zum Leben erwacht. Vor Konzertbeginn hatte sie Cornelius und Ramona wiederholt eingebläut, den Tenor auf keinen Fall auf seine vor Kurzem verstorbene Schwester anzusprechen. Cornelius hatte bis dahin noch nicht einmal gewusst, dass Neuhaus überhaupt eine Schwester hatte.

»Umso wichtiger ist es jetzt zu entscheiden, wie es mit unserem Familiensitz weitergeht. Ursprünglich wollte ich ihn verkaufen, aber es fühlt sich wie eine Entwurzelung an, das Erbe meiner Eltern endgültig aufzugeben.« Neuhaus schien mehr mit sich selbst zu sprechen als mit seinen Zuhörern. »Magdalena hat das Haus über alles geliebt. Für sie war es nie eine Option, fortzugehen. Je länger ich darüber nachdenke, umso besser kann ich sie verstehen. Auch wenn ich meine Zelte in München nicht abbrechen werde, trage ich mich doch mit dem Gedanken, die nächste Zeit wieder auf Kleineich zu wohnen.«

Cornelius konnte nicht sagen, welche der drei Damen Neuhaus entgeisterter anstarrte. Sogar Richard von Greifenberg unterbrach kurzzeitig seine peinlichen Annäherungsversuche.

»Wie bitte?«, flüsterte Helena Stern.

Adrian Neuhaus tat alles, um seine Freundin nicht ansehen zu müssen. Stattdessen nahm er das angebotene Champagnerglas und prostete in die Runde. »Auf diese wunderbare Sommernacht!«, sagte er etwas zu laut.

Ramona fing sich als Erste wieder und erhob ebenfalls ihr Glas. Cornelius schloss sich rasch an. Er war an diesem Abend offenbar nicht der Einzige, der unangenehme Neuigkeiten erfahren musste. Nach der geplatzten Urlaubsreise wurde Helena jetzt auch noch von Neuhaus' Umzugsplänen überfahren. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Falls er hoffte, damit einer langwierigen Diskussion aus dem Weg zu gehen, hatte er sich gründlich verspekuliert.

Helenas Unterlippe begann zu zittern. Wie in Zeitlupe stellte sie das Champagnerglas auf dem Bistrotisch ab. Ihre nächsten Worte schienen sie große Anstrengung zu kosten. »Bitte entschuldigen Sie mich, aber ich habe schon den ganzen Abend starke Kopfschmerzen. Ich fahre jetzt besser nach Hause.«

Doch bevor sie sich umdrehen konnte, legte Adrian Neuhaus einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Sein Gesicht zeigte keine Regung. »Ich begleite dich selbstverständlich. Es war auch für mich ein langer Tag.«

Der Augenblick der geistigen Abwesenheit war verschwunden. Neuhaus hatte das Ruder wieder fest im Griff. Galant verabschiedete er sich, auch ein Handkuss für die Damen durfte nicht fehlen. »Herr Cornelius, ich gehe davon aus, wir sehen uns nächste Woche. Sie sind jederzeit herzlich bei uns auf Kleineich eingeladen.«

Helena Stern stand stocksteif neben Neuhaus und reagierte nicht.

»Ich melde mich sehr gern. Umgekehrt gilt das natürlich auch. Ich wohne in der Pension Leitner«, beeilte er sich zu antworten.

»Auf die wunderbaren Überraschungen, die das Leben für uns bereithält«, sagte Caroline von Greifenberg und hob boshaft lächelnd ihr Champagnerglas, nachdem das Paar in der Menge verschwunden war.

Kapitel 2

Anna Leitner saß vor dem Spiegel des Friseursalons in Altenberg und beobachtete Tanja Rohrbach beim Glätten ihrer Locken. Nichts entspannte die Wirtin so sehr, wie ausnahmsweise jemand anderem bei der Arbeit zuzusehen, vor allem wenn dieser so geschickt vorging wie Tanja. Deshalb hatte sie auch nicht lange gezögert, als die angehende Friseurmeisterin sie vor einigen Tagen gebeten hatte, noch einmal Modell zu sitzen. Es war schon nach Feierabend und außer den beiden Frauen niemand mehr im Salon.

