Gernot Uhl
Abenteuer auf Achttausendern
Rebellische Künstler, furchtlose Freiheitskämpfer, kühne Sportler – Wagemut hat viele Gesichter. Starke Persönlichkeiten folgen nicht flüchtigen Trends, sondern inneren Überzeugungen. Leidenschaftlich, streitbar und risikobereit gehen die Helden dieser Reihe außergewöhnliche Lebenswege, auf denen nichts unmöglich ist. Erleben Sie unterhaltsam und spannend erzählte Lebensgeschichten voller Überzeugung: Wo ein Wille ist, ist auch ein Lebensweg. Die E-Books aus der Bibliothek der Wagemutigen führen Sie zu den dramatischen Schicksalsmomenten im Leben von Menschen, die Geschichte machen.
Mächtig ragt der Berg empor. In seine steilste Flanke, die höchste Wand der Welt, duckt sich ein winziges Zelt. Der Höhenmesser zeigt 7350 Meter, das Thermometer zweistellige Minusgrade. Es ist drei Uhr in der Nacht an diesem 27. Juni 1970. Im schwachen Schein seiner Stirnlampe wurschtelt sich Reinhold Messner in seine dicke Überhose und in seinen Anorak. Dann stopft er sich zwei Astronautenfolien in die Jackentasche, dazu Ersatzhandschuhe, zwei Mützen, ein paar Brocken Dörrobst, Brausetabletten und zur Orientierung im Notfall ein kleines Farbbild der Wand, die er vor sich hat.[1] Die Fotokamera muss auch mit. Sie soll bezeugen, dass Messner sein großes Ziel erreicht: den Gipfel des Nanga Parbat.
Dieser Achttausender ganz im Westen des Himalayas, der neunthöchste Berg der Welt, ist überhaupt erst zweimal bestiegen worden. Noch nie ist jemand über die Rupalflanke zum Gipfel gekommen. 4500 Meter fällt sie steil ab, teilweise senkrecht. Diese Wand ist so lebensgefährlich wie die berüchtigte Eiger-Nordwand, aber dreimal so hoch. Noch dazu ruht der Wandfuß der Rupalflanke knapp unter der Baumgrenze. In dieser Höhe wird die Luft schon dünn. Dann führen zehn Kilometer extreme Kletterei über Gletscher und gefährliche Spalten, durch Eisfelder und Felsrinnen, vorbei an gewaltigen Eisabbrüchen. Überall drohen Lawinen und Steinschläge.[2] Die kühnsten Bergsteiger hatten bislang keine Chance gesehen, die Rupalwand hinaufzukommen. Selbst Hermann Buhl, der 1953 über eine andere Route als erster Mensch den Gipfel des Nanga Parbat erreicht hatte, war vor dieser Wand zurückgeschreckt: »Für alle Zeit unmöglich!«[3] Reinhold Messner, von Kindertagen an glühender Bewunderer von Hermann Buhl, fordert nun diese Unmöglichkeit heraus. Er will die Grenzen des Machbaren verschieben – schon in seinem ersten Abenteuer auf einem Achttausender.
Eisige Kälte umfängt ihn, als er über die halb aufgeblasene Luftmatratze ins Freie krabbelt. Das Lager V, das eigentlich nur aus dem roten Sturmzelt und ein paar Konserven im Schnee besteht, liegt noch ganz im Dunkeln. Das fahle Mondlicht dringt nicht bis in die schmale Nische, die die Männer mit Pickeln als Lagerplatz in das ewige Eis gehauen haben, das das Felsmassiv des Nanga Parbat überzieht. Dort, im Schutz der Wand, haben Reinhold Messner, sein Bruder Günther und ihr Bergkamerad Gerhard Baur die vergangenen Stunden verbracht. Die beiden anderen liegen noch in unruhigen Schlaf, als Reinhold sich die Steigeisen umschnallt und nach seinem Eispickel greift. Er will alleine zum Gipfel, ehe das Wetter umschlägt. So ist es mit dem Chef der deutschen Nanga Parbat-Expedition, Dr. Karl Maria Herrligkoffer, abgesprochen.
