Über dieses Buch:
Ihre Vergangenheit birgt für Zilla viele Geheimnisse. Zwar erinnert sie sich noch an die waghalsige Flucht aus der DDR, doch ohne leibliche Eltern aufgewachsen, weiß sie kaum etwas über die eigene Familie. Dies ändert sich schlagartig, als Zilla mit ihrem Mann Richard das Haus ihrer Kindheit besucht: Auf dem Dachboden findet sie eine kleine Glaspuppe und ein altes Buch – die handgeschriebene Lebensgeschichte ihrer Großmutter. Zilla versinkt in den Erinnerungen ihrer Vorfahrin, doch dann erkennt Richard die Puppe – und nach und nach begreifen sie, dass ein dunkles Geheimnis ihre beiden Familien miteinander verbindet …
Über die Autorin:
Madeleine Harstall ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Sie wurde 1958 in Genf geboren und studierte Germanistik und Sprachen. Heute lebt sie in Wangen im Allgäu.
Ebenfalls bei dotbooks erschien Madeleine Harstalls Roman »Die Brückenbauerin«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2017
Dieses Buch erschien bereits 2004 und 2014 unter dem Titel »Das Geheimnis der Gräfinnen« bei Knaur und dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2004 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Elena Vasilchenko und hbpictures
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)
ISBN 978-3-96148-083-8
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Madeleine Harstall
Die Töchter der Heidevilla
Roman
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Für meine Großmutter Spundel
»Der Friede muss gestiftet werden, er kommt nicht von selber.«
Immanuel Kant, Königsberg
Das Licht hatte sich verändert. Es kam von hinten. Endlich fuhren sie nach Osten. Zilla richtete sich im Beifahrersitz auf und rieb sich die steifen Halsmuskeln.
»Habe ich lange geschlafen? Wo sind wir jetzt?«
»An Lübeck vorbei.«
Die Autobahn raste unter ihnen hindurch. Lastwagen blieben zurück, Büsche huschten, die komplizierte Geometrie von Gräben und Zäunen in grüner Landschaft schwenkte an Zillas noch schlaftrunkenen Augen vorbei. »Wie weit ist es noch?«
»Achtzehn Uhr sind wir da«, antwortete er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
Zilla sah auf ihre Armbanduhr. Noch dreieinhalb Stunden. Vermutlich war Richards ganzes Denken darauf gerichtet, seine eigene Prognose zu erfüllen. Abends um sechs sind wir da, hatte er morgens um fünf beim Aufbruch in Genf gesagt. Sie hatten kaum Pausen gemacht und waren fast immer hundertachtzig gefahren.
Zilla strich sich durch die halblangen schwarzen Haare, zog die Flasche Evian hinter dem Sitz hervor und nahm ein paar Schlucke. Dabei streifte ihr Blick sein Profil. Eine Laune der Natur hatte ihm einen freundlichen Schwung in die Mundwinkel gelegt. Doch wenn er seine scharfen blauen Augen auf einen richtete, überwog der Eindruck unbeugsamer schweizerischer Redlichkeit.
Sie hätte sich vor neun Jahren sicherlich nicht in ihn verliebt, wenn sie ihm den ganzen Abend in die Augen hätte blicken müssen. Aber er hatte sie in dem kleinen Fischrestaurant am Quai Gustave Ador so gesetzt, dass sie den Jet d'eau sehen konnte, die mächtige Fontäne, die hell angestrahlt in den dunklen Himmel über dem Genfer See stieg. Und so kam es, dass sie über Eck neben ihm saß und ihn von der Seite sah, die glatt rasierte hellhäutige Wange, sein sehr kurzes Haar, das wie poliertes Messing schimmerte, und dieses sachte Lächeln in seinem Mundwinkel. Als er beim Kellner Krebse und Fische bestellte, hatte sie sich gewissermaßen von der Seite in ihn verliebt. Und dann war es sehr schnell gegangen.
Nur drei Tage zuvor hatte Zilla mit der Gewissheit, dass dieses oder ein anderes Gebäude von internationalem Rang einmal ihr Arbeitsplatz sein werde, die Galerie des Hochkommissariats für Flüchtlinge betreten. Furchtlos war sie unter der Glaskuppel die Rampe zwischen den beiden Palmen hinuntergegangen. Hier fühlte sie sich zu Hause, in dieser Mischung aus heiliger Tradition und lichter Moderne, aus Transparenz und Geheimdiplomatie. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren hatte sie gewusst, dass sie zu einer Elite von Studenten gehörte. Sie war die Abgesandte aus Passau, die sich mit jungen Vertretern aus aller Herren Länder in einem Seminarraum versammelte, um sich über ein künftiges Betätigungsfeld in einer großen UN-Organisation informieren zu lassen. Alles lag im Bereich des Erreichbaren.
Im Gegenlicht zweier Fenster stand ein Referent hinter einem Pult neben einem Overheadprojektor und erläuterte Aufbau und Aufgaben des UNHCR, ein Herr in grauem Anzug mit messingfarben schimmerndem kurzem Haar. Als ehemaliger Hauptmann der Schweizer Armee hatte er sich vorgestellt, seit drei Jahren im Hochkommissariat für Flüchtlinge damit beschäftigt, überall auf der Welt die Folgen des Kriegs zu mildern, und zwar als Stratege in der Abteilung Evaluation and Policy Analysis unterm Dach des Department of Operations. Er sprach Englisch mit leicht französischem Akzent.
Als der amerikanische Student Jim genug hatte von Statistiken und Organigrammen und nach Gefahren fragte, zeigte sich, dass Richard Knappe keineswegs nur am Schreibtisch Strategiepapiere verfasste, denn er konnte zum Aufbau eines Flüchtlingslagers am Rande eines Krisengebiets Einzelheiten beisteuern, die darauf schließen ließen, dass er selbst Wasser aus Tankwagen getrunken und, angetan mit kugelsicherer Weste, in einem Jeep hinter der Front entlanggefahren war, um verlorene Kinder einzusammeln. Aber er berichtete dies so knapp, als wäre es nicht der Rede wert.
»What a strange person«, urteilte Jim in der Mittagspause. »Ein richtiger Germane.«
»Ein Alemanne«, korrigierte Zilla. »Die Schweizer sind Alemannen. Dagegen kommen die Germanen aus dem Norden von der Ostsee her.«
»Very interesting«, behauptete Jim.
»Ich zum Beispiel«, erklärte Zilla mit ihren dunklen funkelnden Augen und ihrem schwarzen Haar, »bin eine waschechte Germanin, denn meine Familie stammt aus Ostpreußen.«
Als Richard Knappe nach der Mittagspause die Seminartür aufschloss, streifte er sie mit der Hand. Zilla wäre geneigt gewesen, es für ein Versehen zu halten, aber während er »Pardon, Madame« murmelte, hefteten sich seine klugen blauen Augen um eine Spur zu lang auf ihr Gesicht, und Zilla erschrak ein bisschen.
Er wirkte zu jung für den Posten, den er bekleidete. Tatsächlich war er dreiunddreißig Jahre alt. Hatte sie sich wirklich erst am Tisch im kleinen Fischlokal am Quai Gustave Ador in ihn verliebt?