»Um deine Prüfung musst du dir keine Sorgen machen. Du bist die Einzige, die meinen Krautkopf zähmen kann«, stellte Anna zufrieden fest.

»Du hast doch keinen Krautkopf. Du musst einfach öfter das Glätteisen benutzen.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte hielt Tanja die kleine Wunderwaffe in den Spiegel, ehe sie sich an der nächsten Haarsträhne zu schaffen machte. »Magst du nicht vielleicht doch ein paar Aufheller …«

»Nix da«, wurde sie sogleich von Anna unterbrochen. »Bleib mir bloß mit deinem Farbtopf vom Leib. Solange ich nicht grau werde, lassen wir alles, wie es ist.«

Da Tanja zu ihrem Leidwesen kein einziges graues Haar in Annas dunkelbrauner Lockenmähne entdecken konnte, würde es auch an diesem Abend nichts mit einem Farbexperiment werden.

»Wenn ich für die Prüfung übe, kostet es dich doch nichts«, startete Tanja einen letzten Versuch.

»Mir geht es nicht ums Geld«, entgegnete Anna. »Ich verspreche dir, du wirst die Erste sein, die ich anrufe, sollte ich eines Tages ein graues Haar finden.«

Tanja schnitt eine Grimasse in Richtung Spiegel.

»Bist du froh, wenn die Prüfung endlich vorbei ist?«

»Das kannst du laut sagen. Eigentlich wäre ich ja schon längst fertig, aber nach der Sache im Februar hat es doch eine Zeit gedauert, bis ich wieder ganz fit war.«

Anna war unfreiwillig Augenzeuge gewesen, als Tanja vor einigen Monaten mit einer blutenden Kopfwunde und einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Mit Schaudern dachte sie an die nächtlichen Vorkommnisse im Nachbarhaus des Friseursalons zurück, wo sich die Apotheke von Dr. Benedikt Rehberg befand. Dessen Neffe hatte Tanja damals in Panik niedergeschlagen, nachdem sie ihn beim Stehlen von Medikamenten überrascht hatte. Der Vorfall hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet und Benedikt Rehberg seit jener Nacht nicht nur in der Kreisstadt, sondern auch in Neukirchen, an dessen Dorfrand er eine protzige Villa bewohnte, einen schweren Stand bereitet. Dass er davor bereits das Ende seiner Ehe verkraften musste, weil seine Frau sich für den Umzug aufs Land mit einer Liebesaffäre rächte, heizte die Gerüchteküche nur noch mehr an.

Obwohl Anna die überhebliche Art des Apothekers nicht mochte und nie viel mit ihm zu tun gehabt hatte, hatte sie doch bemerkt, dass er sich kaum mehr im Dorf blicken ließ. Auch ihren Gasthof mied er und wie sie vor einiger Zeit erfahren hatte, war er sogar als Sponsor der Neukirchner Fußballmannschaft zurückgetreten. Schon wurden Stimmen laut, dass die Apotheke vor der Insolvenz stehen und Benedikt Rehberg die Villa verkaufen und nach München zurückkehren würde. Womöglich hatte der Dorfklatsch nicht ganz Unrecht, denn wann immer Anna in der Palmen Apotheke einkaufte, war sie die einzige Kundin im Laden.

»Eigentlich gibt es nichts, was ich nicht zigmal geübt habe, aber bis zur Prüfung nur untätig herumzusitzen macht mich wahnsinnig.« Tanjas Plauderei holte Anna aus ihren Gedanken zurück.

»Du findest bestimmt noch jemanden zum Haarefärben. Hast denn gar keine Kundin, die du fragen könntest?«

Tanja nahm sich die nächste Haarsträhne vor. »Die Marie Lechner hat früher immer gern etwas Neues ausprobiert. Aber jetzt hab ich sie schon lange nicht mehr hier im Salon gesehen.«

»Ich glaube, der Marie geht es im Moment nicht so gut«, sagte Anna nach einem kurzen Zögern.

