Gernot Uhl
Die Laufsteg-Rebellin
Rebellische Künstler, furchtlose Freiheitskämpfer, kühne Sportler – Wagemut hat viele Gesichter. Starke Persönlichkeiten folgen nicht flüchtigen Trends, sondern inneren Überzeugungen. Leidenschaftlich, streitbar und risikobereit gehen die Helden dieser Reihe außergewöhnliche Lebenswege, auf denen nichts unmöglich ist. Erleben Sie unterhaltsam und spannend erzählte Lebensgeschichten voller Überzeugung: Wo ein Wille ist, ist auch ein Lebensweg. Die E-Books aus der Bibliothek der Wagemutigen führen Sie zu den dramatischen Schicksalsmomenten im Leben von Menschen, die Geschichte machen.
Die Wohnung platzt aus allen Nähten. Zwei Zimmer, Küche und Bad sind einfach zu klein für die ausladende Garderobe einer ganzen Piratenmeute, die kreuz und quer zwischen abgerollten Stoffballen, Büchern und Schallplatten herumliegt: Schwarz-rot gestreifte Plunderhosen und goldglänzende Mäntel, locker sitzende Faltenröcke in kräftigem Orange, dazu keck verknotete Schärpen, ein knallgelber Anzug mit hellrotem Schlangenmuster, Musselin-Strümpfe und weiße Spitze, kunstvoll zerknitterte, leuchtend rote Wildlederstiefel mit Schnallen – und natürlich dürfen auch echte Piratenhüte und Kopftücher nicht fehlen. Im ersten Stock des Thurleigh Court in der Londoner Nightingale Lane geht es seit Tagen zu wie an Bord eines Seeräuberschiffes auf großer Beutefahrt. Die Stimmung ist angespannt und rau, dabei aber voller Vorfreude und Tatendurst. Hektische Kommandos und wüste Flüche gellen durch den schwarz gestrichenen und kaum beleuchteten Flur. Und überall hängen nicht nur diese abenteuerlichen Klamotten herum, sondern auch lauter schräge Typen: Vivienne Westwood und ihre Mannschaft schicken sich an, die Londoner Modeszene zu entern. Für die Saison Herbst/Winter 1981 stellt die mittlerweile vierzigjährige Designerin zum ersten Mal überhaupt eine eigene Kollektion vor. Der Name ist Programm: »Piraten« will sie auf den Laufsteg schicken.
Vieles liegt noch im Argen, nicht nur Details: An einem Ende des Korridors kämpft die resolute Blondine Jordan, eine langjährige Westwood-Mitstreiterin, mit ihrem antiken Bügeleisen gegen einen riesigen Haufen von asymmetrisch geschnittenen Schlabberhemden. Vom Telefon aus organisiert Viviennes Ex-Freund und Noch-Geschäftspartner Malcolm McLaren die Schau, die ein bis anhin unbekanntes Spektakel werden soll: Sein roter Lockenkopf wirkt heute noch krauser als sonst, seine natürliche Blässe noch weißer. Angeblich ist die Schau restlos ausverkauft. Die aufreizende Einladung ist offenbar voll eingeschlagen. Unter dem Piratenlogo – ein Entermesser schwingender muskulöser Arm, feuerrot auf ockergelben Grund – lässt ein unschuldig dreinblickendes Mädchen ihre goldbestäubte Brustwarze aus dem schlecht sitzenden roten T-Shirt blitzen und trägt auch sonst nur eine schlichte schwarze Weste und einen Walkman. »In der Mode geht’s immer um Sex«,[1] sagt Vivienne Westwood, die mitten in diesem Vorbereitungstrubel letzte Hand an die Kleidungsstücke und Accessoires legt. In ihrem behelfsmäßigen Wohnatelier – dem mit zwei hohen Fenstern hellsten Raum der ansonsten dunklen Wohnung – gibt sich die Modekünstlerin ihrem handwerklichen Perfektionismus hin. Mit kritischem Blick prüft sie jeden Goldfransen, wickelt handgekräuselte Seide um Tampons, um sie als selbstgemachte Bommeln einzusetzen und korrigiert ungenau gesetzte Nähte. Ihre Nähmaschine rattert gegen die Zeit: Nicht einmal ein Tag bleibt bis zur Stunde der Wahrheit.[2]