Dabei hatte sie tatsächlich nicht mehr an ihn gedacht, bis sie sich am dritten Tag noch einmal über den Weg liefen.
Sie stand in der Galerie des HCR, die gläserne Fassade vor sich, in der inwendig eine Stahltreppe im Zickzack emporstieg, und studierte ihre schriftliche Tagesordnung auf der Suche nach einer Zimmernummer. Im Augenwinkel sah sie, wie einer der durch die Galerie eilenden Diplomaten stoppte, umkehrte und auf sie zukam, und blickte auf.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sprach er sie auf Französisch an. Sie fragte, ebenfalls auf Französisch, nach der Abteilung Finanzen. Trotz ihrer Jugend begegnete Zilla anderen Menschen mit natürlichem Selbstbewusstsein. Außerdem verfügte sie über eine auffällige Besonderheit – ihren Namen. Auch der Schweizer Diplomat stolperte darüber. »Zilla Gräfin von Ayshoff, n'est-ce pas?«, erkundigte er sich. »Entschuldigen Sie, dass ich so plump frage. Ihr Name ist mir auf der Liste der Seminarteilnehmer aufgefallen, und unter den deutschen Teilnehmerinnen scheinen Sie mir am ehesten nach Ostpreußen zu passen.«
Huch, dachte Zilla. So genau hatte er sie betrachtet? Vermutlich war seinem kritischen Auge auch ihre – wie sie fand – etwas zu große Nase nicht entgangen.
»Nun ja«, antwortete sie, »der ostpreußische Adel hat normalerweise deutlich mehr germanische Züge als ich.«
Er lächelte sachte. »Ihr Stammsitz liegt bei Eydtkuhnen, nicht wahr?«
»Er lag. Meine Familie musste zum Kriegsende alles aufgeben und fliehen. Schloss Ayshoff existiert nicht mehr.«
»Natürlich«, sagte er und wies mit einer knappen Geste zur Treppe. »Also hat Ihr Interesse für die Arbeit des Hochkommissariats für Flüchtlinge gewissermaßen familiäre Hintergründe?«
»Eigentlich nicht. Meine Großmutter ist zwar mit meiner Mutter im Treck übers Frische Haff geflohen, aber sie hat nicht viel erzählt. Sie blickte lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit, zumal ihre Gegenwart nach dem Krieg schwierig genug war. Sie ist nämlich nicht in den Westen geflohen, sondern nur bis Nordvorpommern. Dort hat sie dann eine Pferdezucht aufgebaut, mit Trakehnern aus Ostpreußen. Nach ihrem Tod hat meine Mutter das Gestüt übernommen.«
»Eine Trakehnerzucht in der DDR? War das denn überhaupt möglich?«
»Sie kennen sich aber gut aus«, bemerkte Zilla.
»Mein Vater züchtet Freiberger Pferde«, sagte er, »und zwar gar nicht weit von hier, in Divonne-les-Bains. Wir haben drei Stuten, zwei davon tragend, und zwei Wallache, die wir selbst gezogen haben. Sie werden gerade eingeritten. Wenn Sie Lust auf einen Ausritt hätten ...«
»Oh, vielen Dank«, lehnte Zilla lächelnd ab, »aber ich bin seit meinem siebten Lebensjahr nicht mehr auf einem Pferd gesessen.«
»Je comprends«, sagte er.
Zilla konnte sich kaum vorstellen, dass er »verstand«, was sie andeutete, aber die Höflichkeit verbot es ihm anscheinend, weiterzufragen. Vielleicht war er auch indigniert, weil sie seine Einladung ausgeschlagen hatte, zumal Schweizer sich doch so schwer damit taten, Fremde einzuladen. Sie blickte ihn von der Seite an und sah zum ersten Mal das kleine Lächeln in seinem Mundwinkel blitzen. Er war einen halben Kopf größer als sie und von athletischem Körperbau, gezügelt durch einen untadeligen grauen Anzug.
Schweigend führte er sie die Treppe hinauf und einen Gang entlang und blieb schließlich vor einer Tür stehen. »Hier ist es.« Dann wünschte er ihr einen angenehmen weiteren Aufenthalt in Genf und verabschiedete sich mit der Miene eines Mannes, den sie nie wiedersehen würde. Doch bereits nachmittags um fünf sah sie ihn wieder. Er wartete vor dem Seminarraum, bis sie herauskam, und fragte sie, ob er sie zum Essen einladen dürfe.
Zilla gestattete es lächelnd.
Es war ein warmer Septemberabend. Sie trug ein rotes ärmelloses Schlauchkleid, als er sie im Hotel abholte. Zunächst wunderte sich Zilla nicht, dass er mit ihr Französisch sprach, denn die Westschweizer waren Franzosen, und Franzosen sprachen erfahrungsgemäß nur ungern Deutsch. Doch als der Kellner den riesenhaften Fisch in einem Wägelchen an den Tisch schob und zerlegte, machte Monsieur Knappe ihr plötzlich seine Komplimente über ihr Französisch auf Deutsch. Er sprach ein beinahe akzentfreies Schriftdeutsch. Und nun wunderte sich Zilla doch, warum er sie nicht gleich in ihrer Sprache angesprochen hatte.
»Und Sie studieren in Passau?«, fragte er.
»Jura und Romanistik«, antwortete Zilla und erläuterte ihm, dass sie eine Stelle als EU-Beamtin in Brüssel anstrebe.
Über ihn erfuhr sie, dass sein Vater es bei der Schweizer Armee immerhin zum Brigadier gebracht hatte und nun Privatier war. Richard war in Bern geboren, hatte sich mit achtzehn als Berufssoldat verpflichtet, Ökonomie und Agrarwissenschaften in Zürich studiert und war immerhin zum Capitaine avanciert. Darüber, warum er die Schweizer Armee verlassen und zum UNHCR gewechselt war, mochte er sich nicht auslassen. Zilla war selten einem Mann begegnet, der sich so zurücknahm und so wenig Bedürfnis nach Selbstdarstellung zeigte.
Nach dem Essen waren sie am Ufer des Sees entlang auf den Jet d'eau zugewandert. Auf der schwarzen Wasserfläche trieben wie weiße Schneehaufen die schlafenden Schwäne. Richard erzählte von irgendeinem Winter, in dem man sie am Morgen aus dem Eis hatte hacken müssen. Sie schlenderten die Mole hinaus bis zu der Stelle, wo mit der Gewalt von zweihundert Stundenkilometern die Fontäne aus einer baumdicken Düse in den Nachthimmel schoss und sie in einen feinen Sprühnebel hüllte. Benommen vom Tosen der Turbinen waren sie gegeneinander getaumelt, und Richard hatte sie in die Arme genommen und geküsst wie ein Verhungernder.