Herrligkoffer führt schon zum vierten Mal eine Mannschaft zur Rupalflanke des Nanga Parbat.[4] Er sitzt zwar tausende von Höhenmetern tiefer im Basislager am Fuß dieser gewaltigen Wand, aber er hat den Wetterbericht im Blick. Und der verheißt offenbar nichts Gutes. Zwar kann der Expeditionsleiter die Männer im letzten Hochlager vor dem Gipfel nicht mehr anfunken, weil sie keines der schweren und sperrigen Geräte hinauf geschleppt haben. Aber Herrligkoffer hat am Vorabend eine rote Leuchtrakete in den düsteren Himmel zwischen sich und seinen Bergsteigern abgefeuert. Rot ist die verabredete Farbe für schlechtes Wetter.
Für diesen Fall hatte sich Reinhold Messner angeboten, schnell und im Alleingang durch die schwierigste Passage der Rupalwand zu klettern: eine steile Schlucht aus Fels und Eis, die sogenannte Merkl-Rinne. Diese Schlüsselstelle hatte Herrligkoffer nach seinem vor Jahrzehnten am Nanga Parbat verunglückten Halbbruder Willy Merkl benannt. Dort wird sich entscheiden, ob der Gipfel auf dieser Route zu erreichen ist.
Die Merkl-Rinne ist der Weg, der Gipfel ist das Ziel. Messner will rauf auf den Nanga Parbat, oben möglichst ein paar Fotos schießen, und dann nichts wie runter – alles an einem Tag. Herrligkoffer hatte Messners Vorschlag, bei unsicherem Wetter einen Gipfelsprint im Alleingang zu versuchen, mit gemischten Gefühlen angenommen. Einerseits wäre ihm ein reiner Mannschaftserfolg unter seiner Leitung lieber gewesen. Andererseits musste er fürchten, ein viertes Mal in der Rupalwand zu scheitern. Deshalb hatte er trotz seiner Bedenken irgendwie erleichtert nach oben gefunkt: »Reinhold, Du sprichst mir aus der Seele.«[5]
Was Messner nicht wissen kann: Herrligkoffer hat die falsche Rakete gezündet. Der Wetterbericht war gut und die Rakete war falsch beschriftet. Messners Wettlauf gegen die Schlechtwetterfront ist ein Missverständnis. Weil er aber glaubt, schnell sein zu müssen, will er so wenig Gewicht wie möglich schleppen. Ein Seil nimmt er nicht mit, wen soll er auch sichern? Der Rucksack mit dem brennstoffbetriebenen Wasserkocher und der Biwakausrüstung für das Übernachten im Freien bleibt ebenfalls im Lager, zu viel Gewicht für den geplanten Kletterspurt zum Gipfel.
Auch ohne den zusätzlichen Ballast geht es in dieser Höhe nur sehr langsam voran. Es fehlt an Sauerstoff, das Atmen wird zum Japsen und Hecheln. Die trockene, kalte Luft greift die Kehle an. Der Hals wird rau und schwillt. Schleim bildet sich und jedes Husten schmerzt.
»Höhenbergsteigen ist kein Genuss«, sagt Reinhold Messner, »es ist eine einzige Plage.«[6]
Schon die kleinste Bewegung ist eine Qual, noch dazu, wenn es steil bergauf geht und mit jedem Schritt erst einmal ein sicherer Halt geschaffen werden muss. Der Eispickel ist dabei ein treuer Helfer, aber es kostet Kraft, ihn ein ums andere Mal in die Wand zu treiben.[7] Das Eis schreit auf, wenn sich die Stahlzacken der Steigeisen unter anstrengenden Tritten tief hineinbohren.
Meter für Meter arbeitet sich Messner die Merkl-Rinne empor. Die ersten Schneehänge hat er rasch überwunden. Ganz bei sich und seiner Kletterei, alle Gedanken immer gebündelt auf den nächsten Tritt und den nächsten Griff, hat er bald einen guten Rhythmus gefunden. Er kommt schnell voran. Noch hält das Wetter. Die Gipfelchancen steigen. Mittlerweile hat Messner einen schmalen Risskamin erreicht: zwei eng beieinanderstehende senkrechte Eiswände, zwischen denen er sich nach oben drückt.[8] In den Dolomiten und in den Alpen hat er das hunderte Male mit spielerischer Leichtigkeit geschafft. Mal mit gespreizten Beinen, mal mit dem Rücken an der einen, und mit beiden Füßen an der gegenüberliegenden Wand. Hier oben aber, am Rand der Todeszone, ist jeder Zentimeter eine Schinderei. Über 8000 Metern Meereshöhe beginnt das Sterben: Der menschliche Körper baut in der dünnen Atmosphäre unaufhörlich ab, selbst in Erholungs- und Ruhepausen. Ab hier klettert Reinhold Messner mit dem Tod um die Wette.