Wie wird wohl die Modebranche ihre neusten Einfälle aufnehmen? Bislang ist Vivienne Westwood in der Öffentlichkeit vor allem als Anarchistin aufgefallen: als scham- und schonungslose Punkerin mit wilder, wasserstoffblonder Stachelfrisur, die in ihrer obszön eingerichteten Boutique in der Londoner Kings Road mit Tabubruch-T-Shirts und Latexoutfits die Jugend aufgewiegelt hat – und als Ausstatterin der skandalösen Punkrockband Sex Pistols. Vivienne ist das reichlich egal. »Ich bin stolz, exzentrisch zu sein«, sagt sie, »stolz, das im Zeitalter der Konformität zu sein.«[3] Dann wendet sie sich wieder ihrer nicht minder exzentrischen Piraten-Garderobe zu. »Mode ist ein Drahtseilakt«, davon ist Vivienne überzeugt, »man riskiert, ins Lächerliche abzustürzen, aber wenn man sich oben halten kann, erntet man Triumph.«[4]
Vivienne Westwood, geborene Swire, ist ein Kriegskind.[5] In ihrer Geburtsnacht heulen in London die Sirenen. Die deutsche Luftwaffe fliegt an diesem 8. April 1941 die bislang heftigsten Angriffe gegen die englische Hauptstadt – und erschüttert damit ganz Großbritannien. Zwar fallen keine Bomben auf das beschauliche Städtchen Glossop in der mittelenglischen Grafschaft Derbyshire, wo Vivienne das Licht der Welt erblickt; die nur wenige Meilen entfernte Industriestadt Manchester ist allerdings ein strategisches Ziel in der Luftschlacht um England. Dort, genauer gesagt: in der Kriegsfliegerschmiede von A. V. Roe and Company, kämpft Viviennes Vater Gordon als Lagerist an der Heimatfront gegen die befürchtete deutsche Invasion der britischen Inseln. Seine Frau Dora, eine gelernte Weberin, steht ihm in nichts nach: sie schneidert in einem kleinen Textilbetrieb Uniformen, näht mal Zelte, mal Fallschirme und knüpft Tarnnetze.
Zuhause zaubert Dora mit Stoff und Wolle. Sie strickt Socken und Pullover, sie näht dies und schneidert das. »Do it yourself«, ist angesagt, »mach’ es selbst«. Was Vivienne später zu ihrer Lebens- und Schaffensphilosophie erheben wird – und damit zu einem Glaubensgrundsatz des Punks –, ist schlicht und ergreifend aus Not und Mangel geboren. Der Waffengang fordert Verzicht: Menschen und Material werden gebraucht, um Hitler abzuwehren und zurückzuwerfen. Glück im Unglück: Von diesem gewaltigen Kraftakt zehren England, die Grafschaft Derbyshire und Vivienne persönlichen weit über den 8. Mai 1945 hinaus, an dem das nationalsozialistische Deutschland bedingungslos kapituliert. Denn der Krieg kurbelt die stockende Konjunktur wieder an, was vor allem der heimischen Textilindustrie zugutekommt. Und Vivienne gewinnt aus der erzwungenen Sparsamkeit und aus Doras schier unerschöpflichem Einfallsreichtum in Sachen Alltagsrecycling ihre eigene handwerkliche Kreativität und die Lust, alles in ungewohnten Zusammenhängen wiederzuverwerten und neu zu entdecken.
Ansonsten bleiben die Schrecken des Krieges weitgehend ausgesperrt aus dem heimeligen Reihenhaus in Millbrook, wo die Swires wohnen. Dora und Gordon Swire sorgen in der guten Stube, die bald auch von Viviennes Geschwistern Olga und Gordon jun. bewohnt wird, für ein wohliges Antiklima zur weltpolitischen Tristesse: Lange und kalte Winterabende verbringt die Familie gemeinsam vor dem schweren gusseisernen Ofen, in dem das wärmende Feuer behaglich prasselt. Dann singen sie gemeinsam, lesen Gedichte und hören Märchen. In den warmen Sommermonaten gibt es in der grünen Idylle von Derbyshire viel zu entdecken: Bäume wollen erklettert werden, Bäche überquert und Blumenwiesen durchwandert. In der wunderbaren Natur übt sich die ungestüme Vivienne im unbeschwerten Seilspringen und schlägt gerne Rad.