Den Weg zurück zum Quai Gustave Ador waren sie fast gerannt. Richard hatte ihre Hand nicht mehr losgelassen und sie in die Gassen des Viertels Les Eaux Vives geführt. Völlig außer Atem langten sie in seiner kleinen Stadtwohnung in der Rue Zurlinden an. In der Erinnerung wollte es Zilla so erscheinen, als wäre sie die ganze Nacht nicht mehr zu Atem gekommen. Der kühle UN-Diplomat hatte sie mit einer Leidenschaft überwältigt, die alles ausradiert hatte, was sie bislang für ihr kleines kluges Leben gehalten hatte. Schon am folgenden Tag hatte er nach Ruanda aufbrechen müssen, und zwei Tage später war Zilla nach Passau zurückgefahren, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Er hatte auch nicht nach ihrer Adresse und Telefonnummer gefragt, vermutlich, weil er sie der Seminarteilnehmerliste entnehmen konnte, wenn er wollte. Zilla machte augenblicklich mit ihrem damaligen Freund Schluss. Und geradezu lächerlich erschien ihr die Frage, ob aus ihr und Arno Pachaly etwas hätte werden können, wenn er nicht in Mecklenburg-Vorpommern und sie in Passau gelebt hätte. Doch vier Wochen lang ging Zilla durch die Hölle der Ungewissheit, denn von ihm kam kein Zeichen. Hatte Richard nur ein Abenteuer gesucht und die sich bietende Gelegenheit ergriffen, oder konnte er sie sich genauso wenig aus dem Kopf schlagen wie sie sich ihn?
Dann endlich eines Nachmittags übergab ihr Tante Lilly den Telefonhörer mit den Worten: »Für dich. Ein Herr.«
Am Telefon lenkten weder seine blauen Augen noch seine undurchdringliche Miene von seiner ruhigen, warmen und drängenden Stimme ab.
»Zilla, darf ich dich besuchen?«
»Ja«, sagte sie.
»Ist es recht, wenn ich morgen komme?«
»Ja.«
Das Gespräch dauerte nicht länger als zwanzig Sekunden, und Zilla sagte nichts anderes als Ja, glückselig, verwirrt und bestürzt wie ein Teenager. Hatte es in Ruanda eigentlich keine Funk-Logistik gegeben? Hätte er nicht zwischendurch mal anrufen können? Einfach nur, damit sie wusste, dass auch er an sie dachte?
Am Samstagabend war er da, überreichte Tante Lilly Blumen, schüttelte Onkel Peter die Hand und nahm mit vollendeter Höflichkeit am Abendbrottisch Platz. Verwundert betrachtete Zilla den dezent gebräunten Mann, der sie offenbar liebte, aber am Esstisch so tat, als wäre er gekommen, um sich mit dem Juraprofessor Peter Engels über die Finessen der Genfer Konvention auszutauschen und sich von der Gymnasiallehrerin Lilly Engels das deutsche Schulsystem erklären zu lassen. Dabei vergaß er nicht, die Kochkunst der Hausfrau zu loben.
»Ist er nicht ein bisschen zu alt für dich?«, flüsterte Tante Lilly ihr zu, als Zilla ihr half, die Teller in die Küche zu tragen und den Nachtisch, eine bayrische Creme, zu holen.
»So ernst ist es doch noch gar nicht«, antwortete Zilla. Aber während des ganzen Abendessens fragte sie sich nur eines: Wann wurden Richard und sie endlich aus den Pflichten der Konversation entlassen, und wie würden sie zusammenkommen? Es war ernst, ungeheuer ernst, verzweifelt ernst.
Tante Lilly hatte dem Besuch aus Genf das Bett im Gästezimmer bezogen. Was würde Richard tun, wenn man sich Gute Nacht gesagt und Tante Lilly ihn dort alleine gelassen hatte? Würde er resignieren, oder würde er es wagen, sich auf die Suche nach ihrem Zimmer zu machen, auf die Gefahr hin, unversehens im Schlafzimmer der Engels zu stehen? Durfte er erwarten, dass Zilla, wenn alles schlief, zu ihm hinunterschlich, damit sich erfüllte, was beide den ganzen Abend so dringend begehrten, dass sie kaum fähig waren, das Wort aneinander zu richten? Wäre es taktisch klüger gewesen, sie hätte ihn diese Nacht darben lassen, damit er entweder mit zivilen Absichten wiederkam oder aber frustriert ein für alle Mal von ihr abließ? Fragen, die Zilla sich weder jetzt noch später beantworten konnte. In diesem Fall versagten Vernunft und ihr bisschen Lebenserfahrung.
»Zilla, zeigst du Herrn Knappe sein Zimmer?«, sagte Tante Lilly schließlich, als es Zeit war, zu Bett zu gehen. Und Richard machte, während Tante Lilly und Onkel Peter die Treppe hinaufgingen, die Tür zu und schlang seine Arme um Zilla.
Zwischen Mitternacht und Morgengrauen dann lag sie wohlig erschöpft mit dem Rücken gegen seinen Bauch geschmiegt und wollte gerade wegdösen, als er fragte: »Hat es einen bestimmten Grund, dass du hier in Passau studierst und nicht zum Beispiel in Rostock?«
»Ich bin hier aufgewachsen«, antwortete sie. »Ich lebe seit meinem siebten Lebensjahr bei Onkel Peter und Tante Lilly. Aber eigentlich sind sie nicht wirklich Onkel und Tante.«
»Dann hast du, wenn ich richtig rechne, die DDR bereits 1980 verlassen. Wie das denn?«
»Als Republikflüchtige«, antwortete Zilla leichthin. »Meine Mutter hat mich in ein Boot gesetzt, und das hat mich über die Ostsee nach Lübeck gebracht.«
»Und sie ist drüben geblieben? War das beabsichtigt?«
»Von meiner Mutter schon. Mich hat man nicht gefragt. Man hat mich nicht einmal vorgewarnt.« Zilla spürte den warmen Druck seiner über ihrer Brust gekreuzten Arme und suchte tastend nach Worten für eine Erinnerung, die von den Jahren verschüttet worden war.
»Es war die Zeit der Vogelbrut, Juli. Da oben an der Ostsee brüten unzählige Vögel. Weißt du, wo Zingst liegt? Zingst ist ein altes Kurbad, aber auch Teil einer Halbinselkette in Nordvorpommern zwischen Rostock und Rügen. Fischland-Darß-Zingst heißt sie. Wild und schön – Wind, Meer, Urwälder, einmalige Flora und Fauna. Wenn auch die Hälfte Sperrgebiet der Nationalen Volksarmee war.
Ein Teil der Seeschwalben und Austernfischer war schon geschlüpft. Ich hatte mich den ganzen Tag mit unserer Jagdhündin Milva in den Brutgebieten herumgetrieben. Natürlich hat Milva ein paar Eier gefressen, aber keines der Küken. Auf dem Heimweg mussten wir aufpassen, dass uns der alte Pachaly nicht im Osterwald erwischte. Pachaly lief gern mit einer Schrotflinte durch den Wald, erschoss streunende Hunde und Katzen und guckte am Strand nach möglichen Freischwimmern. So hießen die Leute, die versuchten, über die Ostsee zu fliehen. Sie hofften in internationalen Gewässern von einem Schiff aufgenommen zu werden. An den Ostseebadestränden waren übrigens alle Schwimmhilfsmittel verboten, also Schlauchboote oder Luftmatratzen, sogar Schwimmgürtel für Kinder.«
Richard streichelte mit dem Daumen ihren Unterarm, wie um Zilla zu ihrer eigenen Geschichte zurückzuführen.