Trotzdem muss er alle paar Schritte rasten. Schwer atmend und vornüber auf seinen Eispickel gestützt bemerkt er plötzlich einen zweiten Bergsteiger unter sich, der zügig zu ihm aufschließt.
Günther! Reinhold Messner kann nicht glauben, dass ihm sein jüngerer Bruder nachgestiegen ist. Das war nicht abgemacht! Günther hätte doch zusammen mit Gerhard Baur den unteren Teil der Merkl-Rinne mit Seilen versichern sollen, um Reinhold nach seinem Gewaltmarsch die Rückkehr zu erleichtern. Was hat er also hier zu suchen, kurz unter dem Gipfel?
Eigentlich hätte er überhaupt nicht hier sein dürfen, nicht einmal am Nanga Parbat. Günther Messner war gar nicht vorgesehen für die Reise zur Rupalwand. Erst als Ersatzmann ist er zur Expedition gestoßen. »Bin mit Günther einverstanden Karl«[9], hatte Herrligkoffer an Reinhold telegrafiert, der seinen Bruder vorschlagen hatte.
Jetzt ist er also da – und zwar nur wenige Meter unter der Stelle, an der Reinhold rastet. Schon hört er das Krachen, mit dem auch Günther Eispickel und Steigeisen in die Wand haut. Gebannt und verblüfft folgt Reinhold Messner den schnellen und sicheren Bewegungen seines Bruders. Wieso ist er nachgekommen? Wie hat er so schnell aufsteigen können? Und wer hat jetzt dafür gesorgt, dass der Abstieg gesichert ist?
Eigentlich hätte es Reinhold Messner ahnen können. Seit ihrer Kindheit klettern die Messner-Buben zusammen. Sie sind eine verschworene Seilschaft, die unzählige Abenteuer bestanden hat. Nicht selten ist es Reinhold gewesen, der Günther mit seinen waghalsigen Ideen begeistert und mitgerissen hat. Reinhold hat nichts als Klettern im Kopf. Ob es Bäume sind, alte Gemäuer oder Felsformationen im Wald: Was bestiegen werden kann, wird bestiegen.
Sie sind auf die brüchige Friedhofsmauer geklettert, auf die heimischen Geislerspitzen in Südtirol. Sie sind auf Vaters Motorroller zu den schwierigsten Wänden der Westalpen gerollt. Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass die beiden Brüder die bis dahin noch unbezwungene Nordwand des zweiten Sellaturms in den Dolomiten durchstiegen haben – und zwar ohne die modernen Bohrhaken, mit denen jede Wand wie von selbst gelingt. Günther hatte sich von Reinholds Leidenschaft anstecken lassen[10].
Genau wie jetzt? Immerhin hat Günther für den Nanga Parbat – auch für den Gipfel – seinen Job bei der Bank drangegeben. Wie hat er sich geärgert, als Herrligkoffers erster »Angriffsplan« ihn übergangen hat. Wäre es nach dem Expeditionsleiter gegangen, wären andere Kameraden ganz nach oben gestiegen: Felix Kuen zum Beispiel, ein Heeresbergführer, der Herrligkoffers System von Befehl und Gehorsam akzeptiert. Auch Peter Scholz war vorgesehen, ein für Spitzenbergsteiger seiner Qualität eher zurückhaltender und unauffälliger Typ. Zwischen der Seilschaft Kuen/Scholz und den Messner-Brüdern hatte sich im Lauf der Expedition ein Wetteifern um den ersten Gipfelversuch entwickelt.