So können selbst Kriegskinder glücklich sein. Vivienne jedenfalls fühlt sich von ihren Eltern gut behütetet. Bei Dora und Gordon hängt der Haussegen selten schief und sie sind überhaupt meistens fröhlich und guter Dinge. Die beiden schwärmen lebenslang füreinander wie verliebte Teenager. Sie arbeiten hart, und können es sich in den frühen 1950er Jahren leisten, eine kleine Postfiliale zu übernehmen und zu betreiben. Nach Feierabend gehen sie oft und gerne tanzen. Darin wird ihnen Vivienne in einigen Jahren leidenschaftlich nacheifern; und zwar so, dass es Dora und Gordon ganz schwindelig wird: Als nach allen Regeln der Verführungskunst herausgeputztes Mädchen mit dem gewissen Etwas, das zu heißen Rock ’n’ Roll-Rhythmen durch die Tanzlokale wirbeln wird. »Ich habe meinen Hintern immer richtig rausgestreckt«, sagt Vivienne Westwood. Dass die meisten Jungs in ihrem Alter noch recht kindisch und unreif sind und unbeholfen über Vivienne lachen, stört sie nicht. »Ich weiß ja, was ich tue.«[6]
Schon als junges Mädchen ist sie aufgeweckt und geschickt. Sie schaut sich das außergewöhnliche handwerkliche Geschick ihres Vaters ab und wird von ihrer Mutter spielerisch an die Kunst des Selbstmachens herangeführt. Neben dem Nähen stehen Sticken und Stricken hoch im Kurs. »Es gab sogar Strickmuster für Hochzeitskleider«, erzählt Westwood, »es wurde tagelang gestrickt.«[7]
Bald ist sie geübt genug, dass sie ganz ohne Muster und Anleitungen auskommt. Zuerst peppt sie nur ihre Schuluniform auf. Der Rock wird nun auf die Hüften gesetzt und bekommt hinten einen kecken Schlitz. Dann beginnt sie frei die Kleidungsstücke nachzunähen, die ihr an anderen gefallen. »Als Teenager machte ich alle meine Klamotten selber und gab mein ganzes Geld für Schuhe aus.«[8] Je älter Vivienne wird, desto frecher und gewagter wird ihre selbstgemachte Garderobe. Besonders haben es ihr hochhackige Schuhe und eng anliegende, gerade geschnittene Röcke angetan, deren schlichte und schlanke Form an Bleistifte erinnern. »Für mich war der Bleistiftrock das womöglich heißeste Kleidungsstück, das jemals entworfen wurde.«[9]
Auch die frühe Begeisterung für Mode und Stil verdankt Vivienne ihrer Mutter Dora. Sie ist nicht nur stets elegant gekleidet, sondern sie kennt sich auch aus. Spätestens seit sie in ihrer kleinen Postfiliale auch das ein oder andere Modeblättchen führt, hat Viviennes Mutter einen untrüglichen Blick für die aktuellen Trends und sorgt auf ihre unmittelbare und pragmatische Art dafür, dass Vivienne diese Mode auch zu Gesicht bekommt. »Sie trägt den New Look«, ruft Dora vom Küchenfenster aus, als draußen eine schicke Frau im feschen Dior-Mantel vorbeischlendert, »komm schnell und schau dir das an!«[10] Das lässt sich Vivienne nicht zweimal sagen. Seit Carmel Snow, die stilsichere Chefredakteurin des Modemagazins Harper’s Bazaar im Februar 1947 den bis anhin als Designer unbekannten ehemaligen Kunsthändler Christian Dior zum Maß aller Dinge erhoben hatte – »Ihre Kleider haben einen so neuen Look!«[11] – ist die Pariser Mode auch in England wieder en vogue. Dior hat genug gehabt von der vorherrschenden Militärmode. »Wir kamen aus einer unruhigen Kriegszeit, in der Uniformen vorherrschten und Frauen breitschultrig wie Boxer aussahen«, erklärt der Komet am Designer-Himmel, der die feminine Schönheit wieder aufblühen lässt:[12] »Ligne Corolle« nennt Dior seine allererste und weltweit gefeierte Kollektion, »Blütenkelchlinie«. Darin verbannt er die wuchtigen Achselpolster und entzaubert damit die täuschend breiten Schultern; er schmeichelt der zarten weiblichen Taille und lässt Röcke und Mäntel wie umgestülpte Blütenkelche glockenartig geformt bis fast auf den Boden fallen.[13] Dora, die Vivienne so aufgeregt gerufen hatte, schüttelt abschätzig den Kopf. Viel zu viel Stoff – die reinste Verschwendung. Mit dieser Mode kann sie nicht viel anfangen. Die Augen ihrer Tochter Vivienne aber glänzen. Von nun wird sie immer wieder auf Ideen und Akzente von Dior zurückgreifen – sei es als kopierfreudige Teenagerin, die seine bewunderten Kleider aus schwarzem Wollstoff nachnäht; sei es als geschichtsbewusste Designerin, die wie Dior unzeitgemäße und historische Hilfsmittel einsetzt – Korsette zum Beispiel, um die Taille zu betonen.