»Von alldem«, fuhr sie leise fort, »habe ich mich nicht verabschieden können. Zum letzten Mal lief ich vom Osterwald her über die Zingster Heide auf unser Haus zu und wusste es nicht. In meiner Dünenhöhle unter einer Kiefernwurzel am Strand muss bis heute ein Buch liegen, das ich dort gelassen hatte, um es anderntags weiterzulesen. Es sei denn, es hat inzwischen jemand gefunden.«
Richards Daumen hielt inne.
»Mama war schon tagelang nervös. Ich dachte, es sei wieder irgendetwas mit den Behörden. Dann wurde immer geflüstert, und Oma war grantig. Meist ging es um diesen Pachaly. Er war der so genannte Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, was im Grunde nichts anderes war als eine Art impertinenter Stadtteilhausmeister, der den sozialistischen Lebenswandel überwachte. Oft tarnte die Stasi ihre Leute als Abschnittsbevollmächtigte. Nach Ansicht meiner Mutter war Pachaly so ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Und er hatte uns Gräfinnen auf dem Kieker. Er hatte übrigens einen Sohn in meinem Alter. Arno hieß er. Wir waren unzertrennlich wie Geschwister. Meistens trafen wir uns an meiner Lesekuhle bei den drei Kiefern. Nur an diesem Tag nicht. Da hatte er FDJ-Nachmittag. Von ihm habe ich mich also auch nicht verabschieden können.«
Richards Atem strich beruhigend warm über ihren Hals.
»Beim Abendbrot war Mama besorgt, ob ich auch genug esse. Und dann sollte ich gleich ins Bett. Dabei wollte ich eigentlich Sascha noch eine Möhre bringen. Sascha war mein Pony, ein Island-Pony, das jeden Erwachsenen abwarf, aber mich überallhin trug. Nur wenn er heim wollte, entschied er das allein.«
Richard lachte leise.
»Mama sah es nie gern, wenn ich Gemüse aus der Küche an die Pferde verfütterte. Es war immer schwierig, frisches Gemüse zu kriegen. Aber ich habe mich nie viel um die Verbote meiner Mutter gekümmert. Sie war nie streng mit mir und selten konsequent. Doch an diesem Abend bestand sie darauf, dass ich gleich ins Bett ging. In ihrem Ton und in ihrer Miene war ein Ernst, eine tödliche Not, die mich zwang zu tun, was sie sagte. Es war, als würde sie weinen, ohne dass eine einzige Träne kam. Allerdings hatte sie vergessen, den Holzofen fürs Badewasser zu befeuern, und so fiel das abendliche Bad aus. Ich war darüber so sauer, dass ich zur Strafe ungewaschen ins Bett ging, noch mit dem Sand der Zingster Heide zwischen den Zehen. Und die Zähne geputzt habe ich mir auch nicht.«
Richard schnaubte amüsiert.
»Mitten in der Nacht wurde ich geweckt. Mama zog mir mit kalten und zwickenden Fingern Kleider an, sogar Strumpfhosen und feste Schuhe. ›Brennt unser Haus?‹, fragte ich schlaftrunken. ›Nein, aber wir machen jetzt einen Spaziergang‹, sagte sie. Unten in der Küche schlang Oma ihre Knochenarme um mich und drückte mich an sich. ›Pass auf dich auf, mein kleines Marjellche‹, murmelte sie. Marjell ist das ostpreußische Wort für Mädchen. Das war das Letzte, was ich von meiner Großmutter hörte und sah. Drei Jahre später war sie tot.«
Richard drückte sie kurz an sich, und Zilla fühlte unter dem Gewicht seiner Arme auf einmal ein befremdliches Ziehen in der Kehle. Sie musste mehrmals schlucken, ehe sie weiterreden konnte.
»Mama nahm mich an der Hand, und wir traten hinaus in die Nacht. Eine Nachtigall sang, das weiß ich noch. ›Du musst ganz leise sein‹, mahnte meine Mutter. Mir fiel auf, dass sie einen Rucksack trug. Mit dem radelte sie sonst zum Einkaufen. ›Beute machen‹, wie meine Großmutter dazu sagte.
Es war ein langer, langer Spaziergang. Niemand durfte uns sehen. Mama mied das Dorf. Wir drückten uns förmlich durchs Wacholdergebüsch und schlichen auf dem Deich zwischen Ostsee und Zingst durch den schmalen Waldstreifen. Unten am Strand patrouillierten Wachleute mit Lampen.
Schließlich blieb Zingst hinter uns, und die zerzausten Kiefern des Darß tauchten vor uns auf. Der Wald kommt dort bis an den Strand vor. Baumstämme liegen herum. Wir huschten von Baum zu Baum. Mir kam es vor, als würden wir die ganze Zeit den Pachaly an der Nase herumführen. Aber Spaß hat es mir nicht gemacht. Mama ließ meine Hand nicht los. Ihr Griff war hart, sie keuchte. Der Mond kullerte klein und böse über den Himmel.
Unendlich lange – wahrscheinlich zehn Minuten oder so –hockten wir hinter einem der umgekippten Kiefernstämme. Er war von Wind und Wetter weiß geschmirgelt und leuchtete in der Nacht. Der Wind wehte aus Südwest aufs offene Meer hinaus. In den Wellen am Strand lag ein kleines Segelboot. Kaum zu erkennen, völlig schwarz. In ihm saßen zwei Männer. Einer rauchte. Die Glut leuchtete immer wieder auf, schließlich sauste sie in einem Bogen ins Wasser und verlosch.
›Es könnte auch eine Falle sein‹, flüsterte Mama vor sich hin. ›Siehst du was? Streng deine Augen an, Kind.‹ Ich strengte meine Augen an, aber nichts bewegte sich auf dem Strand unter dem Sternenhimmel. Dann musste auf einmal alles ganz schnell gehen. Wir rannten über den Sandstreifen zum Boot. Mama drückte dem, der vorher geraucht hatte, etwas Knisterndes in die Hand, Geld, wie mir später klar wurde, natürlich Westgeld.