»Dann stimmt es also, dass die Lechners Geldprobleme haben und der Hof hoch verschuldet ist? Die Förster Roswitha hat sich neulich mit einer anderen Kundin darüber unterhalten.«

Anna ließ ein unschönes Lachen hören. »Das ist mal wieder typisch. Diese alte Ratschen!«

Roswitha Förster gehörte der Gemischtwarenladen in Neukirchen und sie selbst zu den eifrigsten Nachrichtenkorrespondentinnen des Dorfes. Dabei waren neben dem Verbreiten von Neuigkeiten insbesondere das Anstellen von Vermutungen und Schüren von Gerüchten ihre Spezialgebiete.

»Die arme Marie«, murmelte Tanja. »Was ist denn da schiefgelaufen? Der Lechner Hof ist doch ein großer und schöner Bauernhof. Als Kind hab ich oft beim alten Lechner die Eier für die Mama abholen dürfen.«

»Ich weiß es nicht. Am Stammtisch wird auch schon geredet. Und der Max lässt sich seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr im Gasthaus sehen.«

Anna hatte gehofft, das ganze Getratsche würde sich als heiße Luft herausstellen. Doch der Gesichtsausdruck von Maximilian Lechner, der ihr vor zwei Tagen in der Altenberger Sparkasse über den Weg gelaufen war, hatte Annas schlimmste Befürchtungen bestätigt. Das wollte sie Tanja jetzt aber nicht auf die Nase binden.

»Ruf die Marie doch einfach an und frag, ob sie Modell für dich sitzen will«, sagte sie stattdessen.

»Aber nicht, dass sie es in den falschen Hals bekommt und denkt, ich will ihr aus Mitleid etwas schenken.«

»Musst es halt entsprechend verpacken. Da fällt dir doch bestimmt etwas ein.«

In diesem Augenblick klingelte Tanjas Mobiltelefon. Fragend blickte sie in Annas Richtung.

»Geh ruhig hin.«

Während Tanja telefonierte, kreisten Annas Gedanken weiter um den Lechner Hof. Wenn man den Gerüchten glauben konnte, war Maximilians Entscheidung, nach dem Fall der Milchquote den Milchviehbestand zu erweitern, der Auslöser der ganzen Misere. Dazu kamen offenbar noch einige andere, nicht sehr wohlüberlegte Investitionen, die das Budget der Lechners über die Maßen strapaziert hatten. Anna hatte bis zu ihrer Scheidung selbst einen Hof bewirtschaftet und kannte das Anwesen und Maximilian Lechner, einen gelernten Landmaschinentechniker, seine Frau Marie und die gemeinsame Tochter Julia gut. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er mit leichtfertigen Entscheidungen ihre gesamte Existenz riskieren würde. Er hatte den Hof vor einigen Jahren von seinen Eltern übernommen, nachdem sein älterer Bruder in einen Bauernhof in Ebersbach eingeheiratet hatte.

Anna mochte Marie. Sie war eine warmherzige Frau, die oft lachte und andere mit ihrer Fröhlichkeit anzustecken wusste, und sie war immer zur Stelle, wenn eine helfende Hand gebraucht wurde. Eine Torte für das Kuchenbüfett der Landfrauen, Blumenschmuck für die Kirche, Mithilfe bei den Dorffesten, Marie hatte Anna nie abgewiesen. Deshalb war Anna nicht entgangen, dass sie sich in den letzten Wochen spürbar zurückgezogen hatte. Trafen sie doch im Dorfladen oder nach dem Gottesdienst aufeinander, war Marie meist in Eile. Annas vorsichtigem Nachfragen, ob denn alles in Ordnung sei, wich sie stets aus. Aber auch ihr dünnes Lächeln konnte nicht über ihre Augenringe und die blassen Wangen hinwegtäuschen.