Und nun hätte Günther drei Tage lang in der Todeszone Seile anbringen und fixieren sollen für die von Herrligkoffer ausgesuchten Gipfelstürmer? Reinhold, der wie Kuen und Scholz hätte hinaufgehen sollen, hatte die Verbitterung seines Bruders verstanden. Er hatte ihn sogar zur Befehlsverweigerung ermutigt. Niemand könne ihm einen Vorwurf machen, wenn er selbst zum Gipfel ginge, anstatt sich so lange ununterbrochen in der Merkl-Rinne aufzureiben.[11]
Wie also soll Reinhold seinem Bruder jetzt übelnehmen, dass er ihm nachgestiegen ist? Sicher: es gäbe es sogar gute Gründe, ärgerlich zu sein. Die Wettervorhersage hat doch die alten Gipfelpläne wie ein schnell heraufziehender Sturm hinwegfegt. Außerdem hat Günther weder den Einstieg in die Merkl-Rinne versichert, noch ist er irgendwie gerüstet für den Gipfelvorstoß. Auch er hat kein Seil dabei, keinen Schlafsack, keinen Proviant, keinen Kocher. Er ist einfach in einem Anfall von Frust, Empörung und Trotz losgeklettert. Die hinterhergeröchelten Warnungen seines Bergkameraden Gerhard Baur, der von schlimmen Halsschmerzen geplagt wird, hat Günther nicht beachtet.
Ein letzter Pickelschlag, ein letzter Steigschritt, dann können sich die Brüder in die Augen sehen. Reinhold weiß, dass Günther und er schon jetzt in Lebensgefahr schweben. Zu zweit ist man langsamer, weil man aufeinander Rücksicht nehmen muss. Außerdem ist Günther in einem Mordstempo hinterhergeklettert und hat sicher nicht mit seinen Kräften hausgehalten. Wie lange hält er noch durch? Vernünftig wäre es, umzukehren. Aber so kurz vor dem Gipfel aufgeben, das schaffen sie nicht. Die Messners gehen weiter. Am späten Nachmittag fallen sie sich auf dem Gipfel in die Arme.
Dann beginnt das Drama. Günther ist platt. Der Rekordaufstieg hat ihm alles abverlangt. Auf dem Gipfel überwältigen ihn Antriebslosigkeit, Erschöpfung und eine unbezwingbare Angst vor dem Abstieg. Auf keinen Fall will er zurück durch den oberen Teil der Merkl-Rinne. Die Steilstücke dort traut er sich nicht mehr zu – schon gar nicht ohne Seil. Mit seinem Eispickel zeigt deutet er in Richtung der westlichen Diamir-Wand. »Hier ist es leichter«, keucht Günther, aber Reinhold will davon nichts wissen. »Wir müssen hinunter, und zwar dort, wo wir heraufgekommen sind.« Günther ist müde und will nicht. »Nicht dort, wo wir heraufgekommen sind. Wir müssen einen leichteren Weg finden.« Reinhold ist ratlos. Das hat gerade noch gefehlt: ein höhenkranker Bruder in der Todeszone, kurz vor Einbruch der Nacht. Er kramt das Bild der Rupalwand hervor, schiebt sich die Schneebrille in die Stirn und sucht nach einer anderen Möglichkeit. Es sieht so aus, als könnten die beiden durch leichteres Gelände auf der anderen Seite des Gipfels bis hinunter auf etwa 7800 Meter kommen. Dort könnte es vielleicht sogar noch eine zweite Chance geben, über eine Scharte wieder in die Merkl-Rinne einzusteigen.[12] Und vielleicht steigt dort ein Suchtrupp auf? Die Rivalen Felix Kuen und Peter Scholz könnten zu Rettern werden. Wenn Günther und Reinhold bis zum Einbruch der Nacht nicht zurückgekehrt sind, werden sie bestimmt nach ihnen suchen.
Trotz dieser Hoffnung ist die Nacht die Hölle. Mindestens dreißig Grad Kälte müssen die Messners mit nur zwei dünnen Astronautenfolien aus Aluminium überstehen. Eng aneinander gekauert kämpfen sie um ihr Leben. Verzweiflung macht sich breit. Günther wird von Wahnvorstellungen gepeinigt und greift immerzu nach einer Decke, die nicht da ist. Ab und an bewegen Reinhold und er mechanisch ihre Zehen, die sie längst nicht mehr spüren.
Am nächsten Morgen rafft sich Reinhold mühsam auf und wankt in Richtung Merkl-Rinne. Er kommt ganz nah heran und kann seine Aufstiegsroute vom Vortag sehen. Von dort aus wäre ein sicherer Rückweg zum letzten Höhenlager wohl möglich. Wenn nur dieser 100 Meter tiefe Abgrund aus Eis und Fels nicht wäre. Mit Seil wäre das Steilstück wohl zu schaffen und man käme zurück in die Merkl-Rinne. Aber ohne Seil geht gar nichts.