›Du fährst jetzt zu Onkel und Tante Engels nach Passau‹, erklärte sie mir und umarmte mich hastig. ›Mach mir keine Schande. Und schreib nicht, hörst du? Keine Zeile!‹
Eine seltsame Freizeit, in der man nicht schreiben durfte und nachts abfuhr. Und wo waren die anderen Kinder? Wo lag Passau überhaupt, und wer waren eigentlich Onkel und Tante Engels? Fragen, die ich nicht mehr stellen konnte. Mama hob mich ins Boot. Einer der Männer warf Ölzeug über mich. Ich lag direkt überm Kiel, an den Lederriemen des Rucksacks geklammert, der auf mir gelandet war. Es stank nach Fisch und Öl. Die Takelage klirrte leise, ab und zu knatterte das Segel. Es war eine Reise in die Ewigkeit.«
»Ein Wahnsinn war das«, bemerkte Richard. »Die Küste wurde doch lückenlos von der NVA überwacht.«
»Die beiden jungen Männer im Boot kamen aus Schwerin, und sie hatten ihre Republikflucht drei Jahre lang geplant. Und offensichtlich hatten sie sie gut geplant. Ich denke, von Zingst aus zu flüchten haben wohl nicht allzu viele versucht. Da gab es sicher bessere Startplätze, näher zur Westgrenze und näher an internationalen Gewässern. Jedenfalls wurde der Strand nicht ständig mit Scheinwerfern überwacht. Einen Motor hätten die Akustiker der NVA sicher hören können, aber ein Segelboot, das musste man erspähen. Und Segel und Boot waren schwarz. Positionslichter setzten sie auch erst, als wir dänisches Gewässer erreicht hatten. Da zogen sie auch die Plane weg, und ich durfte mich aufsetzen. Es war furchtbar kalt. Im Rucksack befand sich ein Pullover, nur das wusste ich nicht. Außerdem hatte Mama Papiere eingepackt und Schulhefte, damit man in Passau meinen Bildungsstand erkennen konnte ...«
Sie musste unwillkürlich lachen, und Richards Daumen fuhr sachte über ihren Handrücken.
»Jedenfalls, noch immer mit dem Sand der Zingster Heide zwischen den Zehen in Strümpfen und festen Schuhen, wurde ich in Lübeck abgeliefert und nach Passau durchgereicht. Immer wieder Gesichter, die zu mir herablächelten, Hände, die meine ergriffen und mich vom Hafen in ein Auto, vom Auto in einen Zug, von einem Zug in den nächsten und vom Bahnhof wieder in ein Auto und dann die Treppe hinauf in mein neues Heim schleppten.
Eine Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte – Tante Lilly –, steckte mich in die Badewanne, und der pommersche Sand verschwand im Ausguss. Der Pullover aus meinem Rucksack wurde in die Altkleidersammlung gegeben. Man kaufte neue Sachen. Ich sah zum ersten Mal Berge, eine richtige Stadt, gleich drei Flüsse und breite Brücken, Barockkirchen, enge Gassen und Nebel, der von den Bergen feucht und kalt in die Stadt kroch. Meiner Erinnerung nach hat es die ersten beiden Jahre eigentlich nur geregnet. Es war ein Gefühl wie in einem Gefängnis. Ich wusste nicht einmal, in welche Himmelsrichtung ich meine Sehnsucht nach dem Meer, nach Sascha, nach den Möwen schicken sollte. Das komische Geraunze meiner Mitschüler verstand ich nicht, und man lachte, wenn ich den Mund aufmachte. Es muss ein schauderhaftes Kauderwelsch aus Ostpreußisch und Mecklenburger Platt gewesen sein. Tante Lilly brachte mich einmal die Woche zu einer Frau, einer Logopädin, die mir mit knallrot gefärbten Lippen As und Os ins Gesicht hauchte und Konsonanten hinterherspuckte.
Als ich ins Gymnasium kam, wurde es besser. Es war, als hätte jemand einen Hebel umgelegt, meine Erinnerungen verschlossen und eine neue Zeit eingeschaltet. Tante Lilly und Onkel Peter hatten keine Kinder und haben mich erzogen wie eine eigene Tochter. Mit viel Liebe und viel Vertrauen. Sie mussten sich eigentlich auch keine Sorgen um mich machen. Ich war von Anfang an Klassenbeste. Aber ohne Tante Lilly und Onkel Peter wäre aus mir natürlich niemals das geworden, was ich heute bin. Eigentlich muss ich meiner Mutter dankbar sein. Bin ich auch. Sie ist ein hohes Risiko eingegangen. Wenn man uns aufgebracht hätte, wäre sie ins Gefängnis nach Bautzen gewandert und ich in ein Waisenhaus.«
»Und warum durftest du ihr nicht schreiben?«
»Jeder Brief, der die innerdeutsche Grenze passierte, wurde von der Staatssicherheit gelesen. Hätte ich Mama geschrieben, ich sei gut angekommen, dann hätte man sie sofort abgeholt.
Aber nach gut zwei Jahren kam dann doch ein Brief von ihr, in dem sie mir die Erlaubnis erteilte, ihr zu schreiben. Natürlich wusste ich, dass ich nichts von meiner Bootsfahrt erzählen durfte, aber Onkel Peter hat es mir trotzdem noch extra eingeschärft, und anfangs haben er oder Tante Lilly jeden meiner Briefe gelesen, bevor er abgeschickt wurde. Manchmal musste ich mich hinsetzen und ihn umschreiben. Ich habe mich immer sehr gequält mit diesen Briefen. Ich zählte Schulnoten auf, sie meldete die Geburt eines Fohlens. ›Leider wieder zu schwach auf der Hinterhand‹, schrieb sie dazu, nicht für mich, sondern für den, der mitlas. Pachaly-Lügen hat Oma das immer genannt. ›Dem Pachaly sein Hund nach den Enten hetzen, wenn die längst abjeflogen sind.‹ Das hieß, man erzählte ihm, dass jemand die Republikflucht plante, wenn das Haus schon zwei Wochen leer stand. Oder man behauptete, ein Fohlen sei kuhhessig, wenn es besonders nach Trakehner aussah, damit er es nicht ins Staatsgestüt abholen ließ. Unser ganzes Leben bestand aus Pachaly-Lügen. Ob man Nägel ergattert hatte, ob es am Sonntag Entenbraten gegeben hatte, man redete mit jedem, als hätte man keine Geheimnisse, aber man log das Blaue vom Himmel.
Und stets hat Mama mir am Ende der Briefe von Oma Grüße bestellt, auch als sie längst tot war.«
»Warum das denn?«, fragte Richard entsetzt.
»Sie wollte nicht, dass ich zur Beerdigung komme. Anscheinend hatte Pachaly ihr Einreisepapiere für mich besorgt. Sie befürchtete aber, dass man mich dabehalten würde. Das hätte sie mir aber nicht schreiben können. Und am Telefon sagte man so etwas auch nicht.«
»Und wie kam es, dass sie dir überhaupt schrieb?«
»Man hatte inzwischen herausbekommen, wo ich war. Zunächst hatte sie nämlich behauptet, ich sei weggelaufen und sie wisse nicht, wo ich sei. Natürlich wurde sie tagelang verhört. Aber auch in der DDR musste man schon Beweise vorlegen, ehe man jemanden einsperrte. Und gerade eine Gräfin verhaftete man nicht einfach so. Da bestand Gefahr, dass der Westen einen Skandal machte. Fast der gesamte ostpreußische Adel ist ja nach dem Krieg in den Westen geflohen. Es hatten viele ein Auge auf uns, auch die mächtigen Vertriebenenverbände im Westen. Die Stellung meiner Mutter und Großmutter war immer heikel, aber gerade das schützte sie auch vor staatlicher Willkür. Man musste einwandfrei vorgehen.