Die plötzliche Stille im Salon ließ Anna aufblicken. Tanja hatte ihr Telefonat beendet. An ihrem geröteten Gesicht konnte Anna erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Was ist denn los? Ist was passiert?«

»Stell dir vor, der Stadler will jetzt doch verkaufen.«

Anna setzte sich kerzengerade auf. »Wer sagt das?«

»Der Papa war am Telefon. Er kommt gerade aus der Stadtratssitzung. Der Stadler war am Vormittag beim Bürgermeister und hat ihm mitgeteilt, er könne mit seinen Feldern rechnen.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«

Es war momentan das beherrschende Thema in Altenberg und den umliegenden Dörfern: Ein Anna nur allzu bekannter Bauunternehmer war vor einigen Monaten samt Investor mit Plänen für einen Freizeitpark auf den Altenberger Bürgermeister zugekommen. Der hatte nicht lange gezögert und sofort die entsprechenden Hebel in Bewegung gesetzt. Ein Gutachten wurde in Auftrag gegeben und Experten in Sachen Eventmanagement und Tourismus um ihre fundierte Meinung gebeten. Schließlich wurden mehrere zusammenhängende Ackerflächen bei Neukirchen als das geeignete Areal auserkoren. Anna hatte all dem zuerst keine rechte Beachtung geschenkt, immerhin war es nicht das erste Großprojekt, das die Altenberger Rathausspitze in die Tat umsetzen wollte. Doch während sich seine Vorgänger stets als Luftschlösser erwiesen hatten, nahm der Freizeitpark konkrete Formen an, wie man nicht nur den zahlreichen Artikeln in den Altenberger Nachrichten entnehmen konnte. Der Landrat signalisierte ebenfalls seine Unterstützung, was Anna allerdings weniger verwunderte, waren er und der Bauunternehmer doch langjährige Spezln, wo gern eine Hand die andere wusch.

Der Geldgeber, eine Münchner Unternehmensgruppe, war offenbar bereit, eine ordentliche Summe in das Projekt zu investieren. Informationsabende für die Bevölkerung fanden statt und schließlich machte die Nachricht die Runde, die ersten Bauern hätten sich mit dem Verkauf ihrer Ackerflächen an die Investoren einverstanden erklärt. Dann ging plötzlich alles rasend schnell. Immer mehr Landwirte stimmten zu, bis am Ende nur noch Konrad Stadler übrig blieb.

Anna machten die Freizeitparkpläne große Angst. Wie sollten sie den geplanten Besucheransturm – euphorische Prognosen sprachen von Zahlen im mittleren sechsstelligen Bereich – in Zukunft bewältigen, ohne dabei Schaden zu nehmen? Neukirchen würde von Touristen regelrecht überrollt werden und mit der viel gepriesenen ländlichen Ruhe würde es schneller vorbei sein als manch einer »Freizeitpark« sagen konnte. Allein die Vorstellung von nicht enden wollenden Reisebuskolonnen, die sich durch Neukirchen wälzten, rief bei Anna blankes Entsetzen hervor. Außerdem traute sie den Beteuerungen des Bürgermeisters nicht, die Gemeinde würde nur einen minimalen Kostenanteil zuschießen müssen. Sie hatte daher immer auf ein Platzen der Seifenblase gehofft, vor allem weil Konrad Stadler, dem eine der strategisch wichtigsten Flächen des betreffenden Areals gehörte, sich bisher nicht zu einem Verkauf durchringen konnte. Doch diese letzte Bastion war nun offenbar auch gefallen.

»Laut Bürgermeister ist der Verkauf für den Stadler beschlossene Sache«, sagte Tanja wie zur Bestätigung. »Die Abstimmung war zwar knapp, aber der Stadtrat hat grünes Licht für den Freizeitpark gegeben.«

»Der Stadler spinnt doch! Genau wie all die anderen, die sich einbilden, dieser Freizeitpark wäre das Allheilmittel für unsere Region.«

»Du weißt doch, wie die Leute sind, wenn es ums Geld geht. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viel die für ihre Flächen bekommen. Und der Rest hofft, fleißig mit abzukassieren. Du hättest die Roswitha Förster hören sollen. Sie will ihren Laden ausbauen und in Zukunft auch Souvenirs und solchen Schmarrn verkaufen.«