Dass sich Vivienne so gut in der Vergangenheit auskennt, ist ihrem unstillbaren Wissens- und Lesedurst zu verdanken, der sich früh bemerkbar macht. In der Schule liefert sie von Anfang an regelmäßig gute Leistungen ab und kann bald das Gymnasium besuchen. Besonders tut sie sich in Englisch und Geschichte hervor, aber sie fällt auch ihrem Kunstlehrer auf. Von Mr. Bell lernt Vivienne, dass es Galerien gibt, in denen man Bilder besichtigen kann –und wie man impressionistische Bilder malt: »Nimm keinen kleinen Pinsel, geh nicht auf Nummer sicher.«[14] Diesen Rat zu mehr Mut wird sie nicht nur beim Tupfen von Landschaftsmotiven beherzigen. Mr. Bell ist es auch, der Vivienne seinerseits dazu ermuntert, ihr Talent an der Kunstakademie zu veredeln; er gibt wertvolle Empfehlungen für ihre Bewerbungsmappe.
Ihre Eltern bekommen von alledem wenig mit, weil sie sich für die Noten ihrer Tochter leidlich wenig interessieren – genauso wie für deren aufkeimende intellektuelle Neigungen. Der Lebensweg des heranwachsenden Mädchens ist nach elterlichem Ermessen ohnehin vorgezeichnet. Vivienne erinnert sich daran, dass Frauen zu dieser Zeit üblicherweise »Lehrerin, Friseurin, Krankenschwester oder – ganz typisch – Sekretärin« werden konnten.[15] Warum sollten sich die Eltern dann auch über ein Kunststudium den Kopf zerbrechen? Reicht es nicht, dass Vivienne immer und überall liest und liest und liest? Vor allem die ganz und gar praktisch orientierte Dora kommt nicht wirklich damit zurecht, dass ihre Tochter nach Bildung und Wissen strebt. Sie hält es schlicht für Zeitverschwendung, die Nase in dicke Bücher zu stecken. Schließlich spielt sich der Ernst des Lebens ja nicht zwischen Buchdeckeln ab, sondern im harten Geschäftsalltag. Sie versteht einfach nicht, warum sich Vivienne nicht ausschließlich ihrer offensichtlichen Begabung für Handarbeiten aller Arten widmet. Denn dass ihre Tochter auch in der Schule geschickt stickt, bastelt und filzt, dass ihre Leistungen im Nähunterricht exzellent sind, das bemerkt Dora sehr wohl. Umso mehr ärgert sie sich darüber, wie viel Zeit Vivienne an langweilige Bücher verschwendet, seit sie lesen kann. Vivienne gibt sich ganz der leichten und weniger leichten englischen Weltliteratur von Enid Blyton über Charles Dickens bis zu William Shakespeare hin.[16]
Schon morgens verkriecht sie sich im noch warmen elterlichen Ehebett, um unter der kuscheligen Decke zu schmökern. Wenn sie dann von dort vertrieben wird, belagert sie kurz darauf die Couch oder zieht sich bei gutem Wetter mit ihren Büchern auf eine blühende Sommerwiese zurück. Dora ist fest davon überzeugt, dass die ganze Leserei nichts nutzt – aber sollte sie vielleicht sogar schaden? Vorsorglich greift die resolute Mutter durch. Vivienne muss ihren Bibliotheksausweis abgeben. Als kleinen Trost steckt ihr Dora fünf Schillinge zu. Vivienne nimmt das Geld und bezahlt damit ihre Freundinnen, die ihr dafür weiterhin Lesestoff aus der Bücherei besorgen.[17] »Ich war ein Kind, das im Land der Bücher lebte«, erzählt Vivienne Westwood, die auch als weltweit gefeierte Designerin klare Prioritäten setzt: »Mode war nie meine größte Leidenschaft«, sagt sie, »Lesen war und ist mein größter Luxus!«[18] Diese Leselust prägt zeitlebens ihr Schönheitsideal: »Die Menschen sollten sich mehr anstrengen, weniger dumm zu sein, denn das würde sie am besten kleiden. Das empfehlenswerteste Accessoire ist ein Buch.«[19]
Mit einem Buch beginnt Anfang der 1980er Jahre auch die Arbeit an der »Piraten«-Kollektion. In der Bibliothek hat Vivienne Westwood eine Modegeschichte der frühen Neuzeit entdeckt: Die geschwungenen und gestrichelten weißen Linien auf dem edlen grünen Einband von Norman Waughs Der Schnitt von Herrenkleidung[20][21][22][23]