Meine Mutter hatte mich gleich am anderen Morgen vermisst gemeldet. Sogar falsche Spuren hat sie gelegt, bis nach Berlin. An irgendeinem Bahnsteig fand sich meine Armbanduhr. Man einigte sich schließlich, dass ich aus eigenem Antrieb weggelaufen sei oder von einem Menschenhändlerring entführt und in den Westen geschleust worden war, um in einem Bordell zu enden oder als Adoptivkind ins imperialistische Amerika verkauft zu werden. Je absurder die Schreckensvisionen vom Klassengegner, desto glaubwürdiger waren sie. Aber die Stasi blieb nicht untätig. Pachaly erinnerte sich eines Herrn Engels, der bis zum Krieg Verwalter im Jagdschloss der Ayshoffs in Zingst gewesen war. Dessen Sohn war vor den Russen in den Westen geflohen, und zwar mit seiner Frau und einem kleinen Kind, und dieses Kind war Peter Engels gewesen. Nach gut zwei Jahren hatte die Stasi herausgefunden, dass ich gesund und munter bei Prof. Engels in Passau lebte. Man legte meiner Mutter Fotos von mir vor.
Auf dem Volkspolizeikreisamt in Stralsund schrie sie daraufhin Zeter und Mordio und beschuldigte die braven Engels, ihre Tochter entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen zu haben. Fast hätte man sie in die Klapsmühle gesteckt, behauptet sie, so habe sie sich aufgeführt, übrigens in Gummistiefeln und Landarbeiterinnenkluft.
Für die Stasi gab es offenbar keine Möglichkeit, mich aus den Klauen des Klassengegners zu befreien. Onkel Peter erläuterte mir – einer kaum Zehnjährigen – lang und breit die Rechtslage. Ich unterzeichnete eine schriftliche Erklärung, die besagte, dass ich nicht mehr zu meiner Mutter zurückwolle. Ich wollte auch tatsächlich nicht mehr zurück. Ich hatte mich an den Nebel von Passau gewöhnt, war gerade aufs Gymnasium gekommen und hatte endlich Freundinnen. Und meine Mutter war mir so unwirklich geworden wie die Ostsee.«
»Ein merkwürdiges Opfer, das deine Mutter da gebracht hat.«
»Na«, antwortete Zilla, den Tonfall ihrer Mutter imitierend, »was hätt denn aus mir werden sollen mit der Gräfin im Namen? Abitur hätten sie mich nie machen lassen, geschweige denn, dass ich hätte studieren dürfen. Arbeiterin im Möbelkombinat oder auf einer Hühnerfarm, das wäre meine Zukunft gewesen. Und das hätte mir gar nicht gefallen.«
»Mir auch nicht«, sagte Richard leise.
Wenn Zilla an die ersten zwei Jahre ihrer Beziehung zu Richard zurückdachte, fehlten ihr ganze Zeitabschnitte, all die Wochen und Monate zwischen ihren Treffen mit ihm in Genf oder in Passau oder in anderen Städten. Sie hatte keine Ahnung, welche Seminare sie besucht, wann sie studiert und wie sie sich auf ihre Prüfungen vorbereitet hatte. Dagegen war ihr noch so manche Zugfahrt gut in Erinnerung, hauptsächlich wegen der körperlich schmerzhaften Ungeduld, mit der sie die grandiose Alpenlandschaft an sich vorbeiziehen sah. Eine Ungeduld, die sich ins Unerträgliche steigerte, wenn sich nach unzähligen Tunneln und waghalsigen Talbrücken bei Lausanne endlich die Berge öffneten und den Blick auf den tief unten blau vor den bläulichen Hängen der französischen Alpen liegenden Genfer See freigaben, den der Zug dann immer noch in ganzer Länge passieren musste. Ja, im Grunde hatte sie diese Zeit insgesamt als schmerzliches Sehnen in Erinnerung. Zugleich hatte die eigenartige Überwachheit ihrer Sinne sie ihr Studium mit spielerischer Leichtigkeit bewältigen und mit sämtlichen möglichen Auszeichnungen beenden lassen.
Tante Lilly hatte keinen Grund zu besorgten Ermahnungen gehabt. Zilla verlor trotz der ständigen Reisen nach Genf oder auch mal nach Paris oder Brüssel ihr Berufsziel nicht aus den Augen. Sie war gewissermaßen gar nicht fähig, ihren eigenen Vorteil außer Acht zu lassen, und es war durchaus ein Vorteil, einen Diplomaten des UNHCR zu kennen, der ihr viele nützliche Einblicke in die Arbeit und Verwaltung internationaler Behörden verschaffte.
Doch Richard selbst blieb ihr eigenartig fremd. Ja, im Grunde wurde er ihr umso fremder, je länger sie ihn kannte. Zur grenzenlosen Zärtlichkeit der Nächte entdeckte sie tagsüber kaum Entsprechungen. Selten war Zeit für Gespräche, die über die Abklärung rein organisatorischer Aspekte ihrer Beziehung hinausgingen. Wer fuhr wann mit welchem Zug, wer kam mit welchem Flugzeug, kehrte wann ins Hotel zurück, hatte welche Termine in Brüssel oder Paris, hatte um welche Uhrzeit in welchem Restaurant einen Tisch bestellt und so weiter. Und all diese Tische in Restaurants, Straßencafes oder Behördenkantinen – runde, quadratische, rechteckige – mit gepolsterten Stühlen oder Plastiksitzen oder eisernen Sitzflächen mit oder ohne Kissen, auf denen sie aufeinander warteten, sich trafen, sich kurz ausruhten, waren die blanke Heimatlosigkeit zwischen den Nächten, in denen sie vergaßen, wo sie waren, ob in Paris oder New York oder in Richards Stadtwohnung in Genf oder in Passau im Haus der Engels. Eine Liebe ohne Worte und Orte.
»Wie viele Kinder hatte deine Großmutter eigentlich?«, fragte er einmal.
»Zwei Töchter, aber nur meine Mutter hat den Krieg überlebt.«
»Und was war mit deinem Großvater?«
»Er kam gegen Kriegsende unter seltsamen Umständen zu Tode. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Als kleines Kind hat mich das nicht interessiert. Und dann war es zu spät, um meine Großmutter zu fragen.«
Für Richard schien es schwer zu begreifen, dass sie praktisch nichts über ihre Familie wusste. Er hingegen kannte sich geradezu unheimlich gut in deutscher Geschichte aus. »Mein Großvater René Knappe war bis 1945 Militärattaché in der Schweizer Gesandtschaft in Berlin«, erzählte er einmal. »Er hat sehr genau hingeschaut, sogar fotografiert. Weil der damalige leider ziemlich nazifreundliche Schweizer Gesandte in Berlin Renés Berichte über die Judenvernichtung nicht wahrhaben wollte, schickte er sie unter Pseudonym an verschiedene schweizerische Zeitungen. Gegen Kriegsende nutzte er seinen Diplomaten. pass verstärkt, um als Journalist zu arbeiten. Er hat viel gesehen.«
René Knappes Abenteuer interessierten Zilla nur begrenzt. Richard wiederum teilte ihr Interesse nicht, möglichst vielen Leuten die Hand zu schütteln, die in internationalen Organisationen und Verwaltungen wichtige Posten bekleideten, und ihr daraus resultierendes Begehren, sich auf Empfängen, Feiern und Festspielen zu zeigen.