Reinhold Messner packt das blanke Entsetzen. Ohne fremde Hilfe sind Günther und er verloren. Er hat Angst. Viel später wird er einmal sagen, Angst sei »die andere Seite des Mutes.«[13] Und mit dem Mut der Verzweiflung schreit er aus Leibeskräften in die Merkl-Rinne hinein um Hilfe. Vielleicht trägt die enge Schlucht seine Stimme bis zu den Kameraden hinunter?
Zwei Stunden schreit Reinhold Messner. Dann erkennt er zwei Männer, die sich langsam die Rinne heraufarbeiten. Felix Kuen und Peter Scholz. Die Rettung! Erleichtertes Winken, Rufen, Gestikulieren. Mit allen Mitteln versucht sich Reinhold Messner verständlich zu machen: Er braucht ein Seil! Aber die beiden da unter scheinen ihn nicht zu verstehen. Das Brausen des ständig zunehmenden Windes lässt nur Wortfetzen durch. Kuen fragt nach dem Gipfel. Messner bejaht. Messner bedeutet, dass Kuen und Scholz versuchen sollen, zu ihm aufzusteigen. Kuen sucht die Wand nach einer denkbaren Aufstiegsroute ab. Unmöglich! Diese Wand ist auch von unten nicht zu bezwingen. Keine Chance auf ein Seil. Das ist das Ende!
Ob alles in Ordnung sei, will Kuen wissen. Nein, nichts ist in Ordnung. Aber weder will Messner, dass Kuen und Scholz ihr Leben aufs Spiel setzen, noch kann er Günthers gefährliche Lage in Gesten und Andeutungen erklären. Deshalb winkt er beruhigend ab. Ja, alles in Ordnung.[14]
Benommen taumelt Reinhold Messner zurück zu Günther, dem es nicht gut geht. Jetzt gibt es nur noch einen Ausweg: den Abstieg auf der anderen Seite. Den ganzen Winter über haben sich Günther und Reinhold akribisch auf den Nanga Parbat vorbereitet. Zumindest theoretisch kennen sie die verschiedenen Seiten des Bergs und die Auf- und Abstiegsrouten vergangener Expeditionen. Die westliche Diamirwand, die sich unter ihnen erstreckt, ist auf dem Papier leichter zu bewältigen als die Rupalflanke. Aber an dieser Seite stehen auch keine Versorgungslager. Niemand wird den Messner-Brüdern bei ihrem Überlebenskampf helfen können. Ganz abgesehen davon ist es nicht dasselbe, ob man am gemütlich prasselnden Kaminfeuer Bergfotografien mit gestrichelt eingezeichneten Routen studiert, oder ob man ausgetrocknet, unterkühlt und völlig übermüdet am oberen Ende einer Wand hockt, über die langsam aber sicher der Nebel kriecht. »Trotzdem, lieber als das Leben zu verschenken, setzen wir es ein«, sagt Reinhold Messner.[15] Dann machen sich die beiden Brüder an das Unvorstellbare: die Überschreitung des Nanga Parbat. Mut ist eben auch die andere Seite der Angst.
Günther ist am Ende seiner Kräfte. Er torkelt, er schwankt, er bleibt zurück, er stürzt. Er muss dringend raus aus der lebensfeindlichen Gipfelregion. Reinhold treibt ihn an, geht vorneweg, sucht gangbare Passagen, kehrt um, wenn ihm ein Weg zu gefährlich erscheint. Während Günther rastet, quält sich Reinhold Gegenanstiege hinauf, um die besten Routen zu finden.
Es geht abwärts – und das tut gut. Je tiefer die beiden kommen, desto besser scheint es Günther zu gehen. Hoffnung kommt auf. Trotzdem schaffen die Brüder in Bergnot den Abstieg nicht bis Sonnenuntergang. Noch einmal müssen sie biwakieren: Noch eine Nacht in der Eishölle. Seit Tagen haben sie nichts gegessen und nichts getrunken. Beide sind am Ende ihrer Kräfte. Aber das Gelände wird flacher. Wenn sie zerklüfteten und die lawinengefährdeten Ausläufer des Diamir-Gletschers überquert haben, sind sie in Sicherheit. Reinhold ist jetzt weit voraus, um den sichersten Weg durch dieses lawinengefährdete Gebiet zu finden. Da! In der Ferne mischt sich schon das erste Grün ins Grauweiß des Nackten Berges, des Nanga Parbat. Reinhold findet eine Quelle. Wasser! Trinken! Gerettet?