»Welche Souvenirs denn? Eine Schneekugel mit unserer Kirche?«

Die Akzeptanz des Projekts in der Öffentlichkeit hatte Anna überrascht. Dass die Mehrheit der Altenberger nichts dagegen hatte, war dabei weniger erstaunlich, schließlich ließen der Bürgermeister und seine Parteifreunde keine Gelegenheit aus, die Vorzüge des Parks anzupreisen. Und es war ja nicht gelogen: Die Kreisstadt würde von steigenden Einnahmen und neuen Arbeitsplätzen profitieren, während sich der eigentliche Trubel mehrere Kilometer entfernt abspielte. Doch auch bei einem Großteil der Neukirchner waren Bedenken und Einwände gegen den Freizeitpark Fremdwörter. So hatte sich neben Anna nur ein kleines Grüppchen zu einer ersten Gegenveranstaltung versammelt. Und schnell war klar: Auch hier hatte jeder seine eigenen Vorstellungen. Der Abend endete schließlich in einem handfesten Disput über das weitere Vorgehen und die Teilnehmerrunde beim nächsten Treffen fiel deutlich überschaubarer, um nicht zu sagen enttäuschend aus. Auch die auf ihrem Tresen ausgelegte Unterschriftenliste enthielt bisher nur wenige Einträge. Was jedoch weitaus schwerer wog, war die aufgeheizte Stimmung im Dorf. Nicht nur einmal hatte sich im Gasthof Leitner Unmut ausgebreitet, als Befürworter und Gegner aufeinandertrafen. Sogar Anna hatte sich schon beschimpfen lassen müssen. Sie erkannte ihren Heimatort kaum wieder.

»Unsere Gegend kann dieses Projekt doch niemals stemmen!«

Tanja schaute bekümmert in den Spiegel. »Nachdem der Stadtrat zugestimmt hat, wird es kaum mehr zu stoppen sein. Die Baugenehmigung vom Landratsamt ist laut Papa nur noch Formsache. Wir sind einfach heillos in der Unterzahl. Da brauchen wir mit einer Bürgerinitiative überhaupt nicht erst anfangen. Die zerreißen uns doch in der Luft, bevor wir den Mund aufgemacht haben.«

»Ich will mir gar nicht ausmalen, was Thomas zu den Plänen seines Vaters sagt.«

Mit einer resoluten Handbewegung zog Tanja das Glätteisen aus der Steckdose. »Das verzeiht er dem Konrad nie!«

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»Was liest du denn da?« Neugierig lugte Tabea über die Schulter ihres Vaters.

Cornelius hatte sich so in die Lektüre der Internetseite vertieft, dass er sie nicht hatte kommen hören.

»Hast du mich jetzt erschreckt. Musst du dich so anschleichen?«

»Ich schleiche doch gar nicht«, protestierte seine Tochter sofort. »Was steht denn da so Interessantes, dass du nichts mehr hörst und nichts mehr siehst?«

Kater Max, der sich neben der Computertastatur zu einem Kringel zusammengerollt hatte, öffnete ob der plötzlichen Störung die Augen um einige Millimeter, ehe er wieder einem komatösen Tiefschlaf frönte.

Tabea begann den Zeitungsartikel auf dem Bildschirm zu lesen. »Wer ist Magdalena Neuhaus?«, fragte sie nach wenigen Zeilen.

»Das ist, oder besser gesagt war, die Schwester von Adrian Neuhaus, dem Opernsänger, der gestern Abend im Nymphenburger Schlosspark aufgetreten ist.«

»Und warum interessierst du dich für sie?«

»Wir haben Adrian Neuhaus nach dem Konzert persönlich kennengelernt und uns dabei auch über seine Schwester unterhalten. Er ist übrigens nur einen Steinwurf von Neukirchen entfernt ausgewachsen.«

Tabea setzte sich auf Cornelius' Schreibtisch. Moritz, wie Max seit einem Jahr vierbeiniger Mitbewohner im Hause Cornelius, kam unter der Kommode hervorgekrochen und sprang auf ihren Schoß. Mit einem wohligen Schnurren ließ er sich den Bauch kraulen. »Von dem hat Lukas nie etwas erzählt.«

»Apropos Lukas«, begann Cornelius. »Hast du mir nicht irgendetwas mitzuteilen?«