Manchmal, wenn Nebel von den drei Flüssen in Passau aufstieg und die Berge verhängte, fragte Zilla sich, was es eigentlich war, was sie und Richard verband.
Einmal wachte sie am frühen Morgen in seinem Bett in Les Eaux Vives auf und sah ihn nackt am Fenster stehen und auf die Rue Zurlinden hinabschauen. Die Morgensonne spielte mit seinen Muskeln unter seiner hellen, glatten Haut. Und sie sah, wie ein stummer Seufzer seinen Brustkorb hob. Ein andermal kehrte sie von der Toilette irgendeines Cafés in irgendeiner Stadt an den Tisch zurück und ertappte ihn dabei, wie er verlorenen Blicks vor sich hin starrte, mit einem erschreckenden Ausdruck von Düsternis, ja, Verzweiflung um den Mund.
»Was ist?«, fragte sie.
»Nichts.« Er lächelte rasch und langte nach ihrer Hand. Aber Zilla zog sie weg, bevor er sie fassen konnte. Da blitzte in seinen Augen so etwas wie Angst auf. Doch im nächsten Moment schon schenkte er ihr mit der gewohnten Gleichmut Wein nach. »Deine Mutter war nie verheiratet?«, fragte er.
»Nein. Ich bin ein uneheliches Kind. Ich kenne meinen Vater nicht einmal. Er war ein Student aus Berlin, ein Freischwimmer, der ums Leben kam. Stört dich das?«
»Aber nein, Zilla! Natürlich nicht.«
»Aber ...?«
»Nichts aber.«
»Deinem Vater hast du mich jedenfalls immer noch nicht vorgestellt.«
»Oh«, sagte er, »ich dachte, du legst keinen gesteigerten Wert darauf, ein Wochenende in der Abgeschiedenheit von Divonne-les-Bains zu verbringen.«
»Immer noch gekränkt, weil ich damals deine Einladung zu einem Ausritt abgelehnt habe, hm?«, erkundigte sich Zilla.
Er schüttelte mit seinem stillen Lächeln in den Mundwinkeln den Kopf. Doch irgendetwas lag da im Argen, das Zilla nicht herausbekam. Dann verschwand Richard erneut für ein halbes Jahr nach Ruanda und ließ wieder nichts von sich hören. Zunächst war Zilla nur in Sorge, dann verblüfft, dann verzweifelt. Versuchte er sich von ihr zu lösen? Würde er, wenn er zurückkam, ihre Beziehung formell beenden? Zilla stürzte sich in ihre Doktorarbeit und verbrachte eine Nacht mit einem Doktoranden ihres Vaters. Der junge Mann hielt dem Vergleich mit den Leidenschaften eines reifen Mannes aber nicht stand, und Zilla durchlitt die Höllenqualen zu wissen, dass es für sie nur einen Mann gab – Richard. Doch der hatte offenbar ein schwerwiegendes Problem mit sich und ihr.
Auf einmal war er dann wieder in Genf, rief an und klang warm und drängend am Telefon. Sie war so erschrocken und erleichtert, dass sie nicht wagte, ihn zu fragen, was eigentlich los gewesen sei, dass er nicht habe anrufen können.
Tante Lilly hatte weniger Hemmungen. »Zilla hat so auf eine Nachricht von Ihnen gewartet«, verriet sie beim Abendessen, sehr zu Zillas Pein. »Gibt es denn in Ruanda keine Telefone?«
Richard blickte Zilla aufmerksam an und erklärte dann Tante Lilly schlicht: »Außer von unvorstellbarem Elend hätte ich nichts zu erzählen gewusst.«
Was für ein einsamer Mann, dachte Zilla plötzlich. Würde er jemals lernen, sich ihr vollständig zu öffnen?
Als sie endlich im Gästezimmer allein waren, bat er sie, seine Frau zu werden.
»Meinst du wirklich, dass er der Richtige für dich ist?«, fragte Tante Lilly, als Zilla ihr am anderen Morgen in der Küche die neue Entwicklung gestand. »Was wird denn aus deiner Karriere in Brüssel? Die Schweiz ist doch nicht Mitglied in der EU.«
»Ich werde nicht automatisch Schweizerin durch eine Heirat«, erklärte Zilla. »Einen Antrag auf erleichterte Einbürgerung kann man erst nach sechs Jahren stellen.«
»Nun, wie du meinst. Aber deinen Namen wirst du doch behalten, oder?«
Da sprach Tante Lilly einen heiklen Punkt an.
»Nun ja«, lavierte Zilla sich hindurch, »das schweizerische Namensrecht ist etwas konservativ. Demzufolge ist grundsätzlich der Name des Mannes der Familienname, es sei denn, man kann achtenswerte Gründe für den Namen der Frau geltend machen. Und ob ein Grafentitel bei den Eidgenossen achtenswert genug ist, weiß ich nicht. Richard müsste ein Gesuch stellen.«
»Das wird er doch tun, oder?«
»Das weiß ich nicht. Wir haben noch nicht darüber gesprochen.« Zilla war sich in diesem Moment wirklich nicht sicher, ob sie unbedingt weiterhin Gräfin von Ayshoff heißen wollte. Aber das änderte sich, als Richard in die Küche kam und sich zu seinem Café au lait niedersetzte, den er gern schweigend nahm, sich aber mit der schwiegermütterlichen Inquisition konfrontiert sah.
»Wie ist das eigentlich?«, erkundigte sich Tante Lilly. »Welches Namensrecht gilt denn, wenn ein Schweizer und eine Deutsche heiraten?«
Richard hob die Augen. »Wieso?«
»Tante Lilly meint«, erläuterte Zilla, »dass mein Name meiner Karriere in Brüssel ziemlich förderlich sein dürfte. An mich erinnert sich jeder, allein wegen meines Namens.«
»Hast du das denn nötig?«
»Was hast du gegen meinen Namen?«
»Wenn ich mich nicht täusche«, antwortete er ruhig, »ist der Adelsstand in Deutschland seit 1919 abgeschafft. Das Gräfin ist nur noch Teil des bürgerlichen Nachnamens, nicht? Deshalb steht das Graf oder Gräfin auch hinter dem Vornamen.«
Zilla nickte.
»Dann müsste ich also, wenn ich deinen Namen übernehme, eigentlich Richard Gräfin von Ayshoff heißen, nicht?«
Zilla musste unwillkürlich lachen. »Quatsch. Das macht kein Mensch so.«
Richard lächelte fein. »Und eben darum lässt das schweizerische Namensrecht keine alten Adelszusätze im Namen zu. Man würde uns ins Zivilstandsregister lediglich als Herr und Frau von Ayshoff eintragen, denn ein ›von‹ gilt seit jeher als reine Herkunftsbezeichnung. Dazu gibt es bereits Entscheidungen des Bundesgerichts. Die Richter argumentieren, dass ein Graf und Gräfin im deutschen Namensrecht immer noch wie eine Standesbezeichnung behandelt wird. Dich würde man als Gräfin von Ayshoff ansprechen und mich als Graf von Ayshoff. Aber unsere Bundesverfassung erlaubt keine Standesunterschiede.«
Zilla brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Richard sich auf dieses Gespräch sehr viel besser vorbereitet hatte als sie selbst. »Dann müssen wir halt hier in Passau heiraten«, sagte sie. »Und wenn das deutsche Namensrecht nur angewandt werden kann, wenn du die deutsche Staatsbürgerschaft annimmst, macht das im Grunde ja nichts. Du würdest dein Schweizer Bürgerrecht ja nicht verlieren.«
»Je comprends«, sagte er. Zilla wusste mittlerweile, dass Richard gekränkt war, wenn er ins Französische fiel. Nur aus Höflichkeit Tante Lilly gegenüber fuhr er auf Deutsch fort: »Wenn ich dich recht verstehe, würdest du mich nicht heiraten, wenn du auf deinen extravaganten Namen verzichten müsstest.«
Zilla hütete sich, darauf zu antworten.
»Aber das muss sie doch gar nicht«, griff Tante Lilly ein. »Peter wird die Rechtslage abklären. Wozu haben wir denn einen Juraprofessor im Haus.«
Darauf sagte Richard nichts mehr.
Die Hochzeit fand in Passau statt, wenn auch eher still, denn weder Richards Vater noch Zillas Mutter sahen sich imstande anzureisen, der eine wegen einer fiebrigen Erkältung, die andere, weil sie im Gestüt anscheinend unabkömmlich war. Die Ehe wurde nach deutschem Recht auf dem Standesamt geschlossen. Doch da Zilla und Richard ihren Hauptwohnsitz in Genf haben würden und das deutsche Recht das ausländische Namensrecht grundsätzlich respektierte, das im Fall der Schweiz keine unterschiedlichen Nachnamen erlaubte, dem unterlegenen Partner aber zugestand, seinen eigenen Nachnamen dem gemeinsamen voranzustellen, fragte der bayrische Standesbeamte nun also einen künftigen Herrn Richard Thierry Knappe Graf von Ayshoff, ob er die hier anwesende Zilla Gräfin von Ayshoff zur ihm angetrauten Frau nehmen wolle.
Richard antwortete zunächst mit »Oui«, ehe er akzentfrei »Ja« sagte.
Dabei sah man es dem Standesbeamten an, was er von Männern hielt, die wegen eines Adelstitels heirateten.
»Wie dein Vater gebaut ist«, sagte Zilla, »wird er bald wieder aufs Pferd steigen. Für sein Alter hat er sich wirklich schnell von seinem Sturz erholt.«
»Hm«, machte Richard und lenkte den silbernen Volvo XC 90 bei Grevesmühlen Richtung Kessin auf die A 20.
Anscheinend wollte er gar nicht wissen, wie sie gerade jetzt auf seinen Vater verfallen war. Zunehmend hatte Zilla den Eindruck, dass Richard der Ansicht zu sein schien, vor ihrer Hochzeit alles Wissenswerte über ihre Gedankenwelt erfragt zu haben. Wenn sie das Bedürfnis hatte, ihre Überlegungen zu erläutern, signalisierte er ihr, dass er sie schon kenne. Wann hatten sie eigentlich in den sieben Jahren ihrer Ehe aufgehört sich Substanzielles mitzuteilen? Wo lag der Bruch? Oder war er schleichend gekommen?
Gleich nach der Hochzeit hatten sie zusammen in Zingst Zillas Mutter besucht. Edith Gräfin von Ayshoff hatte ihren Schwiegersohn vorurteilslos empfangen. Ihr hatte es anscheinend genügt zu erkennen, dass Richard Pferdeverstand besaß und eine gute Art hatte, mit den Tieren umzugehen.
Eine derartige Herzlichkeit konnte Zilla dem alten Jean Knappe beim besten Willen nicht unterstellen. Er war erst einige Monate nach ihrer Hochzeit bereit, sie auf seinem Gut in Divonne zu empfangen. Oder Richard hatte den Besuch aus ihr unbekannten Gründen hinausgezögert. So genau hatte Zilla das nie herausbekommen.
Eigentlich war ihr der drahtige Chevalier mit dem kantigen Gesicht und den veilchenblauen Augen, der sie in der Haustür erwartete, sogar ganz sympathisch gewesen. Seine damals zweiundsechzig Jahre hatte man ihm nicht angesehen. Doch vom ersten Schritt an, den Zilla auf sein Gut setzte, hatte sie das Gefühl gehabt, Feindesland zu betreten. Dabei hatte auch das Knapp'sche Gut ihr eigentlich gefallen. Das zweistöckige Herrenhaus mit seinem schiefergrauen Walmdach und einem spitzen Türmchen thronte vor den Kulissen von Wald und Bergen auf einem Plateau, von dem aus man die Weinhänge und Dörfer am Ufer des westlichen Genfer Sees überblicken konnte und weit in die französischen Alpen hineinschaute, an klaren Tagen sogar bis zum schneebedeckten Gipfel des Mont Blanc.
In den Stallungen hinter dem Haus standen fünf Pferde und ein Fohlen. Rauchschwalben flogen ein und aus. Wenigstens drei Katzen zählte Zilla, und es gab einen Hofhund, einen alten Golden Retriever namens Roublard, der sich einen Spaß daraus machte, sie zu foppen, indem er einen Stock anbrachte, den er sie aber nicht packen ließ. Jedes Mal, wenn sie zufasste, wich er mit einer sparsamen, aber blitzschnellen Kopfwendung aus. Was fand der Hund nur an dem Spiel, fragte sich Zilla, wenn sie doch nie den Stock zum Werfen bekam? Ähnlich unsinnig erschien ihr das Spiel, das der alte Jean mit ihr trieb.
Zunächst einmal sprach er nur Französisch mit ihr, obgleich er lange Jahre in Bern gelebt hatte, denn Richard war ja dort geboren. Dass er dies als Affront meinte, wurde Zilla schon am ersten Tag klar, als sie zufällig durch eine angelehnte Tür hindurch hörte, dass er mit Richard Deutsch redete. Dabei sprach er allerdings den Namen seines Sohnes französisch aus.
»Soll ich dich auch Rischar nennen?«, erkundigte sich Zilla, als sie am ersten Abend im Bett lagen. Ohnehin rief sie ihn so, wenn sie unter französischen Freunden waren.
»Das überlasse ich ganz dir«, antwortete er, sie in seine Arme schließend.
»Aber ich frage dich. Was würde dir denn besser gefallen?« Statt einer Antwort küsste er sie und überwältigte sie mit seiner ungeheuren Zärtlichkeit, die so vieles wettgemacht hatte in den ersten Jahren.
»Und wann«, erkundigte sich der alte Jean dann bei einem Mittagessen, »wann wirst du deine Güter in Polen zurückfordern?«